Brief an die Familien


1994 - JAHR DER FAMILIE


BRIEF PAPST JOHANNES PAULS II. AN DIE FAMILIEN


Liebe Familien!



1 Die Feier des Jahres der Familie bietet mir die willkommene Gelegenheit, an die Tür eures Hauses zu klopfen mit dem Wunsch, euch sehr herzlich zu grüben und mich bei euch aufzuhalten. Ich tue das mit diesem Schreiben, wobei ich von den Worten der Enzyklika Redemptor hominisausgehe, die ich in den ersten Tagen meines Petrusamtes veröffentlicht habe. Ich schrieb damals: Der Mensch ist der Weg der Kirche.1

Mit dieser Formulierung wollte ich zunächst auf die vielfältigen Wege Bezug nehmen, die der Mensch entlanggeht, und zugleich wollte ich unterstreichen, wie lebhaft und grob der Wunsch der Kirche ist, ihn beim Durchlaufen dieser Wege seiner irdischen Existenz zu begleiten. Die Kirche nimmt an den Freuden und Hoffnungen, an der Trauer und an den Ängsten2 des täglichen Lebens der Menschen teil, weil sie zutiefst davon überzeugt ist, dab Christus selbst sie in alle diese Wege eingeweiht hat: Er hat den Menschen der Kirche anvertraut; Er hat ihn ihr anvertraut als »Weg« ihrer Sendung und ihres Dienstes.

Die Familie – Weg der Kirche


2 Unter diesen zahlreichen Wegen ist die Familie der erste und der wichtigste. Ein gemeinsamer Weg und doch ein eigener, einzigartiger und unwiederholbarer Weg, so wie jeder Mensch unwiederholbar ist; ein Weg, von dem kein Mensch sich lossagen kann. In der Tat kommt er normalerweise innerhalb einer Familie zur Welt, weshalb man sagen kann, dab er ihr seine Existenz als Mensch verdankt. Fehlt die Familie, so entsteht in der Person, die in die Welt eintritt, eine bedenkliche und schmerzliche Lücke, die in der Folge auf dem ganzen Leben lasten wird. Mit herzlich empfundener Fürsorge ist die Kirche denen nahe, die in solchen Situationen leben, weil sie um die grundlegende Rolle weib, die die Familie zu spielen berufen ist. Sie weib darüber hinaus, dab der Mensch normalerweise seine Familie verläbt, um seinerseits in einem neuen Familienkern die eigene Lebensberufung zu verwirklichen. Selbst wenn er sich für das Alleinbleiben entscheidet, bleibt die Familie als jene fundamentale Gemeinschaft, in der das gesamte Netz seiner sozialen Beziehungen, von den unmittelbarsten und naheliegenden bis hin zu den entferntesten, verwurzelt ist, so etwas wie sein existentieller Horizont. Sprechen wir etwa nicht von der »Menschheitsfamilie«, wenn wir auf die Gesamtheit der auf der Welt lebenden Menschen Bezug nehmen?

Die Familie hat ihren Ursprung in derselben Liebe, mit der der Schöpfer die geschaffene Welt umfängt, wie es schon »am Anfang« im Buch Genesis (
Gn 1,1) ausgesprochen wurde. Eine letzte Bestätigung dafür bietet uns Jesus im Evangelium: » . . . Gott hat die Welt so sehr geliebt, dab er seinen einzigen Sohn hingab« (Jn 3,16). Der mit dem Vater wesensgleiche einzige Sohn, »Gott von Gott und Licht vom Licht«, ist durch die Familie in die Geschichte der Menschen eingetreten: »Durch die Menschwerdung hat sich der Sohn Gottes gewissermaben mit jedem Menschen vereinigt. Mit Menschenhänden hat er gearbeitet, . . . mit einem menschlichen Herzen geliebt. Geboren aus Maria, der Jungfrau, ist er in Wahrheit einer aus uns geworden, in allem uns gleich auber der Sünde.«3 Wenn daher Christus »dem Menschen den Menschen selbst voll kundmacht«,4 tut er das, angefangen von der Familie, in die er hineingeboren werden und in der er aufwachsen wollte. Wie man weib, hat der Erlöser einen groben Teil seines Lebens in der Zurückgezogenheit von Nazaret verbracht, als »Menschensohn« seiner Mutter Maria und Josef, dem Zimmermann, »gehorsam« (Lc 2,51). Ist nicht dieser kindliche »Gehorsam« bereits der erste Ausdruck jenes Gehorsams gegenüber dem Vater »bis zum Tod« (Ph 2,8), durch den er die Welt erlöst hat?

Das göttliche Geheimnis der Fleischwerdung des Wortes steht also in enger Beziehung zur menschlichen Familie. Nicht nur zu einer Familie, jener von Nazaret, sondern in gewisser Weise zu jeder Familie, entsprechend der Aussage des Zweiten Vatikanischen Konzils über den Sohn Gottes, der »sich in seiner Menschwerdung gewissermaben mit jedem Menschen vereinigt (hat)«.5 In der Nachfolge Christi, der in die Welt »gekommen« ist, »um zu dienen« (Mt 20,28), sieht die Kirche den Dienst an der Familie als eine ihrer wesentlichen Aufgaben an. In diesem Sinne stellen sowohl der Mensch wie die Familie »den Weg der Kirche« dar.

