Predigten 1978-2005 262

PALMSONNTAG

16. April 2000

263
1. »Benedictus, qui venit in nomine Domini … Gesegnet sei er, der kommt im Namen des Herrn« (
Mt 21,9 vgl. Ps 117 [118], Ps 26).

Diese Worte tragen den Nachklang der Begeisterung, mit der die Bewohner von Jerusalem Jesus zum Paschafest empfangen haben, bis in unsere Tage. Wir vernehmen sie jedesmal, wenn wir in der Messe das »Sanctus« singen. Nach den Worten: »Pleni sunt coeli et terra gloria tua« fügen wir hinzu: »Benedictus, qui venit in nomine Domini. Hosanna in excelsis

In diesem Hymnus, dessen erster Teil vom Propheten Jesaja stammt (vgl. Is 6,3), wird der »dreimal heilige« Gott gepriesen. Dann wird im zweiten Teil die dankbare Freude der Versammelten über die Erfüllung der messianischen Verheißungen zum Ausdruck gebracht: »Gesegnet sei er, der kommt im Namen des Herrn. Hosanna in der Höhe!«

Unsere Gedanken gehen selbstverständlich zum Volk des Bundes, das über Jahrhunderte und Generationen hinweg in der Erwartung des Messias gelebt hat. Einige glaubten, in Johannes, dem Täufer, denjenigen zu erkennen, in dem sich die Verheißungen erfüllen sollten. Bekanntlich antwortet der »Vorläufer« auf die ausdrückliche Frage nach seiner etwaigen Identität als Messias mit einer klaren Verneinung, und er verweist die Fragesteller auf Jesus.

Die Überzeugung, die messianischen Zeiten seien nunmehr angebrochen, nahm im Volke zu. Zunächst wirkte das Zeugnis des Täufers, dann Worte und Zeichen Jesu und in besonderer Weise die Auferweckung des Lazarus, die sich einige Tage vor dem Einzug in Jerusalem ereignet hat. Davon spricht das heutige Evangelium. Eben deshalb empfängt die Menge Jesus voller Begeisterung, als er auf einem Esel in die Stadt einzieht: »Gesegnet sei er, der kommt im Namen des Herrn. Hosanna in der Höhe!« (Mt 21,9).

2. Die Riten des Palmsonntags spiegeln den Jubel des Volkes wieder, das den Messias erwartet. Zugleich bedeuten sie aber auch im vollen Sinne eine Liturgie der »Passion«. Sie eröffnen uns die Perspektive des nunmehr bevorstehenden Dramas, das wir vor kurzem im Bericht des Evangelisten Markus miterlebt haben. Auch die anderen Lesungen führen uns in das Geheimnis des Leidens und des Todes des Herrn ein. Die Worte des Propheten Jesaja, den einige gerne als eine Art Evangelisten des Alten Bundes ansehen, führen uns das Bild eines Verurteilten vor Augen, der gegeißelt und geschlagen wurde (vgl. Is 50,6). Der Kehrvers des Antwortpsalms »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« läßt uns die Todesangst Jesu am Kreuz betrachten (vgl. Mc 15,34).

In der zweiten Lesung führt uns jedoch der Apostel Paulus in eine tiefergehendere Analyse des österlichen Geheimnisses ein: Jesus »war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave […] er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz« (). In der strengen Liturgie des Karfreitags werden wir wieder diese Worte vernehmen, nämlich: »Darum hat ihn Gott über alle erhöht und ihm den Namen verliehen, der größer ist als alle Namen, damit alle im Himmel auf der Erde und unter der Erde ihre Knie beugen vor dem Namen Jesu und jeder Mund bekennt: ›Jesus Christus ist der Herr‹ zur Ehre Gottes des Vaters« (ebd. ).

Die Erniedrigung und die Erhöhung: Eben darin liegt der Schlüssel, um den wunderbaren Ausgleich Gottes zu erfassen, der sich in den österlichen Ereignissen erfüllt.

3. Warum sind bei dieser feierlichen Liturgie, wie in jedem Jahr, so viele Jugendliche anwesend? Weil seit mehreren Jahren der Palmsonntag zum jährlichen Festtag der Jugendlichen geworden ist. Von hier aus nahm im Jahr 1984, dem Jahr der Jugend und in gewissem Sinne dem Jubiläumsjahr der Jugendlichen, die Pilgerreise der Weltjugendtage ihren Anfang, die über Buenos Aires, Santiago de Compostela, Tschenstochau, Denver, Manila und Paris führte und im kommenden Monat August für den Weltjugendtag des Heiligen Jahres 2000 nach Rom zurückkehren wird.

Warum verabreden sich also so viele Jugendliche am Palmsonntag hier in Rom und in allen Diözesen? Mit Sicherheit gibt es viele Gründe und Umstände, die diese Tatsache erklären können. Es scheint jedoch, daß die tiefgründigste Motivation, die alle anderen miteinschließt, aus dem erkennbar wird, was uns die heutige Liturgie enthüllt: der geheimnisvolle Heilsplan des himmlischen Vaters, der sich in der Erniedrigung und Erhöhung seines eingeborenen Sohnes, Jesus Christus, verwirklicht. Hierin liegt die Antwort auf die grundlegendsten Fragen und Sorgen eines jeden Mannes und jeder Frau und besonders der Jugendlichen.

