Generalaudienz 1999 52

52 Ein aufmerksames Wiederlesen von Ordo Paenitentiae wird eine nicht geringe Hilfe sein, um die Hauptdimensionen dieses Sakraments anläßlich des Jubiläums zu vertiefen. Die Reife kirchlichen Lebens hängt zum großen Teil von seiner Neuentdeckung ab. Das Sakrament der Buße schließt in der Tat nicht mit dem Moment der liturgischen Feier ab, sondern läßt die Bußhaltung als ständige Dimension christlicher Erfahrung leben. Es ist »eine Annäherung an die Heiligkeit Gottes […], eine Rückgewinnung der eigenen inneren Wahrheit, die durch die Sünde entstellt wurde, eine im tiefsten sich vollziehende Befreiung von sich selbst und darum eine Rückgewinnung verlorener Freude, der Freude darüber, erlöst zu sein, welche die meisten Menschen von heute nicht mehr recht zu verkosten vermögen« (Reconciliatio et paenitentia RP 31, III).

5. Was die lehrmäßigen Inhalte dieses Sakramentes betrifft, verweise ich auf das Apostolische Schreiben Reconciliatio et paenitentia (vgl. RP 28-34) und auf den Katechismus der Katholischen Kirche (vgl. CEC 1420-1484) sowie die weiteren Äußerungen des kirchlichen Lehramtes. Hier möchte ich das Augenmerk auf die Wichtigkeit der pastoralen Sorge lenken, die nötig ist für eine Aufwertung dieses Sakramentes beim Gottesvolk, damit die Verkündigung der Versöhnung, der Weg der Umkehr und die Feier des Sakramentes selbst die Herzen der Männer und Frauen unserer Zeit besser zu erreichen vermögen.

Insbesondere möchte ich die Seelsorger daran erinnern, daß man ein guter Beichtvater ist, wenn man ein echter Büßer ist. Die Priester wissen, daß sie Hüter einer Macht sind, die von oben kommt: Tatsächlich ist die von ihnen vermittelte Vergebung »das wirksame Zeichen des Eingreifens des Vaters« (RP 31, III), welches vom geistlichen Tod auferstehen läßt. Daher mögen die Beichtväter, wenn sie in Demut und evangeliumsgemäßer Einfachheit eine so wesentliche Dimension ihres Amtes leben, die eigene Vervollkommnung und Weiterbildung nicht vernachlässigen, damit es ihnen niemals an jenen menschlichen und geistlichen Qualitäten mangle, die für die Beziehung zu den Gewissen so sehr nötig sind.

Doch zusammen mit den Seelsorgern soll die gesamte christliche Gemeinschaft an der pastoralen Erneuerung der Versöhnung mitbeteiligt sein. Das erfordert schon die dem Sakrament innewohnende »Kirchlichkeit«. Die kirchliche Gemeinschaft ist der Schoß, der den reuigen und losgesprochenen Sünder aufnimmt; und davor noch schafft sie die geeignete Umgebung für einen Weg der Rückkehr zum Vater. In einer versöhnten und versöhnenden Gemeinschaft können die Sünder den verlorenen Weg wiederfinden und der Hilfe der Mitbrüder begegnen. Und schließlich kann durch die christliche Gemeinschaft wieder ein solider Weg der Nächstenliebe gebahnt werden, der durch gute Taten die neugefundene Vergebung, das wiedergutgemachte Böse sowie die Hoffnung, erneut den barmherzigen Armen des Vaters zu begegnen, sichtbar macht.

Im Mittelpunkt unserer Katechese von heute steht das Bußsakrament. Wir verkündigen dadurch die Liebe und die Barmherzigkeit Gottes des Vaters, worauf christliches Leben und Handeln gründet.

In der heutigen Gesellschaft wird leider die ethische Wahrheit des menschlichen Daseins häufig verstellt. Viele haben den Sinn für Gut und Böse verloren, weil sie Gott verloren haben. Für sie ist die Sünde nach rein psychologischen oder soziologischen Kriterien zu erklären.

Darum soll die Pastoral dazu anspornen, den Sinn und die Praxis der Buße neu zu wecken und dadurch im Glauben zu wachsen.

Unter der Leitung der Hirten möge sich die ganze christliche Gemeinschaft um die Erneuerung des Bußsakramentes bemühen, damit die Gläubigen zum Gott der Liebe und der Barmherzigkeit zurückfinden.
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Mit diesen Gedanken grüße ich die Pilger und Besucher, die aus den Ländern deutscher Sprache nach Rom gekommen sind. Besonders heiße ich willkommen: Die Schwestern von der Heiligen Elisabeth aus verschiedenen Ländern, die an einem Seminar für geistliche Erneuerung teilnehmen. Euch, Euren lieben Angehörigen daheim und allen, die mit uns über Radio Vatikan und das Fernsehen verbunden sind, erteile ich von Herzen den Apostolischen Segen.



Mittwoch, 22. September 1999


53 Liebe Schwestern und Brüder!

1. Wir führen unsere Überlegungen über das Sakrament der Buße fort und wollen heute eine dafür innerlich kennzeichnende Dimension vertiefen, und zwar die Versöhnung. Dieser Aspekt des Sakramentes tritt als Gegenmittel und Medizin dem verwundenden Charakter, welcher der Sünde eigen ist, gegenüber. Denn der Mensch, der sündigt, entfernt sich nicht nur von Gott, sondern setzt Keime der Spaltung in sich und in der Beziehung zu den Brüdern. Die Bewegung der Rückkehr zu Gott umfaßt daher auch die Wiederherstellung der von der Sünde verletzten Einheit.

