Predigten 1978-2005 168


PASTORALREISE NACH ST. LOUIS, VEREINIGTE STAATEN VON AMERIKA

St. Louis, 27. Januar 1999

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»Die Liebe Gottes wurde unter uns dadurch offenbart, daß Gott seinen einzigen Sohn in die Welt gesandt hat, damit wir durch ihn leben« (1Jn 4,9).


Liebe Brüder und Schwestern!

1. In der Menschwerdung offenbart sich Gott voll und ganz im Sohn, der in die Welt kam (vgl. Tertio millennio adveniente TMA 9). Unser Glaube ist nicht einfach das Ergebnis unseres Gottsuchens. In Jesus Christus ist Gott es, der persönlich kommt, um zu uns zu sprechen und uns den Weg zu sich zu zeigen.

Die Menschwerdung offenbart auch die Wahrheit über den Menschen. In Jesus Christus hat der Vater das endgültige Wort über unser wahres Los und den Sinn der menschlichen Geschichte gesprochen (vgl. ebd., 5). »Nicht darin besteht die Liebe, daß wir Gott geliebt haben, sondern daß er uns geliebt und seinen Sohn als Sühne für unsere Sünden gesandt hat« (1Jn 4,10). Der Apostel spricht von der Liebe, die den Sohn veranlaßte, Mensch zu werden und unter uns zu wohnen. Durch Jesus Christus wissen wir, wie sehr der Vater uns liebt. In Jesus Christus kann jeder von uns durch die Gabe des Heiligen Geistes Anteil haben an der Liebe, die das Leben der Heiligsten Dreifaltigkeit ist.

Der hl. Johannes fährt fort: »Wer bekennt, daß Jesus der Sohn Gottes ist, in dem bleibt Gott, und er bleibt in Gott« (1Jn 4,15). Durch den Glauben an den menschgewordenen Sohn Gottes bleiben wir mitten im Herzen Gottes: »Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott, und Gott bleibt in ihm« (1Jn 4,16). Diese Worte erschließen uns das Geheimnis des Heiligsten Herzens Jesu: Die Liebe und das Erbarmen Jesu sind die Tür, durch die die ewige Liebe des Vaters in die Welt ausgegossen wird. Bei der Feier dieser Messe zu Ehren des Heiligsten Herzens laßt uns unsere eigenen Herzen weit öffnen für Gottes erlösende Gnade!

2. In der Lesung aus dem Evangelium, die wir eben gehört haben, weist der hl. Lukas auf die Gestalt des Guten Hirten hin, um von dieser göttlichen Liebe zu sprechen. Der Gute Hirte ist in den Evangelien ein Bild, das Jesus teuer ist. Den Pharisäern, die beanstandeten, daß er Sünder willkommen hieß und mit ihnen aß, antwortete er mit der Frage: Wer von euch, der hundert Schafe hat und eines davon verliert, würde nicht die neunundneunzig in der Steppe zurücklassen und dem verlorenen nachgehen, bis er es findet? »Und wenn er es gefunden hat, nimmt er es voll Freude auf die Schultern, und wenn er nach Hause kommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn zusammen und sagt zu ihnen: Freut euch mit mir; ich habe mein Schaf wiedergefunden, das verloren war« (Lc 15,5-6).

Dieses Gleichnis wirft ein helles Licht auf die Freude Christi und unseres himmlischen Vaters über jeden reumütigen Sünder. Gottes Liebe ist eine Liebe, die uns suchend nachgeht. Es ist eine Liebe, die rettet. Diese Liebe finden wir im Herzen Jesu.

3. Haben wir erst einmal die Liebe, die im Herzen Jesu ist, erkannt, dann wissen wir, daß jeder Mensch, jede Familie, jedes Volk auf der Erde ihr Vertrauen auf dieses Herz setzen kann. Wir haben Mose sagen hören: »Du bist ein Volk, das dem Herrn, deinem Gott, heilig ist [. . .] der Herr hat euch ins Herz geschlossen und ausgewählt [. . .] weil der Herr euch liebt« (Dt 7,6-8). Seit den Zeiten des Alten Testamentes besteht der Kern der Heilsgeschichte in Gottes unerschöpflicher Liebe und Auserwählung und unserer Antwort auf diese Liebe. Unser Glaube ist unsere Antwort auf Gottes Liebe und Auserwählung.

Dreihundert Jahre sind vergangen, seitdem am 8. Dezember 1698 zum ersten Mal das hl. Meßopfer auf dem Gelände gefeiert wurde, auf dem sich nun die Stadt Saint Louis entwickelt hat. Es war das Fest der Unbefleckten Empfängnis der Gottesmutter, und P. Montigny, P. Davion und P. St. Cosme bauten einen steinernen Altar am Ufer des Mississippi und brachten das Meßopfer dar. Diese drei Jahrhunderte waren eine Geschichte der in diesen Teil der Vereinigten Staaten ausgegossenen Liebe Gottes und eine Geschichte hochherziger Antwort auf diese Liebe.

