Predigten 1978-2005 24

Fulda, 18. November 1980

24


1. Erlaubt mir, verehrte Brüder im bischöflichen und im priesterlichen Amt, Brüder und Schwestern der religiösen Orden und Kongregationen; erlaubt mir, hier anwesende Vertreter des Laienapostolates, daß ich zuerst demjenigen meine Verehrung erweise, zu dessen Grab wir auf dieser Pilgerfahrt gekommen sind, hierher nach Fulda, zum Heiligtum eurer Nation.

Der hl. Bonifatius war Benediktiner, Mitglied jenes ehrwürdigen Ordens, der zu den Zeiten Gregors des Großen mit dem Mönch Augustinus auf die britischen Inseln gekommen war. Bonifatius vernahm den Ruf der Völker, die in Germanien die Gebiete östlich des Rheins bewohnten. Er folgte ihm als dem Ruf Christi und setzte so seinen Fuß in das Land eurer Vorfahren.

Der hl. Bonifatius, Bischof und Märtyrer, bedeutet den ”Anfang“ des Evangeliums und der Kirche in eurem Land. Wir sind heute gekommen, um bei diesem ”Anfang“ anzuknüpfen; um uns seinen Dimensionen zu öffnen. Der ”Anfang“ bedeutet das Werk Gottes selbst, der sich des Zeugnisses eines Menschen bedient hat: des Zeugnisses von Bonifatius, von seinem Leben und seinem Martyrium.

2. In der zweiten Lesung spricht der hl. Paulus zu uns mit dem Worten seines Briefes an die Thessalonicher, aber niemand zweifelt daran, daß die Worte des Völkerapostels auch dem Apostel Deutschlands in den Mund gelegt werden können. Sie entspringen ebenso seinem Herzen, wie sie einst dem Herzen des Paulus von Tarsus entsprungen sind.

”Wir haben im Vertrauen auf unseren Gott das Evangelium Gottes trotz harter Kämpfe freimütig und furchtlos bei euch verkündet“. Bei euch? Welches waren jene Völker? Wie lauteten die historischen Namen jener Stämme, zu denen Bonifatius als Missionar gekommen ist? Die Historiker nennen die Thüringer und die Hessen, die Alemannen, die Baiern und die Friesen. Der hl. Bonifatius, an dessen Grab wir hier in Fulda weilen, hat zu diesen Völkern die Worte des Evangeliums und jene einzigartige Liebe gebracht, die durch die Kraft des Heiligen Geistes Erbe seines Herzens geworden ist - für ihn wie für viele vor und nach ihm: für Apostel, Missionare und Hirten. ”Als Apostel Christi“, schreibt Paulus, ”sind wir euch voll Liebe begegnet: Wie eine Mutter für ihre Kinder sorgt, so waren wir euch zugetan. Wir waren gewillt, euch nicht nur das Evangelium Gottes zu geben, sondern unser eigenes Leben; denn ihr wart uns sehr lieb geworden“.

3. Wenden wir nun unseren Blick von der Lesung des Thessalonicher-Briefes fort und versetzen wir uns in den Abendmahlssaal am Tag vor Ostern. Christus sagt: ”Ich nenne euch nicht mehr Knechte, denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr tut. Vielmehr habe ich euch Freunde genannt; denn ich habe euch alles mitgeteilt, was ich von meinem Vater gehört habe“. Ein bedeutungsvoller Gegensatz: Knecht ist der, der nicht weiß; Freund - derjenige, dem mitgeteilt worden ist, dem alles anvertraut wurde; derjenige, der weiß.

Und was weiß und kennt dieser Freund und Apostel? Er kennt das, was Christus selbst vom Vater gehört hat. Weil Christus genau das, was er vom Vater gehört hat, denen mitgeteilt hat, die er auserwählte: den Aposteln, den Freunden.

Bonifatius, der vor Jahrhunderten in das Land eurer Vorfahren gekommen ist, hatte das gleiche Bewußtsein und die gleiche Gewißheit, in der Christus im Abendmahlssaal seine Apostel bestärkte, als er sie Freunde nannte: Wir predigen, ”weil Gott uns geprüft und uns das Evangelium anvertraut hat, nicht also um Menschen, sondern um Gott zu gefallen, der unsere Herzen prüft“. Diese Worte stammen von Paulus, dem Apostel der Nationen, aber die heutige Liturgie legt sie Bonifatius in den Mund, dem Apostel Deutschlands. Und sie tut dies mit vollem Recht. Das Werk der Evangelisierung, das er in eurem Land durchgeführt hat, beruht auf der Tatsache, daß er Gottes Lehre verkündigte - und nur Gottes Lehre. Er war bereit, sein Leben hinzugeben aus Liebe für die, zu denen er gesandt war. Das Evangelium und die Kirche sind erbaut auf dem Fundament der göttlichen Wahrheit und der Liebe, die ”der Heilige Geist in unsere Herzen ausgegossen hat“.

4. Das Evangelium gefällt jedoch den Menschen nicht immer. Und es kann ihnen auch nicht immer gefallen. Es darf nicht zu ”Schmeicheleien“ verfälscht werden, auch darf man in ihm nicht den persönlichen Vorteil suchen noch ”eitlen Ruhm“. Den Hörern kann es mitunter als ”harte Rede“ erscheinen, und wer es verkündigt und bekennt, kann zum ”Zeichen des Widerspruches“ werden.

25 Denn diese göttliche Wahrheit, diese frohe Botschaft, birgt in der Tat eine große innere Spannung in sich. In ihr verdichtet sich der Gegensatz zwischen dem, was von Gott stammt, und dem, was aus der Welt kommt. Christus sagt: ”Wenn ihr von der Welt stammen würdet, würde die Welt euch als ihr Eigentum lieben; da ihr aber nicht von der Welt stammt, darum haßt euch die Welt...“. Und: ”Wisset, daß sie mich vor euch gehaßt hat“.

In die Herzmitte des Evangeliums, der Frohen Botschaft, ist das Kreuz eingeprägt. In ihm überschneiden sich die beiden großen Strömungen: eine, die von Gott zur Welt geht, zu den Menschen in der Welt, eine Strömung der Liebe und Wahrheit; die zweite, die durch die Welt verläuft: die Begierde der Augen, die Begierde des Fleisches, das Prahlen mit dem Besitz. Sie kommen nicht ”vom Vater“.

