Predigten 1978-2005 48


PASTORALBESUCH IN ÖSTERREICH

EUROPAVESPER AUF DEM HELDENPLATZ


Wien (Österreich) - Samstag, 10. September 1983




1. Der Friede sei mit Euch! Friede dieser Stadt! Diesem Land Österreich! Und allen seinen Nachbarn im Norden, Osten, Süden und Westen!

Einen besonderen Gruß und Friedenswunsch Euch Österreichischen Katholiken, die Ihr aus allen Diözesen, aus den Pfarrgemeinden, aus den vielen großen und kleinen Gemeinschaften zu diesem Katholikentag zusammengekommen seid. Friede allen, die von jenseits der Grenzen dieses Landes hierher gekommen sind oder durch Funk und Fernsehen an dieser feierlichen Vesper teilnehmen! Friede allen Christen, allen christlichen Kirchen! Friede auch allen Menschen, die den einen Gott verehren und ihm ihre Geschicke demütig anvertrauen!

Diesen Friedensgruß entbiete ich Euch allen im Namen Jesu Christi, unter dessen Kreuz wir uns hier versammelt haben. Der wahre Frieden kommt aus dem geöffneten Herzen dessen, der - am Kreuz erhöht - alle an sich zieht. Seit heute ist sein Zeichen auf diesem großen und geschichtsträchtigen Platz Wiens aufgerichtet: als christliche Mahnung und Hoffnung, als Erinnerung an das Jahr des Heiles 1983, an das Jubiläumsjahr der Erlösung, an einen Katholikentag, der als Tag christlicher Hoffnung in die Geschichte dieses Landes eingehen soll. Unter dieses Kreuz stellen wir Österreich; unter dieses Kreuz stellen wir Europa. Denn ”allein im Kreuz ist Hoffnung“! An ihm hat das Leben den Tod besiegt. Das Kreuz ist Zeichen der versöhnenden, Leid und Tod überwindenden Liebe Gottes zu uns Menschen, Verheißung der Brüderlichkeit aller Menschen und Völker, göttlicher Kraftquell für die beginnende Erneuerung der ganzen Schöpfung.

2. Die heutige Europafeier anläßlich des Österreichischen Katholikentages lenkt unseren Blick über alle natürlichen, nationalen und willkürlichen Grenzen hinweg auf ganz Europa, auf alle Völker dieses Kontinents mit ihrer gemeinsamen Geschichte, vom Atlantik zum Ural, von der Nordsee bis zum Mittelmeer. Österreich - selbst im Herzen Europas gelegen - hat in besonderer Weise dessen Geschicke geteilt und entscheidend mitgeprägt. Es zeigt exemplarisch, wie eine Vielzahl von Volksstämmen auf begrenztem Raum spannungsreich und schöpferisch zusammenleben und in der Vielfalt eine Einheit schaffen kann: auf dem Territorium des heutigen kleinen Österreich sind die Wesenszüge von Kelten und Romanen, von Germanen und Slawen tief eingegraben und in der Bevölkerung lebendig. Hierin ist Österreich ein Spiegel und Modell Europas.

Was dem europäischen Kontinent zur Einheit in der Vielfalt verholfen hat, war vor allem die Verbreitung des einen christlichen Glaubens. Die Wege der Missionare und der christlichen Pilger haben Länder und Völker Europas friedlich miteinander verbunden - wofür wiederum Österreich ein kennzeichnendes Beispiel ist. An der Evangelisierung Eures Landes hat der hl. Severin, ein Römer - Ihr habt vor kurzem sein Jubiläum gefeiert - ebenso mitgewirkt wie Glaubensboten aus anderen europäischen Ländern. Euer Land hat aber nicht nur missionarische Hilfe empfangen, sondern diese auch anderen Völkern vielfach gewährt. Als Beispiel unter vielen sei aus aktuellem Anlaß die Gründerin der Grauen Ursulinen genannt, Schwester Maria Julia Ledochowska. In Loosdorf bei Melk geboren, hat sie so segensreich in Polen gewirkt, daß sie im Juni dieses Jahres während meiner Reise in die polnische Heimat seliggesprochen werden konnte.

Zu den einheitstiftenden Wegen der Glaubensboten kommen die Wege der Pilger. Wallfahrten nach Rom zum Grab des hl. Petrus, nach Santiago de Compostela auf den Spuren des hl. Jakobus, zu den Wirkungs- und Grabstätten anderer Heiliger und zu den großen Marienheiligtümern haben nicht nur europaweit das fromme Andenken an die Mutter des Herrn, an die Apostel und Heiligen gepflegt, sondern auch das gegenseitige Verständnis der so verschiedenen Völker und Nationen gefördert. Dadurch haben sie auch mitgeholfen, Europas Identität zu prägen. Gerade auch nach Mariazell, in Eurem Land, wallfahrten seit Jahrhunderten Christen aus ganz Europa, nicht zuletzt aus slawischen Ländern. Ich selbst, Pole und Römer, bin glücklich, in diesen Tagen als Pilger nach Mariazell zu kommen.

Die - trotz aller Krisen und Spaltungen fortbestehende - kulturelle Gemeinsamkeit des europäischen Kontinents ist ohne den Inhalt der christlichen Botschaft nicht zu verstehen. Diese - mit antikem Geist großartig verschmolzen - bildet ein gemeinsames Erbe, dem Europa seinen Reichtum und seine Kraft verdankt, das blühende Gedeihen von Kunst und Wissenschaft, Bildung und Forschung, Philosophie und Geisteskultur. Innerhalb des christlichen Glaubensgutes hat in ganz besonderer Weise das christliche Menschenbild die europäische Kultur mitgeprägt. Die Überzeugung von der Gottebenbildlichkeit des Menschen und von seiner Erlösung durch Jesus Christus, den Menschensohn, hat der Wertschätzung und Würde der menschlichen Person, der Achtung ihres Anspruchs auf freie Entfaltung in mitmenschlicher Solidarität ein heilsgeschichtliches Fundament gegeben. So war es auch folgerichtig, daß die Formulierung und Verkündigung der allgemeinen Menschenrechte vom Abendland ausgegangen ist.

