Pacem in terris DE 36

Aufgaben der staatlichen Gewalt und Rechte und Pflichten der Person


36 Da man heutzutage annimmt, daß das Gemeinwohl vor allem in der Wahrung der Rechte und der Pflichten der menschlichen Person besteht muß dem Staat besonders daran gelegen sein, daß einerseits diese Rechte anerkannt, geachtet, aufeinander abgestimmt, geschützt und gefordert werden und daß anderseits ein jeder seinen Pflichten leichter nachkommen kann. Denn "den unantastbaren Lebenskreis der Pflichten und Rechte, der menschlichen Persönlichkeit zu schützen und seine Verwirklichung zu erleichtern ist wesentliche Aufgabe jeder öffentlichen Gewalt" (vgl. Pius XII., Pfingstbotschaft 1941).

Wenn deshalb Staatsbehörden die Rechte der Menschen nicht anerkennen oder sie verletzen, stehen sie nicht nur mit ihrer Aufgabe in Widerspruch, es sind dann ihre Anordnungen auch ohne jede rechtliche Verpflichtung (Vgl. Pius XI., Enz. Mit brennender Sorge).


Harmonische Abstimmung und wirksamer Schutz der Rechte und Pflichten der Person


37 Ferner obliegt den Staatsorganen die vordringliche Pflicht, die gesellschaftlichen Rechte der Menschen derart zu regeln und aufeinander abzustimmen, daß die einen durch die Ausübung ihrer Rechte die anderen nicht in ihren Rechten stören; ferner daß jemand, der seine Rechte wahrt, nicht andere von der Erfüllung ihrer Pflichten abhält; und daß endlich die Rechte aller unversehrt wirksam gewahrt bleiben und, falls solche verletzt wurden, vollkommen wiederhergestellt werden (vgl. Pius XI., Enz. Divini Redemptoris).

Die Pflicht zur Förderung der Persönlichkeitsrechte


38 Ferner müssen die staatlichen Stellen im Interesse des Gemeinwohls sich auch dafür einsetzen, daß Bedingungen herrschen, in denen es den einzelnen Menschen möglich, und zwar leicht möglich ist, sowohl ihre Rechte wahrzunehmen als auch ihre Pflichten zu erfüllen. Hat uns doch die Erfahrung gelehrt: wenn in der Wirtschaft, in der Politik, in den kulturellen Fragen die Staatsorgane nicht in rechter Weise vorangehen, so verschärft sich, besonders in unseren Tagen, die Unausgeglichenheit immer weiter, und so geschieht es, daß die Rechte des Menschen und seine Pflichten unwirklich bleiben.


39 Darum müssen die Vertreter des Staates unbedingt dafür Sorge tragen, daß dem wirtschaftlichen Fortschritt der Bürger der soziale entspricht und daß gemäß der produktiven Kraft der Volkswirtschaft auch die wesentlichen Dienstleistungen entwickelt werden. Solche sind: Straßenbau, Transportmittel, Kommunikationsmöglichkeiten, Trinkwasserversorgung, Wohnungsbau, sanitäre Hilfe, entsprechende Hilfe zur religiösen Bildung und schließlich Erholungsmöglichkeiten. Die Staatsbehörden sollen sich auch um die Schaffung von Versicherungen kümmern, damit es den Bürgern nicht an dem zu einer angemessenen Lebensführung Notwendigen fehle, wenn ein Unglücksfall eintritt oder wenn die Familienverhältnisse allzu drückend werden. Nicht minder müssen die Inhaber der staatlichen Gewalt dafür sorgen, daß den Arbeitsfähigen eine ihren Kräften entsprechende Beschäftigung vermittelt werde; daß einem jeden der Lohn nach den Gesetzen der Gerechtigkeit und Billigkeit ausbezahlt werde; daß die Arbeiter sich in den Wirtschaftsunternehmungen als verantwortliche Schöpfer der erbrachten Güter und Leistungen fühlen dürfen; daß ungehindert Verbände und Einrichtungen geschaffen werden können, durch welche das Gesellschaftsleben reicher und fruchtbarer wird; daß endlich alle in angemessenem Umfang an den Gütern der Kultur und Bildung teilhaben können.