Das Jahr der Familie


3 Aus eben diesen Gründen begrübt die Kirche mit Freude die von der Organisation der Vereinten Nationen geförderte Initiative, 1994 zum Internationalen Jahr der Familie zu erklären. Diese Initiative macht offenkundig, wie grundlegend für die Staaten, die UNO- Mitglieder sind, die Familienfrage ist. Wenn die Kirche daran teilzunehmen wünscht, so tut sie es, weil sie selbst von Christus zu »allen Völkern« (Mt 28,19) gesandt worden ist. Es ist im übrigen nicht das erste Mal, dab sich die Kirche eine internationale Initiative der UNO zu eigen macht. Es sei z. B. nur an das Internationale Jahr der Jugend 1985 erinnert. Auch auf diese Weise macht sie sich in der Welt präsent, indem sie die Papst Johannes' XXIII. so teure Absicht und Anregung der Konzilskonstitution Gaudium et spes verwirklicht.

Am Fest der Heiligen Familie 1993 hat in der gesamten Kirche das »Jahr der Familie« begonnen als eine der bedeutsamen Etappen auf dem Vorbereitungsweg zum Groben Jubeljahr 2000, das das Ende des zweiten und den Beginn des dritten Jahrtausends seit der Geburt Jesu Christi bezeichnen wird. Dieses Jahr soll unsere Gedanken und Herzen auf Nazaret hinlenken, wo es am vergangenen 26. Dezember mit einer festlichen Eucharistiefeier unter Leitung des päpstlichen Gesandten offiziell eröffnet wurde.

Während dieses ganzen Jahres ist es wichtig, die Zeugnisse der Liebe und der Sorge der Kirche für die Familie wiederzuentdecken: Liebe und Sorge, die seit den Anfängen des Christentums, als die Familie bezeichnenderweise als »Hauskirche« angesehen wurde, zum Ausdruck gebracht wurden. In unseren Tagen kommen wir häufig auf den Ausdruck »Hauskirche« zurück, den sich das Konzil zu eigen macht6 und dessen Inhalt, so wünschen wir, immer lebendig und aktuell bleiben möge. Dieser Wunsch wird angesichts des Wissens um die veränderten Lebensbedingungen der Familien in der heutigen Welt nicht geringer. Eben deshalb ist der Titel, den das Konzil in der Pastoralkonstitution Gaudium et spes gewählt hat, um die Aufgaben der Kirche in der Gegenwart aufzuzeigen, bedeutsamer denn je: »Förderung der Würde der Ehe und der Familie.«7 Ein weiterer wichtiger Bezugspunkt nach dem Konzil ist das Apostolische Schreiben Familiaris consortio aus dem Jahr 1981. Jener Text stellt sich einer umfangreichen und komplexen Erfahrung in bezug auf die Familie, die immer und überall bei den verschiedenen Völkern und Ländern »der Weg der Kirche« bleibt. In gewisser Hinsicht wird sie es gerade dort noch mehr, wo die Familie innere Krisen erleidet oder schädlichen kulturellen, sozialen und ökonomischen Einflüssen ausgesetzt ist, die ihre innere Festigkeit untergraben, wenn sie nicht sogar ihre Bildung selbst behindern.

Das Gebet


4 Mit dem vorliegenden Schreiben möchte ich mich nicht an die Familie »im abstrakten Sinn« wenden, sondern an jede konkrete Familie jeder Region der Erde, auf welchen geographischen Längen oder Breiten sie sich auch befinde und wie komplex und verschiedenartig ihre Kultur und ihre Geschichte auch sein mag. Die Liebe, mit der Christus »die Welt geliebt hat« (Jn 3,16), die Liebe, mit der Christus jeden einzelnen und alle »bis zur Vollendung geliebt hat« (Jn 13,1), ermöglicht es, diese Botschaft an jede Familie als Lebens-»Zelle« der groben, universalen Menschheits-»Familie« zu richten. Der Vater, Schöpfer des Universums, und das fleischgewordene Wort, Erlöser der Menschheit, bilden die Quelle dieser universalen Öffnung zu den Menschen als Brüder und Schwestern und halten dazu an, sie alle in das Gebet einzuschlieben, das mit den anrührenden Worten beginnt: »Vater unser.«

Das Gebet bewirkt, dab der Sohn Gottes mitten unter uns weilt: »Denn wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen« (Mt 18,20). Dieses Schreiben an die Familien möchte in erster Linie eine Bitte an Christus sein, in jeder menschlichen Familie zu bleiben; eine Einladung an Ihn, durch die kleine Familie von Eltern und Kindern in der groben Familie der Völker zu wohnen, damit tatsächlich alle mit Ihm zusammen sprechen können: »Vater unser!« Das Gebet mub zum beherrschenden Element des Jahres der Familie in der Kirche werden: das Gebet der Familie, das Gebet für die Familie, das Gebet mit der Familie.

