Predigten 1978-2005 10


APOSTOLISCHE REISE IN DIE BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND


Köln, 15. November 1980



1. ”Das Himmelreich ist gleich einem Netz...“.

Erlaubt mir, verehrter Oberhirt der altehrwürdigen Kirche von Köln, verehrte Mitbrüder, Kardinäle und Bischöfe, erlaubt mir, ihr alle, liebe Brüder und Schwestern, daß ich in dieser Eucharistiefeier die Bedeutung unserer außergewönlichen Begegnung am heutigen Tag mit Hilfe dieses Gleichnisses zu erläutern versuche, mit Hilfe der Worte Christi, der das Reich Gottes immer wieder durch Gleichnisse erklärt hat. Mit ihrer Hilfe verkündete er die Anwesenheit dieses Reiches mitten in der Welt.

Auch wir müssen uns in dieser Dimension begegnen. Das ist gewissermaßen die wesentliche Voraussetzung des heutigen Besuches des Nachfolgers des Apostels Petrus auf dem Bischofssitz von Rom bei eurer Kirche in Deutschland, bei euch hier in Köln, die ihr die Kirche Gottes darstellt, wie sie sich seit vielen Jahrhunderten um die römische ”Colonia Agrippina“ herausgebildet hat. Das herausragende Zeichen dieser Kirche ist bis heute ihr herrlicher Dom, dessen geistige Bedeutung euch beim diesjährigen Jubiläum wieder neu bewußt geworden ist: machtvoll kündet er vom Reich Gottes mitten unter uns.

Wir, die jetzt die Kirche Christi auf Erden bilden, auf diesem Stück deutscher Erde, müssen uns in der Dimension der Wahrheit vom Reich Gottes begegnen: Christus ist gekommen, um dieses Reich zu offenbaren und es auf dieser Erde einzuleiten, an jedem Ort der Erde, in den Menschen und zwischen den Menschen.

Dieses Reich Gottes ist mitten unter uns, so wie es in allen Generationen eurer Väter und Vorfahren gewesen ist. Wie sie bitten aber auch wir im ”Vater unser“ noch jeden Tag:”Dein Reich komme“.

Diese Worte bezeugen, daß das Reich Gottes immer vor uns liegt, daß wir ihm entgegengehen und dafür heranreifen inmitten der verschlungenen Wege, ja manchmal sogar der Irrwege unserer irdischen Existenz. Wir bezeugen mit diesen Worten, daß das Reich Gottes sich ständig verwirklicht und herannaht, auch wenn wir es so oft aus den Augen verlieren und seine vom Evangelium bestimmte Gestalt nicht mehr wahrnehmen. Es scheint oft, als ob die einzige und ausschließliche Dimension unserer Existenz ”diese Welt“ sei: ”das Reich dieser Welt“ mit seiner sichtbaren Gestalt, seinem atemberaubenden Fortschritt in Wissenschaft und Technik, in Kultur und Wirtschaft... atemberaubend und oft auch besorgniserregend! Wenn wir jedoch jeden Tag oder wenigstens dann und wann zum Beten niederknien, sprechen wir inmitten dieser Lebensumstände immer wieder dieselben Worte: ”Dein Reich komme“.

11 Liebe Brüder und Schwestern! Diese Stunden, in denen wir uns hier begegnen, die Zeit, die ich dank eurer Einladung und eurer Gastfreundschaft unter euch verbringen darf, ist die Zeit des Reiches Gottes: des Reiches, das schon ”da ist“ und zugleich jenes, das noch”kommt“. Darum müssen wir alles Wesentliche, was zu diesem Besuch gehört, mit Hilfe dieses Gleichnisses deuten, das wir im heutigen Evangelium hören: ”Das Himmelreich gleicht...“.

2. Wem gleicht es?

Nach den Worten Jesu, wie sie uns die vier Evangelisten überliefert haben, wird dieses Reich durch vielerlei Gleichnisse und Vergleiche erklärt. Der Vergleich von heute ist einer von vielen. Er erscheint uns besonders eng mit jener Arbeit verbunden, welche die Apostel Christi, darunter auch Petrus, sowie viele seiner Zuhörer am Ufer des Sees von Genesaret verrichteten. Christus sagt, das Himmelreich gleiche ”einem Netz, das man ins Meer warf, um Fische aller Art zu fangen!“. Diese einfachen Worte verändern völlig das Bild unserer Menschenwelt, wie wir es uns durch Erfahrung und Wissenschaft formen. Erfahrung und Wissenschaft können ja nicht jene Grenzen der ”Welt“ und der menschlichen Existenz in ihr überschreiten, die mit dem”Meer der Zeit“notwendig verbunden sind: die Grenzen einer Welt, in welcher der Mensch geboren wird und stirbt, entsprechend den Worten der Genesis:”Staub bist du und zum Staub mußt du zurück“. Der Vergleich Christi dagegen spricht von der Überführung des Meschen in eine andere”Welt“, in eine andere Dimension seiner Existenz. Das Himmelreich ist genau diese neue Dimension, die sich über dem ”Meer der Zeit“ eröffnet und zugleich das”Netz“ist, das in diesem Meer für das endgültige Geschick des Menschen und aller Menschen in Gott arbeitet.

