Mater et Magistra DE


ENZYKLIKA

ENZYKLIKA

MATER ET MAGISTRA

VON PAPST

JOHANNES PP. XXIII.

AN DIE EHRWÜRDIGEN BRÜDER,

PATRIARCHEN, PRIMATEN, ERZBISCHÖFE, BISCHÖFE

UND DIE ANDEREN OBERHIRTEN,

DIE IN FRIEDEN UND GEMEINSCHAFT

MIT DEM APOSTOLISCHEN STUHL LEBEN,

SOWIE AN DEN GESAMTEN KLERUS

UND DIE CHRISTGLÄUBIGEN

DES KATHOLISCHEN ERDKREISES

ÜBER DIE JÜNGSTEN ENTWICKLUNGEN

DES GESELLSCHAFTLICHEN LEBENS

UND SEINE GESTALTUNG IM LICHT DER CHRISTLICHEN LEHRE

Ehrwürdige Brüder, geliebte Söhne,

Gruß und Apostolischen Segen

EINLEITUNG


401 1. Mutter und Lehrmeisterin der Völker ist die katholische Kirche. Sie ist von Christus Jesus dazu eingesetzt, alle, die sich im Lauf der Geschichte ihrer herzlichen Liebe anvertrauen, zur Fülle höheren Lebens und zum Heile zu führen. Dieser Kirche, der "Säule und Grundfeste der Wahrheit" (1Tm 3,15), hat ihr heiliger Gründer einen doppelten Auftrag gegeben: Sie soll ihm Kinder schenken; sie soll sie lehren und leiten. Dabei soll sie sich in mütterlicher Fürsorge der einzelnen und der Völker annehmen in ihrem Leben, dessen erhabene Würde sie stets hoch in Ehren hielt, über das sie wachte und das sie beschützte.

402 2. Christi Lehre verbindet ja gleichsam Erde und Himmel; sie erfaßt den Menschen in seiner Ganzheit, Leib und Seele, Vernunft und Willen; sie führt seinen Sinn von den wechselvollen Gegebenheiten dieses irdischen Lebens zu den Gefilden des ewigen. Dort soll er einmal unvergängliche Seligkeit und Frieden genießen.

3. Die heilige Kirche hat so zwar vor allem die Aufgabe, die Seelen zu heiligen und ihnen die Teilnahme an den himmlischen Gütern zu schenken. Sie bemüht sich aber auch um die Bedürfnisse des menschlichen Alltags. Dabei geht es ihr nicht nur um das Lebensnotwendige. Sie kümmert sich auch um der Menschen Wohlstand und Wohlergehen in den verschiedensten Kulturbereichen, sowie es jeweils die Zeit erfordert.

4. Damit verwirklicht die heilige Kirche den Auftrag Christi, ihres Gründers. Dieser meint vor allem das ewige Heil des Menschen, wenn er einmal sagt: "Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben" (
Jn 14,6), und bei anderer Gelegenheit: "Ich bin das Licht der Welt" (Jn 8,12). Wenn er aber beim Anblick der hungernden Menge bewegt ausruft: "Mich erbarmt des Volkes" (Mc 8,2), zeigt er, wie sehr ihm auch die irdischen Bedürfnisse der Völker am Herzen liegen. Diese Sorge beweisen im Leben unseres göttlichen Erlösers nicht nur seine Worte, sondern auch seine Taten. So hat er, den Hunger der Menge zu stillen, mehrfach wunderbar das Brot vermehrt.

5. Mit diesem Brot, dem Leib zur Speise gegeben, kündigte er jene himmlische Seelenspeise zeichenhaft an, die er "am Abend vor seinem Leiden" den Menschen geben wollte.

6. Kein Wunder also, wenn die katholische Kirche, Christi Lehre aufgreifend und Christi Gebot erfüllend, seit nunmehr zweitausend Jahren, von den Diensten der alten Diakone an bis auf unsere Tage, unentwegt die Fackel der Liebe hochhält. Sie tut es nicht nur in ihrer Lehre. Sie gibt auch das Beispiel der Fülle ihres Tuns. Diese Liebe verbindet harmonisch in sich das Gebot der Zuneigung, die wir zueinander haben sollen, und seine Erfüllung. Wunderbar trägt sie in sich den doppelten Auftrag der Kirche, zu geben: die Gabe der sozialen Lehre und die Gabe der sozialen Tat.

403 7. Ein besonders eindrucksvolles Zeugnis dieser von der Kirche im Laufe der Jahrhunderte entfalteten sozialen Lehre und Tat ist nun unstreitig das Rundschreiben Rerum novarum Unseres Vorgängers Leo XIII. Siebzig Jahre sind es jetzt, seit er in ihm seine Grundsätze zur Lösung der Arbeiterfrage im Sinn der christlichen Lehre vortrug.