Es ist bezeichnend, dab der Mensch gerade im Gebet und durch das Gebet auf äuberst schlichte und zugleich tiefgründige Weise seine ihm eigentümliche Subjektivität entdeckt: das menschliche »Ich« nimmt im Gebet leichter die Tiefgründigkeit seines Personseins wahr. Das gilt auch für die Familie, die nicht nur die fundamentale »Zelle« der Gesellschaft ist, sondern auch eine eigene, besondere Subjektivität besitzt. Die erste und grundlegende Bestätigung findet dies und konsolidiert sich dann, wenn die Mitglieder der Familie einander in der gemeinsamen Anrufung begegnen: »Vater unser.« Das Gebet kräftigt die geistliche Stärkung und Festigung der Familie, indem es dazu beiträgt, sie an der »Stärke« Gottes teilhaben zu lassen. Bei dem feierlichen »Brautsegen« während der Eheschliebungsfeier ruft der Zelebrant den Herrn mit den Worten an: »Giebe über sie (die Neuvermählten) die Gnade des Heiligen Geistes aus, damit sie kraft deiner Liebe, die ihre Herzen erfüllt, in ihrem ehelichen Bund einander treu bleiben.«8 Aus dieser »Ausgiebung des Geistes« erwächst die den Familien innewohnende Stärke ebenso wie die Kraft, die in der Lage ist, sie in der Liebe und in der Wahrheit zu einigen.

Die Liebe und Sorge für alle Familien


5 Möge das Jahr der Familie zu einem einstimmigen und universalen Gebet der einzelnen »Hauskirchen« und des ganzen Volkes Gottes werden! Möge dieses Gebet auch die Familien erreichen, die in Schwierigkeiten oder in Gefahr sind, die verzagt oder getrennt sind und diejenigen, die sich in Situationen befinden, welche Familiaris consortio als »irregulär« bezeichnet.9 Mögen sie alle sich von der Liebe und Sorge der Brüder und Schwestern umfangen fühlen!

Das Gebet im Jahr der Familie stellt zunächst ein ermutigendes Zeugnis von seiten der Familien dar, die in der häuslichen Gemeinsamkeit ihre menschliche und christliche Lebensberufung verwirklichen. Deren gibt es zahlreiche in jeder Nation, Diözese und Pfarrei! Auch wenn man sich die nicht wenigen »irregulären Situationen« vor Augen hält, so darf man vernünftigerweise annehmen, dab jene »die Regel« darstellen. Und die Erfahrung zeigt, wie entscheidend die Rolle einer Familie in Übereinstimmung mit den sittlichen Normen ist, damit der Mensch, der in ihr geboren wird und seine Erziehung erfährt, ohne Unsicherheiten den Weg des Guten einschlägt, das ihm ja ewig in sein Herz geschrieben ist. Auf die Zersetzung der Familien scheinen in unseren Tagen leider verschiedene Programme ausgerichtet zu sein, die von sehr einflubreichen Medien unterstützt werden. Es scheint bisweilen so zu sein, dab unter allen Umständen versucht wird, Situationen, die tatsächlich »irregulär« sind, als »regulär« und anziehend darzustellen, indem man ihnen den äuberen Anschein eines verlockenden Zaubers verleiht; sie widersprechen tatsächlich der »Wahrheit und der Liebe«, die die gegenseitige Beziehung zwischen Männern und Frauen inspirieren und leiten sollen, und sind daher Anlab für Spannungen und Trennungen in den Familien mit schwerwiegenden Folgen besonders für die Kinder. Das moralische Gewissen wird verdunkelt, was wahr, gut und schön ist, wird entstellt, und die Freiheit wird in Wirklichkeit von einer regelrechten Knechtschaft verdrängt. Wie aktuell und anregend klingen angesichts all dessen die Worte des Paulus in bezug auf die Freiheit, mit der Christus uns befreit hat, und die von der Sünde verursachte Knechtschaft (vgl. Gal
Ga 5,1)!

Man ist sich also bewubt, wie angemessen, ja notwendig in der Kirche ein Jahr der Familie ist; wie unerläblich das Zeugnis aller Familien ist, die tagtäglich ihre Berufung leben; wie dringend ein intensives Gebet der Familien ist, das wächst und die ganze Erde umspannt und in dem die Danksagung für die Liebe in der Wahrheit, für die »Ausgiebung der Gnade des Heiligen Geistes«,10 für die Anwesenheit Christi unter Eltern und Kindern zum Ausdruck kommt: Christi, des Erlösers und Bräutigams, der uns »bis zur Vollendung geliebt hat« (vgl. Joh Jn 13,1). Wir sind zutiefst davon überzeugt, dab diese Liebe gröber als alles ist (vgl. 1Co 13,13), und wir glauben, dab sie imstande ist, siegreich all das zu überwinden, was nicht Liebe ist.

Möge dieses Jahr unablässig das Gebet der Kirche, das Gebet der Familien, der »Hauskirchen«, emporsteigen! Und möge es sich zuerst bei Gott und dann auch bei den Menschen vernehmen lassen, damit sie nicht in Zweifel verfallen und alle, die aus menschlicher Schwachheit wankend werden, nicht den Versuchungen der Faszination von nur scheinbar Gutem erliegen, wie sie sich in jeder Versuchung darbieten.