2. Die Versöhnung ist »Geschenk des Vaters«: Er allein kann sie bewirken. Daher stellt sie vor allem einen Anruf, der von oben kommt, dar: »Wir bitten an Christi Statt: Laßt euch mit Gott versöhnen!« (
2Co 5,20). Wie Jesus uns im Gleichnis vom barmherzigen Vater (vgl. Lc 15,11-32) klar macht, ist Vergeben und Mit-sich-Versöhnen für diesen ein Fest. Der Vater bietet an dieser wie an anderen Stellen des Evangeliums nicht nur Vergebung und Versöhnung an, sondern zeigt zugleich, daß diese Geschenke Anlaß zur Freude für alle sind.

Bedeutsam ist im Neuen Testament die Verbindung zwischen der Vaterschaft Gottes und der Freude des Festmahls. Das Reich Gottes wird mit einem freudigen Festmahl verglichen, zu dem der Vater einlädt (vgl. Mt 8,11 Mt 22,4 Mt 26,29). Die Erfüllung der ganzen Heilsgeschichte wird wiederum mit dem Bild des von Gottvater für die Hochzeit des Lammes bereiteten Mahles ausgedrückt (vgl. Ap 19,6-9).

3. Gerade in Christus, dem Lamm ohne Makel, das für unsere Sünden geopfert wurde (vgl. 1P 1,19 Ap 5,6 Ap 12,11), konzentriert sich die Versöhnung, die vom Vater kommt. Jesus Christus ist nicht nur der Versöhner, sondern die Versöhnung selbst. Wie der hl. Paulus lehrt, kommt die Tatsache, daß wir neue - vom Geist erneuerte - Schöpfung werden »von Gott, der uns durch Christus mit sich versöhnt und uns den Dienst der Versöhnung aufgetragen hat. Ja, Gott war es, der in Christus die Welt mit sich versöhnt hat, indem er den Menschen ihre Verfehlungen nicht anrechnete und uns das Wort von der Versöhnung (zur Verkündigung) anvertraute« (2Co 5,18-19).

Gerade durch das Geheimnis des Kreuzes unseres Herrn Jesus Christus wird das Drama der zwischen dem Menschen und Gott bestehenden Spaltung überwunden. In der Tat dringt mit dem Pascha das Geheimnis der grenzenlosen Barmherzigkeit des Vaters bis in die tiefsten Wurzeln des Bösen im Menschen ein. Dort kommt es zu einer Bewegung der Gnade, die - wenn sie in freier Zustimmung angenommen wird - dazu führt, die Wonne vollkommener Versöhnung zu verkosten.

Der Abgrund des Leidens und der Verlassenheit Christi wandelt sich so in eine unerschöpfliche Quelle mitleidsvoller und friedensstiftender Liebe. Der Erlöser zeichnet neu einen Weg der Rückkehr zum Vater, der es erlaubt, die verlorengegangene Kindesbeziehung wieder zu erfahren, und zugleich dem Menschen die nötige Kraft gibt, diese tiefe Gemeinschaft mit Gott zu bewahren.

4. Leider besteht auch im erlösten Dasein die Möglichkeit, wieder zu sündigen, und das erfordert ständige Wachsamkeit. Darüber hinaus bleiben auch nach der Vergebung »Rückstände der Sünde«, die es durch ein festgelegtes Sühnevorhaben von vermehrtem Einsatz im Guten zu entfernen und bekämpfen gilt. Dieses erfordert an erster Stelle die Wiedergutmachung von Unrecht, materiellem wie moralischem, das Gruppen oder Individuen angetan wurde. Umkehr wird so zu einem fortwährenden Weg, wobei das Geheimnis der im Sakrament bewirkten Versöhnung den Ausgangs- und Zielpunkt bildet.

Die Begegnung mit Christus, der vergibt, entfaltet in unserem Herzen jene Dynamik der dreifaltigen Liebe, welche der Ordo Poenitentiae so beschreibt: »Durch das Bußsakrament nimmt also der Vater den Sohn wieder an, der zu ihm zurückkehrt; Christus nimmt das verlorene Schaf auf seine Schultern und trägt es zur Herde zurück; der Heilige Geist heiligt von neuem seinen Tempel oder wohnt in größerer Fülle in ihm. Das kommt durch die neuerliche oder intensivere Teilnahme am Tisch des Herrn zum Ausdruck. Denn beim Festmahl der Kirche Gottes herrscht Freude über den aus der Fremde heimgekehrten Sohn« (Nr. 6; vgl. auch Nr.n 5 u. 19).

5. Der »Ritus des Buße« bringt in der Lossprechungsformel die Verbindung zwischen der Vergebung und dem Frieden zum Ausdruck, die Gott, der Vater, im Pascha seines Sohnes und »durch den Dienst der Kirche« (ebd., 46) schenkt. Während das Sakrament das Geschenk der Versöhnung bezeichnet und verwirklicht, macht es deutlich, daß diese nicht nur unsere Beziehung zu Gott, dem Vater, sondern auch die zu unseren Brüdern betrifft. Es handelt sich um zwei Aspekte der Versöhnung, die in innigem gegenseitigem Zusammenhang stehen. Das Versöhnungswerk Christi geschieht in der Kirche. Diese kann nicht aus sich heraus versöhnen, sondern tut es als lebendiges Werkzeug der Vergebung Christi aufgrund eines klaren Auftrags des Herrn (vgl. Jn 20,23 Mt 18,18). Diese Versöhnung in Christus verwirklicht sich in hervorragender Weise in der Feier des Bußsakraments. Doch ist das ganze innerste Sein der Kirche in ihrer Gemeinschaftsdimension von einer ständigen Versöhnungshaltung gekennzeichnet.