In dieser Erzdiözese hat das Gebot der Liebe ungezählte Tätigkeiten hervorgerufen, für die wir heute unserem himmlischen Vater danken. Saint Louis war das Tor zum Westen, aber es war auch der Torweg für ein bedeutendes christliches Zeugnis und den Dienst im Namen des Evangeliums. Getreu dem Auftrag Christi zur Verkündigung der Frohen Botschaft übte der erste Hirte dieser Ortskirche, Bischof Joseph Rosati – er kam aus Sora, nahe bei Rom – von Anfang an eine hervorragende Missionstätigkeit aus. Heute können wir in der Tat sechsundvierzig Diözesen in dem Gebiet aufzählen, in dem Bischof Rosati seinen Dienst versah. Mit großer Zuneigung begrüße ich euren jetzigen Hirten, den lieben Erzbischof Rigali, meinen wertvollen Mitarbeiter in Rom.

Viele Ordenskongregationen von Männern und Frauen haben in dieser Gegend mit beispielhafter Hingabe für das Evangelium gearbeitet, eine Generation nach der anderen. Hier sind auch die amerikanischen Wurzeln der Evangelisierungstätigkeit der Legion Marias und anderer Vereinigungen des Laienapostolats zu finden. Die Arbeit der Gesellschaft für die Glaubensverbreitung, die durch die großzügige Unterstützung der Gläubigen dieser Erzdiözese ermöglicht wird, ist ein echter Beitrag zur Antwort der Kirche auf das Gebot Christi, das Evangelium zu verkünden. Von Saint Louis aus sandte Kardinal Ritter im Jahre 1956 die ersten »Fidei Donum«-Priester nach Lateinamerika und gab damit dem Austausch der Gaben, der immer einen Teil der Communio zwischen den Kirchen bilden sollte, konkret Ausdruck. Diese Solidarität innerhalb der Kirche war das zentrale Thema der Sonderversammlung der Bischofssynode für Amerika im letzten Jahr, und sie ist der zentrale Gedanke des Apostolischen Schreibens Ecclesia in America – »Die Kirche in Amerika« – , das ich soeben im Heiligtum Unserer Lieben Frau von Guadalupe in Mexico City unterzeichnet und herausgegeben habe.

4. Durch Gottes Gnade gehörten karitative Tätigkeiten aller Art zum lebendigen Pulsschlag des hiesigen katholischen Lebens. Die Gesellschaft des hl. Vinzenz v. Paul hatte von Anfang an einen bevorzugten Platz in der Erzdiözese. Katholische karitative Einrichtungen haben seit Jahren im Namen Jesu Christi außergewöhnliche Arbeit geleistet. Hervorragende katholische Gesundheitsdienste haben das menschliche Antlitz des liebenden, mitleidsvollen Christus sichtbar gemacht.

Katholische Schulen haben sich für Generationen von Kindern als unschätzbar im Wert erwiesen, wenn sie die jungen Menschen Gott kennen, lieben und ihm dienen lehrten und sie dazu vorbereiteten, verantwortungsbewußt ihren Platz in der Gesellschaft zu übernehmen. Eltern, Lehrer, Seelsorger, Verwalter und ganze Pfarrgemeinden haben ungeheure Opfer gebracht, um den wesentlichen Charakter katholischer Erziehung als einen echten Dienst der Kirche und einen dem Evangelium gemäßen Dienst an der Jugend aufrechtzuhalten. Die Ziele des Strategischen Pastoralplans der Erzdiözese – Evangelisierung, Bekehrung, Verwaltung, katholische Erziehung, Dienst an Menschen in Not – haben hier eine lange Tradition.

Heute sind die amerikanischen Katholiken ernstlich dazu aufgerufen, dieses großartige Erbe an Heiligkeit und Dienst zu kennen, zu schätzen und zu pflegen. Aus diesem Erbe müßt ihr Inspiration und Kraft ziehen für die Neuevangelisierung, die beim Nahen des dritten christlichen Jahrtausends so dringend notwendig ist. In der Heiligkeit und dem Dienst von Philippine Duchesne, die Saint Louis als seine eigene Heilige verehrt, und in der Heiligkeit und dem Dienst zahlloser treuer Priester, Ordensleute und Laien ist seit den frühesten Tagen der Kirche in diesem Gebiet das katholische Leben in seinem reichen, vielfältigen Glanz in Erscheinung getreten. Nicht weniger wird von euch heute erwartet.

5. Mit der Entfaltung der Neuevangelisierung muß besondere Betonung auf die Familie und die Erneuerung der christlichen Ehe gelegt werden. Die Eltern müssen wissen, daß sie in ihrer Hauptaufgabe – einander Liebe zu schenken, zusammen mit Gott Mit-Schöpfer menschlichen Lebens zu sein und die Liebe Gottes an ihre Kinder weiterzugeben – von der Kirche und von der Gesellschaft vollkommen unterstützt werden. Die Neuevangelisierung muß zu einer größeren Wertschätzung der Familie als der ursprünglichen und lebensnotwendigsten Grundlage der Gesellschaft und der ersten Schule für soziale Tugend und Solidarität führen (vgl. Familiaris consortio FC 42). Wie es um die Familie bestellt ist, so ist es um die Nation bestellt!

Ebenso muß die Neuevangelisierung zur Erkenntnis der Wahrheit führen, daß »das Evangelium von der Liebe Gottes zum Menschen, das Evangelium von der Würde der Person und das Evangelium vom Leben ein einziges, unteilbares Evangelium« (Evangelium vitae EV 2) sind. Wie können wir als Glaubende übersehen, daß Abtreibung, Euthanasie und Beihilfe zum Selbstmord eine furchtbare Zurückweisung des von Gott geschenkten Lebens und der von Gott geschenkten Liebe sind? Und wie können wir als Glaubende nicht die Pflicht empfinden, Kranken und Leidenden die Wärme unserer Liebe und Unterstützung zuzuwenden, die ihnen zur steten Annahme des Lebens hilft?