»Für uns war Christus gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz. Darum hat Gott ihn über alle erhöht.« Wie nahe stehen diese Worte unserem Dasein! Ihr, liebe Jugendliche, beginnt, Erfahrungen mit der Dramatik des Lebens zu machen. Und ihr stellt euch Fragen über den Sinn eurer Existenz, über eure Beziehungen zu euch selbst, zu den anderen und zu Gott. Eurem Herzen, das nach Wahrheit und Frieden dürstet, und den so vielen Fragen, Problemen und mitunter Ängsten, die ihr habt, bietet sich Christus selbst als einzig gültige Antwort an: Er, der leidende und gedemütigte Knecht, der sich bis hin zum Tod am Kreuz erniedrigt hat und in die Herrlichkeit zur Rechten des Vaters eingegangen ist. In der Tat gibt es keine andere so einfache, vollständige und überzeugende Antwort.

4. Liebe Jugendliche! Dank sage ich für eure Teilnahme an dieser festlichen Liturgie. Christus beginnt mit seinem Einzug in Jerusalem den Weg der Liebe und des Schmerzes des Kreuzes. Blickt auf ihn mit erneuertem Glaubenseifer! Folgt ihm nach! Er verspricht kein trügerisches Glück. Im Gegenteil, er lädt euch ein, seinem herausfordernden Beispiel nachzufolgen, indem ihr euch seine anspruchsvolle Wahl zu eigen macht.

Maria, die treue Anhängerin des Herrn, begleite euch auf diesem Weg der Umkehr und der wachsenden Vertrautheit mit ihrem göttlichen Sohn. Er ist, wie uns das Thema des kommenden Weltjugendtages ins Gedächtnis ruft, »Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt« (Jn 1,14). Jesus ist arm geworden, um uns durch seine Armut reich zu machen, er hat unsere Schuld auf sich geladen, damit wir durch das Blut, das er am Kreuz vergossen hat, erlöst werden. Ja, für uns wurde Christus gehorsam bis zum Tod. Bis zum Tod am Kreuz. »Ehre und Ruhm sei Dir, Christus!«



CHRISAM-MESSE IM PETERSDOM

Gründonnerstag, 20. April 2000

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1.»[…] Er hat uns zu Königen gemacht und zu Priestern vor Gott, seinem Vater. Ihm sei die Herrlichkeit und die Macht in alle Ewigkeit« ().

Wir hören diese Worte aus dem Buch der Offenbarung in der heutigen feierlichen Chrisam-Messe, die dem Heiligen Triduum vorausgeht. Bevor die zentralen Heilsgeheimnisse gefeiert werden, versammeln sich am heutigen Morgen die Gemeinden aller Diözesen mit ihren Bischöfen zur Weihe der heiligen Öle, die bei den verschiedenen Sakramenten als Mittel des Heils dienen: Taufe, Firmung, Weihesakrament und Krankensalbung. Diese Zeichen der Gnade gewinnen ihre Wirksamkeit aus dem Ostergeheimnis, aus dem Tod und der Auferstehung Christi. Eben deshalb legt die Kirche diesen Ritus an die Schwelle des Heiligen Triduums, auf den Tag, an dem sich der menschgewordene Sohn Gottes durch ein höchst priesterliches Handeln dem Vater dargebracht hat zur Erlösung der gesamten Menschheit.

2. »Er hat uns zu Königen und Priestern gemacht.« Diese Aussage kann man in zweierlei Hinsicht verstehen. Zunächst, wie uns auch das II. Vatikanische Konzil in Erinnerung ruft, im Hinblick auf alle Getauften, die »zu einem geistigen Bau und einem heiligen Priestertum geweiht [werden], damit sie in allen Werken eines christlichen Menschen geistige Opfer darbringen« (Lumen gentium
LG 10). Jeder Christ ist Priester. Es handelt sich hierbei um das sogenannte »allgemeine« Priestertum, das die Getauften dazu verpflichtet, ihre Darbringung an Gott durch die Teilnahme an der Eucharistie und an den Sakramenten, im Zeugnis eines heiligen Lebens, durch Selbstverleugnung und tätige Liebe zu leben (vgl. ebd.).

Die Aussage, daß Gott »uns zu Königen und zu Priestern gemacht hat«, bezieht sich auf anderer Ebene auf die geweihten Priester als Amtsträger, die dazu berufen sind, das priesterliche Volk heranzubilden, zu leiten und in seinem Namen Gott das eucharistische Opfer in der Person Christi darzubringen (vgl. ebd.). So erinnert die Chrisam-Messe in festlicher Weise an das einzige Priestertums Christi und bringt die priesterliche Berufung der Kirche zum Ausdruck, besonders diejenige des Bischofs und der mit ihm in Gemeinschaft stehenden Priester. In Kürze werden wir in der Präfation dessen gedenken: Christus »hat [Gottes] ganzes Volk ausgezeichnet mit der Würde seines königlichen Priestertums, aus ihm hat er in brüderlicher Liebe Menschen erwählt, die durch Auflegung der Hände teilhaben an seinem priesterlichen Dienste«.