Man muß einen gewissen Individualismus in der Auffassung der Versöhnung überwinden: Die ganze Kirche wirkt an der Umkehr des Sünders mit durch Gebet, Ermahnung, brüderliche Zurechtweisung, den Beistand der Liebe. Ohne Versöhnung mit den Brüdern nimmt die Liebe keine Gestalt im Individuum an. So wie die Sünde das Geflecht des Leibes Christi verletzt, so stellt die Versöhnung die Solidarität zwischen den Mitgliedern des Volkes Gottes wieder her.

54 6. Die alte Bußpraxis gab dem kirchlichgemeinschaftlichen Aspekt der Versöhnung besonderen Ausdruck, vor allem im abschließenden Moment der Absolution durch den Bischof mit der vollen Wiederzulassung des Pönitenten zur Gemeinschaft. Die Lehre der Kirche und die nach dem II. Vatikanischen Konzil erlassene Bußordnung ermahnt dazu, die kirchlich-gemeinschaftliche Dimension der Versöhnung wieder zu entdecken und ihr den gebührenden Platz zu geben (vgl. LG 11 u. auch SC 27), unbeschadet der Lehre über die Notwendigkeit der Einzelbeichte.

Im Kontext des Großen Jubiläums des Jahres 2000 wird es wichtig sein, dem Gottesvolk brauchbare und zeitgemäße Wege der Versöhnung vorzuschlagen, welche den Gemeinschaftscharakter nicht nur der Buße, sondern des gesamten Heilsplanes des Vaters für die Menschheit neu entdecken lassen. So wird sich verwirklichen, was die Konstitution Lumen gentium lehrt: »Gott aber hat es gefallen, die Menschen nicht einzeln, unabhängig von aller wechselseitigen Verbindung, zu heiligen und zu retten, sondern sie zu einem Volke zu machen, das ihn in Wahrheit anerkennen und ihm in Heiligkeit dienen soll« (LG 9).

Wie die letzten Male, wollen wir auch heute über das Sakrament der Buße etwas nachdenken und dabei die Versöhnung als dessen Wesens-merkmal in den Vordergrund stellen.

Die Versöhnung als freies Geschenk Gottes bewirkt die entschlossene Rückkehr des Sünders zu Gott. Der Apostel Paulus sagt dazu: ”Wir bitten an Christi Statt: Laßt euch mit Gott versöhnen!” (2Co 5,20).

In Christus, dem Lamm ohne Makel, das für unsere Sünden geopfert worden ist, ist die Versöhnung zusammengefaßt, die vom Vater ausgeht. Jesus Christus ist dabei nicht nur der Versöhner, sondern die Versöhnung selbst. Durch das Geheimnis des Kreuzes ist das Drama der Trennung zwischen dem Menschen und Gott überwunden worden.

Trotz dieser Erlösungstat bleibt die Möglichkeit der Sünde in dieser Welt bestehen. Gott schenkt durch die Mittlerschaft der Kirche in der Spendung des Sakramentes der Buße dem Sünder jederzeit seine Vergebung und versöhnt ihn mit sich. Die versöhnende Handlung Jesu Christi geschieht also in der Gemeinschaft der Kirche.
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Sehr herzlich grüße ich alle deutschsprachigen Pilger und Besucher. Insbesondere heiße ich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Bischöflichen Generalvikariates in Münster sowie die CDU-Bundestags-abgeordnete aus Thüringen und die vielen Schülerinnen und Schüler willkommen. Gern erteile ich Euch und Euren Lieben daheim sowie allen, die über Radio Vatikan und das Fernsehen mit uns verbunden sind, den Apostolischen Segen.





Mittwoch, 29. September 1999

Liebe Schwestern und Brüder!


1. In engem Zusammenhang mit dem Sakrament der Buße stellt sich unserem Nachdenken ein Thema, das mit der Feier des Jubiläums besonders verbunden ist: Ich beziehe mich auf das Geschenk des Ablasses, welches im Jubeljahr in besonders reicher Fülle angeboten wird, wie es in der Bulle Incarnationis mysterium und den angefügten Anweisungen der Apostolischen Pönitentiarie vorgesehen wird.

55 Es handelt sich um ein brisantes Thema, über das es an geschichtlichen Mißverständnissen nicht gefehlt hat, die sich negativ auf die Gemeinschaft der Christen selbst auswirkten. Im gegenwärtigen ökumenischen Umfeld verspürt die Kirche die Notwendigkeit, daß diese alte Praxis, begriffen als bedeutungsvoller Ausdruck des Erbarmens Gottes, recht verstanden und angenommen werde. Die Erfahrung bestätigt in der Tat, daß der Ablaß oft mit einer oberflächlichen Haltung angegangen wird. Das führt schließlich dazu, das Geschenk Gottes zunichte zu machen und die vom Lehramt der Kirche angebotenen Wahrheiten und Werte zu verdunkeln.

2. Der Ausgangspunkt, um den Ablaß zu verstehen, ist die Überfülle des Erbarmens Gottes, die am Kreuz Christi offenkundig wurde. Der gekreuzigte Jesus ist der große »Ablaß«, den der Vater der Menschheit gewährt hat mit der Vergebung der Sünden und der Möglichkeit eines Lebens als Kinder Gottes (vgl.
Jn 1,12-13) im Heiligen Geist (vgl. Ga 4,6 Rm 5,5 Rm 8,15-16).

Allerdings kann in der Logik des Bundes, die den Kern der ganzen Heilsökonomie bildet, dieses Geschenk ohne die Annahme und Antwort unsererseits nicht empfangen werden.