Zu Kana in Galiläa, wo Jesus zu einer Hochzeitsfeier eingeladen war, wandte sich die Mutter, die ebenso zugegen war, an die Diener und sagte: »Was er euch sagt, das tut« (Jn 2,5). Auch an uns, die wir in das Jahr der Familie eingetreten sind, richtet Maria eben diese Worte. Und was Christus in diesem besonderen geschichtlichen Augenblick sagt, stellt einen starken Aufruf zu einem groben Gebet mit den Familien und für die Familien dar. Die jungfräuliche Mutter lädt uns ein, uns mit diesem Gebet den Empfindungen des Sohnes zu verbinden, der eine jede Familie liebt. Diese Liebe hat er zu Beginn seiner Erlösungssendung eben mit seiner heilbringenden Anwesenheit in Kana in Galiläa zum Ausdruck gebracht, eine Anwesenheit, die bis heute andauert.

Bitten wir für die Familien in aller Welt. Bitten wir durch ihn, mit ihm und in ihm den Vater, »nach dessen Namen jedes Geschlecht im Himmel und auf der Erde benannt wird« (Ep 3,15).

I.

DIE ZIVILISATION DER LIEBE

»Als Mann und Frau schuf er sie«


6 Der unendliche und so vielfältige Kosmos, die Welt aller Lebewesen, ist in die Vaterschaft Gottes als sein Quell eingeschrieben (vgl. ). Er ist ihr natürlich eingeschrieben nach dem Kriterium der Analogie, aufgrund dessen es uns möglich ist, schon am Beginn des BuchesGenesis die Wirklichkeit der Vaterschaft und Mutterschaft und daher auch der menschlichen Familie zu erkennen. Der interpretative Schlüssel dazu liegt im Prinzip des »Abbildes« und der »Ähnlichkeit« Gottes, die der biblische Text nachdrücklich betont (vgl. Gen Gn 1,26). Gott erschafft kraft seines Wortes: »Es werde!« (z.B. Gen Gn 1,3). Es ist bedeutsam, dab dieses Wort Gottes bei der Erschaffung des Menschen durch diese weiteren Worte ergänzt wird: »Labt uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich« (Gn 1,26). Der Schöpfer geht, bevor er den Menschen schafft, gleichsam in sich selbst, um darin das Vorbild und die Inspiration im Geheimnis seines Wesens zu suchen, das sich in gewisser Hinsicht schon hier als das göttliche »Wir« offenbart. Aus diesem Geheimnis geht auf schöpferische Weise der Mensch hervor: »Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie« (Gn 1,27).

Gott segnet die neuen Wesen und spricht zu ihnen: »Seid fruchtbar und vermehrt euch, bevölkert die Erde; unterwerft sie euch« (Gn 1,28). Das Buch Genesis gebraucht dieselben Formulierungen, die im Zusammenhang der Erschaffung der anderen Lebewesen verwendet wurden: »Vermehrt euch«, aber ihr analoger Sinn ist klar. Mub nicht diese Analogie von Zeugung und Elternschaft im Licht des Gesamtzusammenhanges gelesen werden? Keines der Lebewesen auber dem Menschen wurde »als Abbild Gottes und ihm ähnlich« geschaffen. Die menschliche Elternschaft hat, obwohl sie jener anderer Lebewesen in der Natur biologisch ähnlich ist, an sich wesenhaft und ausschlieblich eine »Ähnlichkeit« mit Gott, auf die sich die Familie gründet, die als menschliche Lebensgemeinschaft, als Gemeinschaft von Personen, die in der Liebe vereint sind (communio personarum), verstanden wird.

Im Licht des Neuen Testamentes ist es möglich, das Urmodell der Familie in Gott selbst, im trinitarischen Geheimnis seines Lebens, wiederzuerkennen. Das göttliche »Wir« bildet das ewige Vorbild des menschlichen »Wir«; vor allem jenes »Wir«, das von dem nach dem Abbild und der Ähnlichkeit Gottes geschaffenen Mann und der Frau gebildet ist. Die Worte des Buches Genesisenthalten jene Wahrheit über den Menschen, der die Erfahrung der Menschheit selbst entspricht. Der Mensch wurde »am Anfang« als Mann und Frau geschaffen: Das Leben der menschlichen Gemeinschaft – der kleinen Gemeinschaften wie der ganzen Gesellschaft – trägt das Zeichen dieser Ur-Dualität. Aus ihr gehen die »Männlichkeit« und die »Weiblichkeit« der einzelnen Individuen hervor, so wie aus ihr jede Gemeinschaft ihren je eigentümlichen Reichtum in der gegenseitigen Ergänzung der Personen schöpft. Darauf scheint sich die Stelle aus dem BuchGenesis zu beziehen: »Als Mann und Frau schuf er sie« (Gn 1,27). Das ist auch die erste Aussage über die gleiche Würde von Mann und Frau: Beide sind in gleicher Weise Personen. Diese ihre Begründung mit der besonderen Würde, die sich daraus ergibt, bestimmt schon »am Anfang« die Wesensmerkmale des gemeinsamen Gutes der Menschheit in jeder Dimension und jedem Bereich des Lebens. Zu diesem gemeinsamen Gut leisten beide, der Mann und die Frau, ihren je eigenen Beitrag, dank dessen sich an den Wurzeln des menschlichen Zusammenlebens selbst der Charakter von Gemeinsamkeit und Ergänzung findet.

