Predigten 1978-2005 101


PASTORALBESUCH IN ÖSTERREICH

WORTGOTTESDIENST FÜR DIE ALTEN UND KRANKEN


Dom von Salzburg - Sonntag, 26. Juni 1988




Liebe Brüder und Schwestern!

102 1. Es ist mir eine große Freude, den heutigen Sonntag in Salzburg mit diesem gemeinsamen Morgengebet in eurer Mitte zu beginnen. Der Begegnung mit betagten, kranken und behinderten Menschen kommt bei meinen Pastoralbesuchen stets ein bevorzugter Platz zu. Ihr seid nicht die vergessenen Kinder Gottes. Im Gegenteil! Wenn schon einem Vater oder einer Mutter ein krankes wachsen kann, um wieviel mehr wird bei Gott Freude über euren Glauben und euren Lebensmut sein. Und Jesus Christus versichert uns, daß wir in euch auf besondere Weise ihm selber begegnen.

Es ist leider keine Selbstverständlichkeit, daß jemand, der unter Beschwerden von Alter, Krankheit oder Behinderung leidet, in unserer Gesellschaft als gleichwertiger Mensch anerkannt wird. Doch Gott fragt nicht nach euer Leistungsfähigkeit im Produktionsprozeß, nicht nach der Höhe eures Bankkontos. Nicht auf das, was ”ins Auge fällt“, sieht der Herr, sondern auf das Herz.

Der liebende Blick Gottes, der auf jedem Menschen ruht, vermittelt ihm die Gewißheit, daß er – ob jung oder alt, krank oder gesund – ausnahmslos erwünscht und gewollt ist. Darin erfahren wir uns alle als Söhne und Töchter des gemeinsamen himmlischen Vaters. Die Liebe Gottes zu uns ist immer das Erste und Grundlegende. Dies zu erfahren und darum zu wissen, ist etwas Großes; und etwas Großes ist es, diese Erfahrung auch anderen mitzuteilen und sie gemeinsam mit ihnen zu leben.

2. Euer Los und eure Beschwerden lasten gewiß oft schwer auf euren Schultern. Wer von euch wird nicht schon versucht gewesen sein zu fragen, ob die Mühen und Plagen, die Müdigkeit, die ihn überfällt, sich noch lohnen und einen Sinn haben. In eurem Leid erfahrt ihr konkret die Hinfälligkeit und Begrenztheit des Geschöpfes. Gerade darin aber kann das Leid für euch auch zum besonderen Ort der Öffnung auf die Mitmenschen und auf Gott hin werden. Ein Leben, das allzu glatt und fraglos dahinläuft, verleitet uns allzu leicht zur Oberflächlichkeit, läßt uns satt und selbstgenügsam werden. Wo uns hingegen das Leid aufrüttelt mit den Fragen, die sich damit unausweichlich stellen, da bricht in uns die Sehnsucht auf. Wir beginnen erneut nach anderen und im tiefsten nach Gott Ausschau zu halten.

Um im Leid Hilfe und Heilung finden zu können, brauchen wir die Gemeinschaft mit den Mitmenschen und mit Gott. Wie im Glück, sollen wir uns auch im Leid nicht absondern, denn die Gemeinschaft ist der Ort, wo wir Leben teilen können. Es ist eine der schönsten Aufgaben der Kirche, das brüderliche Teilen als heilsam erleben zu lassen. Darin erfährt sich die Kirche wirklich als Gemeinschaft der Kinder Gottes und als Wohnung Gottes. Denn ”wo die Liebe und die Güte ist, da ist Gott“!

3. Der Mann mit der verdorrten Hand, von dem wir soeben im Evangelium gehört haben, lebt völlig unbeachtet am Rand der Gesellschaft. Jesus sieht ihn, wie die anderen ihn sehen, aber er allein übersieht ihn nicht. Er ruft ihn der Synagoge vom Rand in die Mitte, um vor aller Augen auf ihn aufmerksam zu machen. ”Steh auf“, sagt er zu ihm, ”und stell dich in die Mitte!“. Und ”der Man stand auf und trat vor“. Ohne daß der Mann Vertrauen zu Jesus gefaßt hätte, wäre es ihm nicht möglich gewesen, sein Leid hier in der Öffentlichkeit zu zeigen. – Er verläßt sich auf Jesus wie Petrus, der sich auf die Stimme des Herrn verläßt und über das Wasser geht. ”Er stand auf“: Mit diesem kleinen Wort sagt uns der Evangelist, daß der Kranke nicht einfach Objekt der Heilkraft des Herrn ist, sondern daß die Heilung sich in der persönlichen Begegnung und durch die Mitwirkung des Kranken ereignet. Jesus begegnet dem Kranken als einem vollwertigen. Hilfe bedürftigen Menschen, und der Kranke begegnet in Jesus dem verheißenen Messias, dem menschgewordenen Gottessohn; er erfährt Heilung aus dem glaubenden Ja zu Christus.

Wie heilsam die persönliche Begegnung mit Gott sein kann, sehen wir auch an den besonderen Orten der Gnade, an Orten des Gebetes und der Bekehrung wie zum Beispiel in Lourdes und Fatima oder wo immer sich Menschen von Gottes Liebe berühren lassen. Jedes Jahr kehren Unzählige reich beschenkt von dort in ihren Alltag zurück. Das Wunder der Begegnung und des Glaubens. In der glaubenden Hinwendung zu Gott in Christus und durch Maria kommen dei quälenden Menschen nach dem ”Warum“ des Leidens zur Ruhe. Sie erscheinen in einem neuen Licht, das Leid erhält von Gott her einen tieferen Sinn. Gott selbst hat auf die schwere Frage des Leidens eine Antwort gegeben, indem er ein Mensch, einer von uns, geworden ist. Die Antwort Gottes heißt Jesus Christus.

4. In seinem Namen, im Namen Jesu Christi, den wir auch unseren ”Heiland“ nennen, komme ich heute zu euch. Das Wort Heiland verweist uns auf seine Sendung, zu ”heilen“. Jesus Christus hat das Reich Gottes nicht nur durch Worte verkündet, sondern auch durch taten. Dieses Reich hat mit ihm und seinem Wirken schon konkret begonnen, besonders dadurch, daß er Menschen an der Wurzel – an Leib und Seele – geheilt hat. Viele der Menschen, die sich um Jesus drängten, waren krank. Manche von ihnen waren dazu noch tief in Schuld verstrickt. Jesus hat ihnen die Schuld vergeben und sie oft auch durch äußere Heilung wieder ganz ”heil“ gemacht. Die Tauben, die er heilte, konnten nun nicht nur die Stimme der Welt, sondern auch das Wort Gottes hören. Die Stummen konnten fortan nicht nur mit Menschen sprechen, sondern aus der Tiefe ihres Herzens heraus Gott loben. Und die Lahmen konnten nicht nur gehen, sondern sich auf Gott hin bewegen. Jesus hat ihnen nicht nur äußere Heilung, sondern das ”Heil gesckenkt“, den Frieden mit Gott, den Frieden mit sich selbst und den Frieden mit den anderen Menschen.