49 Dieses vom Christusglauben geeinte und geprägte Europa stellen wir erneut unter das Kreuz; denn ”im Kreuz ist Hoffnung“.

3. Niemand kann sich der Tatsache verschließen - und wer wäre davon nicht zutiefst betroffen -, daß die gemeinsame Geschichte Europas nicht nur leuchtende, sondern auch dunkle, schreckliche Züge trägt, die mit dem Geist der Menschlichkeit und der Frohen Botschaft Jesu Christi unvereinbar sind. Immer wieder haben Staaten und Parteien haßerfüllt und grausam gegeneinander Krieg geführt. Immer wieder wurde Menschen ihre Heimat genommen; sie wurden vertrieben oder sahen sich angesichts von Not, Diskriminierung und Verfolgung zur Flucht veranlaßt. Millionen von Menschen wurden auf Grund ihrer Rasse, ihrer Nation, ihrer Überzeugung oder einfach, weil sie anderen im Wege waren, ermordet. Es ist bedrückend, daß zu jenen, die ihre Mitmenschen bedrängten und verfolgten, auch gläubige Christen gehörten. Wenn wir uns zu Recht unseres Herrn Jesus Christus und seiner Botschaft rühmen dürfen, so müssen wir andererseits bekennen und dafür um Vergebung bitten, daß wir Christen Schuld auf uns geladen haben - in Gedanken, Worten und Werken und durch tatenloses Gewährenlassen des Unrechts.

Doch nicht nur im staatlichen und politischen Leben ist Europas Geschichte von Zwietracht gezeichnet. Auch durch die eine Kirche Jesu Christi haben Glaubensspaltungen Grenzen und Gräben gezogen. Im Verein mit politischen Interessen und sozialen Problemen kam es zu erbitterten Kämpfen, zu Unterdrückung und Vertreibung Andersgläubiger und zu Gewissenszwang. Als Erben unserer Väter tragen wir auch dieses schuldbeladene Europa unter das Kreuz. Denn in ihm ist Hoffnung.

4. Das Österreich von heute - leider nicht ganz Europa! - ist frei von fremder Herrschaft und kriegerischer Gewalt, frei von unmittelbarer äußerer Bedrohung, unbelastet von haßerfüllten inneren Auseinandersetzungen. Welch denkwürdiger und freudiger Kontrast zu mancher früheren Epoche und besonders zum Jahre 1683. Dieses Jahr ist ein großes Datum nicht nur der Österreichischen, sondern der europäischen Geschichte, wahrlich wert, daß wir uns seiner nachdenklich und dankbar erinnern.

Jedem von uns ist vertraut, wie vor 300 Jahren Truppen des osmanischen Reiches, wie schon 1529, bis vor diese Stadt gelangten und sie mit gewaltiger Übermacht belagerten. Der Zug der Armee war von Brandschatzung, Mord und Verschleppung gekennzeichnet; unsäglich waren die Not, der Jammer, das Elend, bewundernswert war die Tapferkeit der Verteidiger Wiens. Sie schöpften Kraft aus ihrem Glauben, aus dem Gebet, aus ihrer Überzeugung, nicht nur für ihr Land, sondern für Europa und für die Christenheit zu streiten. Dem Papst steht es wohl zu, daran zu erinnern, daß sein damaliger Vorgänger, der selige Innozenz XI., Österreich und seine Verbündeten mit Subventionen, mit diplomatischer Hilfe und mit seinem Gebetsaufruf an die Christenheit wirksam unterstützt hat. Dem Papst aus Polen sei es auch gestattet, mit besonderer Bewegung davon zu sprechen, daß es der polnische König Jan Sobieski gewesen ist, unter dessen Oberbefehl die verbündeten Entsatztruppen Wien befreiten, zu einem Zeitpunkt, da sich die heldenhaften Verteidiger der Stadt nur mehr mit letzter Kraft der Belagerung erwehren konnten.

Es ist gerechtfertigt, mit Bewunderung der Verteidiger und Befreier Wiens zu gedenken, die in beispielhaftem Zusammenstehen dem Angriff Einhalt geboten. Uns sind die Aufrufe heiligmäßiger Prediger überliefert, welche die Menschen dieser Zeit nicht nur zu Tapferkeit, sondern vor allem zu christlicher Umkehr zu bewegen suchten. Die Geschichte gebietet uns, damaliges Geschehen aus dem Geist der damaligen Zeit zu verstehen und nicht einfach an unserer Gegenwart zu messen. Sie gebietet, einseitige Verurteilung und Verherrlichung zu vermeiden. Wir wissen, daß himmelschreiende Grausamkeiten nicht nur vom osmanischen Heer, sondern auch von der Armee des Kaisers und seiner Verbündeten begangen worden sind. Wir müssen, so sehr wir uns über den Verteidigungserfolg des christlichen Abendlandes freuen mögen, beschämt zur Kenntnis nehmen, daß die christliche Solidarität damals weder spontan noch europaweit war.

Vor allem aber sind wir uns dessen bewußt, daß die Sprache der Waffen nicht die Sprache Jesu Christi ist und nicht die Sprache seiner Mutter, die man damals wie heute als die ”Hilfe der Christenheit“ angerufen hat. Bewaffneter Kampf ist allenfalls ein unausweichliches Übel, dem sich auch Christen in tragischen Verwicklungen nicht entziehen können. Aber auch hierbei verpflichtet das christliche Gebot der Feindesliebe, der Barmherzigkeit: der für seine Henker am Kreuz gestorben ist, macht mir jeden Feind zum Bruder, dem meine Liebe gebührt, auch wenn ich mich seines Angriffs erwehre.