Der eheliche Bund


7 Die Familie wurde stets als erster und grundlegender Ausdruck der sozialen Natur des Menschen angesehen. In ihrem wesentlichen Kern hat sich diese Sicht auch heute nicht geändert. In unseren Tagen jedoch zieht man es vor, in der Familie, die die kleinste anfängliche menschliche Gemeinschaft darstellt, alles hervorzuheben, was persönlicher Beitrag des Mannes und der Frau ist. Die Familie ist tatsächlich eine Gemeinschaft von Personen, für welche die spezifische Existenzform und Art des Zusammenlebens die Gemeinsamkeit ist: communio personarum.Auch hier tritt bei Wahrung der absoluten Transzendenz des Schöpfers der Schöpfung gegenüber der exemplarische Bezug zum göttlichen »Wir« hervor. Nur Personen sind imstande, »in Gemeinsamkeit« zu leben. Ihren Ausgang nimmt die Familie von der ehelichen Verbindung, die das Zweite Vatikanische Konzil als »Bund« bezeichnet, in dem sich Mann und Frau »gegenseitig schenken und annehmen«.11

Das Buch Genesis macht uns offen für diese Wahrheit, wenn es unter Bezugnahme auf die Gründung der Familie durch die Ehe sagt, »der Mann verläbt Vater und Mutter und bindet sich an seine Frau, und sie werden ein Fleisch« (
Gn 2,24). Im Evangelium wiederholt Christus im Streitgespräch mit den Pharisäern dieselben Worte und fügt hinzu: »Sie sind also nicht mehr zwei, sondern eins. Was aber Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen« (Mt 19,6). Er offenbart von neuem den normativen Inhalt einer Tatsache, die bereits »am Anfang« (Mt 19,8) bestand und die diesen Inhalt immer in sich bewahrt. Wenn der Meister das »jetzt« bestätigt, so tut er das, um an der Schwelle des Neuen Bundes den unauflöslichen Charakter der Ehe als Fundament des Gemeinwohls der Familie unmibverständlich klarzumachen.

Wenn wir zusammen mit dem Apostel die Knie vor dem Vater beugen, nach dessen Namen jede Elternschaft benannt ist (vgl. ), erkennen wir, dab das Elternsein das Ereignis ist, durch das die bereits mit dem Ehebund gebildete Familie sich »im vollen und eigentlichen Sinn« verwirklicht.12 Die Mutterschaft schliebt notwendig die Vaterschaft, und umgekehrt, die Vaterschaft notwendig die Mutterschaft ein: Sie ist Frucht der Dualität, die dem Menschen vom Schöpfer »am Anfang« geschenkt wurde.

Ich habe auf zwei miteinander verwandte, aber nicht identische Begriffe Bezug genommen: den Begriff communio (Gemeinsamkeit) und den Begriff communitas (Gemeinschaft). Die »Gemeinsamkeit« betrifft die persönliche Beziehung zwischen dem »Ich« und dem »Du«. Die »Gemeinschaft« dagegen übersteigt dieses Schema in Richtung einer »Gesellschaft«, eines »Wir«. Die Familie als Gemeinschaft von Personen ist daher die erste menschliche »Gesellschaft«. Sie entsteht, wenn der bei der Trauung geschlossene eheliche Bund sich verwirklicht, der die Eheleute für eine dauernde Liebes- und Lebensgemeinschaft öffnet und sich im vollen und eigentlichen Sinn mit der Zeugung von Kindern vervollständigt: Mit der »Gemeinsamkeit« der Eheleute beginnt diese grundlegende »Gemeinschaft« der Familie. Die »Familiengemeinschaft« ist zutiefst von dem durchdrungen, was das eigentliche Wesen der »Gemeinsamkeit« ausmacht. Kann es auf menschlicher Ebene eine andere »Gemeinsamkeit« geben, welche jener vergleichbar wäre, die zwischen der Mutter und dem Kind entsteht, das sie zuerst im Schob getragen und dann zur Welt gebracht hat?

In der so begründeten Familie offenbart sich eine neue Einheit, in der die Beziehung der »Gemeinsamkeit« der Eltern volle Erfüllung findet. Die Erfahrung lehrt, dab diese Erfüllung auch eine Aufgabe und eine Herausforderung darstellt. Die Aufgabe verpflichtet die Ehegatten in der Verwirklichung ihres anfänglichen Bundes. Die von ihnen gezeugten Kinder mübten – und darin besteht die Herausforderung – diesen Bund dadurch festigen, dab sie die eheliche Gemeinsamkeit von Vater und Mutter bereichern und vertiefen. Ist das nicht der Fall, so mub man sich fragen, ob nicht der Egoismus, der sich wegen der menschlichen Neigung zum Bösen auch in der Liebe des Mannes und der Frau verbirgt, stärker ist als diese Liebe. Die Ehegatten müssen sich dessen sehr klar bewubt sein. Sie müssen von Anfang an ihre Herzen und Gedanken jenem Gott zuwenden, »nach dessen Namen jedes Geschlecht benannt wird«, damit ihre Elternschaft jedes Mal aus dieser Quelle die Kraft zur unablässigen Erneuerung der Liebe schöpfe.