Gleichgewicht zwischen den beiden Formen staatlichen Wirkens


40 Das allgemeine Wohl verlangt von den Regierungen ein Zweifaches: einmal die Festlegung und Wahrung, dann aber auch die Förderung der Rechte des einzelnen. Hier jedoch ist darauf zu achten, daß beide Funktionen sich im Gleichgewicht halten. So muß vermieden werden, daß durch die Oberbetonung des Rechtsschutzes zugunsten bestimmter Personen oder Personenkreise privilegierte Gruppen entstehen; und daß man anderseits nicht beim Bemühen um die Förderung der Rechte der Bürger in absurder Weise ihre wirkliche Ausübung verhindert. Immer aber muß dabei festgehalten werden: Die Sorge des Staates für die Wirtschaft, soweit und so tief sie auch in das Gemeinschaftsleben eingreift, muß dergestalt sein, daß sie den Raum der Privatinitiative der einzelnen Bürger nicht nur nicht einschränkt, sondern vielmehr ausweitet, allerdings so, daß die wesentlichen Rechte jeder menschlichen Person gewahrt bleiben" (Johannes XXIII., Enz. Mater et Magistra ).

Daran müssen sich die verschiedenen Bemühungen halten, die von den Staatsbehörden in der Absicht unternommen werden, daß die Bürger leichter sowohl ihre Rechte gebrauchen wie auch in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens ihren Pflichten nachkommen können.

Struktur und Funktion der staatlichen Gewalt


41 Im übrigen kann nicht ein für allemal entschieden werden, welche Staatsform die geeignetere ist oder welches die angemessenste Art und Weise ist, in der die Staatsgewalt ihre Aufgabe erfüllt in Gesetzgebung, öffentlicher Verwaltung und Rechtsprechung.

Um tatsächlich festzustellen, in welcher Form ein Staat regiert werden und wie er seine Aufgaben erfüllen soll, müssen vielmehr der augenblickliche Zustand und die Lage eines jeden Volkes in Betracht gezogen werden, die je nach Ort und Zeit verschieden sind. Wir meinen aber, es ist der Menschennatur angepaßt, wenn das Zusammenleben der Bürger so gestaltet wird, daß es auf jener Dreigliederung von Behörden beruht, die den drei hauptsächlichen Aufgaben der Staatsgewalt sachlich entsprechen dürfte; denn in einem solchen Staate sind nicht nur die Obliegenheiten der Behörden, sondern auch die Beziehungen zwischen Bürgern und den Trägern der staatlichen Gewalt rechtlich umschrieben. Gewiß gibt dies den Bürgern in der Wahrung ihrer Rechte wie auch in der Erfüllung ihrer Pflichten einen bestimmten Schutz.


42 Damit jedoch eine solche rechtliche und politische Staatsordnung ihren Nutzen bringe, fordert es die Natur der Sache, daß die Behörden sorgsam ihres Amtes walten und die auftretenden Schwierigkeiten mit jenen geeigneten Verfügungen und Mitteln beheben, die ihren Aufgaben und der Lage des Staates entsprechen. Aus demselben Grunde ist erforderlich, daß der Gesetzgeber im Staate bei der stets sich verändernden Lage niemals die sittlichen Normen, noch die verfassungsmäßigen Grundsätze außer acht lassen, noch auch die Bedürfnisse des Gemeinwohls vernachlässigen darf. Und wie es den Verwaltungsorganen obliegt, in genauer Kenntnis der Gesetze und nach sorgfältiger Erwägung der Begleitumstände alles dem Rechte gemäß so zu regeln, so müssen die Richter mit menschlicher Integrität und frei von aller Parteilichkeit jedem zu seinem Recht verhelfen. Die Ordnung der Dinge verlangt sodann, daß die einzelnen Bürger nicht minder als die verschiedenen Sozialgebilde gesetzlich entsprechend gesichert seien, wenn sie Rechte zu behaupten und Pflichten zu erfüllen haben, ob es sich nun um die Beziehungen der Bürger untereinander oder um ihr Verhältnis zu den Behörden handelt (vgl. Pius XII.,Weihnachtsbotschaft 1942).

Rechtsordnung und sittliches Gewissen


43 Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß die Rechtsordnung eines Staates, die mit den Geboten der moralischen Ordnung und mit einer entsprechend fortgeschrittenen Reife der politischen Gemeinschaft im Einklang steht, in hohem Maße zur Verwirklichung des Gemeinwohls beiträgt.

Doch ist in unseren Tagen das Gesellschaftsleben so mannigfach, so vielfältig und so lebendig, daß die rechtliche Ordnung, wenn auch mit großer Klugheit und vorausschauender Umsicht ausgearbeitet, den Bedürfnissen häufig nicht gewachsen scheint.