170 Die Neuevangelisierung verlangt Nachfolger Christi, die vorbehaltlos für das Leben, »pro-life«, sind, die das Evanglium des Lebens verkündigen, feiern und ihm in jeder Situation dienen. Ein Zeichen der Hoffnung ist die zunehmende Erkenntnis, daß die Würde des menschlichen Lebens niemals genommen werden darf, selbst im Fall von jemandem, der sehr Schlimmes getan hat. Die moderne Gesellschaft hat die Mittel, sich selbst zu schützen, ohne Verbrechern die Chance zur Besserung zu verweigern (vgl. Evangelium vitae EV 27). Ich rufe erneut dazu auf, wie ich es kürzlich an Weihnachten getan habe, zu einer Übereinstimmung bezüglich der Abschaffung der Todesstrafe zu kommen, die sowohl grausam als auch unnötig ist.

Beim Nahen des neuen Jahrtausends sieht sich die Gemeinschaft von Saint Louis, östlich und westlich des Mississippi, noch immer einer anderen Herausforderung gegenübergestellt, und nicht nur Saint Louis allein, sondern das ganze Land, und zwar der Herausforderung, jeder Form von Rassismus ein Ende zu machen. Er ist eine Plage, die eure Bischöfe eines der hartnäckigsten und in höchstem Grad zerstörenden Übel der Nation genannt haben.

6. Liebe Brüder und Schwestern, das Evangelium der Liebe Gottes, das wir heute feiern, findet seinen höchsten Ausdruck in der Eucharistie. In der Messe und in der eucharistischen Anbetung begegnen wir der barmherzigen Liebe Gottes, die durch das Herz Jesu zu uns kommt. Im Namen Jesu, des Guten Hirten, möchte ich einen Aufruf erlassen – einen Auf ruf an Katholiken überall in den Vereinigten Staaten und wohin immer meine Stimme oder meine Worte gelangen mögen – vor allem an jene, die aus dem einen oder anderen Grund aus der Praxis ihres Glaubens ausgeschieden sind. Am Vorabend des Großen Jubiläums des zweitausendsten Jahres seit der Menschwerdung ist Christus auf der Suche nach euch und lädt euch ein zur Rückkehr in die Glaubensgemeinschaft.Ist das für euch nicht der Augenblick, die Freude der Rückkehr ins Vaterhaus zu erfahren? In manchen Fällen mag es noch Hindernisse zur Teilnahme an der Eucharistie geben; in manchen Fällen mögen noch Wunden in der Erinnerung geheilt werden müssen; in allen Fällen gibt es die Zusicherung von Gottes Liebe und Barmherzigkeit.

Das Große Jubiläum des Jahres 2000 wird mit der Öffnung der Heiligen Pforte im Petersdom in Rom beginnen: Das ist ein ausdrucksvolles Symbol der Kirche – offen für jeden, der sich der Liebe und Barmherzigkeit des Herzens Christi bedürftig fühlt. Im Evangelium sagt Jesus: »Ich bin die Tür; wer durch mich hineingeht, wird gerettet werden; er wird ein- und ausgehen und Weide finden« (Jn 10,9).

Unser christliches Leben kann als eine große Pilgerfahrt zum Haus des Vaters betrachtet werden. Sie geht durch die Tür, die Jesus Christus ist. Reue und Bekehrung sind der Schlüssel zu dieser Tür. Die Kraft, durch diese Tür zu gehen, kommt von unserem Glauben, unserer Hoffnung und unserer Liebe. Für viele Katholiken muß ein wichtiger Teil der Reise darin bestehen, die Freude der Zugehörigkeit zur Kirche wieder zu entdecken, die Kirche zu schätzen und zu lieben, da der Herr sie uns als Mutter und Lehrerin gegeben hat.

Im Heiligen Geist lebend, freut sich die Kirche auf die Jahrtausendfeier als eine Zeit weitreichender geistiger Erneuerung. Der Geist wird wirklich einen neuen Glaubensfrühling hervorbringen, wenn die christlichen Herzen neu mit der Haltung der Demut, der Großmut und der Of fenheit für seine läuternde Gnade erfüllt sind. Überall in diesem Land werden Heiligkeit und christlicher Dienst in Pfarren und Gemeinschaften aufblühen, wenn ihr die Liebe, die Gott zu euch hat, erkennt und gläubig annehmt (vgl. 1Jn 4,16).

Maria, Mutter der Barmherzigkeit, lehre die Menschen von Saint Louis und den Vereinigten Staaten, »ja« zu sagen zu deinem Sohn, unserem Herrn Jesus Christus!

Mutter der Kirche, sei auf dem Weg zum Großen Jubiläum des dritten Jahrtausends der Stern, der unsere Schritte sicher zum Herrn führt!

Jungfrau von Nazaret, vor zweitausend Jahren brachtest du das fleischgewordene Wort zur Welt: führe die Männer und Frauen des neuen Jahrtausends zu dem Einen, der das wahre Licht der Welt ist! Amen.