Im Licht dieses Grundsatzes ist es nicht schwer zu verstehen, wie die Versöhnung mit Gott, die zwar auf einem ungeschuldeten und überreichen Angebot des Erbarmens beruht, dennoch zugleich einen anstrengenden Prozeß erforderlich macht, in den der Mensch mit seinem persönlichen Einsatz und die Kirche mit ihrem sakramentalen Auftrag einbezogen sind. Für die Vergebung von nach der Taufe begangenen Sünden hat dieser Weg seinen Mittelpunkt im Sakrament der Buße, reift aber auch nach dessen Vollzug weiter. Der Mensch muß in der Tat schrittweise von den negativen Folgen »geheilt« werden, die die Sünde in ihm zurückgelassen hat (und welche die theologische Tradition »Strafe« und »Schuld« der Sünde nennt).

3. Nach der sakramentalen Vergebung noch von Strafen zu sprechen mag aufs erste gesehen wenig folgerichtig erscheinen. Das Alte Testament zeigt uns aber, daß es normal ist, nach der Vergebung Sühnestrafen zu erleiden. So sagt Gott von sich selbst, er sei ein »barmherziger und gnädiger Gott«, er nehme »Schuld, Frevel und Sünde weg«, setzt jedoch hinzu, daß er »nicht ungestraft« lasse (Ex 34,6-7). Im zweiten Buch Samuel bewirkt das demütige Bekenntnis des Königs David nach dessen schwerer Sünde die Vergebung Gottes für ihn (vgl. 2S 12,13), nicht aber die Aufhebung der angekündigten Strafe (vgl. ebd., 12,11; 16,21). Die Vaterliebe Gottes schließt Züchtigung nicht aus, auch wenn diese stets in barmherziger Gerechtigkeit zu verstehen ist. Sie stellt die verletzte Ordnung zum Wert des Menschenwohls selbst wieder her (vgl. He 12,4-11).

In diesem Zusammenhang meint zeitliche Strafe die Leidensbefindlichkeit desjenigen der, obschon mit Gott versöhnt, noch jene »Schuld« der Sünde an sich trägt, die ihn nicht völlig offen für die Gnade sein läßt. Und eben im Blick auf die vollkommene Genesung ist der Sünder gerufen, einen Weg der Reinigung zur Fülle der Liebe aufzunehmen.

Bei diesem Weg kommt uns die Barmherzigkeit Gottes mit besonderen Hilfen entgegen. Die zeitliche Strafe selbst erhält die Funktion einer »Medizin«, in dem Maß als der Mensch sich durch sie zu gründlicher Bekehrung ansprechen läßt. Das ist auch die Bedeutung der im Bußsakrament geforderten »Genugtuung«.

4. Der Sinn des Ablasses ist vor diesem Hintergrund völliger Erneuerung des Menschen aufgrund der Gnade Christi, des Erlösers, durch den Dienst der Kirche zu verstehen. Der Ablaß hat seinen geschichtlichen Ursprung im Bewußtsein der frühen Kirche, daß sie dem Erbarmen Gottes durch die Milderung der für die sakramentale Vergebung auferlegten kanonischen Bußen Ausdruck geben konnte. Die Milderung war allerdings immer durch entsprechende persönliche und gemeinschaftliche Verpflichtungen aufgewogen, welche als Ersatz die »medizinische« Wirkung der Strafe übernehmen konnten.

Wir können nun begreifen, warum man unter Ablaß versteht: »Erlaß einer zeitlichen Strafe vor Gott für Sünden, die hinsichtlich der Schuld schon getilgt sind. Ihn erlangt der Christgläubige, der recht bereitet ist, unter genau bestimmten Bedingungen durch die Hilfe der Kirche, die als Dienerin der Erlösung den Schatz der Genugtuungen Christi und der Heiligen autoritativ austeilt und zuwendet« (Enchiridion indulgentiarum, Normae de indulgentiis, Libreria Editrice Vaticana 1999, S. 21; vgl. Katechismus der Katholischen Kirche CEC 1471).

Es gibt also einen »Schatz der Kirche«, der durch Ablässe »ausgeteilt« wird. Das »Austeilen« darf dabei nicht als eine Art automatische Übertragung, als ob es um eine »Sache« ginge, verstanden werden. Vielmehr ist es der Ausdruck des vollen Vertrauens der Kirche, vom Vater erhört zu werden, wenn sie - in Anbetracht der Verdienste Christi und, auf sein Geschenk hin, auch derjenigen der Gottesmutter und der Heiligen - ihn bittet, den schmerzlichen Aspekt der Strafe zu lindern oder zu tilgen und deren »heilkräftige« Bedeutung über andere Wege der Gnade zu entfalten. Im unergründlichen Geheimnis der göttlichen Weisheit kann dieses Geschenk der Fürsprache auch den verstorbenen Gläubigen zum Wohl gelangen, die dessen Früchte in der ihrer Befindlichkeit eigenen Weise empfangen.

5. Man sieht somit, daß der Ablaß, weit davon entfernt, eine Art »Lösegeld« vom Bemühen um Umkehr zu sein, vielmehr Hilfe zu einem bereitwilligeren, großherzigeren und radikaleren Einsatz darstellt. Letzteres ist sogar erforderlich, insofern als die geistliche Vorbedingung zum Erlangen des vollkommenen Ablasses im Ausschluß »jeglicher Hinwendung zu irgendwelcher, selbst läßlichen Sünde« (vgl. Enchiridion indulgentiarum, S. 25) besteht.

56 Es wäre also ein Irrtum, zu denken, daß man dieses Geschenk durch einfaches Erfüllen gewisser äußerlicher Vorschriften gewinnen könnte. Wenn auch das verlangt wird, so als Ausdruck und Unterstützung für den Weg der Umkehr. Und besonders ist damit gemeint: ein äußeres Zeichen des Glaubens an die überreiche Fülle des göttlichen Erbarmens und an das wunderbare Ereignis der von Christus erwirkten Gemeinschaft, der die Kirche als sein Leib und seine Braut untrennbar mit sich vereinigt hat.

