Predigten 1978-2005 361


FEIER DER GÖTTLICHEN LITURGIE ANLÄßLICH DES

1700. JAHRESTAGES DER TAUFE ARMENIENS

Sonntag, 18. Februar 2001



1. »Der Geist ist es, der lebendig macht; das Fleisch nützt nichts. Die Worte, die ich zu euch gesprochen habe, sind Geist und sind Leben« (Jn 6,63).

Soeben haben wir diese Worte Jesu vernommen, die er in der Synagoge von Kafarnaum nach der Brotvermehrung am See von Tiberias gesprochen hat. Sie stammen aus der bedeutenden Rede über das Himmelsbrot und veranlassen uns, über das unendlich große Geschenk der Eucharistie nachzudenken. »Wer von diesem Brot ißt, wird in Ewigkeit leben« (Jn 6,51). Jesus ist das ewige Wort des Heils, das Himmelsbrot, das zur Erlösung der gesamten Menschheit zur höchsten, durch das Kreuzesopfer besiegelten Gabe wird.

Als Teilnehmer an der Feier des Wortes und des Brotes des ewigen Lebens dringen wir zutiefst in das große Geheimnis des Glaubens ein. Im Geiste gehen wir nach Golgota hinauf, wo sich der Triumph der Wahrheit, die frei macht, und der Liebe, die die Welt verwandelt, vollzieht. Der gekreuzigte und auferstandene Christus empfängt uns heute an seinem Tisch und schenkt uns erneut seinen Geist.

2. »Der Geist ist es, der lebendig macht; das Fleisch nützt nichts.« Erneut hören wir diese Worte, während wir der vor 1700 Jahren erfolgten Taufe des armenischen Volkes gedenken. Vor über siebzehn Jahrhunderten vernahm Armenien das Wort Christi, als der hl. Gregorios der Erleuchter durch seine Verkündigung des Evangeliums und der zum Glauben bekehrte König Tiridates III. dieses Land zu einem vom Heiligen Geist gesegneten und geweihten Ort machten. In jenen Tagen schlug Gott seine Wohnstatt unter den Armeniern auf, und sie wurden – wie es in dem liturgischen Hymnus heißt – würdig, »in das Heiligtum des Himmels einzugehen und das Reich zu erben«.

Ihre Personen wurden innerlich durch den Geist verwandelt, und auch das Volk veränderte sich: Mit dem Siegel des Heiligen Geistes versehen konnte ein ganzes Volk den Namen des Erlösers anrufen und lobpreisen.

Dieses Bündnis wurde nie durch Sinnesänderungen geschwächt, auch dann nicht, als die Treue zu ihm Blut kostete und die Weigerung, es zu verleugnen, mit dem Exil bezahlt werden mußte. Ein Beispiel hierfür ist der hl. Vardan, ein heroisches Vorbild nicht nur hinsichtlich der Treue zu Christus angesichts der Gewalttätigkeit der Sassaniden, sondern auch im Hinblick auf das Recht jedes Gewissens, seiner inneren Stimme zu folgen.

3. Liebe Brüder und Schwestern des armenischen Volkes, heute sind wir hier versammelt, um euch zu danken, und zwar nicht nur für jene glorreichen Anfänge, sondern auch für eine vom Christentum durchdrungene und gewissermaßen mit ihm identische Geschichte. Der Bischof von Rom möchte dieser Dankbarkeit Ausdruck verleihen und sie euch als schönstes und aufrichtigstes Geschenk überreichen. Anläßlich dieses Ereignisses zelebriere ich nicht nur mit und für euch die hl. Eucharistie, Inbegriff jeder Danksagung, sondern richte auch mit großer Freude ein Apostolisches Schreiben an die Armenier, um den Wert hervorzuheben, den dieser Jahrestag nicht nur für euch, sondern für die gesamte Kirche hat.

Eure Seligkeit, ich danke Ihnen für diese Eucharistiefeier, in der wir gemeinsam am Leib und am Blut des Erlösers teilhaben, und für die herzlichen Begrüßungsworte, die Sie an mich gerichtet haben. Gleichfalls möchte ich Ihnen dafür danken, daß Sie Priester, Ordensleute und katholische armenische Laien aus aller Welt mit nach Rom gebracht haben. Ihnen wie auch allen, die nicht anwesend sein konnten und im Geiste mit uns vereint sind, gelten meine herzlichen Grüße und mein Segen. Mit unserem Friedenskuß und in brüderlicher Umarmung wenden wir uns ferner an die Brüder der apostolischen armenischen Kirche, die dieses Jahr heiligen Andenkens feierlich begeht.

362 4. Die heutige Feier lädt uns ein, über unsere Wurzeln nachzudenken. Die Geschichte ist nicht die Summe einzelner Augenblicke, sondern ein Strom von miteinander verbundenen Ereignissen. Wir alle tragen in uns die mitunter weit zurückliegende Resonanz des Glaubens, der Kultur und der Empfindungen vieler Generationen und sind aufgerufen, etwas an die kommenden Generationen weiterzugeben.