Vaterschaft und Mutterschaft stellen an sich eine besondere Bestätigung der Liebe dar, deren ursprüngliche Weite und Tiefe zu entdecken sie ermöglichen. Das geschieht jedoch nicht automatisch. Es ist vielmehr eine Aufgabe, die beiden übertragen ist: dem Ehemann und der Ehefrau. In ihrem Leben stellen Vaterschaft und Mutterschaft eine »Neuheit« und eine Fülle dar, die so erhaben sind, dab man sie nur »auf den Knien« empfangen kann.

Die Erfahrung lehrt, dab die menschliche Liebe wegen ihrer auf die Elternschaft hingeordneten Natur bisweilen eine tiefe Krise durchmacht und daher ernsthaft bedroht ist. Man wird in solchen Fällen in Erwägung ziehen, sich an die Dienste zu wenden, die von Ehe- und Familienberatern angeboten werden, durch die es möglich ist, sich unter anderem von besonders ausgebildeten Psychologen und Psychotherapeuten Hilfe geben zu lassen. Man darf jedoch nicht vergessen, dab die Worte des Apostels immer gültig bleiben: »Ich beuge meine Knie vor dem Vater, nach dessen Namen jedes Geschlecht im Himmel und auf der Erde benannt wird.« Die Ehe, das Ehesakrament, ist ein in Liebe geschlossener Bund von Personen. Und die Liebe kann nur von der Liebe vertieft und geschützt werden, jener Liebe, die »ausgegossen ist in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist« (Rm 5,5). Sollte sich das Gebet des Jahres der Familie nicht auf den entscheidenden Punkt konzentrieren, den der Übergang von der ehelichen Liebe zur Zeugung und somit zur Elternschaft darstellt? Wird nicht gerade da die »Ausgiebung der Gnade des Heiligen Geistes«, die die Liturgie während der Trauungsfeier erbittet, unentbehrlich?

Der Apostel bittet den Vater, während er seine Knie vor ihm beugt, »er möge euch . . . schenken, dab ihr in eurem Innern durch seinen Geist an Kraft und Stärke zunehmt« (Ep 3,16). Diese »Kraft im Innern des Menschen« wird im gesamten Familienleben benötigt, besonders in seinen kritischen Augenblicken, wenn also die Liebe, die in dem liturgischen Ritus des Ehekonsenses mit den Worten ausgedrückt wurde: »Ich verspreche, dir immer, . . . alle Tage meines Lebens treu zu bleiben«, einer schweren Prüfung ausgesetzt ist.

Die Einheit der beiden


8 Nur die »Personen« sind imstande, diese Worte auszusprechen; nur sie sind fähig, auf der Grundlage der gegenseitigen Wahl, die ganz bewubt und frei ist bzw. sein sollte, »in Gemeinsamkeit« zu leben. Das Buch Genesis stellt dort, wo es auf den Mann Bezug nimmt, der Vater und Mutter verläbt, um sich an seine Frau zu binden (vgl. Gen Gn 2,24), die bewubte und freie Wahl heraus, die der Ehe ihren Anfang verleiht und einen Sohn zum Ehemann und eine Tochter zur Ehefrau werden läbt. Wie soll man diese gegenseitige Wahl richtig verstehen, wenn man nicht die volle Wahrheit über die Person und das vernünftige und freie Wesen vor Augen hat? Das Zweite Vatikanische Konzil spricht hier unter Verwendung wie nie zuvor bedeutungsvoller Worte von der Ähnlichkeit mit Gott. Es bezieht sich dabei nicht nur auf das göttliche Ebenbild, das bereits jedes menschliche Wesen an und für sich besitzt, sondern auch und in erster Linie auf »eine gewisse Ähnlichkeit zwischen der Einheit der göttlichen Personen und der Einheit der Kinder Gottes in der Wahrheit und der Liebe«.13

Diese besonders reichhaltige und prägnante Formulierung stellt vor allem heraus, was für die tiefste Identität jedes Mannes und jeder Frau entscheidend ist. Diese Identität besteht in der Fähigkeit, in der Wahrheit und in der Liebe zu leben; ja, noch mehr, sie besteht in dem Verlangen nach Wahrheit und Liebe als bestimmende Dimension des Lebens der Person. Dieses Verlangen nach Wahrheit und Liebe macht den Menschen sowohl offen für Gott wie für die Geschöpfe: Es macht ihn offen für die anderen Menschen, für das Leben »in Gemeinschaft«, vor allem für die Ehe und die Familie. In den Worten des Konzils ist die »Gemeinschaft« der Personen in gewissem Sinne aus dem Geheimnis des trinitarischen »Wir« abgeleitet, und auch die »eheliche Gemeinschaft« wird auf dieses Geheimnis bezogen. Die Familie, die aus der Liebe des Mannes und der Frau entsteht, erwächst in grundlegender Weise aus dem Mysterium Gottes. Das entspricht dem tiefsten Wesen des Mannes und der Frau, es entspricht ihrer Natur und ihrer Würde als Personen.