Vor der Erteilung des Päpstlichen Segens sagte Johannes Paul II.:

Friede, der Friede Jesu Christi sei mit euch! An meine Mitbrüder, die Kardinäle und Bischöfe, die so zahlreich heute hier sind, die Hirten der Kirche von Amerika. Besonderer Dank gilt den Priestern, die täglich die Hirtensorge um die Kinder Gottes für uns tragen. Dank euch allen für diese wunderschöne Liturgiefeier. Ich bewundere sehr eure begeisterte Teilnahme und euren Gebetsgeist. Noch einmal richte ich meinen Dank an euren Hirten, Erzbischof Rigali, und an jeden, der bei der Vorbereitung dieses Geschehens mitgearbeitet hat.

171 Auf polnisch fügte er hinzu: Ein besonderes Wort der Zuneigung geht zu den Kranken, an die Menschen im Gefängnis und an alle, die an Leib und Seele leiden. Meine Dankbarkeit und meine Wertschätzung gelten auch den Brüdern und Schwestern, die sich im Geist ökumenischen Betens uns angeschlossen haben.





VESPER IN DER KATHEDRALE VON ST. LOUIS

27. Januar 1999



»Die Völker sollen dir danken, o Gott, danken sollen dir die Völker alle« (Ps 67,4).


Liebe Freunde!

1. Wir befinden uns hier in dieser eindrucksvollen Kathedralbasilika, um Gott zu preisen und um unser Gebet wie Weihrauch zu ihm aufsteigen zu lassen. Wenn wir das Lob Gottes singen, dann ist das ein Gedenken und Anerkennen der Herrschaft Gottes über die Schöpfung und über unser Leben. Unser Gebet erinnert uns heute abend daran, daß unsere wahre Muttersprache das Gotteslob ist, die Sprache des Himmels, unseres wahren Zuhause.

Wir haben uns zu einem Zeitpunkt versammelt, der schon als Vorabend eines neuen Jahrtausends bezeichnet werden kann – in jeder Hinsicht ein entscheidender Wendepunkt für die Welt. Wenn wir zurückblicken auf das Jahrhundert, das wir bald hinter uns lassen, sehen wir, daß menschlicher Stolz und die Macht der Sünde es vielen Menschen schwer gemacht haben, ihre Muttersprache zu sprechen. Um Gott lobsingen zu können, müssen wir die Sprache der Demut und des Vertrauens, die Sprache der sittlichen Integrität und des auf richtigen Engagements für alles, was in den Augen des Herrn wahrhaft gut ist, neu lernen.

2. Wir haben gerade eine ergreifende Lesung gehört: Darin stellt der Prophet Jesaja uns ein geschlagenes und entmutigtes Volk vor Augen, das aus der Verbannung zurückkehrt. Auch wir machen zuweilen unsere Erfahrungen mit dem trockenen Ödland: Unsere Hände sind erschlafft, unsere Knie wanken, unsere Herzen sind verängstigt. Wie oft erstirbt das Lob Gottes auf unseren Lippen, und statt dessen erhebt sich ein Klagelied! Die Botschaft des Propheten ist ein Aufruf zum Vertrauen, ein Aufruf zum Mut, ein Aufruf zur Hoffnung auf die Rettung durch den Herrn. Wie zwingend ist auch heute seine Ermahnung an uns alle: »Habt Mut, fürchtet euch nicht! Seht, hier ist euer Gott! […] Er selbst wird kommen und euch erretten« (Is 35,4)!

3. Erzbischof Rigali, unser zuvorkommender Gastgeber, hat die Vertreter vieler verschiedener religiöser Gemeinschaften und Bereiche des Zivillebens zu diesem Abendgebet eingeladen. Ich begrüße den Vizepräsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika und die anderen hier anwesenden Persönlichkeiten und Verantwortlichen der bürgerlichen Gesellschaft. Ich grüße meine Brüder und Schwestern im katholischen Glauben: die Laien, die ihre Taufwürde immer intensiver leben wollen und sich deshalb dafür einsetzen, daß das Evangelium seine Wirkung auf die verschiedenen Umstände des alltäglichen Gesellschaftslebens zeigen kann.

Mit großer Zuneigung begrüße ich meine Brüder, die Priester, die alle engagierten und einsatzfreudigen Priester von Saint Louis und anderer Diözesen vertreten. Ich hoffe, daß ihr euch jeden Tag eurer Begegnung mit dem lebendigen Jesus Christus, dessen Priesteramt ihr teilt, im Gebet und in der Eucharistie erfreut. Herzlich begrüße ich die Diakone der Kirche und spreche ihnen für ihren liturgischen, seelsorgerischen und karitativen Auftrag meine Ermutigung aus. Ein besonderes Wort des Dankes gilt euren Ehefrauen und Familien für ihre Unterstützung in eurem Amt.

Die vielen Ordensleute, die heute abend hier sind, vertreten Tausende von Frauen und Männern, die von Anfang an in dieser Erzdiözese hart gearbeitet haben. Ihr folgt Christus, indem ihr seine vollkommene Selbsthingabe an den Vater und die Sache seines Reiches nachahmt. An jede und jeden von euch richte ich meinen Dank und den Ausdruck meiner Wertschätzung.