Unser heutiges Gleichnis fordert uns auf, das Himmelreich als endgültige Erfüllung jener Gerechtigkeit zu erkennen, nach der der Mensch mit einer unüberwindlichen Sehnsucht verlangt, wie sie ihm der Herr ins Herz gelegt hat, jener Gerechtigkeit, die Jesus selbst wirkte und verkündete, jener Gerechtigkeit schließlich, die Christus mit seinem eigenen Blut am Kreuz besiegelt hat.

Im Himmelreich, dem ”Reich der Gerechtigkeit, der Liebe und des Friedens“ wird auch der Mensch sich selbst vollkommen finden. Denn der Mensch ist das Wesen, das aus der Tiefe Gottes hervorgeht und selbst eine solche Tiefe in sich birgt, daß nur Gott sie zu füllen vermag. Er, der Mensch, ist mit seinem ganzen Sein ein Abbild Gottes und ihm ähnlich.

3. Jesus hat seine Kirche auf die zwölf Apostel gegründet, von denen mehrere Fischer waren. Das Bild vom Netz lag so nahe. Jesus wollte sie zu Menschenfischern machen. Auch die Kirche ist ein Netz, verbunden durch den Heiligen Geist, verknüpft durch die apostolische Sendung, wirkmächtig durch die Einheit in Glaube, Leben und Liebe.

Ich denke in diesem Augenblick an das weitgespannte Netz der gesamten Weltkirche. Zugleich steht mir jede einzelne Kirche in eurem Land vor Augen, zumal die große Kirche von Köln und die benachbarten Bistümer. Und schließlich steht mir von Augen die kleinste dieser Kirche, die ”Ecclesiola“, die Hauskirche, der die jüngste Bischofssynode in Rom eine so große Aufmerksamkeit beim Thema über die ”Aufgaben der christlichen Familie“ geschenkt hat.

Die Familie: Hauskirche, einzigartige und unersetzliche Gemeinschaft von Personen, von der der hl. Paulus in der 2. Lesung von heute spricht. Er hat dabei natürlich die christliche Familie seiner Zeit vor Augen; was er sagt, müssen wir jedoch ebenso auf die Belange der Familien in unserer Zeit anwenden: das, was er den Ehemännern sagt, was er den Ehefrauen sagt, den Kindern und den Eltern. Und schließlich das, was er uns allen sagt: ”Darum bekleidet euch mit aufrichtigem Erbarmen, mit Güte, Demut, Milde und Geduld! Ertraget euch gegenseitig und vergebt einander... vor allem aber liebt einander, denn die Liebe ist das Band, das alles zusammenhält und vollkommen macht. In eurem Herzen herrsche der Friede Christi; dazu seid ihr berufen als Glieder des einen Leibes. Seid dankbar!“. Was für eine großartige Lektion an Ehe- und Familienspiritualität!

4. Aber wir dürfen die Augen auch vor der anderen Seite nicht verschließen; die Synodenväter in Rom haben sich sehr ernst auch mit ihr befaßt; ich meine die Schwierigkeiten, denen das hohe Ideal des christlichen Familienverständnisses und Familienlebens heute ausgesetzt ist. Die moderne Industriegesellschaft hat die Lebensbedingungen für Ehe und Familie grundlegend verändert. Ehe und Familie waren früher nicht nur Lebensgemeinschaft, sondern auch Produktions- und Wirtschaftsgemeinschaft. Sie wurden aus vielen öffentlichen Funktionen verdrängt. Das öffentliche Klima ist nicht immer freundlich gegenüber Ehe und Familie. Und doch erweisen sie sich in unserer anonymen Massenzivilisation als Zufluchtsort auf der Suche nach Geborgenheit und Glück. Ehe und Familie sind wichtiger denn je: Keimzellen zur Erneuerung der Gesellschaft, Kraftquellen, aus denen das Leben menschlicher wird. Ich darf das Bild aufgreifen: Netz, das Halt und Einheit gibt und heraushebt aus den Strömungen der Tiefe.

