Brief an die Familien 20

Die Mutter der schönen Liebe


20 Ihren Anfang nimmt die Geschichte der »schönen Liebe« mit der Verkündigung, mit jenen wunderbaren Worten, die der Engel Maria überbracht hat, die dazu berufen wird, die Mutter des Gottessohnes zu werden. Mit dem »Ja« Marias wird Der, der »Gott von Gott und Licht vom Licht« ist, zum Menschensohn; Maria ist seine Mutter, obwohl sie Jungfrau bleibt und »keinen Mann erkennt« (vgl. Lk Lc 1,34). Als Jungfrau und Mutter wird Maria Mutter der schönen Liebe. Diese Wahrheit ist bereits in den Worten des Erzengels Gabriel geoffenbart, aber ihre volle Bedeutung wird nach und nach vertieft und bestätigt werden, wenn Maria ihrem Sohn auf dem Pilgerweg des Glaubens folgt.48

Die »Mutter der schönen Liebe« wurde von dem aufgenommen, der der Tradition Israels entsprechend bereits ihr irdischer Gemahl war, Josef aus dem Stamm Davids. Er hätte das Recht gehabt, sich Gedanken zu machen über das Eheversprechen sowie über seine Frau und die Mutter seiner Kinder. In diese bräutliche Verbindung greift jedoch Gott mit seiner Initiative ein: »Josef, Sohn Davids, fürchte dich nicht, Maria als deine Frau zu dir zu nehmen; denn das Kind, das sie erwartet, ist vom Heiligen Geist« (Mt 1,20). Josef weib, ja er sieht mit eigenen Augen, dab in Maria ein neues Leben heranwächst, das nicht von ihm stammt, und als gerechter Mann, der sich an das alte Gesetz hält, das in diesem Fall ihm die Pflicht der Scheidung auferlegte, will er in liebevoller Weise die Ehe auflösen (vgl. Mt Mt 1,19). Der Engel des Herrn läbt ihn wissen, dab das nicht seiner Berufung entspräche, ja gegen die eheliche Liebe wäre, die ihn mit Maria verbindet. Diese gegenseitige eheliche Liebe verlangt, um voll und ganz die »schöne Liebe« zu sein, dab er Maria und ihren Sohn in sein Haus in Nazaret aufnimmt. Josef gehorcht der göttlichen Botschaft und handelt so, wie ihm befohlen worden ist (vgl. Mt Mt 1,24). Auch dank Josefs wird das Geheimnis der Fleischwerdung und zusammen mit ihm das Geheimnis der Heiligen Familie tief in die eheliche Liebe des Mannes und der Frau und indirekt in die Genealogie jeder menschlichen Familie eingeschrieben. Was Paulus das »tiefe Geheimnis« nennen wird, findet in der Heiligen Familie seinen höchsten Ausdruck. Auf diese Weise steht die Familie wahrhaftig im Zentrum des Neuen Bundes.

Man kann auch sagen, dab die Geschichte der »schönen Liebe« in gewissem Sinne mit dem ersten Menschenpaar, mit Adam und Eva, begonnen hat. Die Versuchung, der sie nachgaben, und die daraus folgende Ursünde, beraubt sie nicht vollständig der Fähigkeit zur »schönen Liebe«. Das ahnt man, wenn man zum Beispiel im Buch Tobit liest, dab die Neuvermählten Tobias und Sara, als sie über den Sinn ihrer Vereinigung nachdachten, sich auf die Voreltern Adam und Eva beriefen (vgl. Tob Tb 8,6). Im Neuen Bund bezeugt das auch der hl. Paulus, wenn er von Christus als neuem Adam spricht (vgl. 1Co 15,45): Christus kommt nicht, um den ersten Adam und die erste Eva zu verdammen, sondern um sie zu erlösen; er kommt, um das zu erneuern, was im Menschen Geschenk Gottes ist, was in ihm ewig, gut und schön ist und die Grundlage der schönen Liebe bildet. Die Geschichte der »schönen Liebe« ist in gewissem Sinne die Geschichte der Heilsrettung des Menschen.

Die »schöne Liebe« nimmt immer mit der Selbstoffenbarung der Person ihren Anfang. In der Schöpfung offenbart sich Eva dem Adam, wie Adam sich Eva offenbart. Im Laufe der Geschichte offenbaren sich die neuen Bräute ihren Gatten, die neuen Menschenpaare sagen sich gegenseitig: »Wir wollen miteinander durch's Leben gehen.« So beginnt die Familie als Bund der beiden und kraft des Sakramentes als neue Gemeinschaft in Christus. Damit sie wirklich schön ist, mub die Liebe Hingabe Gottes sein, ausgegossen vom Heiligen Geist in die menschlichen Herzen und in ihnen ständig genährt (vgl. Röm Rm 5,5). Die Kirche, die darum weib, bittet im Ehesakrament den Heiligen Geist, die menschlichen Herzen heimzusuchen. Damit es wirklich »schöne Liebe«, das heibt Hingabe der Person an die Person, ist, mub sie von dem kommen, der selbst Hingabe und Quelle aller Hingabe ist.