Überdies sind die Beziehungen zwischen den einzelnen Bürgern wie die der Bürger und Verbände zu den Behörden und schließlich die Beziehungen zwischen den verschiedenen Behörden innerhalb des Staatswesens zuweilen so heikel und schwierig, daß sie sich nicht in genauen Rechtsbestimmungen festlegen lassen. Wenn in solchen Fällen, wie die Sache selbst es erfordert, die Staatslenker die gegebene Rechtsordnung sowohl in sich selbst wie auch in ihren tieferen Grundlagen - unversehrt bewahren wollen, wenn sie aufgeschlossen sein wollen für die wesentlichen Forderungen des sozialen Lebens, wenn sie die Gesetze an die Gegebenheiten und Gebräuche des heutigen Lebens anpassen und die neuen Probleme lösen wollen, dann müssen sie selbst klare Begriffe haben über Natur und Umfang ihrer Aufgaben, und sie müssen einen solchen Sinn für Gerechtigkeit und eine solche Rechtschaffenheit und so viel praktischen Scharfsinn und Ausdauer des Willens besitzen, daß sie unverzüglich erfassen, was geschehen muß, und dies rechtzeitig und tatkräftig durchführen.

Teilnahme der Bürger am öffentlichen Leben


44 Daß es den Menschen gestattet ist, am öffentlichen Leben aktiv teilzunehmen, ist ein Vorrecht ihrer Würde als Personen, auch wenn sie die Teilnahme nur in den Formen ausüben können, die dem Zustande des Staatswesens entsprechen, dessen Glieder sie sind.

Aus der Teilnahme am öffentlichen Leben ergeben sich neue, sehr weitgehende und nützliche Möglichkeiten. Auf diese Weise kommen die leitenden Amtsträger häufiger in Berührung und ins Gespräch mit den Bürgern und können somit leichter erfahren, was zum Gemeinwohl beiträgt. Zudem verhindert die regelmäßige Ablösung der höchsten Staatsdiener eine Überalterung der Autorität und sorgt für deren Erneuerung zum Fortschritt der menschlichen Gesellschaft.

Zeichen der Zeit


45 In der heutigen Zeit begegnet man bei der rechtlichen Organisation der politischen Gemeinschaften in erster Linie der Forderung, daß in klaren und bestimmten Sätzen eine Zusammenfassung der den Menschen eigenen Grundrechte ausgearbeitet wird, die nicht selten in die Staatsverfassung selber aufgenommen wird.

Ferner wird gefordert, daß in exakter juristischer Form die Verfassung eines jeden Staates festgelegt wird. Darin soll angegeben werden, in welcher Weise die staatlichen Behörden bestimmt werden, durch welches Band diese untereinander verknüpft sind, wofür sie zuständig sind, und schließlich, auf welche Art und Weise sie zu handeln verpflichtet sind.

Schließlich wird gefordert, daß im Hinblick auf Rechte und Pflichten die Beziehungen festgelegt werden, die zwischen den Bürgern und den Staatsbehörden gelten sollen; daß deutlich als Hauptaufgabe der Behörden betont werde, die Rechte und Obliegenheiten der Bürger anzuerkennen, zu achten, harmonisch miteinander in Einklang zu bringen, zu schützen und zu fördern.

Selbstverständlich kann die Ansicht jener nicht gebilligt werden, die behaupten, der Wille einzelner Menschen oder gewisser Gemeinschaften wäre die erste und einzige Quelle, woraus die bürgerlichen Rechte und Pflichten fließen und woraus sich die Verpflichtung der Verfassungen wie auch die Autorität der Staatslenker ergeben (vgl. Leo XIII., Apostolischer Schreiben Annum ingressi).


46 Die erwähnten Bestrebungen bezeugen deutlich, daß die Menschen in unserer Zeit sich immer mehr ihrer eigenen Würde bewußt und sich dadurch angetrieben fühlen, aktiv am öffentlichen Leben teilzunehmen und darauf zu bestehen, daß die eigenen, unverletzlichen Rechte in der Ordnung des Staatswesens gewahrt bleiben. Überdies fordern die Menschen heute noch, daß die Träger der Staatsgewalt gemäß den in der Verfassung des Staatswesens festgelegten Richtlinien gewählt werden und daß sie ihre Ämter in den dort bestimmten Grenzen ausüben.

III.


DIE BEZIEHUNGEN ZWISCHEN


DEN POLITISCHEN GEMEINSCHAFTEN


Träger von Rechten und Pflichten


47 Was Unsere Vorgänger oftmals gelehrt haben, das wollen auch Wir nun mit Unserer Autorität bekräftigen: Es bestehen zwischen den Nationen gegenseitige Rechte und Pflichten. Deshalb sollen auch ihre Beziehungen von der Norm der Wahrheit, der Gerechtigkeit, der tatkräftigen Solidarität und der Freiheit bestimmt werden. Das gleiche natürliche Sittengesetz, das die Lebensordnung unter den einzelnen Bürgern regelt, soll auch die gegenseitigen Beziehungen zwischen den Staaten leiten.