Wenn wir die Armenier und andere christliche Völker betrachten, wird deutlich, daß der christliche Glaube ihr gemeinsames Empfinden zutiefst geprägt hat. Auch das armenische Alphabet entstand unter anderem, um das Evangelium zu verkünden und zu verbreiten und um die Bibel, die Liturgie und die Werke der Kirchenväter im Glauben zum Ausdruck zu bringen. Die Kunst, das gesellschaftliche und familiäre Leben, selbst die öffentlichen Einrichtungen haben im Glauben an Christus einen sicheren Bezugspunkt gefunden.

In der modernen, zunehmend unter dem Einfluß der Säkularisierung stehenden Welt ist es zuweilen nicht leicht, weiterhin an diesem geistigen Reichtum festzuhalten, der euch zu einer »christlichen« Nation gemacht hat.

Manchmal wird der Glaube lediglich als ein persönliches Geschenk und Suchen betrachtet und nicht als etwas, das dem gesamten Volk eigen ist. Wie können wir vermeiden, daß durch die sozialen Errungenschaften der Modernität solch wertvolle Güter wie der Fortbestand eines Volkes und seines Glaubens verlorengehen? Das ist die schwierige Aufgabe, zu deren vertiefter Betrachtung die heutige Feier uns anspornt.

5. »Erleuchtung« nannte man die Verkündigung des Evangeliums, und auch Gregorios, jener große Heilige, der die Armenier zu einem christlichen Volk machte, bezeichnete man als den »Erleuchter«. Gemeinsam wollen wir Gott danksagen für diese Erleuchtung durch Christus, das Licht der Welt. Jenes Licht, das die Finsternis selbst in den dunklen Jahren des militanten Atheismus nicht auslöschen konnte.

Unlängst hatte ich die Freude, in dieser Basilika, dem Zentrum der Christenheit, den brüderlichen Händen Seiner Heiligkeit Karekin II., Katholikos aller Armenier, eine bedeutende Reliquie des heiligen Erleuchters anzuvertrauen. Die gleiche Geste möchte ich heute gegenüber dem Patriarchen Nerses Bedros XIX. wiederholen. Sowohl von katholischen als auch apostolischen Christen verehrt, sind die Reliquien dieses Heiligen ein Symbol tiefer Glaubenseinheit und Ausgangspunkt für die intensive Förderung der Einheit in Christus. Sicherlich werden sie, vom gesamten armenischen Volk verehrt, die Entwicklung jener Gemeinschaft fördern, die sich Christus für seine Kirche gewünscht hat. Auf diese Weise wird die Brüderlichkeit in der Liebe gefestigt. Wir teilen die Reliquien nicht, sondern wir beten und wirken auf die Einheit jener hin, die sie empfangen. Die gleichen Wurzeln und die Kontinuität einer von Heiligen und Märtyrern geprägten Geschichte können eurem Volk eine Zukunft ermöglichen, die von voller Anteilnahme und sichtbarer Zustimmung zum Glauben an den gleichen Herrn gekennzeichnet ist.

Dies, liebe Brüder und Schwestern, ist eine Aufgabe, der ihr stets treu und mutig entsprechen werdet. Möge euch die himmlische Fürsprache all jener armenischen Landsleute unterstützen, die in den dunklen Zeiten der Verfolgung ihre Treue zum Herrn mit dem Blut bezahlt haben. Insbesondere denke ich hier an viele Mütter und Großmütter, die, als die Kirche zum Schweigen verurteilt war, ihre Familien mit dem Wort des Heils und dem Vorbild christlichen Lebens »erleuchteten«.

6. Liebe Brüder und Schwestern, ich kenne das armenische Volk seit meiner Jugendzeit, und es ist mein großer Wunsch, als Pilger der Hoffnung und der Einheit eure Heimat zu besuchen. Bereits in den vergangenen Jahren hatte ich die Absicht, diesen Wunsch zu verwirklichen, sei es auch nur, um von dem geliebten Bruder Katholikos Karekin I. Abschied zu nehmen – doch der Herr hat es anders entschieden. Nun warte ich voll Ungeduld auf den Tag, an dem ich endlich – dem Willen Gottes entsprechend – den vom Blut zahlreicher Märtyrer getränkten Boden eurer Heimat küssen darf; jene Klöster zu besuchen, wo Männer und Frauen sich geistig opferten, um dem Osterlamm nachzufolgen; den heutigen Armeniern zu begegnen, die bemüht sind, ihrem Leben wieder Würde, Stabilität und Sicherheit zu verleihen. Zusammen mit den Brüdern der apostolischen armenischen Kirche und insbesondere mit dem Katholikos und den Bischöfen werden wir, katholische und apostolische Christen gemeinsam, erneut Christus als den einen Erlöser verkünden. Er allein ist das Leben; nur durch sein Evangelium kann die große Vergangenheit eures Volkes wieder aufleben. In euren Adern fließt das Blut der Heiligen; eure Geschichte ist mit dem Wasser der Erlösung gesegnet. Nichts kann sich der erneuernden Kraft der Gnade widersetzen.

7. Armenisches Volk, richte deinen Blick stets fest auf Christus, der Weg, die Wahrheit und das Leben! Er ist die Hoffnung, die nie täuscht, das Licht, das die Finsternis des Bösen vertreibt. Christus lenkt deine Schritte: Hab keine Angst!