Lassen wir nicht zu, daß dieses Netz zerreißt. Staat und Gesellschaft leiten ihren eigenen Zerfall ein, wenn sie Ehe und Familie nicht mehr wirksam fördern und schützen und andere, nichteheliche Lebensgemeinschaften ihnen gleichstellen. Alle Menschen guten Willens, besonders wir Christen, sind aufgerufen, die Würde und den Wert von Ehe und Familie neu zu entdecken und überzeugend vorzuleben. Die Kirche bietet dazu aus dem Licht des Glaubens ihren Rat und ihren geistlichen Dienst an.

5. Ehe und Familie sind zutiefst verknüpft mit der personalen Würde des Menschen. Sie entspringen nicht nur dem Trieb und der Leidenschaft, auch nicht allein dem Gefühl; sie entspringen vor allem einem Entschluß des freien Willens, einer personalen Liebe, durch die die Gatten nicht nur ein Fleisch, sondern auch ein Herz und eine Seele werden. Die leibliche und sexuelle Gemenschaft ist etwas Großes und Schönes. Sie ist aber nur dann voll menschenwürdig, wenn sie in eine personale, von der bürgerlichen und kirchlichen Gemeinschaft anerkannte Bindung integriert ist.

12 Volle Geschlechtsgemeinschaft zwischen Mann und Frau hat darum ihren legitimen Ort allein innerhalb der ausschließlichen und endgültigen personalen Treuebindung in der Ehe. Die Endgültigkeit der ehelichen Treue, die heute vielen nicht mehr verständlich erscheinen will, ist ebenfalls ein Ausdruck der unbedingten Würde des Menschen. Man kann nicht nur auf Probe leben, man kann nicht nur auf Probe sterben. Man kalm nicht nur auf Probe lieben, nur auf Probe und Zeit einen Menschen annehmen.

6. So ist Ehe auf Dauer, auf Zukunft ausgerichtet. Sie schaut über sich hinaus. Die Ehe ist der einzig angemessene Ort für die Zeugung und Erziehung von Kindern. Darum ist eheliche Liebe ihrem Wesen nach auch auf Fruchtbarkeit ausgerichtet. In dieser Aufgabe, menschliches Leben weiterzugeben sind die Ehegatten Mitwirkende mit der Liebe Gottes, des Schöpfers. Ich weiß, daß auch hier in der heutigen Gesellschaft die Schwierigkeiten groß sind. Belastungen zumal der Frau, enge Wohnungen, wirtschaftliche, gesundheitliche Probleme, oft sogar ausgesprochene Benachteiligung kinderreicher Familien stehen einem größeren Kinderreichtum im Wege. Ich appelliere an alle Verantwortlichen, an alle Kräfte der Gesellschaft: Tut alles, um Abhilfe zu schaffen. Ich appelliere vor allem aber an eure Gewissen und an eure persönliche Verantwortung, liebe Brüder und Schwestern. In eurem Gewissen müßt ihr im Angesicht Gottes die Entscheidung über die Zahl eurer Kinder fallen.

Als Eheleute seid ihr aufgerufen zu einer verantwortlichen Elternschaft. Diese aber meint eine solche Familienplanung, die die ethischen Normen und Kriterien beobachtet, wie es auch von der letzten Bischofssynode unterstrichen worden ist. Mit großem Nachdruck möchte ich euch in diesem Zusammenhang heute nur dies eine besonders in Erinnerung rufen: Die Tötung ungeborenen Lebens ist kein legitimes Mittel der Familienplanung. Ich wiederhole, was ich am 31. Mai dieses Jahres den Arbeitern in der Pariser Vorstadt Saint-Denis gesagt habe: ”Das erste Recht des Menschen ist das Recht auf Leben. Wir müssen dieses Recht und diesen Wert verteidigen. Andernfalls würde die ganze Logik des Glaubens an den Menschen, das ganze Programm eines wahrhaft menschlichen Fortschritts erschüttert werden und in sich zusammenbrechen“. Es geht in der Tat darum, dem Leben zu dienen.

7. Liebe Brüder und Schwestern! Auf der unerläßlichen Grundlage und Voraussetzung des Gesagten wollen wir uns jetzt dem tiefsten Geheimnis von Ehe und Familie zuwenden. Die Ehe ist in der Sicht unseres Glaubens ein Sakrament Jesu Christi. Eheliche Liebe und Treue sind umgriffen und getragen von Gottes Liebe und Treue in Jesus Christus. Die Kraft seines Kreuzes und seiner Auferstehung trägt und heiligt die christlichen Eheleute.

Wie die kürzliche Bischofssynode in ihrer Botschaft an die christlichen Familien in der Welt von heute hervorgehoben hat, ist die christliche Familie in besonderer Weise berufen, am Heilsplan Gottes mitzuwirken, indem sie ihren Gliedern beisteht, ”auf daß sie zu aktiven Mitträgern der Heilsgeschichte und zu lebendigen Zeichen des Liebesplanes Gottes für die Welt werden“.