Gerne wende ich mich mit einem besonderen Wort der Ermunterung an die Seminaristen. Ihr werdet die Priester des neuen Jahrtausends sein, die mit Christus bei der Neuevangelisierung zusammenarbeiten und der Kirche helfen, unter dem Wirken des Heiligen Geistes den Bedürfnissen des nächsten Jahrhunderts gerecht zu werden. Jeden Tag bete ich, der Herr möge euch zu »Hirten nach seinem Herzen« machen (vgl. Jer Jr 3,15).

172 4. Besonders f reue ich mich darüber, daß bedeutende Mitglieder anderer Kirchen und kirchlicher Gemeinschaften sich diesem Abengebet der katholischen Gemeinschaft von St. Louis angeschlossen haben. Laßt uns auch in Zukunft hoffnungs- und vertrauensvoll zusammenarbeiten, um den Wunsch des Herrn zu verwirklichen: »Alle sollen eins sein […] damit die Welt glaubt« (Jn 17,21). Meine Freundschaft und Wertschätzung gilt auch den Anhängern aller anderen religiösen Traditionen. Ich denke dabei besonders an meine langjährige Verbundenheit mit Mitgliedern der israelitischen Glaubensgemeinschaft und an die Treffen in vielen Teilen der Welt mit meinen muslimischen Brüdern und Schwestern. Heute hat uns die göttliche Vorsehung alle hier zusammengeführt, damit wir beten können: »O Gott, danken sollen dir die Völker alle!« Dieses Gebet soll unser gemeinsames Engagement für noch größeres Verständnis und Zusammenarbeit zu erkennen geben.

5. Den Verwaltungseinrichtungen des ganzen Metropolitanbereichs und allen, die für die Stadt Saint Louis arbeiten und sich für ihr menschliches, kulturelles und soziales Wohlergehen einsetzen, möchte ich ebenfalls ein Wort der Anerkennung aussprechen. Eure entschlossene Aufnahme der vielen Herausforderungen, die sich an die Stadt stellen, wird einem neuen »Geist von Saint Louis« zur Entstehung verhelfen, der seinerseits der Sache der Stadt, und damit auch der Sache der Bevölkerung und ihrer Bedürfnisse, dienlich ist. Besondere Aufmerksamkeit muß dabei der Ausbildung junger Menschen für eine positive Beteiligung innerhalb der Gemeinschaft gewidmet werden. In diesem Zusammenhang teile ich die Hoffnung der Erzdiözese, daß das »Cardinal Ritter College Prep«, von den gemeinschaftlichen Kräften aller Bereiche unterstützt, auch in Zukunft zahlreichen Jugendlichen die Möglichkeit einer qualifizierten Ausbildung und eines wahren menschlichen Fortschritts geben kann.

Im Namen der Kirche spreche ich allen meine Dankbarkeit aus – darunter auch der Geschäftswelt – für ihre ständige Unterstützung vieler lobenswerter Hilfs-, Sozial- und Erziehungsdienste, die von der Kirche organisiert werden.

6. »O Gott, danken sollen dir die Völker alle!« (Ps 67).

Am Ende dieses Jahrhunderts – das sowohl von einem nie dagewesenen Fortschritt als auch von menschlichem Leid tragischen Ausmaßes geprägt war – bringen grundlegende Veränderungen in der Weltpolitik für Amerika eine noch größere Verantwortung mit sich, Vorbild für eine wahrhaft freie, demokratische, gerechte und humane Gesellschaft zu sein. Der Lobgesang aus dem Buch der Offenbarung des Johannes, den wir soeben rezitiert haben, enthält eine Lehre für jedes mächtige Land. Es bezieht sich auf das Lied, das Moses sang, nachdem er das Volk [Israel] durch das Rote Meer geführt und es so vor dem Zorn des Pharao gerettet hatte. Die ganze Heilsgeschichte muß in der Perspektive dieses Exodus gelesen werden: Gott offenbart sich in seinen Taten, um die Demütigen der Erde zu verteidigen und die Unterdrückten zu befreien.

Auf die gleiche Weise gibt uns Maria, die Mutter des Erlösers, im Magnifikat den Schlüssel zum Verständnis des Eingreifens Gottes in die Menschheitsgeschichte, wenn sie sagt: »Er zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind; […] und erhöht die Niedrigen« (). Aus der Heilsgeschichte lernen wir, daß Macht mit Verantwortung gleichzusetzen ist: Sie ist Dienst, nicht Privileg. Die Ausübung der Macht ist moralisch zu rechtfertigen, wenn sie für das Wohl aller genutzt wird und für die Bedürfnisse der Armen und Schutzlosen aufgeschlossen ist.

Und noch eine weitere Lehre steckt darin: Gott hat uns ein Sittengesetz gegeben, das uns leiten und uns vor einem Rückfall in die Sklaverei der Sünde und Falschheit schützen soll. Wir sind nicht allein mit unserer Verantwortung für das große Geschenk der Freiheit. Die Zehn Gebote sind die Charta der wahren Freiheit, sowohl für die Einzelpersonen als auch für die Gesellschaft als Ganzes. Amerika hat zuerst seine Unabhängigkeit verkündet, auf der Grundlage offensichtlicher moralischer Wahrheiten.

Amerika wird so lange ein Leuchtturm der Freiheit für die Welt bleiben, wie es an diesen moralischen Wahrheiten festhält, die den Mittelpunkt seiner historischen Erfahrung darstellen. Deshalb sage ich zu Amerika: Wenn ihr Frieden wollt, dann bemüht euch um Gerechtigkeit. Wenn ihr Gerechtigkeit wollt, dann verteidigt das Leben. Wenn ihr das Leben wollt, dann haltet fest an der Wahrheit – an der von Gott offenbarten Wahrheit.