Jesus Christus hat in der Tat nicht alle Menschen äußerlich geheilt, denen er begegnete. Aber er hat schließlich für sie alle – ohne Ausnahme – selbst auf das bitterste gelitten. Sein Weg wurde zum Kreuzweg nach Golgota. Er starb den furchtbaren Kreuzestod, der das Leid und die Schuld jedes einzelnen Menschen und der ganzen Menscheit zusammenfaßt und erlöst.

5. Seither steht das Bild des gekreuzigten Herrn in einer besonderen Weise vor den Augen jener Christen, die ein großes Leid, eine große Last tragen müssen. Der göttliche ”Mann der Schmerzen“ geht auch an eurer Seite, liebe Brüder und Schwestern! Dieser von Leid und Kreuz gezeichnete Christus tritt aber zugleich als der Auferstandene mit verklärten Wunden vor Gottes Thron für uns ein. Leiden und Tod waren nicht das Letzte für Christus, und sie sind auch nicht das Letzte für den Menschen, der an Christus glaubt. Leid und Tod tragen fortan in sich die Verheißung endgültiger Auferstehung und ewiger Seligkeit.

Der christliche Glaube und die christliche Hoffnung blicken über den Tod hinaus. Sie sind aber nicht nur eine Vertröstung auf das Jenseits. Sie verändern auch schon unser irdisches Leben. Wem es geschenkt ist, an Christus zu glauben, dem wachsen Kräfte zu, eigene Leiden und Lasten anzunehmen und zu tragen. Er bekommt aber auch Kräfte, um die Leiden und Beschwerden seiner Mitmenschen mitzutragen und sie überwinden zu helfen. ”Einer trage des anderen Last“, sagt der Apostel Paulus; ”so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen“. Darum muß gerade die Kirche sich als Ort erweisen, an dem sich betagte, kranke und behinderte Menschen geborgen, verstanden und mitgetragen fühlen, weil ihr Mittelpunkt Christus ist, der Schmerzensmann und der von Leiden und Tod auferstandene, verklärte Herr.

103 6. Liebe Brüder und Schwestern! Gewiß gibt es immer wieder Menschen, die achtlos und gleichgültig an euch vorbeigehen. Sie geben euch das Gefühl, überflüssig zu sein, nicht gebraucht zu werden. Aber seid davon überzeugt: Wir brauchen euch! Die ganze Gesellschaft braucht euch. Ihr seid für eure Mitmenschen eine aufrüttelnde Anfrage nach den tieferen Werten des menschlichen Lebens, ein Aufruf an ihre Mitmenschlichkeit, eine Prüfung ihrer Fähigkeit zu lieben. Besonders für die jungen Menschen seid ihr eine Herausforderung, das Beste in sich zu entwickeln: Solidarität und Hilfsbereitschaft mit denen, die besonders darauf angewiesen sind. Wo diese Mitmenschlichkeit verkümmert, da wird es kalt in der Gesellschaft. Es ist jedoch ermutigend, daß sich heute so viele junge Menschen für betagte, kranke und behinderte Mitmenschen einsetzen.

Aus eurer Mitte rufe ich allen in der Gesellschaft zu: Es darf keine Einteilung des menschlichen Lebens in lebenswertes und unwertes Leben geben! Diese Einteilung hat vor Jahrzehnten in die schlimmste Barbarei geführt. Jedes menschliche Leben – ob schon geboren oder nicht, ob voll entfaltet oder in seiner Entwicklung behindert – jedes menschliche Leben ist von Gott mit einer Würde ausgestattet, an der sich niemand vergreifen darf. Jeder Mensch ist Bild Gottes!

7. Zum Schluß möchte ich euch dann auch noch sagen, wie sehr euch gerade die Kirche braucht. In euch erkennen wir Christus, der als der von Kreuz und Leid Gezeichnete in unserer Mitte fortlebt. Und wenn ihr jene Leiden annehmt, die euch unausweichlich auferlegt sind, so hat euer Gebet und Opfer vor Gott eine unerhörte Kraft. Laßt darum nicht nach in eurem Gebet! Betet und opfert für die Kirche, für das Heil der Menschen und betet auch für meinen apostolischen Dienst.

Zusammen mit euch danke ich schließlich allen jenen Menschen, die schwere und glückliche Stunden mit euch teilen, die durch ihre Nähe Brücken bauen über die Abgründe von Traurigkeit und Verlassenheit. Sie sind es, die euch in der Prüfung durch Alter, Krankheit oder Behinderung Lebensmut geben und Hoffnung wecken können, so daß das Wunder der Begegnung und das Wunder des Glaubens immer wieder neu möglich werden.

Maria, die Hilfe der Christen, stehe euch bei mit ihrem mütterlichen Schutz. Und der Dreifaltige Gott segne euch und alle eure Helferinnen und Helfer mit seinem Frieden und erfülle euch stets mit tiefer geistlicher Freude! Amen.

PASTORALBESUCH IN ÖSTERREICH

HL. MESSE FÜR DIE GLÄUBIGEN DER ERZDIÖZESE SALZBURG


Salzburg - Sonntag, 26. Juni 1988




Liebe Brüder und Schwestern!

1. ”Gott hat den Menschen zur Unvergänglichkeit erschaffen“.

Dieses frohe Glaubensbekenntnis aus dem Buch der Weisheit steht hoffnungsvoll über der festlichen Liturgie des heutigen Sonntags. Es ist die Antwort auf die bleibenden Grundfragen des Menschen, die heute wieder mit besonderer Schärfe gestellt werden. Das II. Vatikanische Konzil hat sie so formuliert: Was ist der Mensch? Was ist der Sinn des Schmerzes, des Bösen, des Todes, die trotz allen Fortschrittes noch immer weiterbestehen? Wozu jene Siege, die so teuer erkauft worden sind? Und was kommt nach diesem irdischen Leben?

Im Vertrauen auf das Wort Gottes antworte ich: ”Gott hat den Menschen zu Unvergänglichkeit erschaffen“. Und als Jünger Christi antworte ich weiter: Durch seinen Tod und seine Auferstehung hat der Herr den endgültigen Grund gelegt auch für unseren Sieg über die Mächte des Todes, für das Geschenk eines ewigen Lebens in Gott.