Es beschütze dich die heiligste Mutter Gottes; mögen die armenischen Heiligen deine Fürsprecher sein, insbesondere der hl. Gregorios der Erleuchter, den wir nun als »leuchtende Stütze der heiligen armenischen Kirche« und als »heilbringende Arche des armenischen Volkes« anrufen werden.

Auch der Bischof von Rom und die gesamte katholische Kirche stehen an deiner Seite. Armenisches Volk, das ich heute in tiefer Zuneigung umarme, folge dem Glauben deiner Väter und vermittle sein Licht den kommenden Generationen.

363 Und du, Christus, unser Gott, gib, daß wir alle würdig werden, eines Tages in die himmlische Wohnstatt des Lichts einzugehen und dein Reich zu erben, das seit dem Anfang der Welt für deine Heiligen bereitet war.

Lob sei dir, dem Vater und dem Heiligen Geist, von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen!





ORDENTLICHES ÖFFENTLICHES KONSISTORIUM ZUR KREIERUNG DER NEUEN KARDINÄLE


Mittwoch, 21. Februar 2001


1. »Wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein« (Mc 10,43).

Erneut sind in unseren Ohren diese befremdenden Worte Christi erklungen. Heute hallen sie auf diesem Platz besonders für euch wider, verehrte und liebe Brüder im Bischofs- und Priesteramt, die ich nun zu meiner großen Freude zu den Mitgliedern des Kardinalskollegiums zählen darf. Mit tiefer Zuneigung richte ich an euch meinen herzlichen Gruß, den ich auf die vielen, um euch versammelten Personen ausdehne. Ein besonderer Dank gilt dem lieben Kardinal Giovanni Battista Re für die freundlichen Worte, die er an mich gerichtet und mit denen er euer aller Empfindungen so einfühlsam zum Ausdruck gebracht hat.

Einen brüderlichen Gruß richte ich zudem an alle weiteren hier anwesenden Kardinäle sowie an die Erzbischöfe und Bischöfe, die heute bei uns sind. Außerdem begrüße ich die offiziellen Delegationen, die aus verschiedenen Ländern angereist sind, um ihre Kardinäle zu feiern: Durch sie entbiete ich meine Ehrerbietung den Autoritäten sowie den geschätzten Völkern, die sie vertreten. Mit Freuden stelle ich fest, daß Bruderdelegierte von einigen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften beim Konsistorium anwesend sind. An sie richte ich einen freundlichen Gruß mit der Gewißheit, daß auch diese ihre freundliche Geste zu einem besseren gegenseitigen Verständnis und einem weiteren Schritt zur vollen Einheit beitragen möge.

Heute ist ein großer Festtag für die Universalkirche, die um vierundvierzig neue Kardinäle bereichert wird. Und es ist ein großer Festtag für die Stadt Rom, den Sitz des Apostelfürsten und seines Nachfolgers, nicht nur weil sie eine besondere Beziehung zu jedem der neuen Purpurträger knüpft, sondern auch weil das Zusammentreffen von so vielen Menschen aus allen Teilen der Welt in dieser Stadt ihr die Möglichkeit gibt, erneut eine Zeit freudiger Aufnahme zu erleben. Diese feierliche Versammlung erinnert in der Tat an die verschiedenen Ereignisse, die das vor gut einem Monat beschlossene Große Jubiläumsjahr geprägt haben. Mit dem gleichen Enthusiasmus schart sich am heutigen Morgen das »katholische« Rom um die neuen Kardinäle in einer herzlichen Umarmung und im Bewußtsein, daß heute eine weitere bedeutsame Seite seiner zweitausendjährigen Geschichte geschrieben wird.

2. »Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele« (Mc 10,45).

Diese Worte des Evangelisten Markus helfen uns dabei, den tiefen Sinn eines Ereignisses wie das Konsistorium, das wir gerade feiern, besser zu verstehen. Die Kirche gründet nicht auf Berechnungen und menschlichen Mächten, sondern auf dem gekreuzigten Jesus und auf dem konsequenten Zeugnis, das die Apostel, die Märtyrer und die Bekenner des Glaubens für ihn abgelegt haben. Es ist ein Zeugnis, das sogar die Heldenhaftigkeit der vollkommenen Selbsthingabe für Gott und die Brüder erfordern kann. Jeder Christ weiß, daß er zu einer kompromißlosen Treue aufgerufen ist, die auch das äußerste Opfer mit sich bringen kann. Dies wißt vor allem ihr, verehrte und zur Kardinalswürde ernannte Brüder. Ihr verpflichtet euch, Christus, dem Märtyrer »par excellence« und treuen Zeugen, in Treue nachzufolgen.

Euer Dienst für die Kirche findet seinen Ausdruck auch in eurer Unterstützung und Mitarbeit mit dem Nachfolger Petri, um die Mühen eines Amtes zu erleichtern, das sich bis an die Grenzen der Erde erstreckt. Gemeinsam mit ihm müßt ihr unbeirrbare Verteidiger der Wahrheit und Bewahrer des Glaubens- und Sittenschatzes sein, der seinen Ursprung im Evangelium hat. So werdet ihr sichere Führer für alle sein, an erster Stelle für die Priester, die geweihten Menschen und die engagierten Laien.