Dies ist leicht zu begreifen, wenn man bedenkt, daß die Staatslenker keineswegs ihre natürliche Würde einbüßen können, wenn sie so im Namen und für die Interessen ihrer Gemeinschaft arbeiten; darum ist es ihnen nicht erlaubt, dem sie verpflichtenden natürlichen Sittengesetz, das die Grundnorm der Sittlichkeit selbst ist, untreu zu werden.

Im übrigen ist es ganz undenkbar, daß Menschen gezwungen sein sollten, ihr Menschsein aufzugeben, weil sie mit der Leitung des Staates beauftragt sind. Haben sie doch im Gegenteil gerade deshalb den Rang dieser höchsten Würde erlangt, weil sie in Anbetracht ihrer ausgezeichneten Geistesgaben und Anlagen als die vortrefflichsten Glieder des Staates befunden wurden.

Es folgt auch schon aus der moralischen Ordnung selbst, daß die bürgerliche Gemeinschaft der Menschen einer Autorität bedarf, durch die sie geleitet wird, und daß die Autorität nicht gegen eben diese Ordnung ausgespielt werden kann; sonst würde sie sofort hinfällig werden, da ihr das Fundament entzogen wäre. Dies ist die Mahnung Gottes selbst: "Höret nun, ihr Könige, und merket wohl, lernet, ihr Richter der Enden der Erde! Lauschet, ihr Herrscher über die Volksmenge, die ihr euch brüstet mit Völkermassen! Denn vom Herrn ward euch die Macht gegeben und die Herrschaft vom Höchsten, der eure Werke prüfen und eure Pläne untersuchen wird" (
Sg 6,2-4).


48 Auch hinsichtlich der Regelung der gegenseitigen Beziehungen zwischen den Staaten muß die Autorität für die Förderung des Gemeinwohls aller eintreten, da sie doch in erster Linie zu diesem Zweck eingesetzt ist. Zu den obersten Gesetzen des Gemeinwohls gehört aber, daß die moralische Ordnung anerkannt wird und ihre Gebote unverletzt bewahrt werden: "Die rechte Ordnung unter den Staaten muß aufgebaut sein auf der unverrückbaren Grundlage jenes Sittengesetzes, das vom Schöpfer selbst durch die Ordnung der Natur erlassen und unaustilgbar in die Herzen der Menschen geschrieben ist. ... Wie ein Leuchtturm muß das göttliche Sittengesetz mit dem Strahl seiner Grundsätze allen menschlichen und staatlichen Bemühungen die Richtung weisen. Seine heilsamen und wohltätigen Warnungssignale müssen alle befolgen, wollen sie nicht Arbeit und Mühe zur Aufrichtung einer Neuordnung von vornherein zum Schiffbruch in stürmischer See verurteilen" (vgl. Pius XII., Pfingstbotschaft 1941).

In der Wahrheit


49 An erster Stelle gilt, daß die gegenseitigen Beziehungen der politischen Gemeinschaften untereinander von der Wahrheit bestimmt sein müssen. Die Wahrheit verlangt aber, daß es darin keine Diskriminierung der Rassen geben darf; unantastbar und unerschütterlich gilt darum, daß alle Staaten, was ihre natürliche Würde angeht, untereinander gleichgestellt sind. Jeder hat also das Recht auf Dasein, auf Entfaltung, auf den Besitz der dazu notwendigen Mittel und auch darauf, daß er in der Verwirklichung alles dessen die Hauptverantwortung übernimmt. Desgleichen kann er rechtmäßig verlangen, daß er geachtet und daß ihm die gebührende Ehre erwiesen wird.

Die Erfahrung lehrt, daß die Menschen sehr häufig und auch in hohem Maße voneinander verschieden sind an Wissen, Tugend, Geisteskraft und an Besitz äußerer Güter. Daraus kann aber niemals ein gerechter Grund abgeleitet werden, daß diejenigen, die den übrigen überlegen sind, diese irgendwie von sich abhängig machen; vielmehr haben sie, und zwar alle und jeder einzelne, die größere Verpflichtung, den anderen zur Vervollkommnung zu verhelfen, die nur in gegenseitigem Bemühen zu erringen ist.

So kann es vorkommen, daß auch unter den Nationen die einen den anderen voraus sind an wissenschaftlichem Fortschritt, an menschlicher Kultur und an wirtschaftlicher Entwicklung. Doch diese Vorzüge erlauben es ihnen keineswegs, zu Unrecht andere zu beherrschen, sondern sollen ihnen vielmehr ein Ansporn sein, mehr zum gemeinsamen Fortschritt der Völker beizutragen.