So wird der Lobpreis Gottes, die Sprache des Himmels, für immer auf den Lippen seines Volkes sein: »Der Herr ist Gott, der Mächtige […] Kommt, laßt uns niederknien und anbeten.« Amen.



HL. MESSE FÜR DIE ORDENSLEUTE AM FEST DER DARSTELLUNG DES HERRN GELESEN VON KARDINAL EDUARDO MARTÍNEZ SOMALO

III. Welttag des geweihten Lebens

Dienstag, 2. Februar 1999



173 1. »Ein Licht, das die Heiden erleuchtet« (Lc 2,32).

Der Abschnitt aus dem Lukasevangelium, den wir soeben gehört haben, erinnert an das Ereignis in Jerusalem am vierzigsten Tag nach der Geburt Jesu: seine Darstellung im Tempel. Auch in diesem Falle entspricht die liturgische Zeitperiode der historischen: Heute sind nämlich vierzig Tage seit dem 25. Dezember, dem Hochfest der Geburt des Herrn, vergangen.

Diese Tatsache ist nicht ohne Bedeutung. Sie zeigt an, daß das Fest der Darstellung Jesu im Tempel gewissermaßen ein »Scharnier« darstellt, das seinen ersten Lebensabschnitt auf Erden, die Geburt, von demjenigen, der seine Erfüllung sein wird, nämlich sein Tod und seine Auferstehung, trennt und wiederum damit verbindet. Heute verabschieden wir uns endgültig von der weihnachtlichen Zeit und gehen auf die Fastenzeit zu, die in fünfzehn Tagen am Aschermittwoch beginnen wird.

Die prophetischen Worte, die der alte Simeon damals sprach, beleuchten die Sendung des Kindes, das von seinen Eltern zum Tempel gebracht wird: »Dieser ist dazu bestimmt, daß in Israel viele durch ihn zu Fall kommen und viele aufgerichtet werden, und er wird ein Zeichen sein, dem widersprochen wird. Dadurch sollen die Gedanken vieler Menschen offenbar werden« (Lc 2,34-35). Und zu Maria sagt er: »Dir selbst aber wird ein Schwert durch die Seele dringen« (Lc 2,35). Die Gesänge von Betlehem sind gerade erst verstummt, und schon zeichnet sich am Horizont das Kreuz auf dem Golgota ab; dies geschieht im Tempel, dem Ort, wo die Opfer dargebracht werden. Das Ereignis, dessen wir heute gedenken, kann daher gewissermaßen als Brücke zwischen den beiden wichtigsten Zeiten der Kirche betrachtet werden.

2. Die zweite Lesung aus dem Hebräerbrief bietet einen interessanten Kommentar zu diesem Geschehnis. Der Autor macht eine Bemerkung, die uns nachdenklich stimmt: In seiner Ausführung über das Priestertum Christi weist er darauf hin, daß der Sohn Gottes sich »der Nachkommen Abrahams annimmt« (2,16). Abraham ist der Vater der Gläubigen: Alle Gläubigen gehören deshalb irgendwie zu den »Nachkommen Abrahams«, für die das Kind, das in Marias Armen liegt, im Tempel dargestellt wird. Dieses Ereignis vollzieht sich unter den Augen der wenigen, privilegierten Zeugen und ist eine erste Verkündigung des Opfers am Kreuz.

Der Bibeltext bestätigt, daß der Gottessohn mit den Menschen solidarisch ist und ihren Zustand der Schwäche und Zerbrechlichkeit teilt bis zum äußersten, das heißt bis zum Tod. Das Ziel ist, eine radikale Befreiung der Menschheit zu erwirken, indem der Gegner, der Teufel, der im Tod seine Gewalt über die Menschenwesen und jedes Geschöpf ausüben kann, ein für allemal besiegt wird (vgl. He 2,14-15).

In dieser wunderbaren Zusammenfassung bringt der inspirierte Verfasser die ganze Wahrheit über die Erlösung der Welt zum Ausdruck. Er stellt die Bedeutung des priesterlichen Opfers Christi heraus, der »in allem seinen Brüdern gleich sein [mußte], um ein barmherziger und treuer Hoherpriester vor Gott zu sein und die Sünden des Volkes zu sühnen« (He 2,17).

Gerade weil darin die tiefe Verbindung zwischen dem Geheimnis der Menschwerdung und dem der Erlösung unterstrichen wird, ist der Hebräerbrief ein angemessener Kommentar zu dem liturgischen Ereignis, das wir heute feiern. Dieser Brief hebt die erlösende Sendung Christi hervor, an der das ganze Volk des Neuen Bundes teilhat.

An dieser Sendung seid ihr, liebe geweihte Menschen, die ihr die Petersbasilika füllt und die ich mit großer Herzlichkeit begrüße, auf ganz besondere Weise beteiligt. Dieses Fest der Darstellung ist ganz speziell euer Fest, denn heute feiern wir den III. Tag des geweihten Lebens.

3. Aufrichtig danke ich Kardinal Eduardo Martínez Somalo, dem Präfekten der Kongregation für die Institute geweihten Lebens und für die Gesellschaften apostolischen Lebens, der dieser Eucharistiefeier vorsteht. In seiner Person grüße und danke ich allen, die in Rom und auf der ganzen Welt im Dienst des geweihten Lebens arbeiten.