8. Nur selten fand ein Papstwort einen so weltweiten Widerhall wie dieses. Grund dafür ist sowohl die Gewichtigkeit und Weite seines Inhalts wie die unvergleichliche Kraft seiner Sprache. Inder Tat wurden jene Richtlinien und Mahnungen so bedeutsam, daß sie aus dem Gedächtnis der Nachwelt nicht mehr auszulöschen sind. Seither weitet sich das Wirken der katholischen Kirche sichtbar. Ihr Oberhirt macht sich gewissermaßen die Leiden, die Klagen, die Bestrebungen der unteren Schichten und der Unterdrückten zu eigen. Er tritt auf als Anwalt und Schützer ihrer Rechte.

9. Seitdem ist nun schon ein langer Zeitraum verstrichen. Trotzdem ist bis heute die Kraft jener Botschaft wirksam. Sie ist wirksam in den Verlautbarungen der Nachfolger Leos XIII. auf dem päpstlichen Stuhl. Immer wieder greifen sie in ihren Worten zu Wirtschaft und Gesellschaft auf das Rundschreiben Leos XIII. zurück: bald führen sie es weiter aus; bald stellen sie seine Tragweite deutlicher heraus; bald regen sie, von ihm ausgehend, erneut den Eifer der katholischen Christen an. Die Botschaft ist auch wirksam im Recht vieler Staaten. Vertieft man sich nur gründlich in die Grundsätze, die praktischen Richtlinien und die in väterlicher Liebe ausgesprochenen Mahnworte dieses bedeutenden Rundschreibens Unseres großen Vorgängers, so wird offenkundig, daß sie auch in unsern Tagen noch ihre alte Autorität behaupten; ja daß sie darüber hinaus den Menschen von heute neue und lebendige Anregungen geben können, den Inhalt und Umfang der sozialen Frage, so wie sie sich heute stellt, richtig zu beurteilen und die entsprechende Verantwortung zu übernehmen.

I.

LEHRE DES RUNDSCHREIBENS RERUM NOVARUM;


IHRE ENTFALTUNG IN DER LEHRTÄTIGKEIT


PIUS' XI. UND PIUS' XII.


Die Zeit von \IRerum novarum

10. Tiefe Schatten liegen über der Zeit, in der die Lehre Leos XIII. an je ganze Menschheit erging. Das läßt das Licht, das von ihr ausging, nur um so heller erstrahlen. Es war die Zeit eines tiefgehenden wirtschaftlichen und politischen Umbruchs; im Zusammenhang damit entbrannten vielfach leidenschaftliche Auseinandersetzungen, schürte man offen den Aufruhr.
404 11. Die damals vorherrschende Auffassung von der Wirtschaft, der auch weithin die Praxis entsprach, ist, wie bekannt, naturalistisch. Alles ergibt sich danach zwangsläufig aus dem Wirken der Naturkräfte. Es besteht kein Zusammenhang zwischen Wirtschaftsgesetzen und Sittengesetz. Einziger Antrieb des wirtschaftlichen Schaffens ist der persönliche Eigennutz. Oberstes Gesetz, das die Beziehungen zwischen den wirtschaftlich Schaffenden regelt, ist der schrankenlos freie Wettbewerb. Kapitalzins, Preise von Waren und Dienstleistungen, die Höhe von Gewinnen und Löhnen bestimmen sich rein mechanisch nach den Marktgesetzen. Der Staat hat sich jedweder Einmischung in das Wirtschaftsgeschehen zu enthalten. Gleichzeitig waren die Arbeiterorganisationen je nach den einzelnen Ländern entweder verboten oder genossen nur Anerkennung für den Bereich des Privatrechts.

12. In einer solchen Zeit galt die Macht des Stärkeren in der Wirtschaft grundsätzlich als gerechtfertigt; praktisch beherrschte sie eindeutig die Beziehungen der Menschen zueinander. Das Ergebnis war eine bis in ihre Wurzeln hinein verkehrte Ordnung der gesamten Wirtschaft.

13. Während sich nämlich allzu großer Reichtum in den Händen weniger aufhäufte, litten die breiten Massen der Arbeiter unter täglich zunehmender Verelendung. Die Arbeitslöhne langten nicht zum Lebensnotwendigen, waren manchmal sogar ausgesprochene Hungerlöhne; vielfach wurden der Arbeiterschaft Arbeitsbedingungen aufgezwungen, die der körperlichen Gesundheit, Sitte und Sittlichkeit, Glauben und Religion abträglich waren. Unmenschlich sind oft im besonderen die Arbeitsbedingungen zu nennen, denen Kinder und Frauen ausgesetzt waren. Dazu drohte täglich das Schreckgespenst der Arbeitslosigkeit. Die häusliche Lebensgemeinschaft geriet in die Gefahr, sich allmählich aufzulösen.