Der Papst zählt auf eure Hilfe im Dienst an der christlichen Gemeinschaft, die vertrauensvoll in das dritte Jahrtausend eintritt. Als echte Hirten versteht ihr es, wachsame Hüter zur Verteidigung der euch vom »obersten Hirten« anvertrauten Herde zu sein. Er bereitet für euch »den nie verwelkenden Kranz der Herrlichkeit« (1P 5,4).

364 3. Eine ganz besondere Beziehung verbindet euch vom heutigen Tag an mit dem Nachfolger Petri, der nach dem Willen Christi – wie angemessenerweise vorhin erwähnt wurde – »das immerwährende, sichtbare Prinzip und Fundament für die Einheit der Vielheit von Bischöfen und Gläubigen« ist (Lumen gentium LG 23). Diese Beziehung macht euch selbst zu beredten Zeichen der Gemeinschaft. Wenn ihr zu Förderern der Gemeinschaft werdet, wird die ganze Kirche davon profitieren. Der hl. Pier Damiani, dessen liturgischen Gedenktag wir heute feiern, betont: »Es ist die Einheit, die viele Teile zu einem einzigen Ganzen zurückführt und die die verschiedenen Absichten der Menschen im Gefüge der Liebe und der Harmonie des Geistes zusammenführt« (vgl. Opusc. XIII, 24).

Die »vielen Teile« der Kirche finden ihren Ausdruck in euch, die ihr eure Erfahrungen in unterschiedlichen Erdteilen und in verschiedenen Diensten für das Gottesvolk gesammelt habt. Es ist von wesentlicher Bedeutung, daß die von euch repräsentierten »Teile« durch die Liebe, die das Band der Vollkommenheit ist, in »einem einzigen Ganzen« gesammelt werden. Nur so kann das Gebet Jesu Wirklichkeit werden: »Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaubt, daß du mich gesandt hast« (Jn 17,21).

Von der Zeit des II. Vatikanischen Konzils bis heute wurde viel getan, um die Verantwortungsbereiche des einzelnen im Dienst an der kirchlichen Gemeinschaft zu erweitern. Es besteht kein Zweifel, daß mit Gottes Gnade noch mehr getan werden kann. Ihr werdet heute als Kardinäle proklamiert und eingesetzt, damit ihr euch in eurem jeweiligen Zuständigkeitsbereich dafür engagiert, daß die Spiritualität der Gemeinschaft in der Kirche wachse, denn nur sie allein verleiht »dem institutionellen Tatbestand eine Seele … und leitet zu Vertrauen und Öffnung an, die der Würde und Verantwortung eines jeden Gliedes des Gottesvolkes voll entspricht« (Novo millennio ineunte NM 45).

4. Verehrte Brüder! Ihr seid die ersten im neuen Jahrtausend ernannten Kardinäle. Nachdem das mystische Schiff der Kirche während des Heiligen Jahres reichlich aus den Quellen der göttlichen Barmherzigkeit geschöpft hat, schickt es sich nun an, erneut »auf den See hinauszufahren«, um die Heilsbotschaft in die Welt zu bringen. Zusammen möchten wir die Segel im Wehen des Geistes hissen, indem wir die Zeichen der Zeit erforschen und sie im Licht des Evangeliums deuten, um auf »die bleibenden Fragen der Menschen nach dem Sinn« zu antworten (Gaudium et spes GS 4).

Die Welt wird immer komplizierter und unbeständiger, und das scharfe Bewußtsein für die bestehenden Diskrepanzen verursacht oder verstärkt Widersprüche und Mißverhältnisse (vgl. ebd., 8). Das enorme Potential des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts wie auch das Phänomen der Globalisierung, das sich auf immer neue Bereiche ausdehnt, erfordern von uns, für den Dialog mit jeder Person und mit jedem sozialen Milieu aufgeschlossen zu sein, um jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach der Hoffnung fragt, die uns erfüllt (vgl. 1P 3,15).

Wir wissen aber, verehrte Brüder, daß man eine immer engere Gemeinschaft mit dem Herrn pflegen muß, um die neuen Aufgaben erfolgreich in Angriff nehmen zu können. Die Purpurfarbe der Gewänder, die ihr tragt, erinnert euch deutlich an diese dringende Forderung. Ist diese Farbe etwa nicht ein Symbol der leidenschaftlichen Liebe zu Christus? Verweist dieses leuchtende Rot etwa nicht auf das brennende Feuer der Liebe zur Kirche, die in euch die Bereitschaft, falls nötig, auch zum äußersten Blutzeugnis nähren muß? »Usque ad effusionem sanguinis« [Bis hin zum Blutvergießen], lautet die antike Formel. Das Volk Gottes muß, wenn es auf euch schaut, einen konkreten und leuchtenden Bezugspunkt finden, der es dazu anspornt, wirklich Licht der Welt und Salz der Erde zu sein (vgl. Mt 5,13).

5. Ihr kommt aus siebenundzwanzig Ländern, verteilt auf vier Kontinente, und ihr sprecht verschiedene Sprachen. Ist etwa nicht auch dies ein Zeichen der Fähigkeit der Kirche, die sich inzwischen in allen Teilen unseres Planeten verbreitet hat, Völker mit unterschiedlichen Traditionen und Sprachen zu verstehen, um allen die Verkündigung Christi zu bringen? In Ihm und nur in Ihm können wir das Heil finden. Dies ist die Wahrheit, die wir heute gemeinsam bestätigen möchten. Christus geht mit uns und leitet unsere Schritte.