3. »Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt, er hat mich gesandt …« (Lc 4,18).

Liebe Priester, diese Worte betreffen uns ganz unmittelbar. Wir sind mit der Priesterweihe dazu berufen, dieselbe Mission wie Christus zu erfüllen und gemeinsam unsere Versprechen als Priester zu erneuern. Tief bewegt denken wir an das Geschenk, das wir von Christus empfangen haben, der uns zu einer besonderen Teilhabe an seinem Priestertum berufen hat.

Durch die Weihe der Öle und insbesondere des heiligen Chrisams wollen wir für die Salbung im Sakrament danken, die zu unserem Erbe geworden ist (vgl. Ps 16,5). Sie ist ein Zeichen innerer Stärke, die der Heilige Geist jedem Menschen gewährt, der von Gott zu besonderen Aufgaben im Dienst an seinem Reich berufen ist.

»Ave sanctum oleum: oleum catechumenorum, oleum infirmorum, oleum ad sanctum crisma.« [Sei gegrüßt heiliges Öl: das Katechumenenöl, das Krankenöl, der Chrisam.] Während wir im Namen all derer Dank sagen, die diese heiligen Zeichen empfangen werden, bitten wir zugleich darum, die übernatürliche Macht, die durch diese Zeichen handelt, möge nicht aufhören, auch in unserem Leben zu wirken. Der Heilige Geist, der auf einen jeden von uns herabgekommen ist, finde bei allen die gebührende Verfügbarkeit vor, um die Sendung zu erfüllen, für die wir am Tag unserer Weihe »gesalbt« wurden.

4. »Herr Jesus, dir sei Ruhm und Ehre!« Du bist zu uns gekommen, um ein Gnadenjahr des Herrn auszurufen (vgl. Lc 4,19).

Wie ich in meinen Brief an die Priester zum heutigen Tag in Erinnerung gerufen habe, ist das Priestertum Christi wesensmäßig mit dem Geheimnis der Menschwerdung verbunden, dessen Zweitausendjahrfeier wir in diesem Jubiläumsjahr begehen. »Das Priestertum gehört […] zu seiner Identität als menschgewordener Gottessohn, es gehört zum Gottmenschen« (Nr. 7). Eben deshalb stellt diese eindrucksvolle Liturgie des Gründonnerstags in gewisser Weise eine beinahe wesenseigene Jubiläumsfeier für uns dar, auch wenn die Jubiläumsfeier der Priester in diesem Heiligen Jahr für den kommenden 18. Mai vorgesehen ist.

Das irdische Dasein Christi, sein »Durchschreiten« der Geschichte, vom Augenblick an, als er im Schoß der Jungfrau Maria empfangen wurde bis zum Moment, als er zur Rechten des Vaters aufgefahren ist, bedeutet ein einzigartiges priesterliches und aufopferndes Ereignis (vgl. Lc 1,35 Lc 3,22).

Heute begegnen wir in besonderer Weise Christus, dem Ewigen Hohenpriester, und wir überschreiten in geistlicher Weise diese Heilige Pforte, die jedem Menschen die Fülle der heilsbringenden Liebe eröffnet. Ebenso wie Christus gegenüber dem Wirken des Geistes als Mensch und gehorsamer Knecht folgsam war, so muß sich jeder Getaufte und in besonderer Weise der geweihte Diener dazu verpflichtet fühlen, seine Priesterweihe im demütigen und treuen Dienst an Gott und an den Brüdern zu verwirklichen.

Beginnen wir, von diesen Empfindungen geleitet, das österliche Triduum, den Höhepunkt des Kirchenjahres und des Großen Jubiläums. Bereiten wir uns darauf vor, diesen eingehenden österlichen Pilgerpfad auf den Spuren des leidenden, sterbenden und auferstandenen Jesus zu unternehmen. Gestützt durch den Glauben an Maria, folgen wir Christus, dem Priester und Opferlamm, er »liebt uns und hat uns von unseren Sünden erlöst durch sein Blut; er hat uns zu Königen gemacht und zu Priestern vor Gott, seinem Vater« ().

Folgen wir ihm nach und verkünden wir gemeinsam: »Herr Jesus, dir sei Ruhm und Ehre!«

Du, Christus, bist derselbe gestern, heute und in Ewigkeit. Amen!



ABENDMAHLSMESSE

Gründonnerstag, 20. April 2000

265
1.»Ich habe mich sehr danach gesehnt, vor meinem Leiden dieses Paschamahl mit euch zu essen« (
Lc 22,15).

Christus läßt uns durch diese Worte die prophetische Bedeutung des Paschamahles erkennen, das er mit seinen Jüngern im Abendmahlssaal von Jerusalem feiern wird.

In der ersten dem Buch Exodus entnommenen Lesung wird deutlich gemacht, wie sich das Pascha Jesu in den Kontext des Alten Bundes einfügte. Die Israeliten gedachten damit des Mahles, das ihre Väter zum Zeitpunkt ihrer Flucht aus Ägypten, ihrer Befreiung aus der Knechtschaft, hielten. Die Heilige Schrift schrieb vor, etwas vom Blut eines Lammes auf die beiden Türpfosten und den Türsturz der Häuser zu streichen. Außerdem war hinzugefügt, wie das Lamm gegessen werden mußte, nämlich: »Eure Hüften gegürtet, Schuhe an den Füßen, den Stab in der Hand […] hastig […] In dieser Nacht gehe ich durch Ägypten und erschlage […] jeden Erstgeborenen […] Das Blut an den Häusern, in denen ihr wohnt, soll ein Zeichen zu eurem Schutz sein. Wenn ich das Blut sehe, werde ich daran vorübergehen, und das vernichtende Urteil wird euch nicht treffen« ().