Diese Kreuzung der beiden Strömungen dauert fort und wiederholt sich im Laufe der Geschichte unter verschiedenen Aspekten. In ihrer Mitte lebt Christus selbst fort. Christus ist nicht in die Welt gekommen, nur um die Welt vom hohen Richterstuhl der absoluten transzendentalen Wahrheit aus zu verurteilen. Er ist gekommen, damit die Welt durch ihn gerettet wird... Und darum sendet er seine Jünger in die Welt: in ”die ganze Welt“. Er sagt ihnen: ”Wenn sie mich verfolgt haben, werden sie auch euch verfolgen; wenn sie an meinem Wort festgehalten haben, werden sie auch an eurem Wort festhalten“. Muß man nicht gerade hier am Grab des hl. Bonifatius in Fulda bei der großartigen Aussagekraft dieser Worte verweilen?

5. Wir haben all das betrachtet, was der heutige Wortgottesdienst in sich birgt, wir haben es mit aller Sorgfalt meditiert, um dem ersten Patron Deutschlands die Ehre zu erweisen. Denn alle Worte der Liturgie beziehen sich auf ihn. Von ihm reden sie. Er ist gerade deshalb wie ein Eckstein der Kirche in eurem Vaterland geworden, weil sich diese Worte in ihm erfüllt haben.

Wie Sauerteig das Mehl durchdringt, so hat Bonifatius mit seinem Zeugnis die Herzen im Geiste Christi durchdrungen und verwandelt. Wir gedenken mit ihm aller Söhne und Töchter eurer Heimat, so wie die erste Lesung aus dem Buch Jesus Sirach von ihnen spricht: ”Die ehrwürdigen Männer will ich preisen, unsere Väter, wie sie aufeinander folgten. Viel Ehre hat der Höchste ausgeteilt, viel von seiner Größe, seit den Tagen der Vorzeit: Männer, die über die Erde als Könige herrschten und die berühmt waren durch ihre Macht; die Rat erteilten durch ihre Einsicht, die prophetisch alle Dinge erschauten. Sie alle waren geehrt zu ihrer Zeit, und ihr Ruhm blühte in ihren Tagen. Manche hinterließen einen Namen, so daß man ihr Lob weiter erzählte. Und jene sind die ehrwürdigen Männer, deren Verdienste nicht vergessen wurden. Bei ihren Nachkommen bleibt ihr Gut, ihr Erbe bei ihren Enkeln“.

Wie viele Namen und Zunamen müßte man hier erwähnen! Hier nur einige Beispiele: Bruno von Querfurth und Benno von Meissen; Hildegard von Bingen und Elisabeth von Thüringen; Hedwig von Andechs und Gertrud von Helfta; Albert der Große und Petrus Canisius; Edith Stein und Alfred Delp, Franz Stock und Karl Sonnenschein. Wirklich, ”ihre Verdienste sind nicht vergessen worden...“. ”Ihr Leib ist in Frieden bestattet, ihr Name lebt fort von Geschlecht zu Geschlecht. Von ihrer Weisheit erzählt die Gemeinde, ihr Lob verkündet das versammelte Volk“.

6. Und seht, indem wir dem Gedankengang der alttestamentlichen Lesung folgen und wir unseren Blick auf dieses wunderbare Bild richten, das die Liturgie vor uns zeichnet, gelangen wir bis zu eurer Generation in der Gegenwart.

Liebe Brüder und Schwestern! In der Tat hat, trotz aller Unterschiede, unsere Situation, unsere Aufgabe hat vieles gemein mit dem Auftrag des hl. Bonifatius. Mit ihm begann gewissermaßen die Geschichte des Christentums in eurem Land. Viele sagen, diese Geschichte des Christentums in eurem Land soll jetzt neu beginnen, und zwar durch euch, durch euer im Geist des hl. Bonifatius geformtes Zeugnis!

Wie kostbar ist es, daß ich gerade euch, liebe Katholiken aus den Räten und Verbänden des Laienapostolats, das ans Herz legen kann. Die Geschichte der katholischen Verbände in den letzten 130 Jahren, aber auch das Wirken der Räte des Laienapostolats, die bei euch eine gute Tradition haben und seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil überall entstanden sind, bieten eine verheißungsvolle Voraussetzung für den Auftrag der Stunde. Ruht nicht aus auf dem Erreichten, sondern wagt mutig wie Bonifatius den Anfang. Gebt als ”Freunde Christi“ den Menschen von heute das ”Evangelium Gottes“ und euer ”eigenes Leben“.

7. Durch Bonifatius ist nicht nur der Glaube gewachsen, sondern auch jene menschliche Kultur blühte auf, die Frucht und Bestätigung des Glaubens ist. In Glaubensvermittlung und Weltdienst habt auch ihr heute eure vornehmste Aufgabe als Laien. Wenn die Menschen, gerade die Jugend, ungestüm nach dem Sinn des Lebens fragen: Gebt ihr ihnen eine überzeugende, verständliche Antwort. Wenn das Recht auf Leben, wenn die ethischen Grundsätze wahrhaft humaner Kultur bedroht sind: schützt ihr das Recht und die Würde des Menschen! Wenn in Bildung und Erziehung ein bloß funktionalistisches, sinnentleertes Menschenbild um sich greift: tretet ihr ein für eine Bildung, die ausgeht vom Menschen als Bild Gottes! Wenn Konsum und Genuß einerseits, Angst vor der Grenze des Wachstums andererseits die Stimmung in der Gesellschaft prägen: entwickelt ihr einen neuen Lebensstil und menschliche Lebensbedingungen, die von der Hoffnung zeugen, die Christus uns schenkt.

Sankt Bonifatius hatte zur Schwester eine große Frau: die hl. Äbtissin Lioba, deren Grab nur wenige Kilometer von hier verehrt wird: schenkt ihr der Frau in unserer Gesellschaft und Kirche jene Bedeutung und jene Beachtung, die sie ihren hohen Auftrag erfüllen lassen für ein wahrhaft menschliches und christliches Leben. Wenn bei allem Fortschritt der Menschheit auch die Gruppe jener wächst, die in Randsituationen leben oder nicht voll teilhaben an den Früchten der allgemeinen Entwicklung: tretet ihr ein für das Recht und das Glück aller, seid ihr Vorkämpfer für eine weltumspannende soziale Ordnung, für Freiheit, Gerechtigkeit, Friede.

26 8. Liebe Brüder und Schwestern! Ihr seid mitverantwortlich für die Zukunft unserer Kirche. Seid selber ganz und gar Kirche. Stellt in euren Vereinigungen die Wesensmerkmale der Kirche, der einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche dar.

Seid eins untereinander, seid - wie es eurer großen Tradition entspricht - Säulen und Stützen der Einheit zwischen der Herde Christi und ihren von Christus gesandten Hirten. Handelt nicht aus Prestige, Egoismus, Eigensinn, sondern seid ”ein Herz und eine Seele“. Fördert mit Nachdruck die Einheit der getrennten Christenheit! Die Einheit der Kirche war die Leidenschaft des hl. Bonifatius.