Als sakramental gegründete”Kirche im Kleinen“oder Hauskirche müssen Ehe und Familie eine Schule des Glaubens und ein Ort des gemeinsamen Gebets sein. Ich messe gerade dem Gebet in der Familie große Bedeutung zu. Es gibt Kraft zur Bewältigung der vielfältigen Probleme und Schwierigkeiten. In Ehe und Familie müssen die menschlichen und christlichen Grundhaltungen wachsen und reifen, ohne die Kirche und Gesellschaft nicht Bestand haben können. Hier ist der erste Ort christlichen Laienapostolates und des gemeinsamen Priestertums aller Getauften. Solche vom christlichen Geist geprägte Ehen und Familien sind auch die wahren Seminarien, das heißt Pflanzstätten für geistliche Berufe zum Priester- und Ordensstand.

Liebe Eheleute und Eltern, liebe Familien! Was könnte ich euch bei dieser heutigen eucharistischen Begegnung herzlicher wünschen, als daß ihr alle und jede einzelne Familie eine solche”Hauskirche“seid, eine Kirche im Kleinen! Daß sich bei euch das Gleichnis vom Reich Gottes verwirkliche! Daß ihr die Gegenwart des Reiches Gottes erfahrt, indem ihr selbst lebendiges”Netz“seid, das eint und trägt und Halt gibt - für euch selbst und für viele um euch herum.
Das ist mein Segenswunsch, den ich euch als euer Gast und Pilger und als Diener eures Heils ausspreche.

8. Und nun gestattet mir, daß ich mich am Schluß dieser grundlegenden Betrachtung über das Reich Gottes und die christliche Familie noch an den hl. Albert den Großen wende, dessen ”Siebenhundert-Jahr-Feier“ mich in eure Stadt geführt hat. Denn hier ist die Grabstätte dieses berühmten Sohnes eures Landes, der in Lauingen geboren wurde und in seinem langen Leben zugleich ein großer Wissenschaftler, ein geistiger Sohn des hl. Dominikus und der Lehrer des hl. Thomas von Aquin war. Er war einer der größten Geistesmenschen im 13. Jahrhundert. Er hat wie kaum ein anderer das ”Netz“ geknüpft, das Glaube und Vernunft, Gottesweisheit und Weltwissen miteinander verbindet. Wenigstens im Geiste besuche ich auch seine Geburtstadt Lauingen, wenn ich heute hier, in Köln, nahe bei seinem Grab weile und zusammen mit euch die Worte betrachte, durch die ihn die heutige Liturgie preist: ”Wenn Gott, der Höchste, es will, / wird er mit dem Geist der Einsicht erfüllt: / Er bringt eigene Weisheitsworte hervor, / und im Gebet preist er den Herrn. Er versteht sich auf Rat und Einsicht / und erforscht die Geheimnisse; / er offenbart den sittlichen Wert seiner Lehre, / und sein Ruhm ist das Bundesgesetz des Herrn. / Viele loben seine Einsicht; / sie wird niemals vergehen. / Sein Andenken wird nicht schwinden, / sein Name wird leben bis in ferne Geschlechter. / Von seiner Weisheit erzählt die Volksversammlung, / sein Lob verkündet die Gemeinde“.

Diesen Worten des weisen Jesus Sirach braucht man nichts hinzuzufügen. Man sollte aber auch keines auslassen. Denn sie beschreiben vollständig die Gestalt jenes Mannes, dessen sich euer Vaterland, eure Stadt zu Recht rühmen, der der ganzen Kirche zur Freude gereicht. Albertus Magnus, doctor universalis - Albert der Große, von umfassender Gelehrsamkeit: ein wahrer ”Jünger des Gottesreiches“!

Wenn wir heute miteinander die Berufung der christlichen Familie für den Aufbau des Reiches Gottes auf Erden bedacht haben, dann sollen uns die Worte des Gleichnisses Christi auch die tiefste Deutung dieses Heiligen geben, dessen wir heute feierlich gedenken. Christus sagt nämlich:”Jeder Schriftgelehrte also, der ein Jünger des Himmelreiches geworden ist, gleicht einem Hausvater, der aus seinem reichen Vorrat Neues und Altes hervorholt“.

13 Einem solchen Hausvater gleicht auch der hl. Albert! Sein Vorbild und seine Fürsprache mögen mich begleiten, wenn ich bei meiner Pilgerreise durch euer Land versuche, als Menschenfischer das Netz dichter zu knüpfen und weiter auszuwerfen, damit Gottes Reich komme. Amen.