So sei dieses Jubiläum nicht die Feier eines kriegerischen Sieges, sondern eine Feier des uns heute geschenkten Friedens im dankbar bekundeten Kontrast zu einem Ereignis, das mit so viel Leid verbunden war. Und wir wollen uns der Freiheit würdig erweisen, die damals mit so großem Einsatz verteidigt worden ist.

5. Österreich bemüht sich, wie in der Vergangenheit, auch heute seiner besonderen Verantwortung und Aufgabe im Herzen Europas zu entsprechen. Euer Land setzt sich mit Nachdruck ein für Frieden und Völkerverständigung, für soziale Gerechtigkeit, für die Beachtung und Förderung der Menschenrechte auf nationaler und internationaler Ebene. Ihr selbst habt Tausende von Flüchtlingen und Hilfesuchenden aufgenommen; Gäste aus aller Herren Länder kommen in Euer Land und finden bei Euch freundliche Aufnahme und Erholung. Ihr habt nicht nur von hochherzigen Helfern in Zeiten der Not wirksame Unterstützung empfangen, sondern auch selbst die Nöte anderer Länder, darunter auch meiner polnischen Heimat, hilfsbereit gelindert. Das Bekenntnis zur europäischen Solidarität läßt Euch auch nicht die Augen vor der Not und Hilfsbedürftigkeit außereuropäischer Gebiete verschließen. Dankbar denke ich dabei an Eure großen Beiträge zur Entwicklungshilfe und an den persönlichen Einsatz so vieler Missionare, Schwestern und Entwicklungshelfer. Euer Land spielt - seiner besonderen Lage und seinem geschichtlichen Erbe entsprechend - vor allem ein wichtige Rolle für die Schaffung eines stabileren und humaneren Europas und für den Abbau internationaler Spannungen. Diese Bemühungen verdienen Anerkennung und Ermutigung. Sie rufen jedoch zugleich angesichts der noch fortdauernden großen Schwierigkeiten innerhalb der Völkergemeinschaft nach immer größeren Anstrengungen. Die katholische Kirche ist hierbei im Rahmen ihres Auftrages stets ein hilfsbereiter und solidarischer Partner.

Zum besonderen Vermächtnis des entscheidungsvollen Ereignisses von 1683 an die christlichen Kirchen gehört vor allem das Anliegen des religiösen Friedens - der Frieden zwischen den Erben Abrahams und die Einheit unter den Brüdern Jesu Christi. Der Jünger Mohammeds, die damals als Feinde vor den Toren Eurer Hauptstadt lagerten, sie leben jetzt mitten unter Euch und sind uns in ihrer gläubigen Verehrung des einen Gottes nicht selten Vorbild. Die jüdische Gemeinschaft, einst so fruchtbar mit den Völkern Europas verflochten und jetzt so tragisch dezimiert, mahnt uns gerade dadurch, jede Chance zu nützen, einander menschlich und geistig näherzukommen und miteinander vor Gott zu treten und von ihm her den Menschen zu dienen. Die Spaltungen unter den Christen, 1683 bis in die Politik hinein so verhängnisvoll wirksam, sind heute Anlaß und Aufforderung zu bewußter Gemeinschaft in Begegnung, Gebet und Diakonie.

6. Liebe Brüder und Schwestern! Wie ich in meiner Fernsehbotschaft an Euch im Juni des vergangenen Jahres betont habe, sollen die erfolgreichen Anstrengungen der Christenheit zum Schutz des Abendlandes im Jahre 1683 und die jetzige Gedenkfeier während des Österreichischen Katholikentages vor allem ”die Christen von heute an ihre gemeinsame Verantwortung für Europa erinnern und ihnen neuen Mut vermitteln zu opferbereitem Einsatz für Frieden und Gerechtigkeit, für Menschenrechte und christliche Solidarität unter den Völkern“. Bei derselben Gelegenheit gab ich meiner Hoffnung Ausdruck, daß von Eurem Katholikentag ”für Eure Heimat und für ganz Europa eine christliche Neubesinnung auf die tiefen gemeinsamen geistigen Wurzeln ausgehen“ möge. Ein jeder von Euch ist aufgerufen, dazu an seinem Platz und entsprechend seinen Möglichkeiten einen ganz persönlichen Beitrag zu leisten. Uns Christen ist es aufgegeben, aus der Mitte unseres Glaubens und durch einen solidarischen Einsatz zum Wohl des Menschen und der Gesellschaft wirksam zu bezeugen, daß es allein im Kreuz wahre Hoffnung gibt - für den einzelnen, für das eigene Land, für Europa und für die ganze Menschheit.

50 Ihr Christen in Österreich und in allen Ländern des Kontinents!

Gebt Zeugnis von der tiefen christlichen Verwurzelung der menschlichen und kulturellen Werte, die Euch - und ganz Europa - heilig sind, die seine Vergangenheit so entscheidend geprägt haben und auch seine Zukunft zu gewährleisten vermögen. Zeigt Euch würdig jener Glaubensbrüder, die auch heute noch für ihre religiösen Überzeugungen und für ihre christliche Lebensführung Verfolgung leiden und schwere Opfer bringen müssen. Habt Mut und Entschlossenheit, Euch auch in der Politik und im öffentlichen Leben aus christlicher Verantwortung für das Wohl des Menschen und der Gesellschaft im eigenen Land und über alle Grenzen hinaus einzusetzen.

Im Kreuz ist Hoffnung für eine christliche Erneuerung Europas, aber nur wenn wir Christen selbst die Botschaft des Kreuzes ernst nehmen.