2. In der Kraft dieses gemeinsamen Glaubens und dieser Hoffnung, die uns alle verbindet, hat mich die katholische Kirche in Österreich zu einem neuen Pastoralbesuch eingeladen. Im Rahmen dieses Besuches, den ich voll Freude und Erwartung begonnen habe, befinde ich mich nun heute bei euch in dieser altehrwürdigen Stadt Salzburg, dem Sitz einer langen Reihe von Erzbischöfen, die seit Jahrhunderten sogar den Ehrentitel ”Primas Germaniae“ tragen. Ich bin froh und dankbar für diese Begegnung mit euch und eurer berühmten Stadt und Diözese. Von Herzen grüße ich euren verehrten Oberhirten, Erzbischof Karl Berg, den derzeitigen Vorsitzenden der Österreichischen Bischofskonferenz, die Mitbrüder im Bischofs- und Priesteramt sowie alle Brüder und Schwestern des Volkes Gottes, die hier versammelt sind oder sich über die Medien mit uns verbunden haben.

104 3. Ja, die Sehnsucht nach unzerstörbarem Leben, die in jedem von uns lebendig ist, findet ihre Erfüllung durch das Erlösungswerk Jesu Christi. Ihm begegnen wir im Evangelium der heutigen Festmesse bei einer bewegenden Begebenheit. Ein Mann mit Namen Jairus, ein Synagogenvorsteher, wirft sich ihm zu Füßen und fleht ihn um Hilfe an: ”Meine Tochter liegt im Sterben. Komme und leg ihr die Hände auf, damit sie gesund wird und am Leben bleibt“.

In dieser Bitte hören wir die tiefe Sehnsucht eines jeden Vaters einer jeden Mutter, eines jeden Ehegatten, die sich um das Leben und Wohl ihrer Lieben sorgen. Zugleich aber wird darin der starke Glaube des Juden Jairus sichtbar, der Christus, dem Boten Gottes, zutraut, sein Kind vor dem Tod zu retten und ihm Leben und Gesundheit wiederzugeben. Als dann die Nachricht eintrifft, daß das Mädchen schon gestorben ist, braucht Jesus den Jairus nur and diesen Glauben zu erinnern: ”Sei ohne Furcht; glaube nur!“. Darauf spricht der Herr zu seiner toten Tochter mit göttlicher, lebenspendender Macht: ”Mädchen, ich sage dir, steh auf!“. Und der Evangelist fügt hinzu: ”Sofort stand das Mädchen auf und ging umher“.

Wir dürfen annehmen, daß der Synagogenvorsteher für dieses unerhörte Geschenk dem allmächtigen Gott aus vollem Herzen gedankt hat, vielleicht sogar mit den Worten des heutigen Antwortpsalms:

Herr, du bist mein Helfer.

Du hast mein Klagen in Tanzen – in Freude – verwandelt.

Herr, mein Gott, ich will dir danken in Ewigkeit.

4. In diesem dramatischen Geschehen um Leben und Tod erkennen wir den Herrn, wie er in seiner Person die Worte aus dem Buch der Weisheit machtvoll bestätigt:

”Gott hat den Tod nicht geschaffen / und hat keine Freude am Untergang der Lebenden./ Zum Dasein hat er alles geschaffen.../ Ja, Gott hat den Menschen zur Unsterblichkeit erschaffen / und zum Bild seines eigenen Wesens gemacht“.

Um diese Wahrheit zu bezeugen, hat Jesus dem toten Mädchen das Leben zurückgeschenkt. Ja, er ist bereit, sich selbst vom Unglauben der Menschen zu einem schmachvollen Tod verurteilen zu lassen und am Kreuz zu sterben um dann in seiner Auferstehung die Macht des Lebens zu offenbaren, das er selber ist.

Der Herr ist, wie es in der heutigen zweiten Lesung aus dem Korintherbrief heißt, ”arm“ geworden bis zur letzten Entäußerung am Kreuz. Er ist arm geworden, um uns reich zu machen, reich an ewigem Leben. In die Geschichte des Menschen, der sterben muß, wie es das Gesetz des Todes fordert, hat Christus die Antwort des Lebens eingepflanzt sein eigenes göttliches Leben. Seine Auferstehung zu einem neuen, endgültigen Leben bleibt von da an im Weltgeschehen gegenwärtig und wirksam. Sie wird nun für immer zu einer unerschöpflichen Quelle der Hoffnung. Was verzweifelt ist und sterbensmüde, beginnt in der Nähe Jesu aufzuleben, angesteckt von seiner machtvollen Liebe zum Leben. Der Arme und der Blinde, der Besessene und der Aussätzige: sie alle trauen sich wieder nach vorne, weil sie die lebenspendende Kraft spüren, die vom Herrn ausgeht. Wer meint, keinen Ausweg mehr zu sehen, wird von Christus ernstgenommen und durch sein heilendes. Wort dem Leben zurückgegeben. Nun gilt uns allen seine Verheißung: Ich lebe, und auch ihr werdet leben.

5. Liebe Brüder und Schwestern! Dieses Wort des Herrn deutet auf das Leben in seiner höchsten Form hin: auf die Beteiligung am Leben Gottes, der als schöpferische Wahrheit und Liebe allein Leben im uneingeschränkten Sinn ist. Wenn Christus sagt: ”Ich lebe, und auch ihr werdet leben“, ist dies also eine unerhörte Herausforderung und Verheißung zugleich. Sie bedeutet: Ihr sollt werden wie Gott – gottähnlich. Aber diesmal kommt das Wort nicht aus dem Mund des Verführers, sondern vom Sohn. Nichts vom Reichtum menschlichen Lebens wird dadurch aufgehoben. Was menschliches Leben in seiner Mühsal und in seiner Schönheit darstellt, ist vorausgesetzt: denken und Schmerz, Liebe und Trauer empfinden, Aufgaben übernehmen und sie gestaltend lösen; Gut und Böse unterscheiden. Und weiter gehört dazu: hinausschauen über sich selbst, auf die anderen hin. Dies alles aber würde ins Leere laufen wie eine verfließende Welle im Strom, wenn das Tiefste fehlen würde, worauf der Herr uns hinweist: Leben wird erst ganz und vollständig, wenn wir uns im Glauben berühren lassen von Gott und von ihm in die Ewigkeit hineinreicht und uns schon jetzt ”Reich Gottes“ werden läßt.