Zweihundert Jahre nach der Geburt von Kardinal Newman scheint es mir, als hörte ich erneut die Worte, mit denen er von meinem Vorgänger, dem sel. Papst Leo XIII., den heiligen Purpur annahm: »Die Kirche« – so sagte er – »muß nichts anderes tun, als ihren Auftrag im Vertrauen und im Frieden fortsetzen; fest und ruhig bleiben und das Heil Gottes erwarten. ›Mansueti hereditabunt terram, et delectabuntur in multitudine pacis‹ [Die Armen werden das Land bekommen, sie werden Glück in Fülle genießen] (Ps 37,11).« Die Worte jenes großen Kirchenmannes seien uns allen ein Ansporn zu stets wachsender Liebe gegenüber unserem Hirtenamt.

Verehrte Brüder! Um euch versammelt, um diese Stunde der Freude mit euch mitzuerleben, sind eure Familienangehörigen und Freunde sowie die Gläubigen, die eurer pastoralen Fürsorge anvertraut sind. Zusammen mit dem ganzen im Geiste anwesenden Christenvolk richten sie an den Herrn ihr eindringliches Gebet für euren neuen Dienst am Apostolischen Stuhl und an der Universalkirche.

Über euch breitet Maria ihren mütterlichen Mantel aus; sie nahm die Einladung des göttlichen Boten an und antwortete bereitwillig: »Mir geschehe, wie du es gesagt hast« (Lc 1,38). Es bitten für euch die Apostel Petrus und Paulus und eure Schutzheiligen, und es begleitet euch mein brüderliches Gebetsgedenken und mein Segen.



EUCHARISTIEFEIER MIT DEN NEUEN KARDINÄLEN

Donnerstag, 22. Februar 2001

365
Fest ,,Kathedra Petri"


1. »›Ihr aber, für wen haltet ihr mich?‹ Simon Petrus antwortete: ›Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes!‹« (
Mt 16,15 –16).

Dieses Gespräch zwischen Christus und seinen Jüngern, das wir soeben gehört haben, ist im Leben der Kirche und des Christen von bleibender Aktualität. In jeder Stunde der Geschichte, und insbesondere in den entscheidensten Augenblicken, befragt Jesus die Seinen, und nachdem er sie gefragt hat, was »die Leute« über ihn denken, grenzt er das Feld ein und stellt ihnen selbst die Frage: »Ihr aber, für wen haltet ihr mich?«

Diese Frage haben wir während des Großen Jubiläums des Jahres 2000 im Hintergrund widerhallen hören. Und jeden Tag antwortete die Kirche unablässig mit dem einstimmigen Glaubensbekenntnis: »Du bist Christus, der Erlöser der Welt, gestern, heute und in Ewigkeit.« Eine universale Antwort, in der sich die Stimmen der Hirten und Gläubigen des ganzen Gottesvolkes mit jener des Nachfolgers Petri vereinen.

2. Ein einziges feierliches Glaubensbekenntnis: Du bist Christus! Dieses Glaubensbekenntnis ist das große Geschenk, das die Kirche der Welt zu Beginn des neuen Jahrtausends übergibt, während sie auf den »weiten Ozean« hinausfährt, der sich vor ihr auftut (vgl. Novo millennio ineunte NM 58). Das heutige Fest stellt die Rolle des Petrus und seiner Nachfolger in den Vordergrund, die das Schiff der Kirche auf diesem »Ozean« steuern. Daher ist es überaus bedeutsam, daß an diesem liturgischen Gedenktag neben dem Papst das Kardinalskollegium anwesend ist, einschließlich der neuen Kardinäle, die gestern, im ersten Konsistorium nach dem Großen Jubiläum, kreiert worden sind.

Gemeinsam wollen wir dem Herrn dafür danken, daß er seine Kirche auf den Felsen Petri gegründet hat. Mit den Worten des Tagesgebetes wollen wir inständig darum bitten, daß die »Verwirrungen und Stürme« nicht »unseren Glauben erschüttern«, sondern daß die Kirche voller Mut und Zuversicht voranschreite.

3. Gestattet mir daher, dem Herrn zunächst meine Freude und Anerkennung auszudrücken für euch, liebe und verehrte Brüder, die ihr nun in das Kardinalskollegium aufgenommen seid! Einem jeden von euch entbiete ich erneut meinen herzlichen Gruß, den ich ausweite auf eure Familienangehörigen und auf all die Gläubigen, die hier zusammengekommen sind, sowie auf die Gemeinschaften, denen ihr angehört und die sich heute in geistiger Weise unserer Feier angeschlossen haben.

Ich betrachte es als ein Geschenk der Vorsehung, daß ich mit euch und dem ganzen Kardinalskollegium das Fest der »Kathedra Petri «begehen kann, das ein einzigartiges und beredtes Zeichen der Einheit darstellt, mit dem wir gemeinsam die Zeit nach dem Jubiläum beginnen wollen. Ein Zeichen, das zugleich eine Einladung ist, das Nachdenken über das Petrusamt zu vertiefen, zu dem eure Funktion als Kardinäle in besonderer Beziehung steht.