Seid heilig! Ja, heiligt euer eigenes Leben und haltet in eurer Mitte den gegenwärtig, der allein heilig ist. Nur wenn ihr die unverwechselbare Eigenart des Evangeliums zu eurer Lebensart macht, könnt ihr Menschen begeistern und anziehen. Und dient in eurem Weltzeugnis der Heiligung der Welt.

Bonifatius war ein Heiliger im Leben und Sterben.

Seid katholisch, allumfassend, offen, weltweit wie Bonifatius, der England und Deutschland und Rom in seinem Leben und Herzen verband. Schließt euch nicht in euren eigenen Sorgen und Problemen ein. Euer Einsatz für die ganze Menschheit, für die Dritte Welt, für Europa ist gefordert, damit der neue Anfang gelingt.

Seid schließlich Apostel, Zeugen des Glaubens nach dem Beispiel des Blutzeugen und Apostels der Deutschen, Bonifatius, eins mit Papst und Bischöfen, aber zugleich mutig zum unvertretbar und unabnehmbar eigenen Einsatz.

9. Erlaubt mir, liebe Brüder und Schwestern, daß ich diese Überlegungen am Grab des hl. Bonifatius, des Apostels eures Landes, mit einem Wunsch abschließe, den ich der heutigen Liturgie entnehme. Wir lesen im Buch Jesus Sirach: ”Ihre Nachkommen halten fest an ihrem Bund und ebenso ihre Kinder um der Väter willen. Ihre Nachkommen haben für immer Bestand, und ihre Frömmigkeit wird nie vergessen“.

Was kann ich euch noch und was kann ich euch mehr wünschen, der gegenwärtigen christlichen Generation auf deutschem Boden? Und was könnten wir gemeinsam inniger erbitten, hier an diesem heiligen Ort? Daß die nachfolgenden Generationen den Glauben an den Bund bewahren. Daß Christus ihr Weg, ihre Wahrheit und ihr Leben sei. Daß sie, wie ihr, zu diesem Ort kommen mögen, der den ”Anfang“ des Werkes Gottes in eurer Heimat bedeutet. Daß sie von hier aus die Gegenwart immer neu prägen.

... und eure Frömmigkeit wird nie vergessen.





Altötting, 18. November 1980

27


Liebe Brüder und Schwestern im Herrn!

1. Auf der Pilgerfahrt durch euer Land kommen wir beim Hause des Herrn, bei diesem Heiligtum zusammen, um uns in besonderer Weise mit Maria, Unserer Lieben Frau, zu treffen. An dieser Begegnung nehmt vor allem ihr teil, ehrwürdige Brüder und Schwestern, die ihr als Mitglieder der Orden, der Säkularinstitute und anderer geistlicher Gemeinschaften unter einer besonderen Berufung steht. Ihr könnt von euch sagen, daß durch eure geweihte Ganzhingabe ”euer Leben mit Christus in Gott verborgen ist“.

Mit euch komme ich als Pilger zur Gnadenkapelle von Altötting. Mit euch freue ich mich über die Gegenwart des Herrn Kardinals Joseph Ratzinger, Erzbischof von München und Freising, des Oberhirten der Diözese Passau, Bischof Antonius Hofmann, vieler Bischöfe und Weihbischöfe sowie der zahlreichen Pilger - Priester und Laien - aus Bayern und aus den benachbarten Ländern, die sich zu dieser abendlichen Eucharistiefeier hier versammelt haben. Ein herzliches ”Vergelt’s Gott“ für euer Kommen! Seid bedankt für das Gebet und die meist verborgenen stillen Opfer, mit denen ihr seit Wochen diese Begegnung geistlich vorbereitet habt! Seid bedankt für die in eurem Grußwort dem Nachfolger Petri bekundete mittragende Treue. Solche liebende Verbundenheitt läßt mich heute, am Kirchweihfest von St. Peter und St. Paul in Rom, bei euch wie zu Hause sein.

Erlaubt mir, unseren gemeinsamen Besuch in Altötting mit dem Besuch Mariens bei Zacharias und Elisabet zu vergleichen. Ich vertraue darauf, daß dieser unser Besuch reiche Frucht bringen wird, wenn wir ihn demjenigen Mariens ähnlich zu machen suchen. Dabei wollen wir uns möglichst vom Licht des in dieser Liturgie gehörten Wortes Gottes leiten lassen.

2. Maria betritt das Haus ihrer Verwandten, grüßt Elisabet und hört von ihr Worte des Grußes.

Diese Worte sind uns innig vertraut. Wir sprechen sie unzählige Male, vor allem wenn wir die Geheimnisse des Rosenkranzes betrachten: ”Du bist gebenedeit unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes“. So grüßt die Frau des Zacharias Maria. Sie spricht damit eine erste Seligpreisung aus, deren Echo in der Geschichte der Kirche und der Menschheit, in der Geschichte der menschlichen Herzen und Gedanken widerhallt. Konnte der Mensch je Höheres erreichen?

Konnte er jemals Tieferes von sich erfahren? Konnte der Mensch durch irgendwelche Errungenschaft seines Menschseins, durch Verstand, Geistesgröße oder heroische Leistungen höher erhoben werden, als ihm zuteil wurde in dieser ”Frucht des Leibes“ Mariens, in der das Ewige Wort, der wesensgleiche Sohn des Vaters, Fleisch geworden ist! Kann die Weite des menschlichen Herzens eine größere Fülle an Wahrheit und Liebe aufnehmen als jene, daß Gott selber sich anschickt, dem Menschen seinen einzigen Sohn zu schenken? Der Sohn Gottes wird Mensch, empfangen durch den Heiligen Geist! Ja wirklich, du bist mehr gesegnet als alle anderen Frauen, Maria!

Elisabet fügt ihrer ersten Seligpreisung eine zweite hinzu: ”Selig ist die, die geglaubt hat, daß sich erfüllt, was der Herr ihr sagen ließ“. Elisabet rühmt und preist den Glauben Mariens.

Sie hat sich damit zutiefst in die einzigartige Größe jenes Augenblicks eingefühlt, in dem die Jungfrau aus Nazaret die Worte der Verkündigung gehört hatte. Denn diese Botschaft hatte alle Maße menschlichen Begreifens gesprengt, trotz der hohen Tradition des Alten Bundes. Und seht, Maria hat diese Worte nicht nur gehört, sie nicht nur aufgenommen, sie hat ihnen die voll entsprechende Antwort gegeben: ”Ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe, wie du es gesagt hast“. Eine solche Antwort erfordert von Maria einen bedingungslosen Glauben, einen Glauben nach dem Vorbild Abrahams und Moses, ja einen noch größeren. Eben diesen Glauben Mariens preist Elisabet.