So geschieht es im Evangelium, was Maria und Josef betrifft, die an der Schwelle des Neuen Bundes die Erfahrung der im Hohenlied beschriebenen »schönen Liebe« wieder erleben. Josef denkt und sagt von Maria: »Meine Schwester Braut« (vgl. Ct 4,9). Maria, Gottesmutter, empfängt durch den Heiligen Geist, und von ihm kommt die »schöne Liebe«, die das Evangelium feinsinnigerweise in den Zusammenhang des »tiefen Geheimnisses« stellt.

Wenn wir von der »schönen Liebe« reden, reden wir damit von der Schönheit: Schönheit der Liebe und Schönheit des Menschenwesens, das kraft des Heiligen Geistes zu solcher Liebe fähig ist. Wir reden von der Schönheit des Mannes und der Frau: von ihrer Schönheit als Bruder oder Schwester, als Brautleute, als Ehegatten. Das Evangelium klärt nicht nur über das Geheimnis der »schönen Liebe« auf, sondern auch über das nicht weniger tiefe Geheimnis der Schönheit, die wie die Liebe von Gott kommt. Von Gott sind der Mann und die Frau, Personen, dazu berufen, sich gegenseitig zum Geschenk zu werden. Aus dem Urgeschenk des Geistes, »der das Leben gibt«, entspringt das gegenseitige Geschenk, Ehemann oder Ehefrau zu sein, nicht weniger als das Geschenk, Bruder oder Schwester zu sein.

Das alles findet seine Bestätigung im Geheimnis der Fleischwerdung, das in der Geschichte der Menschen zur Quelle einer neuen Schönheit geworden ist, die unzählige künstlerische Meisterwerke inspiriert hat. Nach dem strengen Verbot, den unsichtbaren Gott in Bildern darzustellen (vgl. ), hat das christliche Zeitalter dagegen für die künstlerische Darstellung des menschgewordenen Gottes, seiner Mutter Maria und Josefs, der Heiligen des Alten wie des Neuen Bundes und überhaupt der gesamten von Christus erlösten Schöpfung gesorgt und auf diese Weise einen neuen Bezug zur Welt der Kultur und der Kunst hergestellt. Man kann sagen, der neue Kunstkanon, in seiner Achtsamkeit für die Tiefendimensionen des Menschen und für seine Zukunft beginnt mit dem Geheimnis der Inkarnation Christi und läbt sich von den Geheimnissen seines Lebens inspirieren: die Geburt von Betlehem, die Verborgenheit in Nazaret, das öffentliche Wirken, Golgota, die Auferstehung und seine endgültige Rückkehr in Herrlichkeit. Die Kirche weib, dab ihre Präsenz in der modernen Welt und im besonderen, dab ihr Beitrag und die Unterstützung bei der Bewertung der Würde der Ehe und Familie eng mit der Kulturentwicklung zusammenhängt; mit Recht macht sie sich darum Sorge. Eben deshalb verfolgt die Kirche aufmerksam die Orientierungen der sozialen Kommunikationsmittel, deren Aufgabe es ist, das grobe Publikum nicht nur zu informieren, sondern zu formen.49 In Kenntnis der umfassenden und tiefgreifenden Auswirkung dieser Medien wird sie nicht müde, jene, die im Kommunikationsbereich tätig sind, vor den Gefahren der Manipulation der Wahrheit zu warnen. Was für eine Wahrheit kann es in der Tat in Filmen, Schauspielen, Rundfunk- und Fernsehprogrammen geben, in denen die Pornographie und die Gewalt vorherrschen? Ist das ein guter Dienst an der Wahrheit über den Menschen? Das sind einige Fragen, denen sich die Manager dieser Instrumente und die verschiedenen Verantwortlichen für die Bearbeitung und Vermarktung ihrer Produkte nicht entziehen können.