Ein Thema, das gerade in den Ländern der Reformation delikat ist, möchte ich heute behandeln: den Ablaß, eine alte kirchliche Praxis. Es ist mein tiefer Wunsch, daß der Ablaß auch unter ökumenischer Rücksicht recht verstanden und wohlwollend aufgenommen wird.

Ausgangspunkt ist Gottes reiche Barmherzigkeit. Jesus Christus selbst ist gleichsam der große "Sündennachlaß", den der Vater der Menschheit gewährt hat. Dieses göttliche Geschenk wartet darauf, daß der Mensch es dankbar annimmt. Auch der Mensch ist gefragt!

Zwar geschieht die Versöhnung mit Gott "gratis", als Gnadengabe des Himmels. Doch gleichzeitig darf der Mensch seinen Beitrag leisten: Sein persönlicher Einsatz und das sakramentale Handeln der Kirche werden gleichermaßen eingefordert.

So wird klar, was Ablaß bedeutet: Auf der einen Seite wird der Mensch im Sakrament der Buße von seinen Sünden freigesprochen. Der Genesungsprozeß ist eingeleitet. Auf der anderen Seite bleiben aber Wunden zurück, die sich erst nach und nach schließen und langsam heilen. Die Ablässe bezeichnen Schritte auf diesem Weg der vollständigen Heilung. Sie sind eine Art Medizin je nach dem Maß, in dem sich der Mensch auf eine tiefe und ehrliche Umkehr einläßt.
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Auch eine Pilgerfahrt nach Rom kann ein Schritt sein, um dem Leben eine neue Richtung zu geben. So grüße ich die vielen Brüder und Schwestern aus den Ländern deutscher Sprache. Besonders heiße ich die Teilnehmer an der zwanzigsten Pilgerfahrt "Rom im Rollstuhl" willkommen. Außerdem freue ich mich, daß so viele Schüler - und Jugendgruppen zu dieser Begegnung gekommen sind. Euch, Euren Lieben zu Hause sowie allen, die mit uns über Radio Vatikan und das Fernsehen verbunden sind, erteile ich von Herzen den Apostolischen Segen.

Aufruf zum Gebet für Ost-Timor

Aus Ost-Timor kommen in diesen Tagen weiterhin tragische Nachrichten von Gemetzeln an wehrlosen Bürgern, an Christen, Priestern, Ordensmännern und Ordensfrauen, die ihr Leben im Dienst an der Allgemeinheit aufzehrten. Insbesondere habe ich mit tiefem Schmerz erfahren, daß am Samstagnachmittag in der Nähe von Baucau zahlreiche Personen ermordet wurden, darunter auch zwei Missionsschwestern, Canossianerinnen. Ich lade euch ein, ihrer im Gebet zu gedenken zusammen mit allen Opfern der timoresischen Tragödie. Laßt uns beten für die an Leib und Seele Leidenden, für die Flüchtlinge und Vertriebenen sowie auch für alle, die zu deren Hilfe und zur Befriedung des Gebiets im Einsatz sind. Bitten wir den Herrn, daß das Beispiel dieser Zeugen einer Liebe bis hin zur völligen Hingabe ihres Lebens beitragen möge, daß in Ost-Timor eine hoffnungsvolle Zukunft entsteht. Ebenfalls möchte ich meine Anerkennung ausdrücken für die Initiative der in der Konferenz Christlicher Rundfunkanstalten Europas zusammengeschlossenen Radiosender, die heute miteinander durch besondere Sendungen und Appelle ihre Solidarität mit der Kirche und dem Volk von Ost-Timor bekunden.



Oktober 1999


Mittwoch, 6. Oktober 1999


57 Liebe Schwestern und Brüder!

1. Die Umkehr, über die wir in den vorangegangenen Katechesen nachgedacht haben, ist auf die Umsetzung des Gebotes der Liebe ausgerichtet. Es ist in diesem Gott, dem Vater, gewidmeten Jahr besonders angebracht, die theologische Tugend der Liebe hervorzuheben gemäß der Weisung des Apostolischen Schreibens Tertio millennio adveniente (vgl.
TMA 50).

Der Apostel Johannes ermahnt: »Liebe Brüder, wir wollen einander lieben: denn die Liebe ist aus Gott, und jeder, der liebt, stammt von Gott und erkennt Gott. Wer nicht liebt, hat Gott nicht erkannt; denn Gott ist die Liebe« (1Jn 4,7-8).

Während uns diese erhabenen Worte das Wesen Gottes als Geheimnis unendlicher Liebe offenbaren, bilden sie zugleich auch die Grundlage, worauf die christliche Ethik sich stützt, die gänzlich im Gebot der Liebe zusammengefaßt werden kann. Der Mensch ist berufen, Gott mit ganzem Einsatz zu lieben und die Beziehung zu seinen Mitmenschen in einer an der Liebe Gottes ausgerichteten Liebeshaltung zu leben. Umkehr bedeutet Umkehr auf die Liebe hin.

Schon im Alten Testament können wir die tiefe Dynamik dieses Gebots erkennen in der Beziehung des Bundes, den Gott mit Israel eingeht: Auf der einen Seite ist da die Liebesinitiative Gottes, auf der anderen die Liebesantwort, die er erwartet. So etwa wird die göttliche Initiative im Buch Deuteronomium dargestellt: »Nicht weil ihr zahlreicher als die anderen Völker wäret, hat euch der Herr ins Herz geschlossen und auserwählt; ihr seid das kleinste unter allen Völkern. Weil der Herr euch liebt […]« (Dt 7,7-8). Dieser ganz ungeschuldeten, bevorzugenden Liebe entspricht das Grundgebot, welches die ganze Religiosität Israels prägt: »Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft« (ebd.6,5).