Das Blut des Lammes erwirkte für die Söhne und Töchter Israels die Befreiung aus der ägyptischen Gefangenschaft unter der Führung Moses. Die Erinnerung an ein so außergewöhnliches Ereignis bot dem Volk Anlaß für ein Fest: Es war dem Herrn für die wiedererlangte Freiheit dankbar, die ein göttliches Geschenk und ein immer aktuelles menschliches Bemühen darstellt: »Diesen Tag sollt ihr als Ehrentag begehen. Feiert ihn als Fest zur Ehre des Herrn« (ebd. 12,14). Es ist das Osterfest des Herrn! Das Ostern des Alten Bundes!

2. »Ich habe mich sehr danach gesehnt, vor meinem Leiden dieses Paschamahl mit euch zu essen« (Lc 22,15). Im Abendmahlssaal hält Christus im Gehorsam gegenüber den Vorschriften des Alten Bundes das Paschamahl mit seinen Jüngern. Er füllt diesen Ritus jedoch mit einem neuen Inhalt. Wir haben gehört, wie der hl. Paulus in der zweiten Lesung darüber berichtet, die aus dem ersten Brief an die Korinther stammt. In diesem Text, der als die älteste Beschreibung des Herrenmahles anzusehen ist, wird daran erinnert, daß Jesus »in der Nacht, in der er ausgeliefert wurde, Brot [nahm], [er] sprach das Dankgebet, brach das Brot und sagte: ›Das ist mein Leib für euch. Tut dies zu meinem Gedächtnis.‹ Ebenso nahm er nach dem Mahl den Kelch und sprach: ›Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut. Tut dies, sooft ihr daraus trinkt, zu meinem Gedächtnis.‹ Denn sooft ihr von diesem Brot eßt und aus diesem Kelch trinkt, verkündet ihr den Tod des Herrn, bis er kommt« (vgl. ).

Diese feierlichen Worte sollten durch die Jahrhunderte die Erinnerung an die Einsetzung der Eucharistie überliefern. Jedes Jahr, am heutigen Tag, gedenken wir ihrer und kehren in geistiger Weise in den Abendmahlssaal zurück. Am heutigen Abend erlebe ich sie besonders berührt, da ich vor meinen Augen und in meinem Herzen die Bilder vom Abendmahlssaal bewahre, wo ich anläßlich meiner kürzlich unternommenen Jubiläumspilgerreise ins Heilige Land die Freude hatte, die Eucharistie zu feiern. Mein Ergriffensein verstärkt sich noch, weil dieses Jahr das zweitausendste Jubiläum der Menschwerdung gefeiert wird. In dieser Hinsicht gewinnt die Feier, die wir gerade erleben, eine besondere Tiefe. Im Abendmahlssaal füllte Jesus nämlich die alten Traditionen mit neuem Inhalt. Zudem nahm er die Ereignisse des nachfolgenden Tages vorweg, an dem sein Leib, der unbefleckte Leib des Lammes Gottes, aufgeopfert und sein Blut zur Erlösung der Welt vergossen werden sollte. Die Menschwerdung war gerade im Hinblick auf dieses Ereignis geschehen, im Hinblick auf das Ostern Christi, das Ostern des Neuen Bundes!

3. »Denn sooft ihr von diesem Brot eßt und aus dem Kelch trinkt, verkündet ihr den Tod des Herrn, bis er kommt« (1Co 11,26). Der Apostel ruft uns dazu auf, uns dieses Geheimnisses beständig zu erinnern. Zugleich lädt er uns ein, jeden Tag unsere Mission als Zeugen und Verkünder der Liebe des Gekreuzigten zu leben, in der Erwartung der glorreichen Wiederkunft.

266 Aber wie kann man sich an dieses Heilsereignis erinnern? Wie kann man in der Erwartung der Wiederkunft Christi leben? Bevor er das Sakrament seines Leibes und seines Blutes einsetzte, wusch Christus, gebeugt und auf Knien, in der Haltung eines Dieners im Abendmahlssaal seinen Jüngern die Füße. Wir sehen ihn wieder, als er diese Handlung vollzieht, die in der hebräischen Kultur den Knechten und den niedrigsten Familienmitgliedern zukommt. Petrus weigert sich zuerst, aber der Meister überzeugt ihn, und auch er läßt sich schließlich zusammen mit den anderen Aposteln die Füße waschen. Gleich darauf erklärt Jesus jedoch, nachdem er sein Gewand wieder angelegt und bei Tisch Platz genommen hatte, den Sinn seiner Geste: »Ihr sagt zu mir Meister und Herr, und ihr nennt mich mit Recht so; denn ich bin es. Wenn nun ich, der Herr und Meister, euch die Füße gewaschen habe, dann müßt auch ihr einander die Füße waschen (). Dies sind Worte, die das Geheimnis der Eucharistie an den Dienst der Liebe binden und als einführende Erklärung für die Einsetzung des priesterlichen Dienstes angesehen werden können.