Ruf des Papstes für die Entführung eines elfjährigen Mädchens

Bevor wir nun jedoch die Liturgiefeier fortsetzen, ist es mir im Rahmen unserer heutigen Besinnung auf Ehe und Familie noch ein Herzensanliegen, in euer aller Namen meine Betroffenheit über die kürzlich erfolgte unmenschliche Entführung eines elfjährigen Mädchens, Cornelia Becker, hier in eurem Land zu bekunden. Wir bangen zusammen mit den Eltern um das Schicksal ihrer Tochter. Wieder einmal fühlen wir schmerzlich, wozu menschliche Verirrung und Rücksichtslosigkeit fähig sind. Im Namen der Menschlichkeit appelliere ich an das Gewissen der Entführer: Laßt ab von eurem grausamen Tun! Gebt das unschuldige Kind Cornelia unverzüglich frei! - Wir wollen dieses Anliegen jetzt auch im Gebet vor Gott tragen, der Zugang zum Herzen der Menschen hat, wo unser Reden versagt. Beten wir mit den bangen Eltern um ein baldiges frohes Wiedersehn mit ihrer Tochter.



Osnabrück, 16. November 1980



Verehrte Mitbrüder,
liebe Brüder und Schwestern im Herrn!

1. Als der Evangelist Johannes aus dem vertrauten Umgang mit seinem Meister und aus der tiefen Kenntnis des liebenden Herzens Jesu die Worte des heutigen Evangeliums geformt hat, das Abschiedsgebet des Herrn, da sah er vor sich die ersten christlichen Gemeinden: nur mühsam und langsam hatten sie sich gebildet, zunächst in Palästina, dann nach einer ersten Verfolgung und Flucht in Antiochien und von da aus unter dem missionarischen Elan des heiligen Paulus bis nach Kleinasien und Griechenland und sogar bis nach Rom. Aber immer noch war ihr Bestand ziemlich klein und gefährdet; als Minderheit lebten diese Gemeinden unter der großen Überzahl der Heiden im Römischen Reich.

Diese Christen will der Evangelist trösten und stärken, wenn er ihnen schreibt, wie Jesus selbst gerade für sie gebetet hat: ihnen hat Jesus den ”Namen“ Gottes geoffenbart - ihnen hat er seine ”Herrlichkeit“ geschenkt - in ihnen soll die Liebe sein, die zwischen Gott, dem Vater, und dem Sohn besteht - so sollen sie ”vollkommen eins sein“, wie Jesus mit dem Vater eins ist. Machtvolle Worte der Tröstung und der inneren Stärkung für ein anstrengendes Leben in der ”Zerstreuung“, in der ”Diaspora“!

Meine Brüder und Schwestern! Euch allen bringe ich heute dieses Evangelium, diese Frohe Botschaft, dieses wirksame Gebet Jesu: es gilt euch, den Gläubigen dieser altehrwürdigen Diözese, die soeben die Jubiläumsfeier ihres 1200jährigen Bestehens festlich begangen hat; es gilt allen Katholiken in der Diaspora Norddeutschlands und Skandinaviens, an die ich mich heute aus dieser Stadt Osnabrück, dem Bischofssitz des nördlichsten Bistums dieses Landes, besonders wenden möchte.

Ich grüße mit besonderer Freude die hier anwesenden Oberhirten aus dieser und den benachbarten Diözesen, insbesondere aus Berlin und aus Skandinavien, und ebenso die Priester und Gläubigen aus jenen Diasporagebieten und -ländern. Der oberste Hirte der Kirche, die geeint lebt unter vielen Völkern, ist zu euch gekommen, um mit euch zusammen Gott zu danken für euren Glaubensmut und euch darin zu bestärken, auch weiterhin lebendige Zeugen unserer Erlösung in Christus zu sein.

2. Die Glaubenssituation der Katholiken in dieser weiträumigen Diaspora ist sehr unterschiedlich und schwierig. Sie ist dazu, gerade in den norddeutschen Diözesen, noch von einem besonderen geschichtlichen Umstand entscheidend mitgeprägt. Nach Kriegsende sind Hunderttausende, die ihre alte Heimat verlassen mußten, darunter viele Katholiken, in große Gebiete dieser Bistümer eingeströmt und dort seßhaft geworden, die bis dahin eine fast ausschließlich evangelische Bevölkerung hatten. Neben ihrem geringen Gepäck an äußerer Habe brachten diese Menschen als kostbarsten Besitz vor allem ihren Glauben mit, oft nur symbolisiert im abgegriffenen Gebetbuch ihrer alten Heimat.