Mann und Frau vereinen sich in der Ehe so innig miteinander, dab sie – nach den Worten derGenesis – »ein Fleisch« werden (Gn 2,24). Die zwei Menschenwesen, die auf Grund ihrer physischen Verfassung männlich und weiblich sind, haben trotz körperlicher Verschiedenheit in gleicher Weise teil an der Fähigkeit, »in der Wahrheit und der Liebe« zu leben. Diese Fähigkeit, die für das menschliche Wesen, insofern es Person ist, charakteristisch ist, hat zugleich eine geistige und körperliche Dimension. Denn durch den Leib sind der Mann und die Frau darauf vorbereitet, in der Ehe eine »Gemeinschaft von Personen« zu bilden. Wenn sie sich kraft des ehelichen Bundes so vereinen, dab sie »ein Fleisch« werden (Gn 2,24), mub sich ihre Vereinigung »in der Wahrheit und der Liebe« erfüllen und auf diese Weise die eigentliche Reife der nach dem Abbild und Gleichnis Gottes erschaffenen Personen an den Tag legen.

Die aus dieser Vereinigung hervorgegangene Familie gewinnt ihre innere Festigkeit aus dem Bund zwischen den Ehegatten, den Christus zum Sakrament erhoben hat. Sie empfängt ihren Gemeinschaftscharakter, ja ihre Wesensmerkmale als »Gemeinschaft« aus jener grundlegenden Gemeinsamkeit der Ehegatten, die sich in den Kindern fortsetzt. »Seid ihr bereit, in Verantwortung und Liebe die Kinder, die Gott euch schenken will, anzunehmen und zu erziehen . . . ?«, fragt der Zelebrant während des Trauungsritus.14 Die Antwort der Brautleute entspricht der tiefsten Wahrheit der Liebe, die sie verbindet. Auch wenn ihre Einheit sie untereinander verschliebt, öffnet sie sich doch auf ein neues Leben, auf eine neue Person hin. Als Eltern werden sie fähig sein, einem Wesen, das ihnen ähnlich ist, das Leben zu schenken, nicht nur »Fleisch von ihrem Fleisch und Bein von ihrem Gebein« (vgl. Gen Gn 2,23), sondern Abbild und Gleichnis Gottes, das heibt Person.

Mit der Frage: »Seid ihr bereit?« erinnert die Kirche die Neuvermählten daran, dab sie sich im Angesicht der Schöpfermacht Gottes befinden. Sie sind berufen, Eltern zu werden, das heibt, mit dem Schöpfer mitzuwirken bei der Weitergabe des Lebens. Mit Gott zusammenarbeiten, um neue Menschen ins Leben zu rufen, heibt mitwirken an der Übertragung jenes göttlichen Abbildes, das jedes »von einer Frau geborene« Wesen in sich trägt.

Die Genealogie der Person


9 Durch die Gemeinschaft von Personen, die sich in der Ehe verwirklicht, gründen der Mann und die Frau die Familie. Mit der Familie verbindet sich die Genealogie jedes Menschen: die Genealogie der Person. Die menschliche Elternschaft hat ihre Wurzeln in der Biologie und geht zugleich über sie hinaus. Wenn der Apostel »seine Knie vor dem Vater beugt, nach dessen Namen jedes Geschlecht im Himmel und auf der Erde benannt wird«, stellt er uns in gewissem Sinne die gesamte Welt der Lebewesen vor Augen, von den Geistwesen im Himmel bis zu den leiblichen Geschöpfen auf der Erde. Jede Zeugung findet ihr Ur-Modell in der Vaterschaft Gottes. Doch im Fall des Menschen genügt diese »kosmische« Dimension der Gottähnlichkeit nicht, um die Beziehung von Vaterschaft und Mutterschaft angemessen zu definieren. Wenn aus der ehelichen Vereinigung der beiden ein neuer Mensch entsteht, so bringt er ein besonderes Abbild Gottes, eine besondere Ähnlichkeit mit Gott selbst in die Welt: In die Biologie der Zeugung ist die Genealogie der Person eingeschrieben.

Wenn wir sagen, die Ehegatten seien als Eltern bei der Empfängnis und Zeugung eines neuen Menschen Mitarbeiter des Schöpfergottes,15 beziehen wir uns nicht einfach auf die Gesetze der Biologie; wir wollen vielmehr hervorheben, dab in der menschlichen Elternschaft Gott selbst in einer anderen Weise gegenwärtig ist als bei jeder anderen Zeugung »auf Erden«. Denn nur von Gott kann jenes »Abbild und jene Ähnlichkeit« stammen, die dem Menschen wesenseigen ist, wie es bei der Schöpfung geschehen ist. Die Zeugung ist die Fortführung der Schöpfung.16

So stehen also die Eltern sowohl bei der Empfängnis wie bei der Geburt eines neuen Menschen vor einem »tiefen Geheimnis« (
Ep 5,32). Nicht anders als die Eltern ist auch der neue Mensch zur Existenz als Person, zum Leben »in der Wahrheit und der Liebe«, berufen. Diese Berufung öffnet sich nicht nur dem Zeitlichen, sondern in Gott öffnet sie sich der Ewigkeit. Das ist die Dimension der Genealogie der Person, die Christus uns endgültig enthüllt hat, als er das Licht seines Evangeliums auf das menschliche Leben und Sterben und damit auf die Bedeutung der menschlichen Familie ausgob.