Durch eine solche kritische Reflexion mübte sich unsere Zivilisation, obschon so viele positive Aspekte auf materieller wie auf kultureller Ebene zu verzeichnen sind, bewubt werden, dab sie unter verschiedenen Gesichtspunkten eine kranke Zivilisation ist, die tiefgreifende Entstellungen im Menschen erzeugt. Warum kommt es dazu? Der Grund liegt darin, dab unsere Gesellschaft sich von der vollen Wahrheit über den Menschen losgelöst hat, von der Wahrheit über das, was der Mann und die Frau als Personen sind. Infolgedessen vermag sie nicht angemessen zu begreifen, was die Hingabe der Personen in der Ehe, eine dem Dienst der Elternschaft verantwortliche Liebe, die authentische Gröbe der Elternschaft und der Erziehung wirklich sind. Ist es also übertrieben zu behaupten, dab die Massenmedien, wenn sie sich nicht nach den gesunden ethischen Prinzipien ausrichten, nicht der Wahrheit in ihrer wesentlichen Dimension dienen? Das ist also das Drama: Die modernen Mittel der sozialen Kommunikation sind der Versuchung ausgesetzt, durch Verfälschung der Wahrheit über den Menschen die Botschaft zu manipulieren. Der Mensch ist nicht derjenige, für den von der Werbung Reklame gemacht und der in den modernen Massenmedien dargestellt wird. Er ist weit mehr als psychophysische Einheit, als ein Wesen aus Seele und Leib, als Person. Er ist weit mehr durch seine Berufung zur Liebe, die ihn als Mann und Frau in die Dimension des »tiefen Geheimnisses« einführt.

Maria ist als erste in diese Dimension eingetreten und hat auch ihren Gemahl Josef darin eingeführt. So sind sie zu den ersten Vorbildern jener schönen Liebe geworden, die die Kirche für die Jugend, für die Eheleute und für die Familien unaufhörlich anruft. Und auch die Jugend, die Eheleute, die Familie mögen nicht müde werden, gleichfalls dafür zu beten. Wie sollte man nicht an die Scharen alter und junger Pilger denken, die in den Marienheiligtümern zusammenströmen und den Blick auf das Antlitz der Muttergottes richten, auf das Antlitz der Mitglieder der Heiligen Familie, auf denen sich die ganze Schönheit der Liebe widerspiegelt, die dem Menschen von Gott geschenkt wird?

In der Bergpredigt erklärt Christus im Zusammenhang mit dem sechsten Gebot: »Ihr habt gehört, dab gesagt worden ist: Du sollst nicht die Ehe brechen. Ich aber sage euch: Wer eine Frau auch nur lüstern ansieht, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen« (). In bezug auf die Zehn Gebote, die es auf die Verteidigung der traditionellen Geschlossenheit von Ehe und Familie abgesehen haben, bezeichnen diese Worte einen groben Sprung nach vorn. Jesus geht an die Quelle der Sünde des Ehebruchs: Sie liegt im Innern des Menschen und wird an einer Weise des Schauens und Denkens offenkundig, die von der Begierde beherrscht wird. Durch die Begierde neigt der Mensch dazu, sich ein anderes Menschenwesen anzueignen, das nicht ihm, sondern Gott gehört. Während sich Christus an seine Zeitgenossen wendet, spricht er zu den Menschen aller Zeiten und aller Generationen; er spricht im besonderen zu unserer Generation, die im Zeichen einer konsumistischen und hedonistischen Zivilisation lebt.

Warum äubert sich Christus in der Bergpredigt in derart kraftvoller und anspruchsvoller Weise? Die Antwort ist vollkommen klar: Christus will die Heiligkeit der Ehe und der Familie gewährleisten, Er will die volle Wahrheit über die menschliche Person und über ihre Würde verteidigen.

Nur im Lichte dieser Wahrheit kann die Familie bis ins letzte die grobe »Offenbarung« sein, die erste Entdeckung des andern: die gegenseitige Entdeckung der Ehegatten und dann jedes Sohnes bzw. jeder Tochter, die von ihnen zur Welt gebracht werden. Was die Eheleute einander schwören, nämlich »die Treue in guten und in bösen Tagen und sich zu lieben, zu achten und zu ehren, solange sie leben«, ist nur in der Dimension der »schönen Liebe« möglich. Sie kann der heutige Mensch nicht aus den Inhalten der modernen Massenkultur lernen. Die »schöne Liebe« lernt man vor allem durch Beten. Denn das Gebet ist, um eine Formulierung des hl. Paulus zu verwenden, immer mit einer Art innerer Verborgenheit mit Christus in Gott verbunden: »Euer Leben ist mit Christus verborgen in Gott« (Col 3,3). Nur in einer solchen Verborgenheit wirkt der Heilige Geist, Quelle der schönen Liebe. Nicht nur in das Herz Marias und Josefs, er giebt diese Liebe auch in die Herzen der Brautleute aus, die imstande sind, das Wort Gottes zu hören und es zu bewahren (vgl. Lk Lc 8,15). Die Zukunft jeder Kernfamilie hängt von dieser »schönen Liebe« ab: gegenseitige Liebe der Ehegatten, der Eltern und der Kinder, Liebe aller Generationen. Die Liebe ist die wahre Quelle der Einheit und der Stärke der Familie.