Kreuz besagt: Das Leben für den Bruder einsetzen, um es zusammen mit dem seinen zu retten.

Kreuz besagt: Liebe ist stärker als Haß und Rache - Geben ist seliger als Nehmen - Sich-selbst-einsetzen bewirkt mehr als bloßes Fordern.

Kreuz besagt: Es gibt kein Scheitern ohne Hoffnung - keine Finsternis ohne Stern - keinen Sturm ohne rettenden Hafen.

Kreuz besagt: Liebe kennt keine Grenzen: beginne mit dem Allernächsten und vergiß nicht den Fernsten.

Kreuz besagt: Gott ist immer größer als wir Menschen, größer als unser Versagen - Leben ist stärker als der Tod.

Als Jünger Christi seid Ihr, liebe Brüder und Schwestern, aufgerufen, aus der Kraft des Kreuzes Christi durch Euer hoffnungsvolles Wort und christliches Lebensbeispiel den Menschen von heute in ihrer mannigfachen Bedrohung und Verwirrung die befreiende Antwort und Hoffnung zu geben.

Und pflegt in allem das Gebet! Betet, wie es die Christen in der Bedrängnis von 1683 getan haben. Betet, wie es gerade in Eurem Land seit Jahrzehnten so vorbildlich im ”Rosenkranz-Sühnenkreuzzug um den Frieden der Welt“ geschieht. Laßt Euch von mir in dieser Stunde unter dem Zeichen des Kreuzes, das wir heute auf diesem Platz aufgerichtet haben, zu jenem wahren Kreuzzug der christlichen Tat und des Gebetes sammeln. Wie einst der selige Papst Innozenz XI. die bedrohten Völker zur Heiligen Allianz zusammenrief, so ruft Euch heute sein Nachfolger auf dem Stuhl Petri ins Gewissen: Der geistige Kampf für ein Überleben in Frieden und Freiheit verlangt den gleichen Einsatz und Heldenmut, die gleiche Opferbereitschaft und Widerstandskraft, durch die unsere Väter damals Wien und Europa gerettet haben! Entscheiden wir uns dazu und legen wir diesen Entschluß unter das Kreuz Christi, des Herrn aller Geschichte. Denn in seinem Kreuz ist wirklich Hoffnung und Heil!

”Wir beten Dich an, Herr Jesus Christus,

und preisen Dich,

51 denn durch Dein heiliges Kreuz

hast Du die Welt erlöst“.

Amen.
   1984

PASTORALBESUCH IN DER SCHWEIZ

EUCHARISTIEFEIER AUF DER WIESE VOR DEM HAUS

DES "HL. BRUDERS KLAUS"


Flüeli - Donnerstag, 14. Juni 1984




Liebe Brüder und Schwestern!


”Der Name Jesus sei euer Gruß!“

Mit diesem Grußwort eures Landesvaters darf ich hier im Flüeli in eure Mitte treten. Hier hat der heilige Bruder Klaus gelebt und gewirkt. Hier hat er mit seiner Frau Dorothea 23 Jahre lang ein glückliches Familienleben geführt und seine zehn Kinder großgezogen. Hier hat er in schwerem inneren Ringen den Entschluß gefaßt, um des Namens Christi willen Brüder, Schwestern, Frau und Kinder, Äcker und Haus zu verlassen (Mt 19,29), um Gott allein zu dienen. Hier hat er im Ranft, auf eigenem Grund und Boden, zwanzig Jahre lang ein Einsiedlerleben geführt, weltabgeschieden und doch offen für die Nöte der Welt und seiner Heimat.

Im Namen Jesu grüße ich die Schweizer Bürger, die heute in diesen Gemeinden wohnen und das kostbare Andenken dieses außergewöhnlichen Heiligen hüten; ebenso alle Gläubigen, die sich von nah und fern mit uns, mit ihren Bischöfen und Priestern zu dieser Eucharistiefeier versammelt haben. Einen ehrerbietigen Gruß richte ich auch an die anwesenden Vertreter aus Staat und Gesellschaft, denen die Sorge für das Wohl der Bürger in den Kantonen anvertraut ist und für die das Wirken des hl. Nikolaus von der Flüe für Frieden und Gerechtigkeit heute in einer besonderen Weise Vorbild und Verpflichtung sein kann.

1. ”Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, es ist Gerechtigkeit, Friede und Freude im Heiligen Geist“ (Rm 14,17), so hörten wir eben in der Lesung aus dem Römerbrief. Der Apostel Paulus hat diese Worte der Gemeinde von Rom in einem damaligen konkreten Kontext geschrieben. Wir möchten sie heute im Blick auf dieses Land und diesen Heiligen auslegen, der ein Symbol für das Land und Volk ist: Nikolaus von der Flüe und die Schweiz.

Diese Wahrheit vom Reich Gottes ist im Leben des Nikolaus zur äußersten Konsequenz gekommen, weit über normale menschliche Maßstäbe hinaus. Er ist ein Mann, der viele Jahre seines Lebens hindurch auf Speise und Trank verzichtet hat, um das Reich Gottes zu bezeugen.

52 Im Leben und Wirken von Bruder Klaus in der Schweiz hat sich das Reich Gottes als ”Gerechtigkeit, Friede und Freude im Heiligen Geist“ erwiesen. Vor über fünfhundert Jahren erging von diesem Ort aus, aus der Stille des Gebetes und der Gottverbundenheit im Ranft, seine Friedensbotschaft, die die entzweiten und zerstrittenen Eidgenossen auf der Tagsatzung zu Stans wieder zur Einheit gebracht und einen neuen Abschnitt eurer Geschichte eingeleitet hat. Hier im Flüeli, wo uns die Gestalt von Bruder Klaus immer noch lebendig vor Augen steht, glauben wir auch heute noch seine Stimme zu hören, die uns zum Frieden mahnt, zum Frieden in eurem eigenen Land, zur Verantwortung für den Frieden in der Welt, zum Frieden im eigenen Herzen.