3. Meine lieben Brüder und Schwestern! Im Hinblick auf das Geheimnis der persönlichen Berufung eines jeden von euch können wir gewissermaßen - freilich unter Wahrung der Proportionen - wiederholen: ”Selig, weil du geglaubt hast“. Der Glaube Mariens ist auch in euch aufgeleuchtet, als ihr euer ”Fiat“, euer Ja zum Ruf in die besondere Nachfolge Christi gesprochen habt. Nur im Glauben konntet ihr - wie einst die Jünger am See Genesaret - die ersten Schritte der vom Herrn Berufenen tun: im Glauben habt ihr das Wort des Rufenden in euch gehört; im Glauben habt ihr euren bisherigen Lebensraum mit all seinen Möglichkeiten verlassen; im Glauben die Nachfolge des Herrn angetreten, von nun an bereit, nur mehr aus der totalen Bindung an ihn den Sinn und die Fruchtbarkeit eures Lebens zu erwarten.

Im Glauben an die Treue des Rufenden und die Kraft seines Geistes habt ihr euch in den Gelübden der Armut, der gottgeweihten Jungfräulichkeit und des Gehorsams Gott zur Verfügung gestellt; und das nicht als ”Verpflichtung auf Widerruf“, nicht als ”Kloster auf Zeit“, nicht als Mitarbeiter in einer Gruppe, die sich für eine Aufgabe zusammenfindet und beliebig wieder auseinander geht. Nein, ihr habt im Glauben ein Ja für ganz und für immer gesprochen, das in eurer Lebensform, bis hin zum Ordenskleid, seinen Ausdruck findet. In unserer Zeit der Bindungsangst, wo viele in ein ”Leben auf Probe“ ausweichen möchten, kommt es euch zu, Zeugnis dafür zu geben, daß eine endültige Bindung, eine das ganze Leben tragende Entscheidung auf Gott hin gewagt werden kann; daß sie euch frei und froh macht, wenn sie Tag für Tag erneuert wird.

Euer Ja, vor Jahren oder Jahrzehnten gegeben, muß dem Herrn immer neu bekräftigt werden. Dazu braucht es das tägliche Hineinhorchen in das Geheimnis des je größeren Gottes, das tägliche Eingehen auf seine gekreuzigte - und kreuzigende - Liebe. Nur er kann das Geschenk der Berufung in euch lebendig erhalten. Nur er kann durch seinen Geist die immer wieder erfahrene Schwäche überwinden.

28 Auch das Ja Mariens, in einmaliger Entscheidung gesprochen, mußte von ihr immer neu eingelöst werden, bis zu ihrem Aushalten unter dem Kreuz, wo sie ihren Sohn hingab und uns zur Mutter wurde. Er, der Marias Ja zur Mitwirkung an der Erlösung in Anspruch genommen hat, will auch das euere in Anspruch nehmen. Ihr habt es gesprochen! Sprecht es täglich neu! Dann gilt auch für euch: ”Selig, weil du geglaubt hast!“.

4. Der Glaube läßt den Stand der Ordensleute zu einem besonderen Zeugnis des kommenden Gottesreiches werden. Christus spricht von diesem Reich im Zusammenhang mit dem Geheimnis der Auferstehung des Fleisches: ”Bei der Auferstehung werden sie nicht mehr heiraten“. In dem Gottesdienst, den wir heute bei Unserer Lieben Frau in Altötting feiern, ist dieses Geheimnis im Brief des heiligen Paulus an die Korinther ausgesprochen: ”Wenn sich aber dieses Vergängliche mit dem Unvergänglichen bekleidet und dieses Sterbliche mit Unsterblichkeit, dann erfüllt sich das Wort der Schrift: Verschlungen ist der Tod vom Sieg. Tod, wo ist dein Sieg? Tod, wo ist dein Stachel? Der Stachel des Todes aber ist die Sünde, die Kraft der Sünde ist das Gesetz. Gott aber sei Dank, der uns den Sieg geschenkt hat durch Jesus Christus, unseren Herrn“.

Diese eindrucksvollen Worte des Völkerapostels wurden heute zu Ehren Mariens verlesen. Sie ist nämlich durch ihre Aufnahme in den Himmel zur vollen Teilhabe an der Auferstehung Christi gelangt.

Dieselben Worte richtet der Apostel jedoch auch an euch, liebe Brüder und Schwestern; denn ihr habt im großen Ja eures Lebens die gottgeweihte Ehelosigkeit ”um des Himmelreiches willen“ erwählt. Dadurch seid ihr ein sichtbares Zeichen des kommenden Gottesreiches!

Das Herz eines jeden von euch, die ihr auf irdische Vater- und Mutterschaft verzichtet habt, möge immer wieder erfüllt werden vom unschätzbaren Reichtum geistlicher Vater- und Mutterschaft, derer so viele eurer Mitmenschen ganz dringend bedürfen! Ihr liebt nicht weniger; ihr liebt mehr!

Daß ihr in einer ganz tiefen Weise zu sorgen, zu helfen, zu heilen, zu bilden, zu führen und zu trösten versteht, das bezeugen nicht zuletzt die vielen, oft ergreifenden Briefe, in denen der Papst angefleht wird, es doch nicht zuzulassen, daß Schwestern, Patres oder Brüder von einem Kindergarten, einer Schule, von einem Altenheim oder Krankenhaus, von einer Sozialstation oder Pfarrei abgezogen werden.

Warum wird euer Dienst so geschätzt? Nicht nur wegen eurer fachlichen Tüchtigkeit; nicht nur weil ihr dank eurer Lebenswahl mehr Zeit schenken könnt; sondern in erster Linie deshalb, weil die Menschen spüren, daß durch euch ein Anderer wirkt. Denn in dem Maß, in dem ihr eure volle Hingabe an den Herrn lebt, teilt ihr etwas von ihm mit; und nach ihm verlangt letztlich das menschliche Herz.

Ihn liebt ihr in allen, die eurer vielfältigen Sorge, eurem fürbittenden Gebet, eurem verborgenen Opfer anvertraut sind. Ihm dient ihr ”in den Kranken und Alten, den Behinderten und Benachteiligten, deren sich sonst niemand annimmt..., in den Kindern, den Jugendlichen, in Schule, Katechese und Seelsorge. Ihm dient ihr in den einfachsten Diensten, wie auch in der Erfüllung von Aufgaben, die manchmal hohe Bildung erfordern“. Seinetwillen verlassen viele aus euren Gemeinschaften ihre Heimat, um in nimmermüdem Einsatz in den jungen Kirchen dem Reich Gottes zu dienen. - Ihn sucht und findet ihr überall, wie die Braut des Hohenliedes: ”... ich habe den gefunden, den meine Seele liebt“. Diese Lebenserfüllung - daß ihr in allem ihn und in ihm alles findet - ist zugleich die beste Ermutigung für junge Christen, sich in der Kirche auf den Ruf Jesu einzulassen - auch auf den Ruf in den Stand der Räte. In euch kann ihnen aufleuchten, daß, wer sich hingibt, den Sinn seines Lebens gefunden hat.