Die Geburt und die Gefahr


21 Die kurze Erzählung über die Kindheit Jesu berichtet auf sehr bedeutsame Weise fast gleichzeitig von seiner Geburt und von der Gefahr, der er gleich entgegentreten mub. Lukas gibt die prophetischen Worte wieder, die der greise Simeon anläblich der Darstellung des Kindes im Tempel, vierzig Tage nach der Geburt, gesprochen hat. Er sprach von »Licht« und von einem »Zeichen, dem widersprochen wird«; dann prophezeite er Maria: »Dir selbst aber wird ein Schwert durch die Seele dringen« (vgl. ). Matthäus hingegen hält bei dem hinterhältigen Vorgehen ein, das von seiten des Herodes gegen Jesus angezettelt wurde: Als er von den Magiern, die aus dem Osten gekommen waren, um den neuen König zu sehen, der geboren werden sollte, informiert wurde (vgl. Mt Mt 2,2), fühlte er sich in seiner Macht bedroht und befahl nach der Abreise der Magier, alle Kinder unter zwei Jahren in Betlehem und Umgebung zu töten. Jesus entging den Fängen des Herodes dank eines besonderen göttlichen Eingreifens und dank der väterlichen Sorge Josefs, der ihn zusammen mit seiner Mutter nach Ägypten brachte, wo sie bis zum Tod des Herodes blieben. Dann kehrten sie in ihre Geburtsstadt Nazaret zurück, wo für die Heilige Familie ein langer, von getreuer und grobherziger Erfüllung der Alltagspflichten gekennzeichneter verborgener Lebensabschnitt begann (vgl. ).

Von prophetischer Aussagekraft erscheint die Tatsache, dab Jesus von Geburt an Drohungen und Gefahren ausgesetzt war. Er ist bereits als Kind ein »Zeichen, dem widersprochen wird«. Prophetische Aussagekraft gewinnt auberdem das Drama der auf Befehl des Herodes ermordeten unschuldigen Kinder von Betlehem, die, nach der alten Liturgie der Kirche, zu Teilhabern an der Geburt und dem erlösenden Leiden und Sterben Christi geworden sind.50 Durch ihre »Passion« ergänzen sie, »für den Leib Christi, die Kirche, was an den Leiden Christi noch fehlt« (Col 1,24).

Im Evangelium von der Kindheit wird also die Ankündigung des Lebens, die sich auf wunderbare Weise im Ereignis der Geburt des Erlösers erfüllt, in aller Deutlichkeit der Bedrohung des Lebens gegenübergestellt, eines Lebens, das in seiner Vollständigkeit das Geheimnis der Fleischwerdung und der gottmenschlichen Wirklichkeit Christi einschliebt. Das Wort ist Fleisch geworden (vgl. Jn 1,14), Gott ist Mensch geworden. Auf dieses erhabene Geheimnis beriefen sich die Kirchenväter oft: »Gott ist Mensch geworden, damit der Mensch in ihm und durch ihn Gott werde.«51 Diese Glaubenswahrheit ist gleichzeitig die Wahrheit über den Menschen. Sie legt die Schwere jedes Anschlags auf das Leben des Kindes im Mutterschob an den Tag. Hier, genau hier haben wir es mit dem Gegensatz zur »schönen Liebe« zu tun. Wer es ausschlieblich auf den Genub abgesehen hat, kann soweit gehen, die Liebe dadurch zu töten, dab er ihre Frucht tötet. Für die Kultur des Genusses wird die »Frucht deines Leibes, die gesegnet ist« (Lc 1,42), in gewissem Sinne zu einer »Frucht, die verflucht ist«.