2. Euer Landesvater mahnt auch heute noch zum Frieden im eigenen Land. ”Mein Rat ist auch, daß ihr in diesen Sachen gütlich seiet, denn ein Gutes bringt das andere. Wenn es aber nicht in Freundschaft möchte geschlichtet werden, so laßt doch das Recht das beste sein“, so schrieb Bruder Klaus im Jahre 1482 an Bürgermeister und Rat von Konstanz.

Güte und Wohlwollen sind die erste und grundlegende Bedingung für den Frieden, im Leben einer Gemeinschaft wie im Leben jedes einzelnen. ”Bekleidet euch mit aufrichtigem Erbarmen, mit Güte, Demut, Milde, Geduld! Ertragt euch und vergebt einander, wenn einer dem anderen etwas vorzuwerfen hat“, so ermahnt der heilige Paulus die Getauften (
Col 3,12-14). Damit diese Mahnung in der harten politischen und sozialen Wirklichkeit eines Landes nicht bloß ein frommes Ideal bleibt, müssen wir sehen, wie sie sich ins öffentliche Leben umsetzen läßt. Die Geschichte des Stanser Ereignisses kann uns zeigen: Es gilt, einander anzunehmen bei aller Verschiedenheit und dafür verzichten zu können auf die Durchsetzung mancher sogar berechtigter Ansprüche.

3. Heute sind diesem Einander-Annehmen neue Aufgaben gestellt. Die Kluft zwischen den Generationen ist größer geworden. Die Jugendlichen müssen die Erwachsenen, die Erwachsenen die Jugendlichen, und beide zusammen müssen die ältere Generation annehmen. Gerade da braucht es heute viel ”Güte und Freundlichkeit“ : in Freundschaft die Probleme der anderen Generation verstehen, ihre berechtigten Anliegen anerkennen, in gemeinsamen Bemühen nach neuen Lösungen suchen. Laßt euch in eurem Bemühen um gegenseitiges Verstehen nicht entmutigen!

Bisher habt ihr euch in eurem Land als Mit-Eidgenossen verschiedener Sprache, verschiedener Kultur und verschiedenen Bekenntnissen gegenseitig angenommen; heute muß sich dieses Einander-Annehmen ausweiten auf Menschen ganz anderer Denk- und Lebensweise und vielleicht auch ganz anderer Religion, die bei euch Arbeit und Schutz suchen, indem sie euch ihre Dienste - und ihre Menschlichkeit! - anbieten. Gewiß eine schwierige Aufgabe, aber nicht schwieriger als das bisher erreichte Zusammenwachsen der Eidgenossenschaft und ihrer vielfältigen Menschengruppen. Seht in euren Gästen zuallererst Menschen, die mit euch in den grundlegenden Freuden und Sorgen, Wünschen und Hoffnungen zuinnerst verbunden sind und euer eigenes menschliches Los teilen!

4. Nicht immer kann jedoch das Einander-Annehmen in lauter ”Güte und Freundschaft“ geschehen; oft fehlt das Verständnis, oft fehlt der gegenseitige Kontakt. Darum gilt der weitere Rat des heiligen Bruders Klaus: ”Wenn es aber nicht in Freundschaft möchte geschlichtet werden, so laßt das Recht das beste sein“. Frieden beruht auf der Freundschaft, aber noch grundlegender auf der Gerechtigkeit. Der Schutz der Menschenrechte und der Einsatz für den Frieden gehören notwendig zusammen. Euer Staat rühmt sich, ein Rechtsstaat zu sein. Ein Rechtsstaat aber kann sich heute nicht bloß auf das bisher formulierte Recht stützen; den rasch sich wandelnden Verhältnissen entsprechend muß auch neues Recht geschaffen werden, ein Recht, das vor allem die Ungeschützten und Zurückgestellten verteidigt: das ungeborene Leben, die Jungen und die Alten, die Ausländer, die ausgebeutete Natur. Nehmt diese vordringlichen Aufgaben mutig in die Hand und versucht sie mit jener Weisheit zu lösen, von der Bruder Klaus sagt: ”Weisheit ist das allerliebste deswegen, weil sie alle Dinge zum besten anfängt“.

5. Brüder und Schwestern! Nikolaus von der Flüe erinnert uns auch an unsere Verantwortung für den Frieden in der Welt. Es gehört bereits zum Grundauftrag der Kirche, das Reich Gottes zu verkünden, das ein Reich von ”Gerechtigkeit, Frieden und Freude“ ist. Dieses Evangelium des Friedens verkündigt die Kirche heute mit besonderem Nachdruck, angesichts der weltweiten Bedrohungen unserer Tage.

Politisch-ideologische Spannungen, Hunger und Verelendung, Überschuldung vieler Staaten, vielfältige Verletzung der Menschenrechte: diese Quellen von Angst bis hin zur Verzweiflung wirken sich heute weltweit aus und lassen auch die besser gestellten Völker nicht unbeeinflußt. Alle Völker müssen sich heute gemeinsam diesen Herausforderungen stellen und menschenwürdige, gerechte Auswege suchen. In den Botschaften zum jährlichen Weltfriedenstag, in vielfältigen Friedensinitiativen und Kontakten mit Politikern, Diplomaten und Wissenschaftlern sucht sie unermüdlich dafür zu werben, daß es in der heutigen Lage keine Alternative zu Dialog, Interessenausgleich und gerechten Vereinbarungen gibt.