50 Die Menschen können nicht ihrer Natur nach anderen überlegen sein, da alle mit der gleichen Würde der Natur ausgezeichnet sind. Folglich unterscheiden sich auch die staatlichen Gemeinschaften nicht voneinander hinsichtlich der ihnen von Natur aus innewohnenden Würde; die einzelnen Staaten gleichen nämlich einem Körper, dessen Glieder die Menschen sind. Übrigens zeigt die Erfahrung, daß die Völker in allem, was irgendwie die Würde ihres Namens betrifft, äußerst empfindsam sind, und zwar mit Recht.

Ferner gebietet die Wahrheit, daß man sich bei dem Gebrauch der vielfältigen Möglichkeiten, die durch den Fortschritt der modernen Publikationsmittel geschaffen wurden und durch welche die gegenseitige Kenntnis der Völker gefördert wird, von vornehmer Sachlichkeit leiten lasse. Dies schließt nicht aus, daß es für die Völker gerechtfertigt ist, ihre Vorzüge in das rechte Licht zu rücken. Abzulehnen sind jedoch jene Formen der Nachrichtengebung, durch die unter Mißachtung der Gebote der Wahrheit und Gerechtigkeit der Ruf eines Volkes verletzt wird (vgl. Pius XII.,Weihnachtsbotschaft 1940).


In Gerechtigkeit


51 Die gegenseitigen Beziehungen der Staaten müssen gemäß den Forderungen der Gerechtigkeit geregelt werden. Dies bedeutet, daß die beiderseitigen Rechte anerkannt und die gegenseitigen Pflichten erfüllt werden.

Die Staaten haben das Recht auf Dasein, auf Entfaltung und Erwerb der für ihren Fortschritt notwendigen Mittel wie auch das Recht auf ihre Erstzuständigkeit dabei sowie das Recht, ihren guten Ruf und die ihnen gebührenden Ehren zu sichern. Daraus folgt, daß die Staaten in gleicher Weise verpflichtet sind, diese Rechte im einzelnen zu achten und alles zu unterlassen, was eine Verletzung derselben bedeuten könnte. Wie nämlich die Menschen in ihren privaten Angelegenheiten ihren eigenen Vorteil nicht zum ungerechten Schaden anderer suchen dürfen, so dürfen auch die Staaten nicht - wenn sie nicht ein Verbrechen begehen wollen - einen solchen Vorteil erstreben, durch den anderen Nationen Unrecht zugefügt oder sie ungerecht bedrückt würden. Hier scheint das Wort des heiligen Augustinus zutreffend: "Fehlt die Gerechtigkeit, was sind dann die Reiche anderes als große Räuberbanden?" (De civitate Dei IV 4; vgl. Pius XII.,Weihnachtsbotschaft 1939)

Es kann natürlich vorkommen, wie es auch tatsächlich geschieht, daß die Vorteile, welche im Kampf der Interessen die politischen Gemeinschaften für sich zu erringen suchen, einander widerstreiten. Die daraus entstehenden Gegensätze sollen aber nicht mit Waffengewalt und nicht mit Trug und List gelöst werden, sondern, wie es sich für Menschen geziemt, in gegenseitigem Einvernehmen auf Grund reiflicher sachlicher Überlegung und unparteiischer Schlichtung.


Die Behandlung der Minderheiten


52 Hierher gehört ein besonderes Wort über jene Tendenz im Staatsleben, die seit dem 19. Jahrhundert sich überall verbreitete und zunahm: daß die Menschen gleicher Abstammung politisch selbständig und zu einer Nation vereint sein wollen. Dies kann jedoch aus verschiedenen Gründen nicht immer erreicht werden. Daraus ergibt sich die Tatsache, daß sich völkische Minderheiten innerhalb des Gebietes einer anderen Nation finden, woraus dann schwerwiegende Fragen entstehen.

Hierzu muß offen gesagt werden: Was immer gegen diese Völker zur Unterdrückung der Lebenskraft und des Wachstums ihres Stammes unternommen wird, ist eine schwere Verletzung der Gerechtigkeit, und dies um so mehr, wenn solche verwerfliche Gewaltanwendung auf die Ausrottung des Stammes selbst abzielt.

Vielmehr entspricht es vollkommen den Geboten der Gerechtigkeit, wenn die Staatslenker sich tatkräftig bemühen, die Lebensbedingungen der Minderheit zu heben, namentlich indem, was deren Sprache, Kultur, Herkommen und Gebräuche sowie wirtschaftliche Unternehmungen und Initiativen betrifft (vgl. Pius XII., Weihnachtsbotschaft 1941).