Durch die Einsetzung der Eucharistie vermittelt Jesus den Aposteln die Teilhabe an seinem Priestertum: das Priestertum des neuen und ewigen Bundes, kraft dessen Er und nur Er, immer und überall Urheber und Diener der Eucharistie ist. Die Apostel werden ihrerseits zu Dienern dieses erhabenen Glaubensgeheimnisses, das dazu bestimmt ist, bis zum Ende der Welt fortzubestehen. Gleichzeitig werden sie zu Dienern aller, die an diesem so großen Geschenk und Geheimnis Anteil haben.

Die Eucharistie, das höchste Sakrament der Kirche, ist an das Amtspriestertum gebunden, das auch im Abendmahlssaal entstanden ist als ein Geschenk der großen Liebe dessen, der »wußte, daß seine Stunde gekommen war, um aus dieser Welt zum Vater hinüberzugehen. Da er die Seinen, die in der Welt waren, liebte, erwies er ihnen seine Liebe bis zu Vollendung« (
Jn 13,1).

Die Eucharistie, das Priestertum und das neue Gebot der Liebe! Dies ist das lebendige Gedächtnis, das wir am Gründonnerstag betrachten.

»Tut dies zu meinem Gedächtnis«: dies ist das Ostern der Kirche! Unser Ostern!



OSTERNACHT


Karsamstag, 22. April 2000

1."Ihr sollt eine Wache haben. Geht und sichert das Grab, so gut ihr könnt" (Mt 27,65).

Jesu Grab wurde verschlossen und versiegelt. Auf die Bitte der Hohenpriester und Pharisäer hin wurden Soldaten zur Wache aufgestellt, damit niemand den Leichnam stehlen konnte (vgl. Mt 27,62-64). Von diesem Ereignis geht die Liturgie der Osternacht aus.

Diejenigen, die den Tod Christi gewollt hatten, weil sie ihn für einen "Betrüger" hielten (Mt 27,62), bewachten sein Grab. Ihr Wunsch war es, ihn und seine Botschaft für immer zu begraben.

Nicht weit entfernt davon wachten Maria und mit ihr die Apostel und einige Frauen. Sie standen noch ganz unter dem erschütternden Eindruck der jüngsten Ereignisse.

2. In dieser Nacht wacht die Kirche an allen Orten der Erde und geht gleichsam von neuem den Weg der Heilsgeschichte. Die Liturgie, die wir feiern, ist Ausdruck dieses "Wachens", das in gewisser Weise an das Wachen des Herrn erinnert, von dem im Buch Exodus die Rede ist: "Eine Nacht des Wachens war es für den Herrn, als er sie aus Ägypten herausführte. Als eine Nacht des Wachens zur Ehre des Herrn gilt sie (...) in allen Generationen" (Ex 12,42).

267 In seiner fürsorglichen und treuen Liebe, die Zeit und Raum übersteigt, wacht Gott über die Welt. Der Psalmist singt: "Nein, der Hüter Israels / schläft und schlummert nicht. / Der Herr ist dein Hüter (...) der Herr behüte dich (...) von nun an bis in Ewigkeit" (Ps 121,4-5 Ps 121,8).

Auch der Übergang vom zweiten zum dritten Jahrtausend, den wir erleben, wird im Geheimnis des Vaters behütet. Für das Heil der Welt ist er "noch immer am Werk" (Jn 5,17); durch den menschgewordenen Sohn führt er sein Volk aus der Knechtschaft in die Freiheit, vom Tod zum Leben. Das ganze "Werk" des Großen Jubiläums des Jahres 2000 ist sozusagen in diese Nachtwache einbezogen, die auch die Vollendung ist für das Wachen bei der Geburt des Herrn. Betlehem und Golgota offenbaren dasselbe Geheimnis der Liebe Gottes, denn er "hat die Welt so sehr geliebt, daß er seinen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat" (Jn 3,16).

3. Während sie in dieser heiligen Nacht Wache hält, liest die Kirche die Texte der Heiligen Schrift, die den göttlichen Plan von der Genesis bis zum Evangelium entfalten und durch die Weihe des Feuers und des Wassers diese einzigartige Liturgie in den Rahmen des Kosmos stellen. Das ganze geschaffene Universum ist aufgerufen, in dieser Nacht an Christi Grab zu wachen. Vor unseren Augen läuft die Heilsgeschichte ab, von der Schöpfung bis zur Erlösung, vom Exodus bis zum Bund auf dem Sinai, vom alten hin zum neuen und ewigen Bund. In dieser heiligen Nacht findet der ewige Plan Gottes, der die Geschichte des Menschen und des Kosmos lenkt, seine Vollendung.

4. In der Feier der Osternacht, der ältesten aller nächtlichen Liturgien, kann jeder Mensch auch die eigene persönliche Heilsgeschichte erkennen, die mit der Wiedergeburt in Christus durch die Taufe begonnen hat.