In diesem Zusammenhang sind auch die Verzerrungen in Erinnerung zu bringen, die der sogenannte Rechtsstaat in zahlreichen Ländern erfahren hat. Das Gesetz Gottes gegenüber dem menschlichen Leben ist eindeutig und entschieden. Gott gebietet: »Du sollst nicht töten« (Ex 20,13). Kein menschlicher Gesetzgeber kann daher behaupten: Du darfst töten, du hast das Recht zu töten, oder, du solltest töten. Leider hat sich dies in der Geschichte unseres Jahrhunderts bewahrheitet, als auch auf demokratische Weise an die Macht gekommene politische Kräfte gegen das Recht eines jeden Menschen auf Leben gerichtete Gesetze erlassen haben, und dies unter Berufung auf so anmabende wie abwegige eugenische, ethnische oder ähnliche Gründe. Ein auch wegen seiner weithin von Gleichgültigkeit oder Zustimmung seitens der öffentlichen Meinung begleitetes nicht minder schwerwiegendes Phänomen ist das der Gesetzgebung, die das Recht auf Leben von der Zeugung an nicht achtet. Wie könnte man Gesetze moralisch akzeptieren, die es gestatten, das noch nicht geborene menschliche Wesen, das aber bereits im mütterlichen Schob lebt, zu töten? Das Recht auf Leben wird zum ausschlieblichen Vorrecht der Erwachsenen, die sich eben genau der Parlamente bedienen, um ihre Vorhaben in die Tat umzusetzen und die eigenen Interessen zu verfolgen. Das Recht auf Leben wird dem, der noch nicht geboren ist, verweigert, und so sterben auf Grund dieser gesetzgeberischen Dispositionen Millionen Menschenwesen auf der ganzen Welt.

Wir stehen vor einer enormen Bedrohung des Lebens: nicht nur einzelner Individuen, sondern auch der ganzen Zivilisation. Die Behauptung, diese Zivilisation sei unter gewissen Gesichtspunkten zu einer »Zivilisation des Todes« geworden, erhält eine besorgniserregende Bestätigung. Ist es etwa kein prophetisches Ereignis, dab die Geburt Christi von der Gefahr für seine Existenz begleitet gewesen ist? Ja, auch das Leben dessen, der gleichzeitig »Menschensohn« und »Sohn Gottes« ist, war bedroht, war von Anfang an in Gefahr und ist nur durch ein Wunder dem Tod entronnen.

In den letzten Jahrzehnten sind jedoch einige tröstliche Anzeichen für ein Wiedererwachen der Gewissen festzustellen: Das betrifft sowohl die Welt des Denkens wie selbst die öffentliche Meinung. Besonders unter den Jugendlichen wächst ein neues Bewubtsein der Ehrfurcht vor dem Leben von der Empfängnis an; die Bewegungen für das Leben (pro life) breiten sich aus. Das ist eine Triebkraft der Hoffnung für die Zukunft der Familie und der ganzen Menschheit.

» . . . ihr habt mich aufgenommen«


22 Eheleute und Familien in aller Welt: Der Bräutigam ist bei euch! Das vor allem will euch der Papst in dem Jahr sagen, das die Vereinten Nationen und die Kirche der Familie widmen. »Gott hat die Welt so sehr geliebt, dab er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat. Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, damit er die Welt richtet, sondern damit die Welt durch ihn gerettet wird« (); »Was aus dem Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; was aber aus dem Geist geboren ist, das ist Geist . . . Ihr mübt von neuem geboren werden« (). Ihr mübt »aus Wasser und Geist geboren werden« (Jn 3,5). Gerade ihr, liebe Väter und Mütter, seid die ersten Zeugen und Diener dieser neuen Geburt aus dem Heiligen Geist. Ihr, die ihr eure Kinder für die irdische Heimat zeugt, vergebt nicht, dab ihr sie gleichzeitig für Gott zeugt. Gott wünscht ihre Geburt aus dem Heiligen Geist; Er will sie als Adoptivkinder in dem eingeborenen Sohn, der uns »Macht gibt, Kinder Gottes zu werden« (Jn 1,12). Das Werk der Errettung dauert in der Welt an und wird durch die Kirche verwirklicht. Das alles ist das Werk des Sohnes Gottes, des göttlichen Bräutigams, der das Reich des Vaters an uns weitergegeben hat und uns, seine Jünger, daran erinnert: »Das Reich Gottes ist (schon) mitten unter euch!« (Lc 17,21).