6. Was die Schweiz und ihre Beziehungen zu anderen Staaten betrifft, so hat Bruder Klaus damals seinen Mitbürgern nach der Überlieferung diesen Rat gegeben: ”Macht den Zaun nicht zu weit . . . Mischt euch nicht in fremde Händel“. Dieses Prinzip hat schließlich zu eurer anerkannten und sicher verdienstvollen Neutralität geführt. In ihrem Schutz ist die kleine Schweiz heute zu einer Wirtschafts- und Finanzmacht geworden. Wacht als demokratisch verfaßte Gemeinschaft aufmerksam über alle Vorgänge in dieser mächtigen Welt des Geldes! Auch die Finanzwelt ist Menschenwelt, unsere Welt, unser aller Gewissen unterworfen; auch zu ihr gehören ethische Grundsätze. Wacht vor allem darüber, daß ihr mit eurer Wirtschaft und eurem Bankwesen der Welt Friedensdienste leistet und nicht - vielleicht indirekt - zu Krieg und Unrecht in der Welt beitragt!

Die schweizerische Neutralität ist ein hohes Gut; nutzt ihre Möglichkeiten weiterhin voll aus, um Flüchtlingen Asyl zu gewähren und um Hilfswerke zu fördern, die nur von einem neutralen Land aus möglich sind. Nicht wenige meiner eigenen Landsleute haben zu verschiedenen Zeiten in eurem Land Zuflucht gefunden - so zum Beispiel in einem Lager hier in Flüeli -, und immer hört man mit Dankbarkeit von der raschen und großzügigen Hilfe der Schweizer in Katastrophenfällen. Ja, ”macht den Zaun nicht zu weit“, aber scheut euch nicht, über den Zaun hinauszuschauen, macht die Sorgen anderer Völker zu euren eigenen und bietet über die Grenzen hinweg eine helfende Hand, und dies auf der Ebene eurer staatlichen Organe und Finanzmittel. Die internationalen Organisationen mit Sitz in Genf bedeuten eine ehrende Verpflichtung für die ganze Schweiz und für jeden einzelnen Schweizer.

7. Liebe Brüder und Schwestern! Nikolaus von der Flüe mahnt uns zum Frieden im eigenen Land und zum Frieden in der Welt, ermahnt uns vor allem zum Frieden im eigenen Herzen. Jesus preist in der Bergpredigt nicht einfach die Friedfertigen, sondern die Friedensstifter, jene, die mit dem Einsatz ihres ganzen Wesens ”Frieden machen“. Der Friede muß erarbeitet, erlitten, erbetet werden.

53 Ein Mensch aber, der mit sich selbst uneins ist, der im inneren Unfrieden lebt, kann keinen Frieden stiften. Darum weist uns Bruder Klaus auf die tiefste Quelle allen Friedens hin, wenn er an den Rat von Bern schreibt: ”Fried ist allweg in Gott, denn Gott ist der Fried“. Gott in der Einheit seiner drei Personen ist das Urbild und die Quelle allen Friedens; er schenkt uns diesen Frieden als erste Gabe der Erlösung, als Anfang der Herrschaft Gottes auf Erden, als Geschenk des Heiligen Geistes: ”Die Frucht des Geistes aber ist Liebe, Freude, Friede, . . . Treue“ (Ga 5,22). ”Das Reich Gottes . . . ist Gerechtigkeit, Friede und Freude im Heiligen Geist“ (Rm 14,17). Wir müssen dem Geist für seinen Frieden danken und ihn bitten, sein Wirken in uns noch zu vertiefen. Dann kann der Friede, den Gott in uns wirkt, aus dem Innersten unserer Person ausstrahlen und andere überzeugen. Im Frieden Jesu Christi, den die Welt nicht geben kann (Jn 14,27), können wir selbst echte Friedensstifter werden.

In dieser Gesinnung sind wir heute zum heiligen Nikolaus von der Flüe gepilgert. Diesen Frieden ”im Heiligen Geist“ wollen wir uns mit seiner Fürsprache erbeten! Am Bruder Klaus haben sich in wunderbarer Weise die Worte der heutigen Liturgie erfüllt: ”Wirf deine Sorge auf den Herrn, er hält dich aufrecht! Er läßt den Gerechten niemals wanken“ (Ps 55,23). Und im Antwortpsalm hören wir geradezu unseren Heiligen beten: ”Unsere Tage zu zählen, lehre uns (o Gott), damit wir ein weises Herz gewinnen! . . . Laß deine Knechte dein Walten sehen und ihre Kinder dein herrliches Tun!“ (Ps 90,12 Ps 90,16). Ja, das ”herrliche Tun“ Gottes erblickt der heilige Mensch überall dort, wo wahrhaft Frieden gestiftet wird. Diese Botschaft brachten die Engel schon in der Nacht der Geburt des Herrn. Auf Schweizer Erde hat Bruder Klaus sie aufgenommen. Sein Friedenswerk hat er mit einem eindrucksvollen Zeugnis für die Ehre Gottes verbunden, die er seinen Landsleuten über Generationen hin bis heute vor Augen stellt.

8. Im heutigen Evangelium spricht Christus zu Petrus und den anderen Aposteln: ”Wenn die Welt neu geschaffen wird und der Menschensohn sich auf den Thron der Herrlichkeit setzt, werdet ihr, die ihr mir nachgefolgt seid, auf zwölf Thronen sitzen und die zwölf Stämme Israels richten. Und wer um meines Namens willen Brüder, Schwestern, Vater, Mutter, Kinder, Äcker und Häuser verlassen hat, wird das Hundertfache dafür erhalten und das ewige Leben gewinnen“ (Mt 19,28 Mt 19,29).