105 Den meisten von uns ist jedoch schmerzlich bewußt, wie sehr das Leben in seinen vielfältigen Formen heute bedroht ist. Es zeichnet aber gerade den Menschen aus, daß er die Bedrohungen in den Blick nimmt und sich ihnen stellt. Vor allem wir Christen sind aufgerufen, uns der verbreiteten Lebensangst anzunehmen und sie einzudämmen, indem wir das Ja Gottes zum Leben verkünden und bezeugen. Ich meine die Angst, zu kurz zu kommen; die Angst, zu alt zu werden und im Arbeitsrhythmus zu versagen; die Angst vor den gefährlichen Möglichkeiten des Menschen zu Gewalt und Zerstörung; die Angst auch vor der dunklen, abgrundtiefen Welt in uns selbst; die Angst vor dem Tod und vor dem Nichts. Diese Ängste warten darauf, von den positiven, hoffnungsvollen Werten unseres Glaubens aufgewogen oder sogar geheilt zu werden.

Gewachsen ist vor allem die Not des Menschen, den Sinn des Ganzen zu begreifen. Viele plagt die Furcht, vergeblich oder am wahren Leben vorbei zu leben. Der öde Kreislauf ”Arbeiten – verdienen – verbrauchen – wieder arbeiten“ gibt ja noch keine Antwort auf die Frage, welchem letzten Ziel denn dies alles dient. Und so fragen immer mehr jüngere Menschen: Ist das alles? Ältere Menschen fragen sich mit Bangen: Habe ich bei allem Jagen und Hetzen das Wichtigste für mein Leben vielleicht noch gar nicht entdeckt und vollzogen?

Um diese Lebensfragen beantworten zu können, müssen wir immer wieder zur Quelle des Lebens zurückkehren, die Christus uns erschlossen hat. In ihm begegnen wir dem Bild Gottes, nach dem wir geschaffen sind und das sich auf unserem irdischen Lebensweg immer vollkommener ausprägen soll.

6. Eine solche Ausprägung des Abbildes Gottes im Menschenleben beginnt aber nicht erst heute. Sie hat in vielen christlich geprägten Ländern bereits eine lange Geschichte, so auch hier bei euch in Salzburg. Schauen wir auf diese herrliche Stadt, umgeben vom Reichtum ihrer Bergwelt und zugleich berühmt wegen ihrer zahlreichen historischen Monumente, ihrer Kunstwerke, Architektur und Musik. Neben Handel und Kultur hat diese Stadt von Anfang an noch einen dritten Pfeiler ihres eigen Lebens gehabt, den katholischen Glauben. Die Türme der Stadt, die Kapellen und Klöster auf den Höhen, die Kreuze an den Wegen, sie sind unübersehbare Zeugen dafür. Sie erinnern uns an eure Diözesanpatrone Rupert und Virgil, die beiden Gründerbischöfe, denen die heilige Äbtissin Erentrud hinzugefügt werden muß. Bekannt ist, daß von hier aus eine kraftvolle Missionierung nach Osten und Südosten gegangen ist. So ist das Salz, das eurer Stadt und ihrem Umland den Namen gegeben hat, immer auch das ”Salz der Erde“, im Sinne des Evangeliums gewesen, das von hier weite Teile des Abendlandes durchdrungen hat.

Auch die Geschichte diese Stadt bezeugt die ewige Sehnsucht des Menschen nach Wahrheit, nach dem Guten, nach dem Schönen. Zugleich aber erhoben sich auch hier immer wieder die Fragen nach dem, was aus diesem irdischen Leben für die Ewigkeit bleibt. Mit Pilatus haben sich auch eure Vorfahren zuweilen skeptisch gefragt: ”Was ist Wahrheit?“. Und damals wie heute hat die Kirche den Menschen die Antwort Jesu vermittelt, der von sich sagt: ”Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“.

So haben sich die Christen hier im Dom und in den vielen Kirchen eures Landes über ein Jahrtausend hin die Kraft zum Leben bei Christus geholt. An seinem Wort haben sie ihre Wege orientiert. An den Angelpunkten ihres Lebens haben, sie in den Sakramenten der Kirche dei bergende Hand Gottes ergriffen: wenn neues Leben die Augen aufschlug; wenn zwei Menschen im Ehebund ihr Geschick zusammenfügten zu lebenslanger Treue; wenn Bischöfe und Priester geweiht wurden zu Hirten des Volkes Gottes und authentischen Zeugen der Frohen Botschaft; wenn ein Leben auf dem Sterbebett zu Ende ging. Immer dann zeigten sich eure Kirchen wahrhaft als ”Haus Gottes und Tor des Himmels“.

7. Aber auch heute gehen bei euch noch viele Menschen – bewußt oder unbewußt – den Weg Christi und lassen sich von seiner Wahrheit prägen. Sie formen die eigentliche, die innere Geschichte eures Landes. Zu ihnen gehören die Heiligen, die unter uns wohnen, ohne daß wir es ahnen, die wie eine reine, klare Quelle in ihrer Umwelt wirken. Dazu gehören die vielen, die täglich zuverlässig für die Mitmenschen wirken in Familie und Nachbarschaft, in Pfarrei und Bürgergemeinde, in Krankenhäusern und Altersheimen, im privaten und im öffentlichen Leben. Ich denke auch an die Eheleute, die sich trotz vieler Widerstände, mühen, in Frieden zusammenzuleben und dem Geheimnis neuen Lebens in ihren Kindern Raum und Schutz zu geben. Gemeint sind auch all jene mit einem festen und reifen Gottesglauben, die es anderen leichter machen, über Schicksalsschläge und Versuchungen zur Verzweiflung hinwegzukommen. Durch solche Menschen und noch viele andere wächst unter uns das Reich Gottes heran, das Reich der Gerechtigkeit und der Wahrheit, das Reich der Treue und der Liebe.

Oft aber reicht nicht die stille Zuverlässigkeit der Guten; oft müssen diese sich auch zu erkennen geben, müssen sich zusammenschließen und mit denen ringen, die heute meist lautstärker und mächtiger sind: die die Ehrfurcht vor anderen als Schwäche bezeichnen; die Rücksichtslosigkeit Selbstverwirklichung nennen und ihre Verschlagenheit als Heldentat feiern; die alles bisher Wertvolle, die Frucht großer Herzen und Geister, für Abfall und Staub halten; die Ehe und Familie, Treue und Verzicht lächerlich machen.