2. Der liebende Gott ist kein ferner Gott, sondern einer, der in die Geschichte eingreift. Wenn er dem Mose seinen Namen offenbart, dann tut er es, um seinen liebenden Beistand im Heilsereignis des Auszugs aus Ägypten zu verbürgen: einen Beistand, der für immer währt (vgl. Ex 3,15). Durch die Worte der Propheten ruft er seinem Volk dieses Tun in Liebe immer wieder in Erinnerung. Wir lesen z.B. bei Jeremia: »So spricht der Herr: Gnade fand in der Wüste das Volk, das vom Schwert verschont blieb; Israel zieht zum Ort seiner Ruhe. Aus der Ferne ist ihm der Herr erschienen: Mit ewiger Liebe habe ich dich geliebt, darum habe ich dir so lange die Treue bewahrt« (Jr 31,2-3).

Es ist eine Liebe, die Ausdrucksformen innigster Zärtlichkeit annimmt (vgl. Hos Os 11,8 f.; Jr 31,20) und die normalerweise vom Bild des Vaters Gebrauch macht, sich jedoch bisweilen der Metapher der Hochzeit bedient: »Ich traue dich mir an auf ewig; ich traue dich mir an um den Brautpreis von Gerechtigkeit und Recht, von Liebe und Erbarmen« (Os 2,21 vgl. V. Os 18-25).

Auch nachdem er bei seinem Volk wiederholte Untreue gegenüber dem Bund festgestellt hat, ist dieser Gott noch weiter bereit, seine Liebe anzubieten: Er will im Menschen ein neues Herz erschaffen, das ihn fähig macht, das Gesetz, das ihm gegeben wird, ohne Vorbehalte anzunehmen, wie wir beim Propheten Jeremia lesen: »Ich lege mein Gesetz in sie hinein und schreibe es auf ihr Herz« (Jr 31,33). Gleichermaßen liest man bei Ezechiel: »Ich schenke euch ein neues Herz und lege einen neuen Geist in euch. Ich nehme das Herz von Stein aus eurer Brust und gebe euch ein Herz von Fleisch« (Ez 36,26).

3. Das Neue Testament präsentiert uns diese Dynamik der Liebe, zusammengefaßt in Jesus, dem vom Vater geliebten Sohn (vgl. Jn 3,35 Jn 5,20 Jn 10,17), durch den der Vater sich offenbart. Die Menschen haben an dieser Liebe teil, indem sie den Sohn erkennen, d.h. seine Lehre und sein Erlösungswerk annehmen.

Der Zugang zur Liebe des Vaters ist nur möglich, wenn man es dem Sohn gleichtut in der Befolgung der Gebote des Vaters: »Wie mich der Vater geliebt hat, so habe auch ich euch geliebt. Bleibt in meiner Liebe! Wenn ihr meine Gebote haltet, werdet ihr in meiner Liebe bleiben, so wie ich die Gebote meines Vaters gehalten habe und in seiner Liebe bleibe« (Jn 15,9-10). Auf diese Weise erhält man auch Anteil an der Erkenntnis, die der Sohn vom Vater besitzt: »Ich nenne euch nicht mehr Knechte; denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr tut. Vielmehr habe ich euch Freunde genannt; denn ich habe euch alles mitgeteilt, was ich von meinem Vater gehört habe« (Jn 15,15).

4. Die Liebe läßt uns vollends eintreten in das kindliche Leben Jesu; sie macht uns im Sohn zu Kindern: »Seht, wie groß die Liebe ist, die der Vater uns geschenkt hat: Wir heißen Kinder Gottes, und wir sind es. Die Welt erkennt uns nicht, weil sie ihn nicht erkannt hat« (1Jn 3,1). Die Liebe wandelt das Leben um und erleuchtet auch unsere Gotteserkenntnis, bis wir jene vollkommene Erkenntnis erreichen, von der der hl. Paulus spricht: »Jetzt erkenne ich unvollkommen, dann aber werde ich durch und durch erkennen, so wie ich auch durch und durch erkannt worden bin« (1Co 13,12).

58 Die Beziehung zwischen Erkenntnis und Liebe muß unterstrichen werden. Die innere Umkehr, die das Christentum anbietet, ist echte Gotteserfahrung in dem von Jesus beim Letzten Abendmahl im hohenpriesterlichen Gebet angegebenen Sinn: »Das ist das ewige Leben: dich, den einzigen wahren Gott, zu erkennen und Jesus Christus, den du gesandt hast« (Jn 17,3). Gewiß hat die Gotteserkenntnis auch eine Dimension vernunftmäßiger Natur (vgl. Rm 1,19-20). Doch die lebendige Erfahrung des Vaters und des Sohnes ereignet sich in der Liebe, d.h. letzten Endes im Heiligen Geist, denn »die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist« (Rm 5,5).

Der Paraklet ist es, dank dem wir die Erfahrung der Vaterliebe Gottes machen. Und die tröstlichste Wirkung seiner Anwesenheit in uns ist eben die Gewißheit, daß diese immerwährende und unermeßliche Liebe, mit der Gott uns als erster geliebt hat, uns nie verlassen wird: »Was kann uns scheiden von der Liebe Christi? […] Ich bin gewiß: Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Gewalten der Höhe oder Tiefe noch irgendeine andere Kreatur können uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn« (Rm 8,35 Rm 8,38-39). Das neue Herz, das liebt und erkennt, schlägt in Einklang mit Gott, der mit immerwährender Liebe liebt.