Maria, zu der wir heute nach Altötting gepilgert sind, trägt die Züge jener Frau an sich, die uns die Geheime Offenbarung beschreibt: ”Eine Frau, mit der Sonne bekleidet; der Mond war unter ihren Füßen und ein Kranz von zwölf Sternen auf ihrem Haupt“. Diese Frau, die am Ende der Schöpfungs- und Heilsgeschichte steht, entspricht offenbar der, von welcher es auf den ersten Seiten der Bibel heißt, sie werde ”der Schlange den Kopf zertreten“.

Zwischen diesem verheißenden Anfang und dem apokalyptischen Ende hat eben Maria einen Sohn ans Licht gebracht, ”der alle Völker weiden wird mit eisernem Stab“.

Ihre Ferse ist es, die von jener ersten ”Schlange“ verfolgt wird. Sie ist es, mit der der apokalyptische Drache kämpft, denn als Mutter der Erlösten ist sie Bild der Kirche, die wir ebenso Mutter nennen.

29 Liebe Brüder und Schwestern! An diesem geistigen Kampf teilzunehmen, seid ihr in besonderer Weise gerufen! Ihr seid gerufen in diese dauernde Auseinandersetzung, die unsere Mutter Kirche durchsteht und die in ihr das Bild der Frau, der Mutter des Messias formt. Ihr, die in der Anbetung des heiligen Gottes die Mitte ihres Berufes finden, seid auch der Anfechtung des Bösen besonders ausgesetzt - wie es in der Versuchung des Herrn beispielhaft sichtbar wird. Der Kampf tobt zwischen dem Wort Gottes und der Parole des Bösen, zwischen ”Laß diese Steine zu Brot werden!“ und ”Der Mensch lebt nicht vom Brot allein“. Gott will, daß wir die Erde uns untertan machen, indem wir sie - und uns selbst - vollenden. Die Versuchung des Bösen will, daß wir sie und uns entstellen; daß uns die Arbeit versklavt und die Freizeit verwöhnt; daß wir für unser Äußeres endlose Opfer bringen und innen verkümmern, das Heim ausschmücken und heimatlos sind, aufs Haben schauen und das Sein vergessen; daß der Besitz unser ”Gott“ wird. - Durch den inneren Kampf um den Geist der Armut und durch die zeichenhafte Sichtbarkeit dieser Armut helft ihr, liebe Schwestern und Brüder, allen Gliedern der Kirche und der Menschheit, diese Welt sorgsam zu verwalten, die Dinge so zu besitzen, daß sie nicht uns besitzen, den Lebensunterhalt nicht zum Lebensinhalt zu machen.

”Stürz dich hinab“, so heißt die zweite Versuchung Jesu. Stürze dich ins Abenteuer, wage den Sprung ins Reich der Träume, so lockt es heute; berausche dich am Füllhorn des Lebens - im Rausch der Geschwindigkeit, im Rausch der Sinnlichkeit, im Rausch der Wahnbilder und im Rausch der Gewalttat. Gott hat uns ein Herz zum Erleben gegeben und vieles, was uns erfüllen kann - vor allem das Du. Aber ohne ihn ist alles zu wenig. Entweder wir suchen in ihm unser Glück oder wir verfehlen es - gejagt von der Jagd nach dem Glück, von Enttäuschung zu Enttäuschung, bis hin zu Überdruß und Ekel. - Durch euren Verzicht auf das ehelich erfüllende Du und durch die besondere Pflege der liebenden Offenheit für Gott, liebe Brüder und Schwestern, helft ihr allen in der Kirche: sich hinzugeben, ohne sich zu verlieren; aufeinander zuzugehen, um miteinander in Gott hineinzuwachsen; des Vergehenden, wie die Liturgie betet, sich so zu erfreuen, daß man zugleich schon dem Ewigen verbunden ist.

Noch herrlicher und gefährlicher als die Welt und das Du, als Besitz und Glück, ist das Ich und sein Anspruch auf Verwirklichung. Gott will den Menschen ”nach seinem Bild und Gleichnis“; Luzifer will ihn als Gegengott - der die Anbetung verweigert und als Preis dafür dem Götzen verfällt: ”Er zeigte ihm alle Reiche der Welt...: Das alles will ich dir geben, wenn du dich vor mir niederwirfst und mich anbetest. Alles schöpferische Gestalten und jede Selbstverwirklichung - in der Politik, in der Wirtschaft, im Geistesleben und auch in der Kirche - hat die Gefahr der Eitelkeit, des Stolzes, ja der Rücksichtslosigkeit. - Liebe Ordensleute, durch euren treuen Kampf um den Geist des Gehorsams und durch dessen sichtbares Zeichen, den Gehorsam gegenüber dem Oberen, helft ihr allen Gläubigen, und der Kirche selbst, die Versuchung der Macht zu erkennen und zu bestehen; helft ihr, die Freiheit zu vollenden in der Hingabe.

Gerade heute, vielleicht mehr denn je, braucht das Reich Gottes, das ”Gewalt leidet“, neue ”Kampfer“, den Versuchungen und Anforderungen unserer Zeit entsprechend. Es will sie finden in euren Klöstern und Gemeinschaften, vom gemeinsamen Leben geformt und getragen. Seid überzeugt, daß solche großherzige Männer und Frauen neue Generationen nach sich ziehen werden, die Christus nachfolgen und ”das Angesicht der Erde erneuern“ - auch heute und morgen!

5. In diesen Tagen meiner Pilgerschaft bei euch gedenkt die Kirche dreier Heiliger eurer Heimat.

Ihnen möchte ich zum Abschluß euren Weg und Dienst in der Kirche anempfehlen. Der hl. Albert helfe euch, aus den Zeichen der Zeit den Anruf Gottes zu hören und im Geist eurer Gründer zu beantworten. Die hl. Gertrud erwirke euch den Eifer und die Frucht der Gottbegegnung in Betrachtung und Liturgie. Die hl. Elisabeth vermittle euch das feine Gespür und die unbegrenzte Offenheit in der Zuwendung zu allen, die euch brauchen.