53 Dennoch muß bemerkt werden, daß die Minderheiten - sei es in Reaktion auf die ihnen aufgezwungene schwierige Lage, sei es als Nachwirkung geschichtlicher Ereignisse - nicht selten dazu neigen, die Besonderheiten ihres Stammes über Gebühr hervorzuheben, und zwar so sehr, daß sie selbst die menschlichen Werte, die allen eigen sind, so herabmindern, als ob das Wohl der Menschheitsfamilie dem Wohl ihres eigenen Stammes dienen müsse, nicht aber umgekehrt. Es entspricht aber der gesunden Vernunft, daß diese Bürger auch die Vorteile anerkennen, die ihnen aus ihrer besonderen Lage erwachsen; daß nämlich der tägliche Umgang mit Bürgern einer anderen Kultur nicht wenig beiträgt zur Vervollkommnung ihres Geistes und Herzens, da sie sich allmählich die Tugenden des anderen Stammes innerlich aneignen können. Doch dies wird nur dann eintreten, wenn die Minderheiten eine gewisse Gemeinschaft mit den sie umgebenden Völkern pflegen und an deren Gebräuchen und Einrichtungen teilzunehmen suchen, nicht aber, wenn sie Zwistigkeiten säen, die unzählige Schäden verursachen und den Fortschritt der Nationen aufhalten.

Tätige Solidarität


54 Da die gegenseitigen Beziehungen der Staaten gemäß der Wahrheit und Gerechtigkeit geregelt werden sollen, müssen sie besonders durch tatkräftige Solidarität gefördert werden. Dies kann durch eine vielfältige gegenseitige Zusammenarbeit erreicht werden, wie es in unserer Zeit mit gutem Erfolg auf dem Gebiete der Wirtschaft, der Sozialarbeit, der Politik, der Kultur, des Gesundheitswesens und des Sportes geschieht. Diesbezüglich müssen wir uns vor Augen halten; daß die Staatsgewalt ihrer Natur nach nicht dazu eingesetzt ist, die Menschen in die Grenzen der jeweiligen politischen Gemeinschaft einzuzwängen, sondern vor allem für das Gemeinwohl des Staates zu sorgen, das von dem der ganzen Menschheitsfamilie gewiß nicht getrennt werden kann.

Dies bedeutet, daß die einzelnen staatlichen Gemeinschaften in der Wahrung ihrer Interessen einander nicht nur nicht schaden dürfen, sondern auch mit Rat und Tat sich zusammen tun sollen, wenn die Anstrengungen der einzelnen Staaten die gewünschten Ziele nicht erreichen können. In diesem Falle muß man sehr darauf achten, daß die Vorteile, die sich für die einen Staaten ergeben, den anderen nicht mehr Schaden als Nutzen bringen.

Auch das universale Gemeinwohl verlangt, daß in jeder einzelnen Nation der Verkehr jeglicher Art zwischen Bürgern und zwischen sozialen Gruppen gefördert werde.


55 Denn da es in vielen Teilen der Erde Stammesgruppen gibt, die der Abstammung nach mehr oder weniger voneinander verschieden sind, muß man Vorsorge treffen, daß nicht die Glieder eines Volksstammes am Umgang mit denen des anderen gehindert werden. Dies wäre in offenem Widerspruch zu einer Zeit wie der unsrigen, in der die Entfernungen unter den Völkern beinahe aufgehoben sind. Es darf auch nicht übersehen werden, daß die Menschen eines jeden Stammes neben ihren besonderen Anlagen, die sie von den anderen unterscheiden, auch mit diesen gemeinsame Eigenschaften besitzen, Eigenschaften, die eine bedeutende Rolle in ihrem stetigen Aufstieg und ihrer Vervollkommnung, besonders der geistigen, spielen. Sie haben also das Recht und die Pflicht, ihr Leben in Gemeinschaft mit den übrigen Gliedern der Gemeinschaft zu verbringen.

Gleichgewicht zwischen Bevölkerung, Land und Kapitalien


56 Es ist allgemein bekannt, daß mancherorts auf Erden ein ungleiches Verhältnis zwischen der Fläche des bestellbaren Landes und der Zahl der Einwohner besteht, anderswo zwischen den Bodenschätzen und den zur Verfügung stehenden Mitteln zu deren Ausbeutung. Daraus entspringt die Notwendigkeit internationaler Zusammenarbeit zum Zweck eines leichteren Austausches der Güter, der Kapitalien und der Menschen (vgl. Johannes XXIII., Enz. Mater et Magistra ).

Hier halten Wir es für angebracht, daß, soweit möglich, das Kapital die Arbeit suche, nicht aber die Arbeit das Kapital.

Auf diese Weise wird vielen die Möglichkeit einer Vermögensmehrung geboten, ohne daß sie zu ihrem großen Kummer gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen, einen anderen Wohnsitz zu suchen, in einer neuen Lage sich zurechtzufinden und mit anderen Menschen neue Beziehungen aufzunehmen.