14 Viele von euch, liebe Glaubensbrüder und -schwestern, erinnern sich noch daran, wie sie damals in der Fremde eine neue Bleibe suchen mußten, wie es darum ging, die notwendigsten Bedürfnisse des Lebens zu sichern, und wie zugleich Hunderte von neuen katholischen Gemeinden gegründet werden mußten. Ihr habt unter der Anleitung von tatkräftigen Priestern und Bischöfen neue Kirchen gebaut und Altäre errichtet. Obwohl ihr selbst Not littet und in großer Sorge um eure Familien lebtet, habt ihr euch in der neuen Heimat sogleich für den Aufbau des kirchlichen Lebens eingesetzt und dabei manches Opfer gebracht. Dadurch habt ihr vor aller Welt bekundet, daß ihr feststeht im Glauben, daß ihr euch durch das auferlegte Kreuz nicht verbittern ließet, ja sogar Leid in Segen und Zwietracht in Versöhnung wandeln konntet. Für dieses Beispiel der Glaubenstreue müssen wir euch allen sehr dankbar sein.

Im Rückblick auf die Entfaltung des kirchlichen Lebens in jenen schweren Jahren gedenken wir auch dankbar der vielen evangelischen Gemeinden in diesem Land, die lange Zeit ihre Kirchen auch den katholischen Christen geöffnet haben und so deren Seelsorgern die Möglichkeit gaben, die zerstreute Herde wieder zu sammeln.

3. In der Tat, harte Zeiten haben bittere Wunden geschlagen; aber der Herr hat auch geheilt und geholfen. Daran zu erinnern, scheint gerade heute angemessen, da euer Land durch den ”Volkstrauertag“ der unzähligen Toten des letzten Krieges gedenkt. Derselbe Herr Jesus Christus aber, der auch gestern mit seiner tröstenden Stärke beigestanden hat, wendet euch auch heute und morgen die Kraft seiner Liebe zu, damit wir immitten der Prüfungen dieser Zeit glaubwürdige Zeugen seiner befreienden Botschaft bleiben.

So habt ihr - nach den Worten der 2. Lesung der heutigen Liturgiefeier aus dem 1. Petrusbrief - sogar guten Grund, ”voller Freude zu (sein), obwohl ihr jetzt vielleicht kurze Zeit unter mancherlei Prüfungen leiden müßt. Dadurch soll sich euer Glaube bewähren, und es wird sich zeigen, daß er wertvoller ist als Gold, das im Feuer geprüft wurde“. Die Bewährung eures Glaubens: das ist eure Chance! Ein innerlicher reifer, verantwortungsbewußter Glaube: das kann euer Geschenk für die ganze Kirche sein! Und für euch selbst könnt ihr so ”das Ziel eures Glaubens erreichen, euer Heil“, das euch ”bei der Offenbarung Jesu Christi“ zuteil werden soll. ”Ihn habt ihr nicht gesehen, und dennoch liebt ihr ihn; ihr seht ihn jetzt nicht, aber ihr glaubt an ihn“. Durch seine Auferstehung von den Toten habt ihr ”eine lebendige Hoffnung” auf das ”unzerstörbare... unvergängliche Erbe..., das für euch im Himmel aufbewahrt ist“. ”Gottes Macht“ selbst ist es, die euch in diesem Glauben bestärkt, wenn ihr - so dürfen wir hinzufügen - das euch Mögliche tut, um euren Glauben lebendig und kraftvoll zu erhalten. Eure Lebenssituation als Christen in der Diaspora bildet dafür eine besondere Herausforderung.

Die wenigsten von uns können sich für ihre Glaubenspraxis heute noch einfach von einer starken gläubigen Umgebung mittragen lassen. Wir mussen uns vielmehr bewußt dafür entscheiden, bekennende Christen sein zu wollen und den Mut zu haben, uns von unserer Umgebung, wenn nötig, zu unterscheiden. Voraussetzung für solch ein entschiedenes christliches Lebenszeugnis ist, daß wir den Glauben als eine kostbare Lebenschance wahrnehmen und ergreifen, die den Lebensdeutungen und der Lebenspraxis der Umwelt überlegen ist. Wir sollten jede Gelegenheit nutzen, um zu erfahren, wie der Glaube unser Leben bereichert, wie er in uns zuverlässige Treue im Lebenskampf bewirkt, wie er unsere Hoffnung stärkt gegen den Ansturm jeder Art von Pessimismus und Verzweiflung, wie er uns an allem Extremismus vorbei zu einem überlegten Engagement für Gerechtigkeit und Frieden in der Welt motiviert, wie er uns schließlich im Leid trösten und aufrichten kann. Aufgabe und Chance der Diasporasituation ist es also, bewußter zu erfahren, wie der Glaube hilft, voller und tiefer zu leben.

4. Niemand aber glaubt nur für sich allein. Der Herr hat seine Jünger in eine Gemeinschaft berufen, in das pilgernde Gottesvolk, in die Kirche, die er wie einen lebendigen Leib mit seiner Lebenskraft durchwirkt. Dort wo mehrere Gläubige zum gemeinsamen Bekennen, Feiern, Beten und Handeln zusammenkommen, will der Herr ihnen begegnen. ”Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen“. Als wollte der Herr mit diesen Worten bereits auf eine Diasporasituation anspielen, spricht er nicht von tausend, nicht von hundert oder zehn, sondern von ”zwei oder drei“! Schon hier verspricht uns der Herr seine helfende Gegenwart!