Die so denken und handeln, sind nicht eure Feinde; aber gegen ihr Verhalten müßt ihr euch stemmen und dabei nicht resignieren. Laßt euch nicht die Freude nehmen, Mensch und Christ zu sein, denken und lieben zu dürfen! Habt den Mut, zu versöhnen und aufzubauen, wo Streit und Selbstsucht herrschen! Seid als Eltern bereit, Kindern das Leben zu schenken und das Abenteuer ihrer persönlichen Entfaltung unter eurem Schutz und Beistand zu ermöglichen! Frauen und Männer, tretet für das einmal gezeugte Leben ein, bei euch selbst und in eurem Umkreis, und wertet es höher als jede materielle Einbuße oder eine eventuell notwendige Umstellung eures Lebensstils! Helft euren heranwachsenden Söhnen und Töchtern, die Versuchung zu bestehen, in die Scheinwelt der Drogen zu flüchten. Dies lege ich euch heute besonders ans Herz, da an diesem Sonntag zum erstenmal weltweit der ”Internationale Tag gegen Mißbrauch und illegalen Handel von Drogen“ begangen wird, wie ihn die Vereinten Nationen beschlossen haben. Nehmt also alle die gegenwärtigen Herausforderungen eurer besten Kräfte an und sagt ”ja zum Glauben“, sagt ”ja zum Leben“.

8. Sagt ja zu Gott, der sich uns als guter Vater erwiesen hat, als unverrückbare Treue in allen Wechselfällen der Menschheitsgeschichte. Darum: ”Liebe den Herrn, deinen Gott, höre auf seine Stimme und halte dich an ihm fest; denn er ist dein Leben“. Zu wissen, daß Gott dich will und dir ein hohes Grundlage, um in seinem Namen aufzubrechen und den Lebensweg mit Realismus und Vertrauen zugleich zu beschreiten. Gott hat mit uns allen ein großes Werk begonnen; tun wir das Unsrige dazu, um es in die Scheunen Gottes einzubringen. Jedes ”Grüß Gott“, jedes ”Gott sei Dank“, das wir sprechen, will uns an diese Grundlage unseres Lebens erinnern. Im Danken nehmen wir ja die uns geschenkte Begabung wirklich an und öffnen sich uns die Augen für die reichen Möglichkeiten, zu leben und Leben zu teilen. Im Grüßen bejahen wir den Nächsten, geben wir ihm Anteil an unserem Leben, wünschen wir auch ihm das Geleit Gottes für einen gelungenen Lebensweg.

Sagt ja zu Jesus Christus. In ihm ist die ”Menschenfreundlichkeit“ Gottes sichtbar geworden; er hat uns vielfältig gezeigt, was Leben heißt und was Liebe tut. Sein Vorbild macht weit und frei und furchtlos. Vertrauen wir seiner Zusage aus dem Johannesevangelium: ”Ich bin gekommen, daß sie das Leben haben und es in Fülle haben“. Dann können wir es wagen, uns im Dienst an den Mitmenschen so sehr ”loszulassen“, daß sich auch an uns Jesu Wort erfüllt: ”Wer sein Leben um meinetwillen verliert, wird es gewinnen“.

106 Sagt ja zum Heiligen Geist, zum lebenspendenden Geist des Vaters und des Sohnes. Im Atem dieses Geistes lebt die Kirche seit fast zweitausend Jahren. Derselbe Geist ermutigt sie, bald ins dritte christliche Jahrtausend einzutreten. Wenn wir bereit sind, uns seiner Führung zu unterstellen, weckt er Schritt für Schritt alle unsere Energien, auch solche, die uns heute noch verborgen sind: Sie alle sollen dem Leben dienen.

9. Vor allem zur selbstlosen Liebe spornt der heilige Geist uns ständig an. Gewiß ist sie ein Wagnis, vielleicht das große im Menschenleben, und oft der Enttäuschung ausgesetzt. Aber gerade die Liebe ist das Merkmal Gottes. Wie könnte dann der Mensch sich ”Abbild“ Gottes nennen, wenn nicht auch er die Liebe wagen würde? ”Die Liebe hört niemals auf“, sagt Paulus; sie trägt hinüber in die Ewigkeit Gottes, wenn alles andere an der Schwelle des Todes zurückbleiben muß. Und von allen Energien, die aus dem Glauben hervorgehen und dem wahren Leben dienen, die reine Liebe am mächtigsten.

Als kostbarste Möglichkeit des Menschen – das wißt ihr alle – ist die Liebe jedoch am meisten gefährdet, mit der Schlacke unseres Egoismus verunreinigt zu werden. Von Zeit zu Zeit bedarf unser Denken und Handeln deshalb der Prüfung und Vergebung im Bußsakrament der Kirche. Liebe braucht der Prüfung und Stärkung; diese findet der Christ am Tisch des Wortes und des Brotes in der heiligen Messe. Das Opfer Christi bietet ja das tiefste Motiv unserer Nächstenliebe und den sichersten Maßstab für ihre Echtheit. Eine andere Weise, diese Liebe und Selbstlosigkeit zu prüfen, ist das Teilen, das konkrete, praktische Teilen unserer Güter mit denen, die darben und Mangel leiden. Caritasarbeit, christliche Sozialpolitik und Entwicklungshilfe: sie haben ihre letzte Wurzel in der Liebe Gottes, wie Christus sie uns in seinem Leben dargestellt hat: ”Er, der reich war, wurde euretwegen arm, um euch durch seine Armut reich zu machen“.

Liebe Mitchristen! Ja, Gott ”den Menschen zu Unsterblichkeit erschaffen und zum Bild seines eigenen Wesens gemacht“. Durch die Liebe, die niemals aufhört und die letztlich Gott selber ist, ist auch dem Menschen Ewigkeit, ewiges Leben in göttlicher Fülle verheißen. Um solcher Liebe willen hat der Vater Christus zum neuen, endgültigen Leben auferweckt. Als Haupt der Kirche, als Herr der Geschichte, als Begleiter unserer Wege sprechen sein Mund und sein Herz fortwährend zu uns: ”Ich lebe, und auch ihr werdet leben“. Amen.

PASTORALBESUCH IN ÖSTERREICH

HL. MESSE FÜR DIE GLÄUBIGEN DER DIÖZESEN INNSBRUCK UND FELDKIRCH IM «BERGISEL STADION»


Innsbruck - Montag, 27. Juni 1988




Liebe Brüder und Schwestern in Herrn!

1. ”Bei dem Kreuz Jesu stand seine Mutter“. Ja, dort stand Maria mit den anderen Frauen; dort stand auch der Jünger Johannes. Das II. Vatikanische Konzil deutet diese ergreifende Geschehen beim Kreuzesopfer Christi und sagt: ”Die selige Jungfrau Maria ging den Pilgerweg des Glaubens und bewahrte ihre Einheit mit dem Sohn in Treue bis zum Kreuz, wo sie nicht ohne göttliche Absicht stand“.