4. »Du bist Petrus und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen …« (Mt 16,13 –19).

Im »Heute« der Liturgie richtet unser Herr Jesus auch an den Nachfolger Petri dieses Wort, das für ihn eine Verpflichtung bedeutet, seine Brüder zu stärken (vgl. Lc 22,32). Erfüllt von großer Zuversicht und lebendiger Herzlichkeit ergeht mein Ruf an euch, verehrte Brüder Kardinäle, euch um den Sitz des Petrus zu scharen im besonderen Dienst an der Einheit, der ihm anvertraut ist.

»Als Bischof von Rom weiß ich sehr wohl« – und ich habe dies in der Enzyklika über den ökumenischen Einsatz Ut unum sint erneut bestätigt – »…daß die volle und sichtbare Gemeinschaft aller Gemeinschaften, in denen kraft der Treue Gottes sein Geist wohnt, der brennende Wunsch Gottes ist« (95). Zu diesem vorrangigen Ziel können und müssen die Kardinäle sowohl als Kollegium als auch als Einzelpersonen ihren wertvollen Beitrag leisten.Denn sie sind die ersten Mitarbeiter im Dienst an der Einheit, der vom römischen Papst erbracht wird. Der Purpur ihrer Kleidung erinnert an das Blut der Märtyrer, insbesondere der hll. Petrus und Paulus, deren höchstes Zeugnis auf der Berufung und universalen Sendung der Kirche von Rom und ihres Oberhirten beruht.

366 5. Wie könnte man nicht daran erinnern, daß das Petrusamt, das sichtbare Prinzip der Einheit, für die anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften eine Schwierigkeit darstellt (vgl. Enzyklika Ut unum sint UUS 88). Wie könnte man überdies nicht auf jene historische Zeit des ersten Jahrtausends zurückblicken, als der Primat des Bischofs von Rom ausgeübt wurde, ohne – weder in der Kirche des Westens noch in der des Ostens – auf Widerstand zu stoßen? Gemeinsam mit euch möchte ich heute in besonderer Weise den Herren bitten, daß das neue Jahrtausend, in das wir eingetreten sind, bald die Überwindung dieser Situation und die Wiedererlangung der vollen Gemeinschaft erleben möge. Der Heilige Geist schenke allen Gläubigen das Licht und die Kraft, um diesen brennenden Wunsch des Herrn zu verwirklichen. An euch richte ich die Bitte, mich zu unterstützen und bei dieser anspruchsvollen Sendung auf jede mögliche Art mitzuwirken.

Verehrte Brüder Kardinäle, der Ring, den ich den neuen Mitgliedern des Kardinalskollegiums in Kürze als besonderes Zeichen überreichen werde, hebt das besondere Band hervor, das euch mit dem Apostolischen Stuhl verbindet. Auf dem »weiten Ozean«, der sich vor dem Schiff der Kirche eröffnet, zähle ich auf euch, um ihr den Weg der Wahrheit und Liebe zu weisen, damit sie – den Stürmen der Welt trotzend – zu einem immer wirksameren Zeichen und Werkzeug für die Einheit der Menschheit werde (vgl. Lumen gentium LG 1).

6. »Denn so spricht Gott, der Herr: Jetzt will ich meine Schafe selber suchen und mich selber um sie kümmern« (Ez 34,11).

Am Fest der »Kathedra Petri« hören wir in der Liturgie erneut die Weissagung des Propheten Ezechiel, in der sich Gott als der Hirte seines Volkes zu erkennen gibt. Die Kathedra ist in der Tat untrennbar verbunden mit dem Hirtenstab, weil Christus, der Meister und Herr, zu uns als der gute Hirt gekommen ist (vgl. Jn 10,1 –18). So lernte ihn Simon, der Fischer aus Kafarnaum, kennen: Er verspürte seine milde und barmherzige Liebe und wurde von ihr erfaßt. Seine Berufung und Sendung als Apostel, die zusammengefaßt sind im neuen Namen Petrus, den er vo Meister erhalten hat, sind vollkommen auf seiner Beziehung zu Ihm begründet – von der ersten Begegnung an, zu der ihn sein Bruder Andreas führte (Jn 1,40 –42), bis hin zur letzten, am Ufer des Sees, als der Auferstandene ihm den Auftrag gab, seine Herde zu weiden (vgl. Jn 21,15 – 19). Und dazwischen geht Simon einen langen Weg der Nachfolge, auf dem der göttliche Meister ihn zu einer tiefen Bekehrung führt, die im Augenblick der Passion dramatische Stunden erfährt, um dann schließlich in die lichtreiche Freude des Ostergeschehens zu münden.