Das ist in besonderer Weise eure Erfahrung, liebe Brüder und Schwestern, die ihr in Kürze die Sakramente der christlichen Initiation, die Taufe, die Firmung und die heilige Eucharistie, empfangt.

Ihr kommt aus verschiedenen Ländern der Welt, aus Japan, China, Kamerun, Albanien und Italien.

Die Vielfalt eurer Herkunftsländer ist ein Zeichen für die Universalität der von Christus gewirkten Erlösung. In Kürze werdet ihr, meine Lieben, tief in das Geheimnis der Liebe Gottes, des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, eingebunden. Möge euer Dasein ein Lobpreis auf die Heiligste Dreifaltigkeit und ein Zeugnis der Liebe sein, die keine Grenzen kennt.

5. "Ecce lignum Crucis, in quo salus mundi pependit: venite adoremus!" So hat die Kirche gestern gesungen, als sie das Kreuz gezeigt hat, "an dem der Herr gehangen, das Heil der Welt". "Gekreuzigt, gestorben und begraben", heißt es von ihm im Credo.

Das Grab! Seht, da ist die Stelle, wo sie ihn hingelegt hatten (vgl. Mc 16,6). Dort ist die ganze kirchliche Gemeinschaft der Erde geistig anwesend. Auch wir sind dort mit den drei Frauen, die in aller Frühe zum Grab gehen, um den leblosen Leib Jesu zu salben (vgl. Mc 16,1). Ihre Fürsorge ist auch unsere Sorge. Wir entdecken mit ihnen, daß der große Stein vom Grab schon weggewälzt und der Leib nicht mehr da war. "Er ist nicht hier", verkündet der Engel und verweist auf das leere Grab. Gleichzeitig deutet er auf die Leinenbinden, die auf dem Boden liegen. Der Tod hat keine Macht mehr über ihn (vgl. Rm 6,9).

Christ ist erstanden! Das verkündet am Ende dieser Osternacht die Kirche, die gestern Christi Tod am Kreuz ausgerufen hatte. Es ist eine Botschaft der Wahrheit und des Lebens.

"Surrexit Dominus de sepulchro, qui pro nobis pependit in ligno. Alleluia!" Aus dem Grab erstanden ist der Herr, der für uns am Kreuz gehangen hat.

268 Ja, Christus ist wahrhaft auferstanden. Wir sind seine Zeugen.

Das rufen wir der Welt zu, damit unsere Freude viele andere Menschenherzen anrührt und in ihnen das Licht der Hoffnung entfacht, die nicht trügt.

Christ ist erstanden, Halleluja!



HEILIGSPRECHUNG VON MARIA FAUSTYNA KOWALSKA

Sonntag, 30. April 2000



1. »Danket dem Herrn, denn er ist gütig, denn seine Huld währt ewig« (Ps 118,1). So betet die Kirche in der Osteroktav, indem sie diese Worte des Psalms geradezu von den Lippen Christi abliest; von den Lippen des auferstandenen Christus, der im Abendmahlssaal die große Botschaft von der göttlichen Barmherzigkeit überbringt und der die Apostel mit dem Auftrag betraut: »Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch […] Empfangt den Heiligen Geist! Wem ihr die Sünden vergebt, dem sind sie vergeben; wem ihr die Vergebung verweigert, dem ist sie verweigert« ().

Bevor Jesus diese Worte ausspricht, zeigt er seine Hände und seine Seite. Er verweist also auf die Wundmale seines Leidens, insbesondere die Wunde seines Herzens. Es ist die Quelle, aus der die große Woge der Barmherzigkeit entspringt, die sich über die Menschheit ergießt. Aus diesem Herzen wird Schwester Faustyna Kowalska, die wir von nun an »Heilige« nennen, zwei Lichtstrahlen ausgehen sehen, die die Welt erleuchten: »Die beiden Strahlen – so erklärte ihr eines Tages Jesus selbst – bedeuten Blut und Wasser« (Tagebuch der Schwester Maria Faustyna Kowalska, Hauteville/Schweiz, 1990, S. 119).

2. Blut und Wasser! Unsere Gedanken richten sich auf das Zeugnis des Evangelisten Johannes: er sah, als auf dem Kalvarienberg einer der Soldaten mit der Lanze in die Seite Christi stieß, »Blut und Wasser« herausfließen (vgl. Jn 19,34). Und wenn das Blut an das Kreuzesopfer und das Geschenk der Eucharistie denken läßt, so erinnert das Wasser in der Symbolik des Johannes nicht nur an die Taufe, sondern auch an die Gabe des Heiligen Geistes (vgl. Jn 3,5 Jn 4,14 7,37–39).

Die göttliche Barmherzigkeit erreicht die Menschen durch das Herz des gekreuzigten Christus: »Sage, Meine Tochter, daß Ich ganz Liebe und Barmherzigkeit bin«, so wird Jesus Schwester Faustyna bitten (Tagebuch, a.a.O., S. 337). Diese Barmherzigkeit gießt Christus über die Menschheit durch die Sendung des Heiligen Geistes aus, der in der Dreifaltigkeit die »Person der Liebe« darstellt. Und ist denn nicht die Barmherzigkeit ein »anderer Name« für die Liebe (Dives in misericordia DM 7), verstanden im Hinblick auf ihre tiefste und zärtlichste Seite, auf ihre Eigenschaft, sich um jedwede Not zu sorgen, und insbesondere in ihrer grenzenlosen Fähigkeit zur Vergebung?