Die liebende Vorsehung Gottes hat Maria bis unter das Kreuz geführt, um ihren besonderen Platz im Geheimnis Christi und der Kirche voll zu offenbaren: Dort steht Maria mit Johannes und den anderen Frauen, um auch uns unter das Kreuz Christi zu rufen, damit auch wir aus diesen Quellen der Erlösung schöpfen. Die ganze Kirche ist eingeladen, sich unter Anleitung der Enzyklika ”Redemptoris Mater“ im jetzigen Marianischen Jahr nach diesem Wort des Konzils zu erneuern, indem sie Maria auf dem ”Pilgerweg des Glaubens“ nachfolgt, der seinen entscheidenden Höhepunkt gerade in ihrer erschütternden Erfahrung zu Füßen des Kreuzes erreicht.

2. Hier sind wir nun gegen Ende meines Pastoralbesuches zusammen mit Maria unter dem Kreuz ihres geliebten Sohnes versammelt, um Eucharistie zu feiern. Aus allen Teilen Tirols und Vorarlbergs seid ihr hierher gekommen, um an dieser denkwürdigen Stätte ein Bekenntnis eures Glaubens abzulegen. Jesus Christus, der war, der ist und der kommen wird, ist in unserer Mitte, er, der von sich sagen konnte: ”Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“.

Ihr seid gekommen mit euren Bischöfen und Priestern, mit Vertretern der verschiedenen kirchlichen Vereinigungen in euren Diözesen Innsbruck und Feldkirch und darüber hinaus. Besonders grüße ich mit euch meine Mitbrüder im Bischofs- und Priesteramt, darunter vor allem die beiden verehrten Oberhirten Bischof Reinhold Stecher, glücklich genesen von schwerer Krankheit, und Bischof Bruno Wechner. Ich grüße die werten Vertreter aus dem zivilen und staatlichen Bereich, unter ihnen besonders den Herrn Bundespräsidenten und die beiden Landeshauptmänner dieses westlichen Teils. Wir alle wollen hier miteinander unseren gemeinsamen Glauben bekennen und Gott in Gebet und Opfer preisen.

3. Dabei werden unsere Sinne tief berührt von diesem schönen und geschichtsreichen Ort unserer Begegnung: hoch über der vieltürmigen Stadt mit ihrem grandiosen Kranz von Bergen, in einem breiten Flußtal mit wichtigen Verkehrswegen; und hier der Bergisel, gleichsam der Schicksalsberg eurer Heimat. Er hat die römischen Legionen gesehen, welche diese Gegend in das damalige Großreich einbanden. Mit ihnen sind die ersten Christen, Kaufleute und Soldaten, hierher gekommen. Vor 850 Jahren haben die Söhne des heiligen Norbert die Abtei Wilten zu Füßen dieses Berges gegründet, von der kraftvolle Impulse für das kirchliche Leben dieser Gegend ausgegangen sind. Durch diesen Berg, an dem schon zweimal das olympische Feuer entzündet worden ist, führen heute Autobahnen und Schienenstränge von europäischer Bedeutung, welche die Völker miteinander verbinden, zugleich aber auch wachsende Umweltbelastungen für euch mit sich bringen. Auf diesem Bergisel ist das Kreuz Christi aufgerichtet; hier steht ein Bildnis der Hohen Frau von Tirol. So erklingt auch an diesem Ort die tiefe Botschaft von Golgota: ”Bei dem Kreuz Jesu stand seine Mutter“.

107 4. Liebe Mitchristen, mit Maria schauen wir auf ihn, ”den sie durchbohrt haben“. Warum gerade mit Maria? Weil sie wie kein anderer Mensch ihr eigenes Leben mit dem Weg und Heilswerk Jesu verbunden hat. Nach Ihrem ersten Jawort bei der Ankündigung ihrer Empfängnis führte sie die liebende Vorsehung des Vaters immer tiefer in das Lebensopfer des Sohnes hinein, bis zu ihrem Mit-Leiden auf Golgota. Hier erreichte ihr Jawort seine größte Dichte: Mit der ganzen Kraft ihres Mutterherzens durchlitt sie den Todeskampf ihres Sohnes und stimmte seiner Hingabe an den Vater zu, damit die Welt durch ihn ihre Erlösung finde. ”Stabat Mater dolorosa“ – ”In Schmerzen stand die Mutter“ unter dem Kreuz.

Diese erschütternde Erfahrung, die bis an die Wurzeln ihres eigenen Lebens ging, öffnet Maria den Blick für die befreiende Botschaft, die vom Kreuz Jesu ausgeht. Vordergründig betrachtet, schien Jesus vom ”glühenden Zorn“ Gottes getroffen, als er im Gehorsam die ganz ”Sunde der Welt“ auf sich nahm. Maria aber schaute tiefer: Nein, es war nicht die ”Hitze des Zornes“, die ihren Sohn zu vernichten drohte; es war vielmehr die Glut der Liebe Gottes, die das Opferlamm verzehrte und so die Annahme seines Lebensopfers bestätigte. Diese radikale Bereitschaft zur Hingabe für uns kam nicht aus dem engen und schwachen Herzen eines bloßen Menschen; es ist vielmehr ”der Heilige“, ”der Sohn Gottes“ selbst, für den Maria auf das Wort des Engels hin Mutter geworden ist. Er ist es, der am Kreuz sein irdisches Leben dahingibt, um die Sündenschuld seiner Brüder und Schwestern aller Zeiten zu tilgen.

5. Maria erkennt im eigenen, vom ”Schwert“ durchbohrten Herzen das sterbende Herz des Sohnes und die Glut seiner göttlichen Liebe; nun weiß sie, was Johannes uns in seinem Evangelium mit den folgenden Worten verkünden wird: ”Gott hat die Welt so sehr geliebt, daß er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat; ...nicht..., damit er die Welt richtet, sondern damit die Welt durch ihn gerettet wird“.

Auf diese Weise erfährt Maria unter dem Kreuz, daß Gottes Handeln unsere begrenzten Vorstellungen von Gerechtigkeit unendlich übersteigt. Sie versteht, was der Prophet Hosea uns heute in der 1. Lesung des Wortes Gottes verkündet hat: “ Ich bin Gott, nicht ein Mensch, der heilige Gott in deiner Mitte. Darum komme ich nicht in der Hitze des Zornes“. Er ist wahrhaft ”ein Gott voller Erbarmen“, wie wir eben in der 2. Lesung aus dem Epheserbrief gehört haben.

Wir alle erkennen wie Maria im Glauben: Der dort am Kreuze leidet und sein Leben aufopfert, ist selbst ”der heilige Gott in deiner Mitte“; in deiner Mitte, Jerusalem;/ in deiner Mitte, du Volk des lebendigen Gottes;/ in eurer Mitte, ihr Menschen aller Zeiten;/ der heilige Gott in deiner Mitte, du Welt von heute.