Albert, Gertrud, Elisabeth - zu ihnen gesellt sich hier in Altötting der demütig-frohe Pförtner des Sankt-Anna-Klosters, der hl. Bruder Konrad. Wir sehen ihn in seiner Zelle knien - vor dem Fensterchen, das man ihm eigens durch die Mauer gebrochen hatte, damit er immer zum Altar der Kirche schauen konnte. Durchbrechen auch wir mitten im Alltag die Mauern des Sichtbaren, um immer und überall den Herrn im Auge zu behalten!

Zusammen mit Maria wollen wir nun unseren Besuch bei dem ihr so lieben Heiligtum fortsetzen.

Treten wir vereint mit ihr ein und laßt uns wiederholen:
”Meine Seele preist die Größe des Herrn, und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter. Denn auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut. Siehe, von nun an preisen mich selig alle Geschlechter.

Denn der Mächtige hat Großes an mir getan, und sein Name ist heilig. Er erbarmt sich von Geschlecht zu Geschlecht über alle, die ihn fürchten“.

30 Wahrhaftig, meine lieben Brüder und Schwestern! Der Allmächtige hat ”Großes“ an jedem von euch getan! Großes! An jedem von euch! Hört nicht auf, ihn zu preisen! Hört nicht auf, ihm zu danken! Hört nicht auf, eure Ganzhingabe, eure Berufung jeden Tag von neuem zu leben unter dem Schutz der Unbefleckten Jungfrau, Unserer Lieben Frau von Altötting!

So wird das Reich Gottes in euch leben!




MESSE FÜR DIE JUGEND

München, 19. November 1980



Liebe Brüder und Schwestern,
liebe Jugend!

1. Wenn Christus über das Reich Gottes spricht, gebraucht er oft Bilder und Gleichnisse. Sein Bildwort von der ”Ernte“, von der ”großen Ernte“ mußte seine Hörer damals an jene jährlich wiederkehrende, so sehr ersehnte Zeit erinnern, da man sich anschicken konnte, endlich die mit Hilfe vieler und schwerer menschlicher Arbeit und Mühe gewachsenen Früchte der Erde zu ernten.
Das Wort von der ”Ernte“ lenkt heute auch unsere Gedanken in die gleiche Richtung, obwohl wir als Menschen von Ländern mit hoher Industrialisierung kaum noch eine rechte Vorstellung davon haben, was das Reifen und Ernten der Früchte der Erde für den Landwirt und überhaupt für den Menschen bedeuten.

Mit dem Bild vom Getreide, das zur Ernte heranreift, meint Christus das innere Wachsen und Reifen des Menschen.

Der Mensch ist eingebunden in seine Natur und von ihr abhängig. Zugleich überragt er sie jedoch mit der ganzen inneren Ausrichtung seines personalen Wesens. Deshalb ist menschliches Reifen etwas anderes als Heranreifen in der Natur. Bei ihm geht es nicht nur um körperliche und geistige Anstrengungen. Zum Heranreifen des Menschen gehört darum wesentlich die geistliche, die religiöse Dimension seines Seins. Wenn Christus von der ”Ernte“ spricht, meint er, daß der Mensch heranreifen muß auf Gott hin und dann in Gott selbst, in Seinem Reich, die Frucht seines Ringens und Reifens empfängt.

Auf diese Wahrheit des Evangeliums möchte ich euch, ihr jungen Menschen von heute, mit großem Ernst und zugleich froher Hoffnung hinweisen. Ihr steht in einer besonders wichtigen, kritischen Zeit eures Lebens, in der sich für eure weitere Entwicklung, für eure Zukunft vieles oder gar alles jetzt entscheidet.

Für die Bildung der eigenen Persönlichkeit, für den Aufbau des inneren Menschseins ist die Kenntnis der Wahrheit von grundlegender Bedeutung. Wirklich reif werden kann der Mensch nur an und in der Wahrheit. Darin liegt der tiefe Sinn der so wichtigen Erziehung, dem auch das ganze System der Schulen bis hin zu den Universitäten dienen muß. Sie muß dem jungen Menschen helfen, die Welt und sich selbst kennen und verstehen zu lernen; sie muß ihm helfen, alles das in den Blick zu bekommen, wodurch die Existenz und das Wirken des Menschen in der Welt erst ihren vollen Sinn erhalten. Darum muß sie ihm auch helfen, Gott kennen zu lernen. Der Mensch kann nicht leben, ohne den Sinn seiner Existenz zu kennen.

31 2. Dieses Suchen, Sich-Ausrichten und Reifen an der grundlegenden und vollen Wahrheit der Wirklichkeit ist jedoch nicht leicht. Seit eh und je galt es, dabei vielfältige Schwierigkeiten zu bewältigen. Gerade dieses Problem scheint der hl. Paulus zu meinen, wenn er im zweiten Brief an die Thessalonicher schreibt: ”Laßt euch nicht so schnell aus der Fassung bringen und in Schrecken jagen... Laßt euch durch niemand und auf keine Weise täuschen!“. Diese Worte, gerichtet an jene junge Gemeinde unter den ersten Christen, müssen heute wiedergelesen werden vor dem veränderten Hintergrund unserer moderner Zivilisation und Kultur. So möchte ich euch jungen Menschen von heute zurufen: Laßt euch nicht täuschen!

Seid dankbar, wenn ihr gute Eltern habt, die euch Mut machen und den rechten Weg weisen.

Vielleicht sind es doch mehr, als ihr auf den ersten Blick erkennen könnt. Aber nicht wenige leiden unter ihren Eltern, fühlen sich zu wenig verstanden oder gar allein gelassen. Andere müssen den Weg des Glaubens sogar ohne oder gegen ihre Eltern finden. Viele leiden unter der Schule mit ihrem ”Leistungsdruck“, wie ihr sagt, leiden unter den Verhältnissen und Sachzwängen am Arbeitsplatz, unter der Unsicherheit beruflicher Zukunftsaussichten. Kann man nicht Angst bekommen davor, daß die technische und wirtschaftliche Entwicklung die natürlichen Lebensbedingungen der Menschen zerstört? Und überhaupt: Wie wird es weitergehen mit unserer Welt, die in militärische Machtblöcke gespalten ist, in arme und reiche Völker, in freie und totalitäre Staaten? Immer wieder flammen in dieser oder jener Gegend der Erde Kriege auf, die Tod und Elend über die Menschen bringen. Und dann in vielen Teilen der Welt, nah und fern, Akte rohester Gewalt und blutigen Terrors. Sogar an diesem Ort unserer Eucharistiefeier haben wir auch vor Gott der Opfer zu gedenken, die kürzliche am Rand diese großen Platzes von einem Sprengsatz verletzt oder in den Tod gerissen wurden. Es ist kaum zu begreifen, wozu der Mensch in der Verirrung seines Geistes und seines Herzen fähig ist.