Die echte Umkehr, worüber wir die letzten Male meditiert haben, ist auf die Praxis der Liebe hin orientiert. Darum ist es angebracht, in diesem Jahr, das Gott dem Vater gewidmet ist, über die theologale Tugend der Liebe zu sprechen. Grundlage dafür ist das Apostolische Schreiben Tertio Millennio Adveniente.

Darin lesen wir: “Die Liebe mit ihrem doppelten Gesicht als Liebe zu Gott und zu den Schwestern und Brüdern ist die Synthese des sittlichen Lebens des Glaubenden. Sie hat in Gott ihren Ursprung und ihre Vollendung.” (TMA 50).

Das hat praktische Konsequenzen: Auf die Krise der Zivilisation antworten wir Christen mit der Kultur der Liebe. Sie ist darauf bedacht, die universalen Werte wie Frieden, Solidarität, Gerechtigkeit und Freiheit zu fördern. Diese finden ihre volle Verwirklichung in Christus.
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Mit diesen Gedanken grüße ich die Pilger und Besucher, die aus den Ländern deutscher Sprache nach Rom gekommen sind. Besonders heiße ich willkommen: die Pilger, die anläßlich der Priesterweihe im Collegium Germanicum et Hungaricum nach Rom gekommen sind, sowie die Limburger Domsingknaben, den Kirchenchor St. Leo von Rödersheim, die Marianische Männerkongregation aus Altötting, weiterhin die Dominikaner aus Leipzig, die Gruppe des Seminars für Kirchliche Berufe aus Wien und die zahlreichen anwesenden Jugendlichen und Ministranten. Euch, Euren Angehörigen daheim und allen, die mit uns über Radio Vatikan und das Fernsehen verbunden sind, erteile ich von Herzen den Apostolischen Segen.

Aufruf des Papstes zum Konflikt zwischen Äthiopien und Eritrea

Tröstliche Nachrichten kommen aus Ost-Afrika. Die vielfachen, lobenswerten Bemühungen der Internationalen Gemeinschaft, vor allem der Organisation der Afrikanischen Staaten, für eine Verhandlungslösung des Konfliktes, der Eritrea und Äthiopien entzweit, lassen erste Zustimmungen verzeichnen. Wir wollen beten, daß die Hindernisse überwunden und das noch vorhandene Mißtrauen beseitigt werden möge, damit so den vielen »Ländern des Leidens« das ermutigende Zeugnis dafür geboten werden kann, daß der Friede immer möglich ist.



Mittwoch, 13. Oktober 1999


Liebe Schwestern und Brüder!

59 1. Im alten Israel war das Grundgebot der Liebe zu Gott in den Worten des täglichen Gebets eingeschlossen: »Jahwe, unser Gott, Jahwe ist einzig. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft. Diese Worte, auf die ich dich heute verpflichte, sollen auf deinem Herzen geschrieben stehen. Du sollst sie deinen Söhnen wiederholen. Du sollst von ihnen reden, wenn du zu Hause sitzt und wenn du auf der Straße gehst, wenn du dich schlafen legst und wenn du aufstehst« (Dt 6,4-7).

Grundlage einer solchen Forderung, Gott ganz zu lieben, ist die Liebe, mit der Gott selbst den Menschen liebt. Er erwartet eine wirkliche Liebesantwort von dem Volk, das er mit bevorzugender Liebe liebt. Er ist ein eifersüchtiger Gott (vgl. Ex 20,5), der den Götzendienst nicht ertragen kann, zu dem sein Volk fortwährend versucht ist. Daher das Gebot: »Du sollst neben mir keine anderen Götter haben« (Ex 20,3).

Allmählich versteht Israel, daß es über diese Beziehung tiefer Achtung und ausschließlicher Anbetung hinaus dem Herrn in einer kindlichen, ja bräutlichen Haltung begegnen soll. In diesem Sinn ist das Hohelied zu lesen und zu verstehen, wenn es die Schönheit der menschlichen Liebe zum bräutlichen Dialog zwischen Gott und seinem Volk umgestaltet.

Das Buch Deuteronomium nennt zwei Wesenszüge dieser Liebe. Der erste ist, daß der Mensch zu ihr niemals fähig wäre, wenn Gott ihm die Kraft dazu nicht durch die »Beschneidung des Herzens« (vgl. Dt 30,6) gäbe, die jede Anhänglichkeit an die Sünde aus dem Herzen entfernt. Der zweite Wesenszug ist, daß diese Liebe, weit davon entfernt, sich auf ein bloßes Gefühl zu beschränken, sich darin konkretisiert, daß man »auf Gottes Wegen geht und auf seine Gebote, Gesetze und Rechtsvorschriften achtet« (vgl. Dt 30,16). Das ist die Bedingung für »das Leben und das Glück«, während die Hinwendung des Herzens zu anderen Göttern in »den Tod und das Unglück« führt (Dt 30,15).

2. Das Gebot des Deuteronomiums kehrt unverändert in der Lehre Jesu wieder, der es »das wichtigste und erste Gebot« nennt und eng daran das der Nächstenliebe anbindet (vgl. Mt 22,34-40). Jesus stellt das Gebot in den schon im Alten Testament gebrauchten Ausdrücken vor und zeigt damit, daß die Offenbarung bezüglich dieses Punktes ihre Fülle bereits erreicht hat.

Zugleich erhält dieses Gebot gerade in der Person Jesu seinen vollen Sinn. In der Tat verwirklicht sich in ihm das höchste Maß der Liebe des Menschen zu Gott. Von nun an bedeutet Gott mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft zu lieben, den Gott zu lieben, der sich in Christus offenbart hat, und ihn zu lieben in Teilhabe an der Liebe Christi selbst, die in uns ausgegossen ist »durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist« (Rm 5,5).