In diesem Augenblick gehen meine Gedanken mit besonderer Zuneigung zu allen geweihten Menschen in jedem Teil der Welt: Es sind Männer und Frauen, die sich entschlossen haben, Christus auf radikale Art und Weise in Armut, Keuschheit und Gehorsam nachzufolgen. Ich denke an die Krankenhäuser, die Schulen und Jugendzentren, wo sie in vollkommener Hingabe im Dienst an den Brüdern für das Reich Gottes tätig sind; ich denke an die Tausende von Klöstern, wo die Gemeinschaft mit Gott in einem steten Rhythmus der Arbeit und des Gebets gelebt wird; ich denke an die geweihten Laien, diskrete Zeugen in der Welt, und an die vielen, die an vorderster Front unter den Armen und Ausgegrenzten aktiv sind.

174 Wie sollten wir hier nicht an die Ordensmänner und Ordensfrauen erinnern, die auch in jüngster Zeit ihr Blut vergossen haben bei einem oft schwierigen und problemreichen apostolischen Dienst? Ihrer spirituellen und karitativen Sendung treu, haben sie für die Rettung der Menschheit das Opfer ihres Lebens mit dem Opfer Christi verbunden. Das Gebet der Kirche ist heute jedem geweihten Menschen, besonders aber ihnen, gewidmet. Die Kirche dankt für das Geschenk dieser Berufung und erbittet es inständig: Denn die Menschen im geweihten Leben tragen in entscheidender Weise zum Werk der Evangelisierung bei. Sie verleihen dieser die prophetische Kraft, die aus der Radikalität ihrer Wahl des Evangeliums kommt.

4. Die Kirche lebt vom Geschehen und vom Geheimnis. An diesem Tag lebt sie vom Geschehen der Darstellung des Herrn im Tempel, wobei sie das darin enthaltene Geheimnis zu ergründen sucht. In gewissem Sinn jedoch schöpft sie jeden Tag aus diesem Ereignis im Leben Christi und meditiert über seine geistliche Bedeutung: In der Tat erklingen in den Kirchen und Klöstern, in den Kapellen und Häusern auf der ganzen Welt die Worte des alten Simeon, die vor kurzem verlesen wurden:

»Nun läßt du, Herr, deinen Knecht,
wie du gesagt hast, in Frieden scheiden.
Denn meine Augen haben
das Heil gesehen,
das du vor allen Völkern
bereitet hast,
ein Licht, das die Heiden erleuchtet,
und Herrlichkeit für dein Volk Israel«

(@LC 2,29-32@).

So betete Simeon, dem es gegeben war, erleben zu dürfen, wie die Verheißungen des Alten Bundes in Erfüllung gingen. So betet die Kirche, die sich, ohne an Kräften zu sparen, verschwendet, um allen Völkern das Geschenk des Neuen Bundes zu bringen.

175 In der geheimnisvollen Begegnung zwischen Simeon und Maria verbindet sich das Alte mit dem Neuen Testament. Miteinander sagen der betagte Prophet und die junge Mutter Dank für dieses Licht, das verhinderte, daß die Finsternis Oberhand gewinne. Es ist das Licht, das in der Mitte der menschlichen Existenz erstrahlt: Christus, Retter und Erlöser der Welt, »Licht, das die Heiden erleuchtet, und Herrlichkeit für dein Volk Israel«.

Amen!



ASCHERMITTWOCHSLITURGIE

Basilika S. Sabina auf dem Aventin, 17. Februar 1999

176

1. »Kehrt um zum Herrn, eurem Gott! Denn er ist gnädig und barmherzig…« (
Jl 2,13).

Mit dieser Auf forderung aus dem Buch des Propheten Joel beginnt die Kirche den Pilgerweg der Fastenzeit, eine Gnadenzeit zur Umkehr: Umkehr zu Gott, von dem man sich entfernt hat. Das ist in der Tat der Sinn des Bußweges, der heute, am Aschermittwoch, beginnt: zurückkehren zum Haus des Vaters, mit dem Bekenntnis der eigenen Schuld im Herzen. Der Psalmist lädt uns ein, zu wiederholen: »Gott, sei mir gnädig nach deiner Huld, tilge meine Frevel nach deinem reichen Erbarmen!« (Ps 50,3[51],3). In dieser Gesinnung möge jeder den vierzigtägigen Weg der österlichen Bußzeit gehen in der Überzeugung, daß Gott, der Vater, der »auch das Verborgene sieht« (Mt 6,4 Mt 6 Mt 18), dem reuigen Sünder auf dem Weg der Umkehr entgegengeht. Wie im Gleichnis vom verlorenen Sohn umarmt er ihn und läßt ihn verstehen, daß er, nach Hause zurückkehrend, die Sohneswürde wiedererlangt hat: Er »war tot und lebt wieder; er war verloren und ist wiedergefunden worden« (Lc 15,24).

In diesem besonders dem Vater geweihten Jahr gewinnt die Fastenzeit noch mehr die Bedeutung einer Gnadenzeit zu einem echten Bußweg der Umkehr, um mit reuevollem Herzen zurückzukehren zum Vater aller, der »gnädig und barmherzig, langmütig und reich an Güte« (Jl 2,13) ist.