Unser Glaube sagt uns, dab Jesus Christus, der »zur Rechten des Vaters sitzt«, kommen wird, um die Lebenden und die Toten zu richten. Auf der anderen Seite versichert uns der Evangelist Johannes, dab er nicht in die Welt gesandt ist, »damit er die Welt richtet, sondern damit die Welt durch ihn gerettet wird« (Jn 3,17). Worin besteht also das Gericht? Christus selbst bietet die Antwort: »Mit dem Gericht verhält es sich so: Das Licht kam in die Welt ( . . . ). Wer die Wahrheit liebt, kommt zum Licht, damit offenbar wird, dab seine Taten in Gott vollbracht sind« (Jn 3,19 Jn 3,21). Das alles hat kürzlich die Enzyklika Veritatis splendor in Erinnerung gebracht.52 Ist Christus also Richter? Deine eigenen Taten werden dich im Licht der Wahrheit richten, die du kennst. Die Väter und Mütter, die Söhne und Töchter werden nach ihren Taten gerichtet werden. Jeder von uns wird nach den Geboten gerichtet werden; auch nach jenen Geboten, die wir in diesem Schreiben erwähnt haben: dem vierten, fünften, sechsten und neunten. Ein jeder von uns wird jedoch vor allem nach der Liebe gerichtet werden, die den Sinn und die Zusammenfassung der Gebote darstellt. »Am Abend unseres Lebens werden wir nach der Liebe gerichtet werden« – schrieb der hl. Johannes vom Kreuz.53 Christus, Erlöser und Bräutigam der Menschheit, »ist dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dab er für die Wahrheit Zeugnis ablege. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf seine Stimme« (vgl. Joh Jn 18,37). Er wird der Richter sein, aber so, wie er selbst es angezeigt hat, als er vom Weltgericht sprach (vgl. ). Sein Gericht wird ein Gericht über die Liebe sein, ein Gericht, das die Wahrheit endgültig bestätigen wird, dab der Bräutigam bei uns war und wir es vielleicht nicht gewubt haben.

Der Richter ist der Bräutigam der Kirche und der Menschheit. Darum richtet er, indem er spricht: »Kommt her, die ihr von meinem Vater gesegnet seid ( . . . ) Denn ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig, und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos, und ihr habt mich aufgenommen; ich war nackt, und ihr habt mir Kleidung gegeben« (). Diese Aufzählung liebe sich natürlich verlängern, und in ihr könnte eine Unmenge von Problemen auftauchen, die das Ehe- und Familienleben betreffen. Da würde man auch Äuberungen wie diese antreffen können: »Ich war ein noch ungeborenes Kind, und ihr habt mich aufgenommen und mich zur Welt kommen lassen; ich war ein verlassenes Kind, und ihr seid mir eine Familie gewesen; ich war ein Waise, und ihr habt mich angenommen und erzogen wie euer Kind.« Und weiter: »Ihr habt den zweifelnden oder unter äuberem Druck stehenden Müttern geholfen, ihr ungeborenes Kind anzunehmen und es zur Welt kommen zu lassen; ihr habt unzähligen Familien geholfen, Familien, die Schwierigkeiten damit hatten, die Kinder, die Gott ihnen geschenkt hatte, zu erhalten und zu erziehen.« Und wir könnten fortfahren in einer langen und bunten Liste, die jede Art von wahrem moralischem und menschlichem Guten enthält, in dem die Liebe zum Ausdruck kommt. Das ist die grobe Ernte, die der Erlöser der Welt, dem der Vater das Gericht anvertraut hat, einzuholen kommen wird: Es ist die reiche Ernte an Gnaden und guten Werken, die im Lebenshauch des Bräutigams im Heiligen Geist gereift ist, der in der Welt und in der Kirche nicht zu wirken aufhört. Dafür danken wir dem Spende r alles Guten.

Wir wissen jedoch, dab es bei dem von dem Evangelisten Matthäus geschilderten Endgericht noch eine andere Aufzählung gab, schwerwiegend und erschreckend: »Weg von mir, ihr Verfluchten ( . . . ). Denn ich war hungrig, und ihr habt mir nichts zu essen gegeben; ich war durstig, und ihr habt mir nichts zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos, und ihr habt mich nicht aufgenommen; ich war nackt, und ihr habt mir keine Kleidung gegeben« (). Und auch in dieser Liste werden sich noch andere Haltungen finden lassen, in denen Jesus einfach nur als der abgewiesene Mensch erscheint. Auf diese Weise identifiziert Er sich mit den verlassenen Ehepartnern, mit dem empfangenen und abgelehnten Kind: »Ihr habt mich nicht aufgenommen!« Auch dieser Richterspruch geht mitten durch die Geschichte unserer Familien, er geht mitten durch die Geschichte der Nationen und der Menschheit. Das Wort Christi: »Ihr habt mich nicht aufgenommen«, trifft auch gesellschaftliche Institutionen, Regierungen und internationale Organisationen.

Pascal hat geschrieben: »Jesus wird im Todeskampf stehen bis zum Ende der Welt.«54 Der Todeskampf von Getsemane und der Todeskampf von Golgota sind der Höhepunkt der Offenbarung der Liebe. Im einen wie im anderen offenbart sich der Bräutigam, der bei uns ist, der stets von neuem liebt, der »liebt bis zur Vollendung« (vgl. Joh Jn 13,1). Die Liebe, die in ihm ist und die von ihm über die Grenzen der persönlichen oder der Familiengeschichte hinausgeht, überschreitet die Grenzen der Geschichte der Menschheit.