Es ist auf diesem Hintergrund, daß wir den Ruf der Frohbotschaft vernehmen: ”Laßt euch nicht so schnell aus der Fassung bringen!“. Alle diese Nöte und Schwierigkeit gehören zu jenen Widerständen, an denen wir unser Wachsen in der grundlegenden Wahrheit nähren und bewähren müssen. Daraus erwachsen uns dann auch die Kräfte, mitzuarbeiten am Aufbau einer gerechteren, menschlicheren Welt, erwachsen uns Bereitschaft und Mut, in zunehmendem Maße auch Verantwortung zu übernehmen im Leben der Gesellschaft, des Staates und der Kirche. Ein wahrlich nicht geringer Trost liegt darin, daß es trotz vieler Schatten und Düsternisse auch sehr, sehr viel Gutes gibt. Es fehlt nicht deshalb, weil man zu wenig darüber spricht. Oft muß man das viele Gute, das im Verborgenen am Werk ist und vielleicht erst später einmal strahlend sichtbar wird, entdecken wollen und anerkennen. Was hat zum Beispiel eine Mutter Teresa von Kalkutta erst alles im Kleinen und Verborgenen tun müssen, ehe eine überraschte Welt auf sie und ihr Werk aufmerksam wurde? Laß euch also nicht so schnell aus der Fassung bringen!

3. Ist es aber nicht doch so, daß in eurer Gesellschaft, wie ihr sie in eurer Umgebung erfahrt, nicht wenige, die sich zu Christus bekennen, schwankend geworden sind oder gar Orientierung verloren haben? Und wirkt sich das nicht besonders auf junge Menschen sehr nachteilige aus? Wird da nicht etwas sichtbar von der vielfältigen Versuchung zum Abfall vom Glauben, von der der Apostel in seinem Brief spricht?

Das Wort Gottes der heutigen Liturgie läßt uns den weiten Horizont eines solchen Abfalls vom Glauben, wie er sich gerade in unserem Jahrhundert abzuzeichnen scheint, erahnen und macht auch dessen Dimensionen deutlich.

Der hl. Paulus schreibt: ”Die geheime Macht der Gesetzwidrigkeit ist schon am Werk...“. Müssen wir das nicht auch für unsere Zeit sagen? Die geheime Macht der Gesetzwidrigkeit, des Abfalls von Gott, hat nach den Worten des Paulusbriefes eine innere Struktur und eine bestimmte dynamische Stufenfolge: ”... der Mensch der Gesetzwidrigkeit muß erscheinen..., der Widersacher, der sich über alles, was Gott oder Heiligtum heißt, so sehr erhebt, daß er sich sogar in den Tempel Gottes setzt und sich als Gott ausgibt“. Hier haben wir also eine innere Struktur des Verneinens, der Entwurzelung Gottes aus dem Herzen des Menschen und der Entwurzelung Gottes aus der menschlichen Gesellschaft, und dies mit dem Ziel, wie man sagt, einer volleren ”Humanisierung“ des Menschen, das heißt, den Menschen in vollerem Sinn zum Menschen zu machen und ihn in gewisser Weise an Gottes Stelle zu setzen, gleichsam zu ”vergöttlichen“. Diese Struktur ist indes schon sehr alt und uns schon von den Anfängen, von den ersten Kapiteln der Genesis her bekannt: nämlich die Versuchung, die ”Göttlichkeit“ (des Bildes und Gleichnissen Gottes), dem Menschen vom Schöpfer verliehen, zu ersetzen durch die ”Vergöttlichung“ des Menschen gegen Gott - und ohne Gott, wie es sichtbar wird in den atheistischen Voraussetzungen mancher heutiger Systeme.

Wer sich der grundlegenden Wahrheit der Wirklichkeit verweigert, wer sich selbst zum Maßstab von allem macht und sich so an Gottes Stelle setzt, wer mehr oder weniger bewußt meint, ohne Gott, den Schöpfer der Welt, ohne Christus, den Erlöser der Menschen, auskommen zu können, wer, statt Gott zu suchen, Götzen nachläuft, ist immer schon auf der Flucht vor der allein gründenden und bergenden Wahrheit.

Da ist die Flucht nach innen. Sie kann in die Resignation führen. ”Est ist ja doch alles sinnlos“.

Hätten die Jünger Jesu so gehandelt, dann hätte die Welt nie etwas von der erlösenden Botschaft Christi erfahren. Die. Flucht nach innen kann die Form erstrebter Bewußtseinserweiterung annehmen. Nicht wenige junge Menschen auch bei euch sind dabei, ihr inneres Menschsein zu zerstören durch die Flucht in Alkohol und Drogen. Oft stecken Angst und Verzweiflung dahinter, oft aber auch Genußsucht, mangelnde Askese oder unverantwortliche Neugier, alles einmal zu ”probieren“. Oder die Flucht nach innen führt in pseudoreligiöse Sekten, die euren Idealismus und eure Begeisterungsfähigkeit mißbrauchen und euch die Freiheit des Denkens und des Gewissens rauben. Dazu gehört auch die Flucht zu irgendwelchen Heilslehren, die von bestimmten äußeren Praktiken das wahre Glück zu erreichen vorgeben, letztlich aber den Menschen auf sich selbst und seine unerlöste Einsamkeit zurückwerfen.

Dann gibt es die Flucht vor der grundlegenden Wahrheit nach außen, nämlich in politische und soziale Utopien, in irgendwelche Traumbilder der Gesellschaft. So sehr Ideale und Zielvorstellungen vonnöten sind - utopische ”Zauberformeln“ helfen nicht weiter, zumal sei meist mit totalitärer Macht oder zerstörerischer Gewaltanwendung einhergehen.

32 4. Ihr seht dies alles, diese vielfältigen Fluchtwege vor der Wahrheit, die geheime und unheimliche Macht der Gesetzwidrigkeit und des Bösen, die am Werk ist. Geratet ihr da nicht in die Versuchung der Vereinsamung und Verlorenheit? Darauf gibt die heutige Lesung vom Propheten Ezechiel die Antwort. Dieser spricht da von einem Hirten, den den verlorenen Schafen in die Einsamkeit nachgeht, um sie ”von allen Orten zurückholen, wohin sie sich am dunklen, düsteren Tag zerstreut“ hatten.

Dieser Hirt, der den Menschen auf der dunklen Straße seiner Einsamkeit und Verlorenheit aufsucht und ins Licht zurückführen möchte, ist Christus. Er ist der Gute Hirt. Stets ist auch er anwesend in der verborgenen Mitte des ”Geheimnisses des Bösen“ und nimmt sich selbst der großen Sache menschlicher Existenz auf dieser Erde an. Er tut es in der Wahrheit, indem er das Herz des Menschen befreit von jenem fundamentalen Widerspruch, der darin liegt, die Vergöttlichung des Menschen ohne oder gegen Gott zu wollen, und der ein Klima der Vereinsamung und Verlorenheit schafft. Auf diesem Weg aus dunkler Vereinsamung hin zum wahren Menschsein nimmt sich Christus, der gute Hirt, in tiefster nachgehender und begleitender Liebe eines jeden einzelnen an, insbesondere jedes heranwachsenden jungen Menschen.