Das Problem der politischen Flüchtlinge


57 Da Wir, von Gott selbst bewegt, gegenüber allen Menschen die Gesinnung väterlicher Liebe hegen, betrachten Wir mit großem Schmerz das Los derer, die aus politischen Gründen aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Viele und unglaubliche Leiden begleiten ja ständig die große, in unserer Zeit wahrlich ungezählte Menge dieser Flüchtlinge.

Diese Erscheinung zeigt, daß die Regierungen gewisser Nationen die Grenzen der gehörigen Freiheit allzusehr einengen, in deren Bereich es den einzelnen gestattet sein soll, ein menschenwürdiges Leben zu führen. In solchen Staaten wird zuweilen sogar das Recht auf Freiheit selbst in Frage gestellt oder auch ganz aufgehoben. Wenn dies geschieht, wird die rechte Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft völlig umgestürzt; denn die Staatsgewalt ist ihrer Natur nach zum Schutz des Wohles der Gemeinschaft bestimmt. Ihre erste Aufgabe besteht darin, den Raum der Freiheit anzuerkennen und ihre Rechte in vollem Umfang zu sichern.

Deshalb ist es angezeigt, an dieser Stelle daran zu erinnern, daß diese Flüchtlinge mit der Würde einer Person ausgestattet sind und daß ihnen die Rechte einer Person zuerkannt werden müssen. Diese Rechte können die Flüchtlinge dadurch, daß sie des Bürgerrechtes ihrer politischen Gemeinschaft beraubt wurden, nicht verlieren.

Zu den Rechten der menschlichen Person gehört es auch, sich in diejenige Staatsgemeinschaft zu begeben, in der man hofft, besser für sich und die eigenen Angehörigen sorgen zu können. Deshalb ist es Pflicht der Staatslenker, ankommende Fremde aufzunehmen und, soweit es das wahre Wohl ihrer Gemeinschaft zuläßt, dem Vorhaben derer entgegenzukommen, die sich einer neuen Gemeinschaft anschließen wollen.

Bei dieser Gelegenheit anerkennen und loben Wir daher öffentlich alle jene Bemühungen, die im Sinne der Grundsätze der brüderlichen Verbundenheit und der christlichen Liebe sich zum Ziele setzen, die Mühsal derer zu lindern, die aus ihrer Heimat anderswohin auszuwandern gezwungen sind.

Und Wir möchten nicht unterlassen, alle rechtschaffenen Menschen lobend hinzuweisen auf jene internationalen Einrichtungen, die auf diesem wichtigen Gebiet alle ihre Kräfte einsetzen.


Abrüstung


59 Anderseits sehen Wir nicht ohne großen Schmerz, daß in den wirtschaftlich gut entwickelten Staaten ungeheuere Kriegsrüstungen geschaffen wurden und noch geschaffen werden und daß dafür die größten geistigen und materiellen Güter aufgewendet werden. So kommt es, daß die Bürger dieser Nationen keine geringen Lasten zu tragen haben und andere Staaten, die sich wirtschaftlich und sozial entwickeln sollten, der notwendigen Hilfeleistungen entbehren.

Als rechtfertigenden Grund für diese militärische Rüstung pflegt man anzugeben, daß unter den gegenwärtigen Umständen der Friede nur durch das Gleichgewicht der Rüstungen gesichert werden kann. Die militärische Rüstungssteigerung an einer Stelle hat also zur Folge, daß auch anderswo das Bestreben aufzurüsten zunimmt. Und wenn eine Nation mit Atomwaffen ausgerüstet ist, gibt dies anderen Nationen Anlaß, daß auch sie sich solche Waffen mit gleicher Zerstörungskraft zu verschaffen suchen.


60 Infolgedessen befinden sich die Völker beständig in Furcht, wie vor einem Sturm, der jeden Augenblick mit erschreckender Gewalt losbrechen kann. Und das nicht ohne Grund, denn an Waffen fehlt es tatsächlich nicht. Wenn es auch kaum glaublich ist, daß es Menschen gibt, die es wagen möchten, die Verantwortung für die Vernichtung und das Leid auf sich zu nehmen, die ein Krieg im Gefolge hat, so kann man doch nicht leugnen, daß unversehens und unerwartet ein Kriegsbrand entstehen kann. Und wenn auch die ungeheuere militärische Rüstung heute die Menschen davon abschrecken dürfte, einen Krieg zu beginnen, so besteht dennoch Grund zur Befürchtung, daß die schon für Kriegszwecke unternommenen Kernwaffenexperimente, wenn sie nicht aufhören, die verschiedenen Arten des Lebens auf Erden in schwere Gefahr bringen können.