Seht, das ist Nikolaus von der Flüe, euer Landsmann! Vor 517 Jahren hat er um seiner Berufung willen seine Frau, seine Kinder, sein Haus, seine Äcker verlassen: Er hat die Worte des Evangeliums wörtlich genommen! In den Schweizer Kantonen hat sich sein Name eingeprägt: Er ist ein echter Zeuge Christi! Ein Mensch, der das Evangelium bis zum letzten Wort verwirklicht hat. Ehren wir auch seine Frau Dorothea: In einem durchlittenen Entschluß hat sie den Gatten freigegeben. Zu Recht trägt sie in den Augen vieler das heroische Lebenszeugnis des Bruders Klaus mit.

So bleiben die heiligen Menschen im Volke Gottes wie ein lebendiges Beispiel des Weges, der Wahrheit und des Lebens, das Christus selber ist.

Die Heiligen sind aber auch Richter: ”Ihr werdet die zwölf Stämme Israels richten“, so lautet das Evangelium. Ja, sie richten die Herzen, die Gewissen, unsere Taten. Sie richten die Lebensformen und Sitten. Sie richten die Generationen: vor allem die Generationen jenes Landes, aus dem Christus sie jeweils berufen hat.

Söhne und Töchter der Schweiz! Nehmt das Beispiel des Bruders Klaus an, stellt euch unter sein Urteil! Unter seinem Beispiel und Urteil soll die Geschichte eures Landes vorangehen. Seit so vielen Generationen ist unter euch ein Mensch geistig gegenwärtig, der mit seinem ganzen irdischen Leben die Wirklichkeit des ewigen Lebens in Gott bekräftigt hat. Schaut auf ihn! Und schaut auf diese Wirklichkeit Gottes! Gebt ihr aufs neue Raum in eurem Bewußtsein, in eurem Verhalten, in eurem Gewissen, in eurem Herzen!

”Unsere Tage zu zählen, lehre uns (o Gott), damit wir ein weises Herz gewinnen! . . . Laß deine Knechte dein Walten sehen und ihre Kinder dein herrliches Tun“ : Das gewähre uns der himmlische Vater als ein besonderes Erbe vom heiligen Bruder Klaus, dem Patron eures Vaterlandes. Amen.



PASTORALBESUCH IN DER SCHWEIZ

LOBFEIER


Heiligtum von Einsiedeln - Freitag, 15. Juni 1984




Liebe Brüder und Schwestern!

1. Wir sind an diesem neuen Morgen im Heiligtum Unserer Lieben Frau von Einsiedeln versammelt zum Lobe Gottes. Von Herzen grüße ich die treuen Hüter dieses Gnadenortes, die Söhne des hl. Benedikt und ihre ganze Klostergemeinschaft; ich grüße diejenigen, die heute hierher gepilgert sind, wie auch alle jene, die zu Hause in ihren Familien diesen Gottesdienst mitfeiern.

54 Im ersten Psalm haben wir soeben gesungen: ”Gott, du mein Gott, dich suche ich; meine Seele dürstet nach dir . . . Darum halte ich Ausschau nach dir im Heiligtum, um deine Macht und Herrlichkeit zu sehen . . .“ (Ps 63,2 Ps 63,3). Die Stimme dieses Psalmes ist unsere Stimme; ”Gott, du mein Gott, dich suche ich . . .“. In jedem Menschenherzen ist diese Sehnsucht eingepflanzt - wenn sie auch manchmal verschüttet ist: die Sehnsucht nach einer uns für immer beglückenden Fülle des Lebens, die Sehnsucht nach Gott! Wenn unsere innere Stimme nicht übertönt wird, hören wir unser Herz nach einer Erfahrung Gottes rufen. Immer wieder kommen auf unsere Lippen die Worte des Psalmisten: ”Gott, du mein Gott, . . . meine Seele dürstet nach dir . . .“. Wir suchen ein Glück, das es nur in ihm zu finden gibt.

Gott läßt sich jedoch nicht erfahren, wie man die Dinge der Natur erfährt. Deshalb halten wir wie der Psalmist Ausschau nach ihm in seinem ”Heiligtum“. Wir können Gott nur im Glauben begegnen. Jesaja spricht in der heutigen Lesung von seiner eigenen, persönlichen Gotteserfahrung. Er schaut auf geheimnisvolle Weise den heiligen Gott und hört den Preisgesang: ”Heilig, heilig, heilig ist der Herr!“ (Is 6,3). Als Mensch erlebt er den heiligen ehrfurchtgebietenden Gott und zugleich seine eigene Sündhaftigkeit: ”Wehe mir!“. Die Erfahrung der Nähe Gottes ist für den Menschen eine Grenzerfahrung. Aber der Prophet vernimmt sogleich das verzeihende Wort: ”Deine Schuld ist getilgt!“ (ebd. 6, 5-7). Die Nähe des heiligen Gottes ist eine liebende und heilende Nähe. Eine beglückende Erfahrung: Wen Gott in seine Nähe ruft, den heilt er!

2. An diesem Morgen halten wir wie der Psalmist gemeinsam Ausschau nach Gott im Heiligtum Marias. Mehr noch als der Prophet Jesaja erlebte Maria, was es heißt, die Nähe Gottes erfahren zu dürfen. Maria ist die Jungfrau, deren Herz nicht geteilt ist; sie sorgt sich nur um die Sache des Herrn und will ihm allein gefallen in ihrem Tun und Denken (1Co 7,32-34). Gleichzeitig empfindet jedoch auch sie heilige Scheu und ”erschrickt“ über die Worte des Gottesboten. Diese Jungfrau hat Gott auserwählt und geheiligt als Wohnung seines ewigen Wortes.