Wie das Konzil feststellt, ist der Mensch »auf Erden die einzige von Gott um ihrer selbst willen gewollte Kreatur«.17 Die Entstehung des Menschen folgt nicht nur den Gesetzen der Biologie, sondern unmittelbar dem Schöpferwillen Gottes: Es ist der Wille, der die Genealogie der Söhne und Töchter der menschlichen Familien angeht. Gott hat den Menschen schon am Anfang »gewollt« – und Gott »will« ihn bei jeder menschlichen Empfängnis und Geburt. Gott »will« den Menschen als ein Ihm selbst ähnliches Wesen, als Person. Dieser Mensch, jeder Mensch wird von Gott »um seiner selbst willen« geschaffen. Das gilt für alle, auch jene, die mit Krankheiten oder Gebrechen zur Welt kommen. In die persönliche Verfassung eines jeden ist der Wille Gottes eingeschrieben, der den Menschen in gewissem Sinne selbst als Ziel will. Gott übergibt den Menschen sich selbst, während er ihn zugleich der Familie und der Gesellschaft als deren Aufgabe anvertraut. Die Eltern, die vor einem neuen Menschenwesen stehen, sind sich oder sollten sich voll dessen bewubt sein, dab Gott diesen Menschen »um seiner selbst willen will«.

Diese knappe Formulierung ist sehr inhaltsreich und tiefgreifend. Vom Augenblick der Empfängnis und dann von der Geburt an ist das neue Wesen dazu bestimmt, sein Menschsein in Fülle zum Ausdruck zu bringen – sich als Person zu »finden«.18 Das betrifft absolut alle, auch die chronisch Kranken und geistig Behinderten. »Mensch sein« ist seine fundamentale Berufung: »Mensch sein« nach Mabgabe der empfangenen Gaben. Nach Mabgabe jener »Begabung«, die das Menschsein an sich darstellt, und erst dann nach Mabgabe der anderen Talente. In diesem Sinne will Gott jeden Menschen »um seiner selbst willen«. In dem Plan Gottes überschreitet die Berufung der menschlichen Person jedoch die zeitlichen Grenzen. Sie kommt dem Willen des Vaters entgegen, der im fleischgewordenen Wort geoffenbart worden ist: Gott will den Menschen dadurch beschenken, dab er ihn an seinem göttlichen Leben teilhaben läbt. Christus sagt: »Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben« (Jn 10,10).

Steht die letzte Bestimmung des Menschen nicht im Widerspruch zu der Feststellung, dab Gott den Menschen »um seiner selbst willen« will? Wenn der Mensch für das göttliche Leben geschaffen ist, existiert er dann wirklich »um seiner selbst willen«? Das ist eine Schlüsselfrage, die sowohl für das Aufblühen wie für das Verlöschen der irdischen Existenz grobe Bedeutung hat: Sie ist für den Verlauf des ganzen Lebens wichtig. Es könnte den Anschein haben, dab Gott dem Menschen dadurch, dab er ihn für das göttliche Leben bestimmt, endgültig sein Existieren »um seiner selbst willen« entzieht.19 Welche Beziehung besteht zwischen dem persönlichen Leben und der Teilhabe am trinitarischen Leben? Darauf antwortet der hl. Augustinus mit den berühmten Worten: »Unruhig ist unser Herz, bis es ruht in dir.«20 Dieses »unruhige Herz« deutet darauf hin, dab zwischen der einen und der anderen Zielsetzung kein Widerspruch besteht, vielmehr eine Verbindung, eine Zuordnung, eine tiefgreifende Einheit. Auf Grund der ihr eigenen Genealogie existiert die nach dem Bild Gottes geschaffene Person gerade durch Teilhabe an Seinem Leben »um ihrer selbst willen« und verwirklicht sich. Der Gehalt solcher Verwirklichung ist die Fülle des Lebens in Gott, jenes Lebens, von dem Christus spricht (vgl. ), der uns gerade dafür erlöst hat, um uns dort hineinzuführen (vgl. Mk Mc 10,45).

Die Ehegatten wünschen die Kinder für sich; und sie sehen in ihnen die Krönung ihrer gegenseitigen Liebe. Sie wünschen sie für die Familie als wertvollstes Geschenk.21 Es ist in gewissem Mab ein verständlicher Wunsch. Doch ist der ehelichen und der elterlichen Liebe die Wahrheit über den Menschen eingeschrieben, die in knapper und präziser Form vom Konzil ausgedrückt wurde mit der Feststellung, dab Gott »den Menschen um seiner selbst willen will«. Mit dem Willen Gottes mub der Wille der Eltern übereinstimmen: In diesem Sinne müssen sie das neue menschliche Geschöpf wollen, wie es der Schöpfer will: um seiner selbst willen. Das menschliche Wollen unterliegt immer und unweigerlich dem Gesetz der Zeit und der Vergänglichkeit. Das göttliche hingegen ist ewig. »Noch ehe ich dich im Mutterleib formte, habe ich dich ausersehen, noch ehe du aus dem Mutterschob hervorkamst, habe ich dich geheiligt«, lesen wir im Buch des Propheten Jeremia (Jr 1,5). Die Genealogie der Person ist also zunächst mit der Ewigkeit Gottes verbunden und erst danach mit der menschlichen Elternschaft, die sich in der Zeit verwirklicht. Bereits im Augenblick der Empfängnis ist der Mensch hingeordnet auf die Ewigkeit in Gott.


Brief an die Familien