Deshalb fordern Gerechtigkeit, gesunde Vernunft und Rücksicht auf die Menschenwürde dringend, daß der allgemeine Rüstungswettlauf aufhört; daß ferner die in verschiedenen Staaten bereits zur Verfügung stehenden Waffen auf beiden Seiten und gleichzeitig vermindert werden; daß Atomwaffen verboten werden; und daß endlich alle auf Grund von Vereinbarungen zu einer entsprechenden Abrüstung mit wirksamer gegenseitiger Kontrolle gelangen. "Es darf nicht gestattet werden", mahnte Unser Vorgänger seligen Andenkens Pius XII., "daß das Grauen eines Weltkrieges mit seiner wirtschaftlichen Not, seinem sozialen Elend und seinen sittlichen Verirrungen zum drittenmal über die Menschheit komme" (Pius XII., Weihnachtsbotschaft 1941).


61 Allerdings müssen alle davon überzeugt sein, daß das Ablassen von der Rüstungssteigerung, die wirksame Abrüstung oder - erst recht - die völlige Beseitigung der Waffen so gut wie unmöglich sind, wenn dieser Abschied von den Waffen nicht allseitig ist und auch die Gesinnung erfaßt, das heißt, wenn sich nicht alle einmütig und aufrichtig Mühe geben, daß die Furcht und die angstvolle Erwartung eines Krieges aus den Herzen gebannt werden. Dies setzt aber voraus, daß an die Stelle des obersten Gesetzes, worauf der Friede sich heute stützt, ein ganz anderes Gesetz trete, wonach der wahre Friede unter den Völkern nicht durch die Gleichheit der militärischen Rüstung, sondern nur durch gegenseitiges Vertrauen fest und sicher bestehen kann. Wir sind entschieden der Meinung, daß dies geschehen kann, da es sich um eine Sache handelt, die nicht nur von den Gesetzen der gesunden Vernunft befohlen wird, sondern auch höchst wünschenswert und überaus segensreich ist.


62 Zunächst handelt es sich um eine Sache, die die Vernunft gebietet. Denn wie alle wissen oder wenigstens wissen sollten, die Beziehungen der Staaten untereinander sind ebenso wie die der einzelnen Menschen nicht durch Waffengewalt, sondern nach den Gesetzen der gesunden Vernunft, also nach den Gesetzen der Wahrheit, Gerechtigkeit und der tätigen Solidarität zu regeln.

Danach aber muß man mit Leidenschaft streben. In der Tat, wer hätte nicht den brennenden Wunsch, daß des Krieges Unheil abgewendet, der Friede dagegen unversehrt bewahrt und täglich mehr gesichert werde?

Endlich ist der Friede von höchstem Wert für alle: für die einzelnen Menschen, für den häuslichen Herd, für die Völker und schließlich für die gesamte Menschheitsfamilie. Diesbezüglich hallt in Unseren Ohren noch die mahnende Stimme Unseres Vorgängers Pius XII. nach: "Nichts ist mit dem Frieden verloren. Aber alles kann mit dem Krieg verloren sein" (Pius XII.,Rundfunkbotschaft vom 24.8.1939).


63 Wir, die Wir auf Erden die Stelle Jesu Christi, des Welterlösers und des Urhebers des Friedens, vertreten und, von väterlicher Liebe gegenüber allen Menschen angetrieben, den brennenden Wunsch der ganzen Menschheitsfamilie deuten, Wir halten es für Unsere Aufgabe, alle Menschen und besonders jene, die die Staaten lenken, zu bitten und zu beschwören, keine Sorge und keine Mühe zu scheuen, bis endlich der Lauf der menschlichen Dinge mit der menschlichen Vernunft und Würde übereinstimmt.

Bei den Zusammenkünften der Männer, die durch ihre Klugheit und Autorität hervorragen, sollte gründlich geprüft werden, wie auf der ganzen Welt die gegenseitigen Beziehungen der Staaten in menschlicherem Gleichgewicht neu zu gestalten sind; Wir meinen ein Gleichgewicht, das auf gegenseitigem Vertrauen, auf aufrichtiger Gesinnung bei Vertragsschlüssen und auf unverletzlichen Vereinbarungen gegründet ist. Diese Frage soll aber von allen Seiten so erwogen werden, daß eine Grundlage gefunden wird, auf der freundschaftliche, feste und segensreiche Bündnisse entstehen können.

Wir Unsererseits bitten Gott ohne Unterlaß, daß er durch seine himmlische Kraft diesen Arbeiten Erfolg verleihe und sie fruchtbar mache.



Pacem in terris DE 36