Meine Freude ist fürwahr groß, der ganzen Kirche heute das Lebenszeugnis von Schwester Faustyna Kowalska gewissermaßen als Geschenk Gottes an unsere Zeit vorzustellen. Die göttliche Vorsehung hat das Leben dieser demütigen Tochter Polens ganz und gar mit der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts verbunden, das wir gerade hinter uns gelassen haben. So hat ihr Christus zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg seine Botschaft der Barmherzigkeit anvertraut. Diejenigen, die sich daran erinnern, weil sie Zeugen der Ereignisse jener Jahre waren und das schreckliche Leid von Millionen von Menschen miterlebten, wissen nur zu gut, wie notwendig die Botschaft von der Barmherzigkeit war.

Jesus sagte zu Schwester Faustyna: »Die Menschheit wird keinen Frieden finden, solange sie sich nicht mit Vertrauen an Meine Barmherzigkeit wendet« (Tagebuch, a.a.O., S. 119). Durch das Werk der polnischen Ordensfrau verband sich diese Botschaft für immer mit dem zwanzigsten Jahrhundert, dem letzten des zweiten Jahrtausends und der Brücke hin zum dritten Jahrtausend. Diese Botschaft ist nicht neu, obgleich sie als ein Geschenk besonderer Erleuchtung angesehen werden kann, die uns hilft, die österliche Frohbotschaft erneut intensiv zu erleben, um sie den Männern und Frauen unserer Zeit wie einen Lichtstrahl anzubieten.

3. Was werden die vor uns liegenden Jahre mit sich bringen? Wie wird die Zukunft des Menschen hier auf Erden aussehen? Dies zu wissen ist uns nicht gegeben. Dennoch ist gewiß, daß neben neuen Fortschritten auch schmerzliche Erfahrungen nicht ausbleiben werden. Doch das Licht der göttlichen Barmherzigkeit, das der Herr durch das Charisma von Schwester Faustyna der Welt gleichsam zurückgeben wollte, wird den Weg der Menschen des dritten Jahrtausends erhellen.

269 Es ist notwendig, daß – so wie seinerzeit die Apostel – auch die Menschheit von heute im Abendmahlssaal der Geschichte den auferstandenen Christus aufnimmt, der die Wundmale seiner Kreuzigung zeigt und wiederholt: Friede sei mit euch! Die Menschheit muß sich vom Geist, den der auferstandene Christus ihr schenkt, erreichen und durchdringen lassen. Es ist der Geist, der die Wunden des Herzens heilt, der die Schranken niederreißt, die uns von Gott entfernen und die uns untereinander trennen, und der die Freude über die Liebe des Vaters und über die brüderliche Einheit zurückschenkt.

4. Daher ist es wichtig, daß wir am heutigen zweiten Sonntag in der Osterzeit, der von nun an in der ganzen Kirche den Namen »Barmherzigkeitssonntag« haben wird, die Botschaft des Wortes Gottes in ihrer Gesamtheit erfassen. In den verschiedenen Lesungen scheint die Liturgie den Weg der Barmherzigkeit nachzuzeichnen: Indem sie diese Beziehung eines jeden zu Gott wiederherstellt, er weckt sie auch unter den Menschen ein neues Verhältnis brüderlicher Solidarität. Christus hat uns gelehrt, daß »der Mensch das Erbarmen Gottes nicht nur empfängt und erfährt, sondern auch berufen ist, an seinen Mitmenschen ›Erbarmen zu üben‹: ›Selig die Barmherzigen, denn sie werden Erbarmen finden‹ (
Mt 5,7)« (Dives in misericordia DM 14). Sodann hat er uns die vielfältigen Wege der Barmherzigkeit aufgezeigt, die nicht nur Sünden vergibt, sondern die auch allen Bedürfnissen der Menschen entgegenkommt. Jesus hat sich zu jedem menschlichen Elend hinabgebeugt, sei es materieller oder geistlicher Natur.

Seine Botschaft der Barmherzigkeit erreicht uns weiterhin durch die Geste seiner zum leidenden Menschen hin ausgestreckten Hände. So hat ihn Schwester Faustyna gesehen und ihn den Menschen aller Kontinente verkündet. Im Konvent von Lagiewniki, in Krakau, machte sie ihr Dasein zu einem Lobgesang auf die Barmherzigkeit: »Misericordias Domini in aeternum cantabo«. [Von den Taten deiner Huld, Herr, will ich ewig singen] (Ps 88 [89], 2.)

5. Die Heiligsprechung von Schwester Faustyna ist außerordentlich bedeutsam: durch diese Geste möchte ich heute dem neuen Jahrtausend diese Botschaft übermitteln. Ich übergebe sie allen, damit sie lernen, immer besser das wahre Antlitz Gottes und das wahre Antlitz der Brüder zu erkennen.

Die Liebe zu Gott und die Liebe zu den Brüdern sind nämlich untrennbar miteinander verbunden, wie uns der erste Brief des Johannes ins Gedächtnis gerufen hat: »Wir erkennen, daß wir die Kinder Gottes lieben, wenn wir Gott lieben und seine Gebote er füllen« (5,2). Der Apostel erinnert uns hier an die Wahrheit der Liebe, indem er uns die Befolgung der Gebote als deren Maß und Richtschnur aufzeigt.