Der Prophet Ezechiel sagt weiter von diesem Hirten: ”Ich führe sie aus den Völkern heraus, ich sammle sie in den Ländern und bringe sie in ihr Land. Ich führe sie in den Bergen Israels auf die Weide, in den Tälern und allen bewohnten Orten des Landes“. ”Die verirrten Tiere will ich suchen, die vertriebenen zurückbringen, die verletzten verbinden, die schwachen kräftigen, die fetten und starken behüten. Ich will ihr Hirt sein und für sie sorgen, wie es recht ist“.

So will Christus das Reifen des Menschen in seinem Menschsein begleiten. Er begleitet, nährt und stärkt uns im Leben Seiner Kirche mit seinem Wort und in seinen Sakramenten, mit dem Leib und dem Blut seines Paschafestes. Er nährt uns als der ewige Sohn Gottes, läßt den Menschen teilhaben an seiner göttlichen Sohnschaft, ”vergöttlicht“ ihn innerlich, damit er im Vollsinn ”Mensch“ werde, damit der Mensch, geschaffen nach dem Bild und Gleichnis Gottes, seine Reife in Gott erlange.

5. Gerade aus diesem Grund sagt Christus, die Ernte sei ”groß“. Sie ist groß wegen der alle Maße sprengenden Bestimmung des Menschen. Sie ist groß wegen der Würde des Menschen. Sie ist groß nach dem Maß seiner Berufung. Groß ist diese wunderbare Ernte des Reiches Gottes in der Menschheit, die Ernte des Heils in der Geschichte des Menschen, der Völker und Nationen. Sie ist wahrlich groß - ”aber es gibt nur wenig Arbeiter“.

Was bedeutet das? Damit soll gesagt sein, meine lieben jungen Menschen, daß ihr berufen seid, von Gott gerufen seid. Mein Leben, mein menschliches Leben hat dann seinen Sinn, wenn ich von Gott gerufen bin, in einem wesentlichen, entscheidenden, endgültigen Anruf. Nur Gott kann den Menschen so rufen, niemand außer Ihm. Und dieser Ruf Gottes ergeht unablässig in und durch Christus an einen jeden einzelnen von euch: Arbeiter in der Ernte des eigenen Menschseins zu sein, Arbeiter im Weinberg des Herrn, in der messianischen Ernte der Menschheit zu sein.

Jesus braucht auch aus eurer Mitte junge Menschen, die seinem Ruf folgen und so leben wollen wie er, arm und ehelos, um so ein lebendiges Zeichen für die Wirklichkeit Gottes unter euren Brüdern und Schwestern zu sein.

Gott braucht Priester, die sich vom Guten Hirten in den Dienst Seines Wortes und Seiner Sakramente für die Menschen nehmen lassen.

Er braucht Ordensleute, Männer und Frauen, die alles verlassen, um ihm nachzufolgen und so den Menschen zu dienen.

Er braucht christliche Eheleute, die einander und ihren Kindern den Dienst zur vollen Reifung des Menschseins in Gott leisten.

Gott braucht Menschen, die bereit sind, den Armen, Kranken, Verlassenen, Bedrängten und seelisch Verwundeten zu helfen und zu dienen.

33 Die über 1000jährige ruhmreiche Geschichte des Glaubens an Christus in eurem Volk ist reich an Menschen, deren Vorbild euch Ansporn sein kann bei der Erfüllung eurer großen Berufung. Ich möchte da nur vier Gestalten nennen, die mir der heutige Tag und die Stadt München eingeben. Es war in den ersten Anfängen der Geschichte eures Glaubens der hl. Korbinian, dessen bischöfliches Wirken den Grundstein legte für die Erzdiözese München-Freising. Wir feiern sein Gedächtnis in der heutigen Liturgie. Ich denke an den heiligen Bischof Benno von Meißen, dessen Gebeine in der Münchener Frauenkirche ruhen. Er war ein Mann des Friedens und der Versöhnung, der in seiner Zeit Gewaltlosigkeit predigte, ein Freund der Armen und Notleidenden. Gerade am heutigen Tag denke ich an die große hl. Elisabeth, deren Leitwort lautete: ”Lieben - dem Evangelium gemäß“. Als Fürstin der Wartburg verzichtete sie auf alle Privilegien ihres Standes und lebte dann schließlich ganz für die Armen und Ausgestoßenen. Abschließend möchte ich auf einen Mann hinweisen, den manche unter euch oder eure Eltern noch persönlich gekannt haben, den Jesuitenpater Rupert Mayer, an dessen Grab im Zentrum von München, in der Krypta des Burgersaales, täglich viele Hunderte von Menschen kurze Gebetseinkehr halten. Ungeachtet der Folgen einer schweren Verwundung, die er im Ersten Weltkrieg bei einem Versehgang erlitt, trat er in schwerster Zeit öffentlich und ganz unerschrocken für die Rechte der Kirche und der Freiheit ein und hat deswegen die Härte des Konzentrationslagers und der Verbannung erleiden müssen.

Liebe junge Menschen! Seid offen für den Ruf Christi an euch! Euer menschliches Leben ist ein ”einmaliges Abenteuer und Wagnis“, das zum ”Segen und zum Fluch“ werden kann. Im Blick auf euch junge Menschen, die ihr die große Hoffnung unserer Zukunft seid, wollen wir den ”Herrn der Ernte“ bitten, daß er jeden von euch, jeden eurer jungen Mitmenschen auf dieser Erde als Arbeiter in seine ”große Ernte“ sende, entsprechend der großen Fülle der Berufungen und Gaben in Seinem Reich auf dieser Erde.

Ich möchte schließen mit einem besonderen Segenswunsch an unsere evangelischen Brüder und Schwestern, die heute in diesem Land ihren Buß- und Bettag feiern. Dieser Tag ist für Sie getragen vom Wissen und die Notwendigkeit einer immer neuen Umkehr und von der Berufung der Kirche, vor Gott auch der Volks- und Staatsgemeinschaft im Gebet zu gedenken. In diesen Anliegen ist Ihnen die römisch-katholische Kirche verbunden. Schließen Sie bitte in die Gebete dieses Tages auch Ihre katholischen Mitbürger ein sowie Ihren Bruder Johannes Paul und seinen Dienst. Amen.





Predigten 1978-2005 24