2. Der sehr alte und eindrucksvolle Ritus des Auflegens der Asche eröffnet heute diesen Bußweg. Wenn der Priester den Gläubigen die Asche aufs Haupt legt, richtet er an jeden die Mahnung: »Bedenke, daß du Staub bist und wieder zum Staub zurückkehren wirst« (Gn 3,19).

Auch diese Worte weisen auf eine »Rückkehr« hin: die Rückkehr zum Staub. Sie deuten auf die Notwendigkeit des Todes hin, und sie fordern dazu auf, nicht zu vergessen, daß wir in dieser Welt auf einer Durchreise sind.

Mit dem Bild des Staubes rufen diese Worte aber zugleich die Wahrheit des Geschaffenen ins Gedächtnis und spielen auf den Reichtum der kosmischen Dimension an, woran der Mensch Anteil hat. Die Fastenzeit erinnert an das Werk der Erlösung, um dem Menschen die Tatsache bewußt zu machen, daß der Tod, die Wirklichkeit, mit der er sich beständig konfrontieren muß, keine ursprüngliche Wahrheit ist. Im Anfang existierte er ja nicht, sondern kam als traurige Folge der Sünde »durch den Neid des Teufels in die Welt« (Sg 2,24) und wurde zum gemeinsamen Erbe der Menschen.

Eher als an die anderen Geschöpfe sind die Worte: »Bedenke, daß du Staub bist und wieder zum Staub zurückkehren wirst« an den Menschen gerichtet, den Gott nach seinem eigenen Bild erschaffen und in den Mittelpunkt des Universums gestellt hat. Wenn Gott ihn daran erinnert, daß er sterben muß, dann läßt er nicht seinen anfänglichen Plan fallen, sondern er bestätigt ihn und stellt ihn nach dem durch die Urschuld verursachten Bruch in einzigartiger Weise wieder her. Diese Bestätigung geschah in Christus, der aus freien Stücken die Last der Sünde auf sich genommen hat und den Tod erleiden wollte. Die Welt ist so zum Schauplatz seines Leidens und seines heilbringenden Todes geworden. Das ist das Ostergeheimnis, zu dem uns die Fastenzeit in ganz besonderer Weise hinleitet.

3. »Bedenke, daß du Staub bist und wieder zum Staub zurückkehren wirst!«

Der Tod des Menschen wurde durch den Tod Christi besiegt. Wenn uns also die Fastenzeit zu erneutem Mitleben der dramatischen Ereignisse von Golgota anleitet, dann tut sie es immer und ausschließlich nur, um uns darauf vorzubereiten, dann in die Vollendung des österlichen Geschehens einzutauchen, das heißt in die strahlende Freude der Auferstehung.

In diesem Sinn können wir die andere Aufforderung verstehen, die die Kirche heute beim Auflegen der Asche an die Gläubigen richtet: »Bekehrt euch und glaubt an das Evangelium« (Mc 1,15). Was bedeutet »an das Evangelium glauben« anders, als die Wahrheit der Auferstehung annehmen mit dem, was sie mit sich bringt? Vom ersten Tag der Fastenzeit an haben wir also diese heilbringende Perspektive im Blick und rufen mit dem Psalmisten: »Erschaffe mir, Gott, ein reines Herz, und gib mir einen neuen, beständigen Geist!. […] Herr, öffne mir die Lippen, und mein Mund wird deinen Ruhm verkünden« (Ps 50,12 Ps 50,17[51],12.17).

4. Die Fastenzeit ist eine Zeit intensiven Gebetes und ausgedehnten Gotteslobes; sie ist eine Zeit der Buße und des Fastens. Neben Gebet und Fasten aber lädt die Liturgie uns dazu ein, unseren Tag mit Werken der Liebe anzufüllen. Das ist der Gottesdienst, der Gott wohlgefällig ist! Wie ich in der Botschaft zur Fastenzeit geschrieben habe, läßt uns diese Gnadenzeit an die allzuvielen »Lazarus« denken, die darauf warten, ein paar Brocken aufzulesen, die vom Tisch der Reichen fallen (vgl. Nr. 4). Das Bild, das vor uns steht, ist jenes vom Festmahl als Symbol der liebenden Fürsorge des himmlischen Vaters zur ganzen Menschheit (vgl. Nr. 1). Alle müssen daran teilnehmen können. Darum haben die Übungen des Fastens und des Almosengebens über den Ausdruck persönlicher Askese hinaus eine bedeutende gemeinschaftliche und soziale Valenz: Sie erinnern an das Erfordernis, das Entwicklungsmodell zu »bekehren« durch eine gerechtere Güterverteilung, so daß alle menschenwürdig leben können und zugleich die Schöpfung geschützt wird.

Das alles aber nimmt seinen Anfang mit einer gründlichen Umwandlung der Mentalität und, radikaler, mit einer Bekehrung des Herzens. Wie dringend und angebracht wird da das Flehen:

»Erschaffe mir, Gott, ein reines Herz,
und gib mir einen neuen, beständigen Geist!«
Ja, erschaffe uns, Vater, ein reines Herz, und gib uns einen neuen, beständigen Geist,
»damit wir Taten der Buße und Liebe vollbringen
und unseren bösen Neigungen nicht nachgeben« (Gabengebet).

Amen.



Predigten 1978-2005 168