Es ist nämlich nicht leicht, mit einer tiefen Liebe zu lieben, die in der wahrhaftigen Gabe der eigenen Person besteht. Diese Liebe erlernt man allein in der Schule Gottes, durch die Wärme seiner Liebe. Indem wir unseren Blick zu ihm hinwenden und uns auf sein Vaterherz hin ausrichten, werden wir befähigt, mit anderen Augen auf die Brüder zu schauen, in einer Haltung der Selbstlosigkeit und der Anteilnahme, der Großherzigkeit und Vergebung. All dies ist Barmherzigkeit!

Je nachdem wie die Menschheit es verstehen wird, das Geheimnis dieses barmherzigen Blickes zu erfahren, wird sich das idealisierte, in der ersten Lesung vorgestellte Bild als eine realisierbare Perspektive herausstellen: »Die Gemeinde der Gläubigen war ein Herz und eine Seele. Keiner nannte etwas von dem, was er hatte, sein Eigentum, sondern sie hatten alles gemeinsam« (Ac 4,32). Hier wurde die Barmherzigkeit des Herzens auch zum Stil der Beziehungen untereinander, zum Projekt der Gemeinschaft und zur gemeinsamen Teilhabe an den Gütern. Hier sind die »Werke der Barmherzigkeit« geistiger und leiblicher Art aufgeblüht. Hier hat sich die Barmherzigkeit konkret zum »Nächsten« gegenüber den notleidenden Brüdern gemacht.

6. Schwester Faustyna Kowalska hat in ihrem Tagebuch geschrieben: »Ich empfinde furchtbaren Schmerz, wenn ich auf die Leiden meiner Nächsten schaue. Alle Leiden meiner Nächsten finden in meinem Herzen einen Widerschein. Ihre Qualen trage ich dermaßen im Herzen, daß ich sogar physisch ausgemergelt bin. Ich wünschte, daß alle Qualen über mich kämen, um meinen Nächsten dadurch Linderung zu verschaffen« (Tagebuch, a.a.O., S. 329). Hier wird deutlich, bis zu welchem Grad der Anteilnahme die Liebe führt, wenn sie sich an der Liebe Gottes mißt!

Von dieser Liebe muß sich die Menschheit von heute inspirieren lassen, um die Sinnkrise in Angriff zu nehmen, die Herausforderungen, die sich durch verschiedene Bedürfnisse stellen, besonders durch den Anspruch, die Würde einer jeden menschlichen Person zu wahren. Die Botschaft von der göttlichen Barmherzigkeit stellt somit implizit auch eine Botschaft vom Wert eines jeden Menschen dar. Jede Person ist in den Augen Gottes wertvoll, für jeden einzelnen hat Christus sein Leben hingegeben, jedem macht der Vater seinen Geist zum Geschenk und bietet Zugang in sein Innerstes.

7. Diese trostreiche Botschaft wendet sich vor allem an denjenigen, der – von harten Prüfungen gequält oder von der Last der begangenen Sünden erdrückt – jedes Vertrauen in das Leben verloren hat oder der versucht ist, zu verzweifeln. Ihm stellt sich das sanfte Antlitz Christi vor, über ihn kommen die Strahlen, die aus seinem Herzen hervorgehen, und sie erhellen, erwärmen, weisen den Weg und flößen Hoffnung ein. Wie viele Seelen hat die Anrufung »Jesus, ich vertraue auf dich«, die ihnen die Vorsehung durch Schwester Faustyna nahegelegt hat, bereits getröstet. Dieser schlichte Akt der Hingabe an Jesus reißt die dichtesten Wolken auf und läßt einen Lichtstrahl auf das Leben eines jeden herabkommen.

8. »Misericordia Domini in aeternum cantabo.« [Von den Taten deiner Huld, Herr, will ich ewig singen] (Ps 88 [89], 2.) Mit der Stimme der allerseligsten Maria, der »Mutter der Barmherzigkeit«, mit der Stimme dieser neuen Heiligen, die im himmlischen Jerusalem gemeinsam mit allen Freunden Gottes die Barmherzigkeit besingt, vereinen auch wir, die pilgernde Kirche, unsere Stimme.

270 Und du, Faustyna, Geschenk Gottes an unsere Zeit, Geschenk Polens an die ganze Kirche, hilf uns, die Tiefe der göttlichen Barmherzigkeit zu erfassen, von ihr eine lebendige Erfahrung zu machen und diese vor unseren Brüdern zu bezeugen. Deine Botschaft des Lichtes und der Hoffnung verbreite sich in der ganzen Welt, sie führe die Sünder zur Umkehr, sie besänftige die Rivalitäten und den Haß und öffne die Menschen für eine gelebte Brüderlichkeit. Indem wir mit dir den Blick auf das Antlitz des auferstandenen Christus richten, machen wir uns dein Gebet der vertrauensvollen Hingabe zu eigen und sprechen mit fester Hoffnung: »Jesus, ich vertraue auf dich!«




Predigten 1978-2005 262