Nachdem er diese verwandelnde Erfahrung des guten Hirten gemacht hat, bezeichnet sich Petrus in seinen Schreiben an die Kirchengemeinden Kleinasiens als »Zeuge der Leiden Christi«, der »an der Herrlichkeit teilhaben soll, die sich offenbaren wird« (1P 5,1). Er ermahnt die »Ältesten«, die Herde Gottes zu weiden und ihr ein Vorbild zu sein (vgl. 1P 5,2 –3). Diese Aufforderung ergeht heute in besonderer Weise an euch, meine Lieben, die der gute Hirt in herausragendster Form in den Dienst des Nachfolgers Petri gestellt hat. Bleibt dieser eurer Sendung treu, und seid bereit, euer Leben für das Evangelium zu geben. Dies verlangt der Herr, und dies erwartet das christliche Volk von euch, das sich heute voller Freude und Zuneigung um euch schart.

7. »Ich aber habe für dich gebetet, daß dein Glaube nicht erlischt« (Lc 22,32). Dies sprach der Herr während des Letzten Abendmahles zu Simon Petrus. Diese Worte Jesu, die für Petrus und dessen Nachfolger von grundlegender Bedeutung sind, verbreiten Licht und Trost auch bei all jenen, die an ihrem Dienst mitwirken. Vor einem jeden von euch, verehrte Brüder Kardinäle, wiederholt Christus heute: »Ich habe für dich gebetet«, damit dein Glaube nicht erlischt angesichts der Situationen, in denen deine Treue zu Christus, zur Kirche und zum Papst schweren Prüfungen unterzogen wird.

Ihr Lieben, dieses Gebet, das unablässig dem Herzen des guten Hirten entspringt, sei euch eine stete Kraftquelle! Habt keinen Zweifel daran, daß es – ebenso wie es bei Christus und Petrus war – auch bei euch sein wird: Euer wirkungsvollstes Zeugnis wird immer vom Kreuz gekennzeichnet sein. Das Kreuz ist die Kathedra Gottes in der Welt. Von ihm aus schenkte Christus der Menschheit die wichtigste Lehre, nämlich daß wir einander lieben, so wie Er uns geliebt hat (vgl. Jn 13,34): bis hin zur äußersten Hingabe seiner selbst.

Unter dem Kreuz steht unablässig die Mutter Christi und Mutter der Apostel, die allerseligste Maria. Ihr vertraute uns der Herr an, als er sprach: »Frau, siehe, dein Sohn!« (Jn 19,26). Die heiligste Jungfrau, die Mutter der Kirche, die in besonderer Weise Petrus und die Apostel beschützt hat, wird gewiß auch dem Nachfolger Petri und seinen Mitarbeitern ihren Schutz nicht verwehren. Diese trostreiche Gewißheit sei uns eine Ermutigung, keine Furcht zu haben vor den Prüfungen und Schwierigkeiten. Geborgen unter dem beständigen Schutz Gottes, gehorchen wir gemeinsam der Weisung Christi, der Petrus – und mit ihm die Kirche – mit Nachdruck dazu einlädt, hinauszufahren auf den See: »Duc in altum« (Lc 5,4). Ja, liebe Brüder, laßt uns auf den See hinausfahren, werfen wir die Netze zum Fang aus und »gehen wir voll Hoffnung voran!« (Novo millennio ineunte NM 58).

Christus, der Sohn des lebendigen Gottes, ist derselbe gestern, heute und in Ewigkeit. Amen!



GOTTESDIENST AM ASCHERMITTWOCH

IN DER BASILIKA SANTA SABINA

Mittwoch, 28. Februar 2001



1. »Laßt euch mit Gott versöhnen …Jetzt ist sie da, die Zeit der Gnade« (2Co 5,20 2Co 6,2).

367 Zu Beginn der Fastenzeit erklingt in der Liturgie diese Einladung an uns, die dazu ermutigt, sich des Geschenkes des Heils bewußt zu werden, das jedem Menschen in Christus angeboten wird.

Als der Apostel Paulus von der »Zeit der Gnade« spricht, bezieht er sich auf die »Fülle der Zeit (vgl.
Ga 4,4), die Zeit also, in der Gott durch Jesus sein Volk »erhört hat« und ihm »zu Hilfe gekommen ist«, indem er die Verheißungen der Propheten gänzlich Wirklichkeit werden läßt (vgl. Is 49,8). In Christus erfüllt sich die Zeit der Barmherzigkeit und Verzeihung, die Zeit der Freude und des Heils.

Vom historischen Standpunkt aus betrachtet ist die »Zeit der Gnade« jene Zeit, in der die Kirche den Menschen aller Rassen und Kulturen das Evangelium verkündet, damit sie umkehren und offen werden für das Geschenk der Erlösung. Das Leben wird also im Innersten verwandelt.

2. »Jetzt ist sie da, die Zeit der Gnade

Die heute beginnende Fastenzeit ist im Verlauf des Kirchenjahres gewiß eine »Zeit der Gnade«, um mit größerer Bereitschaft die Gnade Gottes aufzunehmen. Eben deswegen wird sie als »sakramentales Zeichen unserer Umkehr« (vgl. Tagesgebet am Am 1 bezeichnet: Zeichen und wirksames Mittel jener radikalen Änderung des Lebens, die in den Gläubigen stets von neuem vorgenommen werden soll. Die Quelle dieses außergewöhnlichen göttlichen Geschenkes ist das Ostermysterium, das Mysterium des Todes und der Auferstehung Christi, dem die Erlösung für jeden Menschen, für die Geschichte und das ganze Universum entspringt.