6. Hier, mitten in unserer Welt, steht das Kreuz, an dem Jesus sein letztes Wort gesprochen hat: ”Es ist vollbracht!“. Vollbracht ist das große Werk unserer Erlösung. Oder sagen wir es mit den Worten der heutigen Liturgie aus dem Epheserbrief: ”Gott aber, der voll Erbarmen ist, hat uns, die wir infolge unserer Sünden tot waren, in seiner großen Liebe... zusammen mit Christus wieder lebendig gemacht“. Ihm verdanken wir unser eigentliches, inneres Leben; in ihm sind wir, ”dazu geschaffen, ...gute Werke zu tun“, in dieser Welt von heute.

Schauen wir also gemeinsam auf dieses unergründliche Geheimnis Gottes, der die Liebe selber ist: Die Glut seiner Liebe schafft neues Leben, damit die Welt umgestaltet werden und zur Vollendung gelangen kann. Diese Glut, das ist der Heilige Geist, er, der die Kirche durchglühen will und sie vorwärtsdrängt zur gottgewollten Bewältigung der Zukunft die vor uns liegt. Ihr möchtet diesen Weg im Licht des dreifachen Mottos gehen, das ihr für unsere heutige Glaubensfeier gewählt habt: Lebendiger Glaube – menschenwürdige Heimat – Mut zum Morgen.

7. ”Lebendiger Glaube“: So lautet der erste Programmpunkt auf eurem Weg in die Zukunft. Ihr müßt leider feststellen, daß euer in der Geschichte oftmals gerühmter Glaube heute, wie in manchen anderen Ländern Europas, ernsthaft gefährdet ist. Wachsende Sprachlosigkeit zwischen den Generationen, zahlreiche Ehescheidungen, Selbstmorde – auch unter Jugendlichen –, Kampf mit allen Mitteln unter Parteien und Politikern. Erbitterte Konfrontation unter den Christen selbst. Zynische Kirchenkritik sogar in kircheneigenen Publikationen: das sind einige Alarmzeichen dafür, daß Gottes Gebot und die Frohe Botschaft Christi für sehr viele nicht mehr die Grundlage ihres Verhaltens sind. Wie sollen die Bischöfe euren Gemeinden Seelsorger schicken, wenn ihr ihnen aus euren Familien, aus den Jugendgruppen, aus den Pfarreien viel zu wenig junge Männer für den priesterlichen Dienst zur Verfügung stellt? Wie sollen Ordensobere weiterhin Schwestern für euer Krankenhaus, für den Kindergarten im Ort bereitstellen, wenn eure Gemeinden so wenig junge Mädchen zur besonderen Nachfolge des Herrn ermutigen und begleiten? Woran liegt es, daß heute die Entscheidung für einen geistlichen Beruf so schwer geworden ist?

Ein Baum lebt, wenn seine Wurzeln tief in die Erde reichen, bis dorthin, wo das Grundwasser fließt. Der Glaube eines Menschen lebt, wenn seine Wurzeln bis zu den Quellen des wahren Lebens reichen, bis zum Geheimnis Gottes selbst. Und das geht nicht ohne Gebet und Meditation, ohne ein treues Mitleben mit der Kirche in allen Vollzügen ihres Glaubens das ganze Jahr hindurch. Ein lebendiger Baum bringt seine Früchte; und auch euer Glaube, wenn aus gesunden, tiefen Wurzeln genährt, wird sich im täglichen Leben auswirken und euren Lebensstil prägen in Familie und Nachbarschaft, in der Gemeinschaft der Mitchristen, in der Gesellschaft der Mitbürger.

8. Der erste Ort solcher Glaubenserfahrung ist und bleibt für die meisten die Familie: Dort öffnet sich ein junges Herz für die Schönheit eines Weges mit Gott und der Kirche oder es bleibt all dem verschlossen und gewöhnt sich an einen rein weltlichen Maßstab seines Lebens. Was aber in der Familie und vor allem durch die Eltern an Gottverbundenheit und liebevollem Umgang miteinander erlebt wird, das bleibt Fundament meist für das ganze Leben. Liebe Eltern laßt eure Kinder aus eurem Glauben erfahren, wie befreiend und heilend wahre Gottes- und Nächstenliebe sind. Wenn sie im Alltag ebenso wie an festlichen Tagen als Krönung all unserer anderen Fähigkeiten erlebt wird, kann sie zum belebenden Mittelpunkt unserer ganzen Person werden und auch auf unsere Umgebung wohltuend und ermutigend übergreifen. Wie erlösend kann es auch für Kinder sein, wenn sie spüren, daß Vergebung und Versöhnung stärker sind als Haß und Streit.

Wie vorbildhafte Eltern und Geschwister in der Familie, so können auch die Heiligen und Seligen der Kirche in euch die Begeisterung für den Glauben wecken. Männer und Frauen, die in verworrener Zeit die Botschaft des Evangeliums klar und überzeugend gelebt haben und ihrem vom Geist Gottes geformten Gewissen gefolgt sind, treten heute wieder mehr in das Bewußtsein von Kirche und Gesellschaft und geben Orientierung für diese unsere Zeit. Schwester Edith Stein, die große Gottsucherin unseres Jahrhunderts, Pater Rupert Mayer, der Jesuit mit dem festen Gewissensurteil, Marcel Callo, der junge Arbeiter, der in Mauthausen sterben mußte, weil er den Mächtigen zu katholisch war; sie wurden im vergangenen Jahr unter die Seligen der Kirche aufgenommen.

108 Ganz nahe von hier hat Pfarrer Otto Neururer gewirkt. Sein klares Wort zur christlichen Ehe und die Spendung der Taufe an einen Mithäftling im KZ haben ihn zum Märtyrer werden lassen. Noch heute soll hier in der Stadt Innsbruck und in der ganzen Umgebung der Name des ”Bruders von Tirol“ gerühmt werden, des Paters Thomas von Bergamo, dessen Grab sich im hiesigen Kapuzinerkloster befindet und der im 17. Jahrhundert Bauern und Fürsten im Glauben bestärkt hat.

9. Ein zweiter Ort gelebten Glaubens kann und soll die Pfarrgemeinde sein. Die Seelsorger und ihre Mitarbeiter tragen gemeinsam die Verantwortung, daß die Gemeinde als ganze wie in ihren Gruppen der Raum ist, in dem der Geist Christi immer wieder erbeten wird und wirken kann. Hier sollten die vielen, die allein oder vereinsamt oder gescheitert sind, die vielen, die Sinn und Orientierung suchen, die notwendige Annahme finden, um vielleicht sogar neue Kraft zur Selbsthilfe zu schöpfen. Das Wort des Herrn ”Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben“, könnte so seine konkrete Gültigkeit erweisen.