3. Die Liebe bildet das Wesen des von Christus gelehrten »neuen Gebots«. Sie ist in der Tat die Grundlage aller Gebote, deren Befolgung erneut bekräftigt wird und nun sogar sichtbarer Beweis der Liebe zu Gott ist: »Denn die Liebe zu Gott besteht darin, daß wir seine Gebote halten« (1Jn 5,3). Diese Liebe, die zugleich Liebe zu Jesus ist, stellt die Bedingung dar, um vom Vater geliebt zu werden: »Wer meine Gebote hat und sie hält, der ist es, der mich liebt; wer mich aber liebt, wird von meinem Vater geliebt werden und auch ich werde ihn lieben und mich ihm offenbaren« (Jn 14,21).

Die Liebe zu Gott, möglich gemacht durch die Gabe des Geistes, gründet also auf der Mittlerschaft Jesu, wie er selbst es im hohenpriesterlichen Gebet bekräftigt: »Ich habe ihnen deinen Namen bekannt gemacht und werde ihn bekannt machen, damit die Liebe, mit der du mich geliebt hast, in ihnen ist und damit ich in ihnen bin« (Jn 17,26). Diese Mittlerschaft konkretisiert sich vor allem im Geschenk der Hingabe seines Lebens, ein Geschenk, das einerseits Zeugnis für die größte Liebe ist, zum anderen die Befolgung dessen, was Jesus gebietet, erfordert: »Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt. Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch auftrage« (Jn 15,13-14).

Christliche Liebe schöpft aus dieser Quelle der Liebe: Jesus, der Gottessohn, hingegeben für uns. Die Fähigkeit, zu lieben, wie Gott liebt, ist jedem Christen geboten als Frucht des österlichen Geheimnisses von Tod und Auferstehung.

4. Die Kirche bringt diese erhabene Wirklichkeit zum Ausdruck, wenn sie lehrt, daß die Liebe eine »theologale Tugend« ist, d.h. eine Tugend, welche direkt auf Gott bezogen ist und die Menschengeschöpfe in den Kreislauf der trinitarischen Liebe eintreten läßt. In der Tat liebt Gott, der Vater, uns so, wie er Christus liebt, indem er in uns sein Bild sieht. Dieses wird sozusagen in uns vom Geist gemalt, der gleich einem »Ikonenmaler« es in der Zeit verwirklicht.

Stets ist es der Heilige Geist, der im Inneren unserer Person auch die Grundlinien der christlichen Antwort zeichnet. Die Dynamik der Liebe zu Gott entspringt somit einer Art »Wesenseigenheit«, bewirkt vom Heiligen Geist, der uns »vergöttlicht« nach dem Sprachgebrauch der östlichen Tradition.

60 In der Macht des Heiligen Geistes beseelt die Liebe das moralische Handeln des Christen, orientiert und stärkt alle anderen Tugenden, welche in uns die Struktur des neuen Menschen aufbauen. Wie der Katechismus der Katholischen Kirche sagt: »Die Übung aller Tugenden wird von der Liebe beseelt und angeregt. Diese ist ›das Band der Vollkommenheit‹ (Col 3,14); sie ist die Form der Tugenden; sie gliedert und ordnet diese untereinander; sie ist Ursprung und Ziel des christlichen Tugendlebens. Die christliche Liebe sichert und läutert unsere menschliche Liebeskraft. Sie erhebt sie zu übernatürlicher Vollkommenheit, zur göttlichen Liebe« (CEC 1827). Als Christen sind wir immer zur Liebe Berufene.

Heute möchte ich über die Liebe als theologale Tugend nachdenken. Schon im Alten Testament wird sich Israel der Liebe Gottes bewußt, die er seinem Volk immer wieder erfahren läßt. Die Antwort der Gläubigen kann nichts anderes sein als die Antwort auf diese Liebe: Israel lebt mit seinem Schöpfer in einem Verhältnis der Kindschaft und sieht sich auch als auserwählte Braut.

Der Kern der Gebote Jesu Christi ist die Liebe. In seiner Person haben sich die Gebote Gottes erfüllt. Er ist vollkommenes Modell der Gottesliebe. Als Geschenk des Heiligen Geistes gründet sie bis heute auf der Vermittlung Jesu Christi, der sich aus Liebe dem Opfertod hingegeben hat.

Aus dieser Quelle schöpft auch die christliche Nächstenliebe. Die Fähigkeit zu lieben, wie Gott liebt, wird jedem Gläubigen angeboten. Sie ist die Frucht der Feier des Ostergeheimnisses. Die theologale Tugend der Liebe eröffnet den Weg zu Gott und fügt uns ein in den Kreis der Liebe des dreifaltigen Gottes: Gott liebt uns, wie er Jesus Christus liebt, indem er in uns sein Abbild sieht. Der Heilige Geist ist dabei wie ein “Ikonenmaler”. Er macht unser Inneres zu “Christi Abbild”
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Sehr herzlich grüße ich alle deutschsprachigen Pilger und Besucher. Eine große Freude ist es mir, unter Euch die Diözesanwallfahrt des Erzbistums Salzburg zusammen mit Erzbischof Georg Eder willkommen zu heißen. Außer-dem grüße ich eine Pilgergruppe aus dem Bistum Fulda unter Leitung von Weihbischof Ludwig Schick. Zudem grüße ich die Pilger aus Deutschland, die anläßlich der Priesterweihe im Collegium Germanicum et Hungaricum nach Rom gekommen sind sowie die Leserinnen und Leser der Steyler Missions-zeitschrift “Stadt Gottes”. Gern erteile ich Euch und Euren Lieben daheim den Apostolischen Segen.





Generalaudienz 1999 52