Darüber hinaus bieten eure Diözesen und Pfarrgemeinden vielfältige Möglichkeiten, nicht nur einem oder zwei Mitchristen im Glauben zu begegnen, sondern ganzen Gemeinden und Gruppen. Dafür möchte ich an dieser Stelle allen Priestern und Laienhelfern von Herzen danken, die sich trotz großer Schwierigkeiten mit aufopferndem Eifer für ein reges und fruchtbares Gemeindeleben unermüdlich einsetzen. Zugleich bitte ich alle Gläubigen, die sich bietenden Gelegenheiten zum Besten ihres Glaubens und ihrer Zukunft in Gott zu nutzen. Seid besonders treu und zuverlässig im Besuch der heiligen Messe am Sonntag oder am Samstagabend. Und dort, wo die sonntägliche Eucharistiefeier wegen der großen Entfernungen nicht erreichbar ist, wo aber doch ein Wortgottesdienst, vielleicht mit Austeilung der heiligen Kommunion, sein kann, nehmt daran teil!

Wo wir in Jesu Namen versammelt sind, da ist er mitten unter uns.

5. Vor allem aber möchte ich euch dazu ermutigen, den Kontakt zu euren evangelischen Mitchristen in aufrichtigem Glauben zu suchen und zu vertiefen. Die ökumenische Bewegung der letzten Jahrzehnte hat euch hellsichtig dafür gemacht, wie sehr die evangelischen Christen in ihren Sorgen und Freuden mit euch verbunden sind und wieviel Gemeinsames ihr zusammen mit ihnen besitzt, dort wo ihr und sie den Glauben an unseren Herrn Jesus Christus ehrlich und konsequent leben. So danken wir Gott aus ganzem Herzen, daß die verschiedenen kirchlichen Gemeinschaften in euren Gegenden sich nicht mehr verständnislos gegenüberstehen oder sich sogar ängstlich voreinander abriegeln. Ihr habt vielmehr schon oft die beglückende Erfahrung gemacht, daß dann ein gegenseitiges Verstehen und Annehmen besonders leicht war, wenn beide Seiten ihren Glauben gut kannten, ihn freudig bejahten und die konkrete Gemeinschaft mit den eigenen Glaubensbrüdern hochschätzten. Ich möchte euch ermutigen, diesen Weg weiterzugehen.

Lebt euren Glauben als katholische Christen in Dankbarkeit vor Gott und eurer kirchlichen Gemeinschaft; gebt in aller Demut und ohne jede Selbstgefälligkeit ein glaubwürdiges Zeugnis von den inneren Werten eures Glaubens und ermutigt unaufdringlich und liebenswürdig auch eure evangelischen Mitchristen, ihre eigenen Glaubensüberzeugungen und religiösen Lebensformen auf Christus hin zu kräftigen und zu vertiefen. Wenn wirklich alle Kirchen und Gemeinschaften auf die Fülle des Herrn hinwachsen, wird uns sein Geist ganz gewiß den Weg zeigen, zur vollen inneren und äußeren Einheit der Kirche zu gelangen.

Jesus selbst hat um die vollkommene Einheit der Seinen gebetet: ”Alle sollen eins sein; wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaubt, daß du mich gesandt hast“. So hörten wir soben im Evangelium. Und noch einmal, noch eindringlicher bittet Jesus seinen göttlichen Vater: ”Die Herrlichkeit, die du mir gegeben hast, habe ich ihnen gegeben, damit sie eins sind, wie wir eins sind, ich in ihnen und du in mir. So sollen sie vollkommen eins sein, damit die Welt erkennt, daß du mich gesandt hast und die Meinen ebenso geliebt hast wie mich“.