Während ich, liebe Brüder und Schwestern, am Ende dieser Überlegungen an all das denke, was im Jahr der Familie von verschiedenen Stellen aus öffentlich verkündet werden wird, möchte ich mit euch das Bekenntnis des Petrus an Christus wiederholen: Allein »du hast Worte des ewigen Lebens« (Jn 6,68). Gemeinsam sagen wir: Deine Worte, Herr, werden nicht vergehen! (vgl. Mk Mc 13,31). Was kann euch der Papst am Ende dieser langen Betrachtung über das Jahr der Familie wünschen? Ich wünsche euch, dab ihr alle euch wiederfindet in diesen Worten, die »Geist und Leben« sind (Jn 6,63).

»Im Inneren an Kraft und Stärke zugenommen«


23 Ich beuge meine Knie vor dem Vater, nach dessen Namen jedes Geschlecht benannt wird, »und bitte, er möge euch . . . schenken, dab ihr in eurem Innern durch seinen Geist an Kraft und Stärke zunehmt« (Ep 3,16). Ich möchte gern auf diese Worte des Apostels zurückkommen, auf die ich im ersten Teil dieses Schreibens Bezug genommen habe. Sie sind in gewissem Sinne Schlüsselwörter. Die Familie, die Elternschaft halten miteinander Schritt. Zugleich ist die Familie die erste menschliche Umgebung, wo der »innere Mensch« Gestalt annimmt, von dem der Apostel spricht. Die Festigung seiner Kraft ist Geschenk des Vaters und des Sohnes im Heiligen Geist.

Das Jahr der Familie stellt uns in der Kirche vor eine enorme Aufgabe, zwar nicht verschieden von jener, welche die Familie Jahr für Jahr und Tag für Tag betrifft, die aber im Rahmen dieses Jahres besondere Bedeutung und Wichtigkeit annimmt. Wir haben das Jahr der Familie in Nazaret begonnen, am Fest der Heiligen Familie; wir wollen während dieses Jahres zu jenem Gnadenort pilgern, der in der Geschichte der Menschheit zum Heiligtum der Heiligen Familie geworden ist. Wir wollen diese Pilgerfahrt machen und dabei das Wissen um das Erbgut an Wahrheit über die Familie wiedergewinnen, die seit Anbeginn einen Schatz der Kirche darstellt. Es ist der Schatz, der sich aus der reichen Tradition des Alten Bundes anhäuft, im Neuen Bund vervollständigt und seinen vollen und sinnbildlichen Ausdruck im Geheimnis der Heiligen Familie findet, in welcher der göttliche Bräutigam die Erlösung aller Familien vollbringt. Von dort aus verkündet Jesus das »Evangelium der Familie«. Aus diesem Wahrheitsschatz schöpfen alle Generationen der Jünger Christi, angefangen von den Aposteln, von deren Lehre wir in diesem Schreiben reichlich Gebrauch gemacht haben.

In unserer Zeit wird dieser Schatz in den Dokumenten des Zweiten Vatikanischen Konzils gründlich erforscht;55 interessante Analysen findet man auch in den zahlreichen Ansprachen entwickelt, die Pius XII. dem Thema der Eheleute widmete,56 in der Enzyklika Humanae vitaePauls VI., in den Beiträgen zu der Bischofssynode, die der Familie gewidmet war (1980), und in dem nachsynodalen Apostolischen Schreiben Familiaris consortio. Auf diese Aussagen des Lehramtes habe ich bereits Bezug genommen. Wenn ich jetzt darauf zurückkomme, dann deshalb, um zu unterstreichen, wie umfassend und reichhaltig der Schatz der christlichen Wahrheit über die Familie ist. Die schriftlichen Zeugnisse allein genügen freilich nicht. Viel wichtiger sind die lebendigen Zeugnisse. Paul VI. hat beobachtet, dab »der heutige Mensch lieber auf Zeugen hört als auf Lehrmeister, oder, wenn er auf die Lehrmeister hört, dann, weil sie Zeugen sind«.57 Es sind vor allem die Zeugen, denen in der Kirche der Schatz der Familie anvertraut ist: jenen Vätern und Müttern, Söhnen und Töchtern, die durch die Familie den Weg ihrer menschlichen und christlichen Berufung, die Dimension des »inneren Menschen« (Ep 3,16), von dem der Apostel spricht, gefunden und somit die Heiligkeit erlangt haben. Die Heilige Familie ist der Anfang vieler anderer heiliger Familien. Das Konzil hat daran erinnert, dab die Heiligkeit die universale Berufung der Getauften ist.58 In unserer Zeit wie in der Vergangenheit fehlt es nicht an Zeugen des »Evangeliums der Familie«, auch wenn sie unbekannt sind oder von der Kirche nicht heiliggesprochen worden sind. Das Jahr der Familie stellt die geeignete Gelegenheit dar, das Bewubtsein für deren Existenz und deren grobe Anzahl zu mehren.