Maria, die erhabene Tochter Zion, erfuhr wie niemand sonst, wie nahe die ”Macht und Herrlichkeit“ Gottes ist. Sie ruft voller dankbarer Freude aus im Magnifikat: ”Meine Seele preist die Größe des Herrn . . . Der Mächtige hat Großes an mir getan. Sein Name ist heilig“. Maria ist sich zugleich ihrer Geschöpflichkeit zutiefst bewußt: ”Auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut“. Sie weiß, daß alle Geschlechter sie selig preisen werden (Luk 1, 46-49), aber sie weist von sich weg auf Jesus hin: ”Tut, was er euch sagt!“ (Jn 2,5). Sie kümmert sich um die Sache des Herrn. In einer immer neu geforderten Verfügbarkeit für ihren Gott ging Maria den ”Pilgerweg des Glaubens“ (Lumen Gentiutm, 58). Die Jungfrau von Nazaret hat das unbegreifliche Handeln Gottes mit den Augen des Glaubens betrachtet. Zweimal betont Lukas, daß sie ”in ihrem Herzen“ bedachte, was sich ereignet hatte (Luk 2, 19. 51). Solcher Glaube wird selig gepriesen: ”Selig ist, die geglaubt hat . . .“ (Ebd.1, 45).

3. Liebe Brüder und Schwestern! Folgt dem Pilgerweg des Glaubens, den Maria gegangen ist! Öffnet wie sie euer Herz ganz für die Sache des Herrn! Ich richte diese Einladung an alle, an Bischöfe, Priester und Diakone, an Ordensleute und Laien, an Männer und Frauen. In uns allen lebt ja die tiefe Sehnsucht der Menschen nach der Erfahrung des lebendigen Gottes. Diese Sehnsucht hat immer wieder Menschen auf den Weg gläubiger Christusnachfolge gerufen. Ist dieses Marienheiligtum nicht geprägt von der Sehnsucht zahlloser Pilger im Glauben nach der Erfahrung von Gottes Gegenwart in dieser Welt? Hier durften diese suchenden Menschen eintreten in eine Atmosphäre des Gebetes. An dieser Stätte hat der hl. Einsiedler Meinrad (+ 861) in der Stille Gott gesucht. Heilige pilgerten hierher: die Bischöfe Ulrich (+ 983), Wolfgang (+ 994) und Konrad (+ 995), die Pilgerin Dorothea von Montau (um 1384), der Beter Nikolaus von Flüe (um 1474), der Erneuerer des kirchlichen Lebens Karl Borromäus (1570), der Glaubenslehrer Petrus Canisius (+ 1597), der Büßer Benedikt Josef Labre (+ 1783), die Helferin der Armen Johanna Antida Thouret (1795) und unzählige namenlose Heilige. Sie und alle Pilger waren sich ihrer Hilfsbedürftigkeit und Sündhaftigkeit bewußt. Zusammen mit Maria, der Mutter Jesu, verharrten sie hier im Gebet, offen für Gott und seinen Geist.

So wird Glaube weitergegeben: der lebendige Glaube des Gebetes, die persönliche Erfahrung mit Gott. Wer die Gemeinschaft von Glaubenden aufsucht, im besonderen wer sich Maria nähert, tritt in eine Atmosphäre des Geistes ein. Maria erhielt ja vom Engel die zusage der Gnade und des Geistes (Luk 1, 28. 35). Wie Maria wollen wir offen sein für Gottes Geist, damit wir seine Kraft erfahren, die uns ausrüstet für den Dienst und das Zeugnis, zu dem wir berufen sind.

4. Liebe Brüder und Schwestern! Sorgt euch um die Sache des Herrn! Haltet Ausschau nach dem heiligen Gott! Ich erinnere noch einmal an die Berufungsvision des Propheten Jesaja. In der persönlichen Erfahrung des dreimalheiligen Gottes wurzelt seine Sendung zu den Menschen. Er wird fähig, die Stimme des Herrn zu hören. Er vernimmt die Frage nach der Bereitschaft zum prophetischen Dienst. Und er gibt seine Zustimmung zur Sendung, die von oben kommt: ”Hier bin ich, sende mich!“ (Is 6,8). Nun erhält er den Auftrag: ”Geh und sag diesem Volk: Hören sollt ihr . . .“ (Ebd. 6, 8-9). Der Prophet wird von Gott bedingungslos in Dienst genommen. Er steht fortan ungeteilt auf der Seite Gottes. Aber er wird auch solidarisch bleiben mit dem Volk, zu dem er gesandt ist.

Auch Maria hat zunächst die Nähe des Herrn erfahren dürfen: ”Der Herr ist mit dir!“. Sie hat die Zusage der Gnade erhalten, bevor sie um ihre Bereitschaft zu der einmaligen Sendung gefragt wurde, Mutter des Messias zu werden. Darauf gibt sie ihr vorbehaltloses Ja zu ihrer Mitwirkung im Heilswerk Gottes: ”Ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe, wie du es gesagt hast“ (Lc 1,28 Lc 1,30). Sie handelt überlegt; aber auch sie setzt keine Bedingungen. Sie ist dienstbereit, weil sie den heiligen Gott nahe weiß. Mit Geduld geht sie den ”Pilgerweg des Glaubens“ bis unter das Kreuz ihres Sohnes. Auf diesem Weg ist sie ganz solidarisch mit uns: eine mitfühlende Mutter und Schwester.

Nehmen wir, liebe Brüder und Schwestern, uns Maria, die Mutter Jesu, die zugleich die Mutter der Kirche und unsere Mutter ist, zu unserem Vorbild und zu unserer Weggefährtin auf dem Weg unserer irdischen Pilgerschaft! In allen Situationen unseres Lebens wollen wir mit ihr Ausschau halten nach dem heiligen Gott, der immer anders und größer ist als wir, der uns aber doch stets geheimnisvoll nahe ist und uns liebt. Im Blick auf diesen Gott, der in Christus unser Vater geworden ist, sprechen auch wir: ”Hier bin ich, sende mich!“ - ”Mir geschehe nach deinem Wort!“. Im Dienst vor Gott und im Dienst an den Menschen. Amen.



Predigten 1978-2005 48