15 Diese Bitte um Einheit soll nach dem Willen Jesu gerade auch für alle jene Christen gelten, die sich gegenseitig im Glauben stützen und bestärken: ”Ich bitte nicht nur für sie“, so betet Jesus, ”sondern auch für alle, die durch ihr Wort an mich glauben“. So dürfen wir zuversichtlich hoffen, daß alle ökumenischen Gespräche, alles gemeinsame Beten und Handeln von Christen verschiedener Konfessionen bereits in dieses innige Gebet Jesu eingeschlossen ist: ”Alle sollen eins sein: wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns sein“. An dieser Einheit hängt die Glaubwürdigkeit der Botschaft von der Erlösung durch Christi Tod und Auferstehung: ”damit die Welt glaubt, daß du mich gesandt hast“. Eine Bedingung allerdings deutet der Herr im selben Gebet an: ”Ich habe ihnen deinen Namen kundgetan und werde ihn kundtun, damit die Liebe, mit der du mich geliebt hast, in ihnen ist und damit ich in ihnen sei“. Wir werden nur dann wirklich ”im Namen Jesu“ ökumenisch beten und handeln, wenn wir die Liebe zu Christus und zueinander bewahren und zur Grundlage aller Bemühungen um eine tiefere Einheit machen. Ich vertraue fest darauf, daß dieses Gebet des Sohnes Gottes, unseres Herrn und Bruders, um die Einheit aller Christen einmal seine volle Frucht bringen wird. Wir wollen ihn bitten, daß er an uns Wirklichkeit werden lasse, was der Prophet uns in der ersten Lesung heute angekündigt hat: ”So spricht Gott, der Herr: Ich hole euch aus den Völkern heraus, ich sammle euch in allen Ländern und bringe euch in euer Land. Ich gieße reines Wasser über euch, damit ihr rein werdet... Ich schenke euch ein neues Herz und gebe euch einen neuen Geist... Ich lege meinen Geist in euch hinein und bewirke, daß ihr nach meinen Gesetzen lebt und meine Gebote achtet und erfüllt. Dann werdet ihr mein Volk sein, und ich werde euer Gott sein“.

6. Liebe Brüder und Schwestern! Ihr lebt euren Glauben gewiß unter schwierigen Bedingungen.

Andere Diözesen eures Landes, die besser gestellt sind, stehen euch jedoch mit vielfältigen Hilfen solidarisch zur Seite, so vor allem durch die sehr verdiente und erprobte Einrichtung des Bonifatiuswerkes. Ihr wiederum beteiligt euch am Ansgarwerk, mit dem ihr den skandinavischen Diözesen brüderlichen Halt und Beistand gewährt. Im Reiche Gottes verliert derjenige ja nichts, der zu teilen versteht; im Gegenteil, er wird erst dann zu einem wahren Jünger Christi, der selbst für uns arm wurde, um uns alle reich zu machen.

Christsein in der Diaspora muß getragen sein vom Bewußtsein, zu einer großen Gemeinschaft von Menschen, zum Volk Gottes aus allen Völkern dieser Erde, zu gehören. Auch in der ”Zerstreuung“ seid ihr zusammen mit euren Priestern und Bischöfen auf vielfältige Weise mit der Kirche eures ganzen Landes und mit der Weltkirche verbunden. Darum sehe ich es als sehr glücklich an, daß ich als Bischof von Rom heute, am zweiten Tag meines Besuches in Deutschland, gerade in dieser Bischofsstadt mit ihren Verbindungen bis in den hohen Norden Europas, in eurer Mitte sein kann und mit euch die heilige Eucharistie feiere.

Eucharistie bedeutet Danksagung der gläubigen Gemeinde an den Herrn ”in der Gemeinschaft mit der ganzen Kirche“, wie wir im ersten Meßkanon beten. Wir wollen heute gemeinsam mit allen Gläubigen Gott besonders für die Gnaden danken, durch die er euren Glauben und eure Liebe zur Kirche auch unter schwierigen Umständen und in Zeiten schwerer Prüfungen bewahrt und gestärkt hat. Die Meßfeier selbst ist der nie versiegende Kraftquell für das religiöse Leben und die Glaubensbewährung eines jeden Christen. Sie erhält und nährt unsere Gemeinschaft mit Christus durch die lebendige Gemeinschaft mit seinem Mystischen Leib, der die Kirche ist.

Wenn uns gleich in der heiligen Kommunion das Brot des Herrn gebrochen und sein Leib gereicht wird, leben und verwirklichen wir deutlich und greifbar diese innerste Einheit des Leibes Christi, die Gemeinschaft aller Gläubigen. Werdet euch heute in froher Dankbarkeit dieser tiefen inneren Einheit der Kirche über alle menschlichen Grenzen und Schranken hinweg wieder neu bewußt! Tragt dieses Bewußstein wie einen kostbaren Schatz in eure Gemeinden, in eure Nachbarschaft, in eure Familien! Denn ihr seid als Gläubige niemals nur ”wenige“, niemals ”allein“, sondern stets vereint mit den ”Vielen“, die über die weite Welt hin mit euch in Glaube und Hoffnung dem Herrn Jesus Christus nachfolgen und seine erlösende Liebe bezeugen. Er ist die Kraft unseres Glaubens und der Grund unserer Zuversicht - er segne euch und eure Familien und führe euren Pilgerweg als katholische Christen eimal an sein ewiges Ziel, in die endgültige Heimholung aller Gläubigen aus der Zerstreuung dieser Zeit in sein ewiges Reich. Amen.



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