An dieses Mysterium des Leidens und der Liebe erinnert in gewisser Weise der traditionelle Ritus der Austeilung der Asche, der von den ihn begleitenden Worten erhellt wird: »Kehrt um, und glaubt an das Evangelium« (Mc 1,15). Auf dieses Geheimnis bezieht sich auch das Fasten, das wir heute einhalten, um den Weg einer echten Umkehr zu beginnen, bei der die Einheit mit dem Leiden Christi es uns ermöglicht, den Kampf gegen den Geist des Bösen aufzunehmen und zu einem siegreichen Ende zu führen« (vgl. Tagesgebet vom Aschermittwoch ).

3. »Jetzt ist sie da, die Zeit der Gnade

Mit dieser Gewißheit nehmen wir den Weg der Fastenzeit auf, indem wir uns nochmals auf das Große Jubiläum zurückbesinnen, das für die ganze Kirche eine außerordentliche Zeit der Buße und Wiederversöhnung bedeutete. Es war ein Jahr intensiven spirituellen Seeleneifers, in dem die göttliche Barmherzigkeit überreich auf die Welt herabgekommen ist. Ich habe in meinem Apostolischen Schreiben Novo millennio ineunte ganz konkrete Hinweise gegeben, wie wir uns in diesem neuen Abschnitt der Kirchengeschichte auf den Weg machen sollen, damit dieser Gnadenschatz auch weiterhin das christliche Volk spirituell bereichern möge.

Von diesen Hinweisen möchte ich hier einige in Erinnerung rufen, die gut zu den besonderen Wesensmerkmalen der Fastenzeit passen. An erster Stelle die Betrachtung des Antlitzes des Herrn: jenes Antlitz, das wir in der Fastenzeit als »Angesicht voller Schmerzen« erblicken (vgl. 25 –27). In der Liturgie, in den »Stationsgottesdiensten« der Fastenzeit wie auch in der Andachtsform des »Kreuzweges« führt das betrachtende Gebet dazu, sich mit dem Geheimnis Desjenigen zu vereinen, der – obwohl er keine Sünde kannte – von Gott für uns zur Sünde gemacht wurde (vgl. 2Co 5,21). In der Schule der Heiligen ist jeder Getaufte dazu berufen, Jesus ganz aus der Nähe nachzufolgen, der, als er nach Jerusalem hinaufging und sein Leiden voraussah, seinen Jüngern anvertraute: »Ich muß mit einer Taufe getauft werden …« (Lc 12,50). Der Weg der Fastenzeit wird für uns somit zu einer getreuen Nachfolge des Sohnes Gottes, der sich zum gehorsamen Diener gemacht hat.

4. Der Weg, zu dem uns die Fastenzeit einlädt, verwirklicht sich vor allem im Gebet: die christlichen Gemeinden müssen in diesen Wochen zu wahren »Schulen des Gebets« werden. Ein weiteres bevorzugtes Ziel besteht darin, die Gläubigen an das Sakrament der Versöhnung heranzuführen, um »Jesus Christus als ›…mysterium pietatis‹ wieder freizulegen. In Christus zeigt uns Gott sein mitfühlendes Herz und versöhnt uns ganz mit sich« (Novo millennio ineunte NM 37). Die Erfahrung der Barmherzigkeit Gottes wird überdies in uns die tätige Nächstenliebe erwecken und die christliche Gemeinschaft dazu anspornen, »auf die Liebe zu setzen« (vgl. Novo millennio ineunte, IV). Die christliche Gemeinde wird in der Schule Christi die anspruchsvolle vorrangige Option für die Armen besser verstehen: Wenn sie diese Option lebt, »…wird die Art der Liebe Gottes, seine Fürsorge und sein Erbarmen, bezeugt« (ebd.).

5. »Wir bitten an Christi Statt: Laßt euch mit Gott versöhnen!« (2Co 5,20).

368 In der Welt von heute wächst das Verlangen nach Frieden und Verzeihung. In meiner diesjährigen Botschaft zur Fastenzeit habe ich mich zum Sprecher dieser weitverbreiteten Sehnsucht nach Vergebung und Versöhnung gemacht. Die Kirche verkündet unter Berufung auf das Wort Christi die Vergebung und die Feindesliebe. Dabei »[stiftet sie] innerhalb des geistlichen Erbes der Menschheit … bewußt eine neue Weise der Beziehungen mit anderen – ein sehr schwieriges, aber von Hoffnung erfülltes Unterfangen«. Dies ist das Geschenk, das sie auch den Menschen unserer Zeit zukommen läßt.

»Laßt euch mit Gott versöhnen!«: dieses Wort hallt mit Nachdruck in unserem Geist wider. Heute – so heißt es in der heutigen Liturgie – ist die »Zeit der Gnade« für unsere Versöhnung mit Gott. In diesem Bewußtsein haben wir das Aschenkreuz empfangen und tun unsere ersten Schritte auf dem Weg der Fastenzeit. Schreiten wir mit Großherzigkeit auf diesem Weg voran, und halten wir den Blick fest auf den gekreuzigten Herrn gerichtet. Denn das Kreuz ist das Heil der Menschheit: allein vom Kreuz ausgehend, können wir eine Zukunft der Hoffnung und des Friedens für alle errichten.



Predigten 1978-2005 361