Für den Umgang miteinander erinnert euch an die Mahnung des Apostels Paulus an die Gemeinde in Rom – und an jede Pfarrgemeinde: ”Wir müssen als die Starken die Schwäche deren tragen, die schwach sind, und dürfen nicht für uns selbst leben. Jeder von uns soll Rücksicht auf den Nächsten nehmen, um Gutes zu tun und (die Gemeinde) aufzubauen“. Wie aktuell ist auch das folgende Wort des Völkerapostels an die Gemeinde zu Ephesus: ”Über eure Lippen komme kein böses Wort, sondern nur ein gutes, das den, der es braucht, stärkt und dem, der es hört, Nutzen bringt. Beleidigt nicht den Heiligen Geist, dessen Siegel ihr tragt... Jede Art von Bitterkeit, Wut, Zorn, Geschrei und Lästerung verbannt aus eurer Mitte! Seid gütig zueinander, seid barmherzig, vergebt einander, weil auch Gott euch durch Christus vergeben hat“ .

10. Liebe Brüder und Schwerstern! Als zweites Anliegen für euren Weg in die Zukunft habt ihr eine ”menschenwürdige Heimat“ gewählt. Dieses Thema hat durch die vielleicht allzu starke Ausrichtung eurer Lebensbereiche auf den Tourismus und zugleich durch die ungeheuren Verkehrsströme in diesem europäischen Erholungs- und Durchgangsland eine brennende Aktualität erhalten. An dieser fühlbaren Bedrohung von Natur und Umwelt darf niemand, der in diesem Land gesellschaftliche Verantwortung trägt, vorbeigehen.

Menschenwürdige Heimat bedeutet jedoch wesentlich mehr als saubere Luft, klares Wasser und gesunden Boden. Heimat, nach der sich jeder von uns sehnt, wächst dort, wo Menschen einander gut sind und füreinander eintreten, wo sie einander ertragen auch in ihren Schwächen, wo man Zeit hat für ein vertrauensvolles Gespräch, wo man bereit ist zu vergeben. Heimat bedeutet verantwortungsbewußte Gestaltung der Wohngemeinde und der Arbeitsstätte, bedeutet die aufmerksame Sorge für Sonn- und Feiertage, bedeutet die Pflege der Gastfreundschaft, der Nachbarschaftshilfe, der politischen Kultur. Solche Erfahrung von Heimat kann unter gläubigen Menschen sogar schon zur Vorahnung unserer ewigen Heimat werden. So tief verstandene Heimat umfaßt auch die Achtung vor der Menschenwürde aller. Sie beginnt bei der unbedingten Werstschätzung des menschlichen Lebens, und zwar von seiner Empfängnis an. Wenn eine Gesellschaft als ganze nicht mehr die Kraft und die geistige Klarheit dafür aufbringt, dann wird es eine vorrangige Aufgabe gläubiger Christen, im Namen Gottes und der Menschenwürde das Lebensrecht der Ungeborenen zu verteidigen. Am anderen Ende unserer irdischen Weges ist die Würde der Alten, der Kranken und Sterbenden unser aller Schutz und Verantwortung anvertraut. Aber auch Gastarbeiter und Ausländer, Behinderte und Randexistenzen, Gestrauchelte und Sünder haben Anspruch auf Anerkennung ihrer grundlegenden, bleibenden Würde. Schließlich muß das Problem der strukturellen Arbeitslosigkeit auch unter dem Gesichtspunkt einer ”menschenwürdigen Heimat“ gesehen werden und sollte die Solidarität der bessergestellten Mitmenschen erwarten dürfen.

11. Eure dritte Zielsetzung lautet ”Mut zum Morgen“. Eine gute Bewältigung der beiden ersten Aufgaben – lebendiger Glaube und menschenwürdige Heimat – führt bereits zu einer mutigen und überlegten Bereitschaft, mit Zuversicht in die Zukunft aufzubrechen. In den vergangenen Jahren hat sich bei vielen eine Grundstimmung der Angst festgesetzt, die ständig von politischen Erdbeben, von Umweltbedrohungen, von Erfahrungen scheinbarer Sinnlosigkeit bei euch und in aller Welt genährt wird. Der allzu naive Fortschrittglaube vergangener Jahrzehnte ist den meisten unter Schmerzen vergangen. Manche hat diese neue Stimmung gelähmt: andere leben darum nur dem gegenwärtigen Augenblick, ohne an morgen zu denken.

In dieser Lage sind die Christen aufgerufen, die zukunftsgestaltenden Kräfte unseres Glaubens verstärkt wahrzunehmen und konkrete Folgerungen für unseren gemeinsamen Weg daraus zu ziehen Wahrhaftig, vieles auf unserer Erde bedarf der Erneuerung: das Verhältnis der politischen Kräfte zueinander, die Weltwirtschaftsordnung, die Verwirklichung von Religions- und Gewissensfreiheit, aber auch das Miteinander im persönlichen Bereich. Für die Zukunft der Welt – und auch eurer Heimat – ist es entscheidend, von welcher Kraft und in welchem Geist eine solche Erneuerung der Herzen und der Strukturen angestrebt wird: in irgendeinem modischen Zeitgeist oder in Gottes heiligem Geist.

Wer sich Gottes Geist öffnet, wird am ehesten fähig sein zu ”Liebe, Freude und Friede, zu Langmut und Freundlichkeit, zu Güte und Treue, zu Sanftmut und Selbstbeherrschung“, wie Paulus schreibt. Hier ist die klare Quelle, aus der wir den Mut zum Morgen schöpfen dürfen. Der Geist Jesu Christi ist die Kraft und der Weg, um eine neue Zivilisation der Liebe zu errichten, die ein menschenwürdiges Leben möglichst vieler auf dieser Erde sichern kann.

12. Liebe Brüder und Schwestern! Das heutige Festevangelium hat unseren Blick mit Maria auf das geöffnete Herz des Erlösers gelenkt. Wahrhaftig: ”Aus seinem Innern werden Ströme von lebendigem Wasser fließen. Damit meinte er den Geist, den alle empfangen sollten, die an ihn glauben“.

Als Gottes Geist am Pfingstfest über die versammelte Kirche von Jerusalem herabkam, war in ihrer Mitte auch Maria, die Mutter Jesu. Bis heute ist sie uns das Urbild christlichen Glaubens. In ihr hat der Glaube sein schönstes Antlitz gefunden, sein innigstes Lied. Mit ihr zusammen soll auch unser Leben zu einem stetigen Lobpreis Gottes werden: ”Meine Seele preist die Größe des Herrn, und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter“. Amen.





Predigten 1978-2005 101