Durch die Familie hindurch fliebt die Geschichte des Menschen, die Geschichte der Errettung der Menschheit. Ich habe auf diesen Seiten zu zeigen versucht, dab sich die Familie im Zentrum des groben Kampfes zwischen Gut und Böse, zwischen Leben und Tod, zwischen der Liebe und allem, was sich der Liebe widersetzt, befindet. Der Familie ist die Aufgabe anvertraut, vor allem für die Befreiung der Kräfte des Guten zu kämpfen, dessen Quelle sich in Christus, dem Erlöser des Menschen, befindet. Es gilt darauf hinzuwirken, dab diese Kräfte sich einem jeden Familienkern zuneigen werden, damit – wie anläblich des Tausendjahrjubiläums der Christianisierung Polens gesagt wurde – die Familie »Festung Gottes« sei.59 Das ist der Grund, warum sich dieses Schreiben von den apostolischen Ermahnungen inspirieren lassen wollte, die wir in den Schriften des Paulus (vgl. ) und in den Briefen des Petrus und des Johannes (vgl. ) finden. Wie ähnlich sind sich doch bei aller Verschiedenheit des geschichtlichen und kulturellen Rahmens die Situationen der Christen und der Familien von damals und von heute!

Ich habe daher eine Einladung: eine Einladung, die ich besonders an euch, liebe Ehemänner und Ehefrauen, Väter und Mütter, Söhne und Töchter, richte. Es ist eine Einladung an alle Teilkirchen, dab sie eins bleiben in der Lehre der apostolischen Wahrheit; an die Brüder im Bischofsamt, an die Priester, an die Ordensfamilien, an die geweihten Personen, an die Bewegungen und Laienvereinigungen; an die Brüder und Schwestern, mit denen uns der gemeinsame Glaube an Jesus Christus verbindet, auch wenn wir noch nicht die volle, vom Erlöser gewollte Gemeinschaft erleben;60 an all jene, die den Glauben Abrahams teilen und wie wir zu der groben Gemeinschaft derer gehören, die an einen einzigen Gott glauben;61 an diejenigen, die Erben anderer geistlicher und religiöser Traditionen sind; an jeden Mann und jede Frau guten Willens.

Christus, der derselbe ist »gestern, heute und in Ewigkeit« (He 13,8), sei bei uns, wenn wir die Knie beugen vor dem Vater, in dem jede Elternschaft und jede menschliche Familie ihren Ursprung hat (vgl. ), und mit denselben Worten des Gebetes zum Vater, das Er selbst uns gelehrt hat, gebe er noch einmal das Zeugnis der Liebe, mit der Er uns »geliebt hat bis zur Vollendung« (Jn 13,1)!

Ich spreche mit der Kraft seiner Wahrheit zum Menschen unserer Zeit, damit er begreift, welche grobartigen Güter die Ehe, die Familie und das Leben sind; welche grobe Gefahr die Mibachtung dieser Wirklichkeiten und die geringe Rücksichtnahme auf die höchsten Werte darstellen, die die Familie und die Würde des Menschen begründen.

Möge der Herr Jesus uns mit der Macht und der Weisheit des Kreuzes dies erneut sagen, damit die Menschheit nicht der Versuchung des »Vaters der Lüge« (Jn 8,44) nachgibt, der sie ständig auf breite und geräumige, dem Anschein nach leicht begehbare angenehme Wege treibt, die aber in Wirklichkeit voller Hinterhälte und Gefahren sind. Möge es uns gegeben sein, stets dem zu folgen, der »der Weg, die Wahrheit und das Leben« ist (Jn 14,6).

Das, liebe Brüder und Schwestern, sei das Engagement der christlichen Familien und die missionarische Sorge der Kirche während dieses an einzigartigen göttlichen Gnaden reichen Jahres. Die Heilige Familie, Ikone und Vorbild jeder menschlichen Familie, helfe jedem, im Geist von Nazaret zu wandeln; sie helfe jeder Familie, ihre Sendung in Kirche und Gesellschaft durch das Hören des Gotteswortes, das Gebet und das brüderliche Leben miteinander zu vertiefen. Maria, Mutter der schönen Liebe, und Josef, Hüter des Erlösers, mögen uns alle unablässig mit ihrem Schutz begleiten.

Mit diesen Empfindungen segne ich jede Familie im Namen der Heiligsten Dreifaltigkeit, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.

Gegeben zu Rom, bei Sankt Peter, am 2. Februar des Jahres 1994.




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Brief an die Familien 20