14. Die natürliche Folge war eine tiefe Unzufriedenheit unter den arbeitenden Schichten. Offen verlangten sie die Beseitigung dieses Zustandes. So erklärt sich auch, warum unter ihnen immer mehr extremistische Auffassungen um sich griffen, die Heilmittel vorschlugen, schlimmer noch als die Übel, die nach Abhilfe riefen.

Wege zum Wiederaufbau

405 15. In diese geschichtliche Entwicklung hinein stellte Leo XIII. mit der Veröffentlichung von Rerum Novarum seine soziale Botschaft. Sie greift zurück auf die Forderungen der menschlichen Natur und entspricht der Lehre und dem Geist des Evangeliums. Die Botschaft fand - abgesehen vom üblichen Widerstand einiger - allenthalben in der Welt Beifall und höchste Bewunderung. Zwar war es nicht das erstemal, daß der Apostolische Stuhl sich in Anliegen des irdischen Lebens zum Vorkämpfer der Armen machte. Andere Verlautbarungen Leos XIII. selbst hatten dem erwähnten Schritt schon den Weg geebnet. Dieses Rundschreiben aber enthielt erstmals eine Gesamtdarstellung der Grundsätze und ein einheitliches Programm. Man kann es deswegen wohl eine Zusammenfassung dessen nennen, was die katholische Lehre über Wirtschaft und Gesellschaft zu sagen hat.

16. Man muß schon sagen: Dazu gehörte nicht wenig Mut. Während sich manche nicht scheuten, der Kirche vorzuwerfen, sie tue nichts, als den Armen Ergebung in ihr Elend und den Reichen herablassende Mildtätigkeit zu predigen, zögerte Leo XIII. nicht, offen einzutreten für die Unantastbarkeit der Rechte der Arbeiter und sie zu schützen. An den Anfang seiner Ausführungen über die Grundsätze und Forderungen der katholischen Soziallehre stellte er das Wort; ,,Zuversichtlich und mit voller Berechtigung gehen Wir an diesen Gegenstand heran; handelt es sich doch um ein Problem, dessen Lösung, wenn irgendwie, so doch sicherlich nicht ohne Hilfe von Religion und Kirche gefunden werden kann" (Rerum novarum, 13).

17. Ihr kennt sicher, Ehrwürdige Brüder, jene tragenden Grundsätze, die nach den klaren und eindrucksvollen Lehren des großen Papstes die Gestaltung des menschlichen Zusammenlebens in Gesellschaft und Wirtschaft bestimmen sollen.
406 18. Er handelt zunächst von der Arbeit. Diese dürfe nicht als eine bloße Ware behandelt werden; sei sie doch eine Äußerung der menschlichen Person. Für die große Mehrheit der Menschen ist sie zudem die einzige Quelle ihres Lebensunterhalts. Darum darf die Höhe ihrer Vergütung nicht dem Spiel der Marktgesetze überlassen werden, muß vielmehr bestimmt werden von Gerechtigkeit und Billigkeit. Andernfalls wird beim Arbeitsvertrag die Gerechtigkeit auch dann durchaus verletzt, wenn beide Seiten ihn freiwillig abschließen.

19. Weiter spricht der Papst vom Privateigentum. Die Natur gibt dem einzelnen ein Recht darauf, Produktionsmittel nicht ausgenommen; und der Staat darf dieses Recht unter keinen Umständen unterdrücken. Aber der privaten Verfügungsgewalt über Güter wohnt eine soziale Funktion wesentlich inne; wer das Eigentum daran in Anspruch nimmt, ist darum verpflichtet, nicht nur den eigenen Vorteil, sondern auch den Nutzen der anderen zu berücksichtigen.

20. Der Staat hat zum Ziel die Gewährleistung des irdischen Gemeinwohls. Darum darf er sich nicht völlig aus dem wirtschaftlichen Leben seiner Bürger heraushalten. Er muß vielmehr in ihm gegenwärtig sein und fördernd eingreifen, zunächst um in ihm die Erzeugung jenes Maßes an materiellen Gütern zu gewährleisten, "deren Inanspruchnahme für ein tugendhaftes Handeln notwendig ist" (Thomas von Aquin, De regimine principum I, 15); dann um die Rechte aller Bürger zu schützen, besonders die der Schwächeren; dazu gehören die Arbeiter, die Frauen und die Kinder. Niemals darf er sich seiner Verpflichtung entziehen, sich um die Verbesserung der Lage der Arbeiter zu kümmern.

21. Der Staat hat ferner die Pflicht, darüber zu wachen, daß die rechtliche Gestaltung des Arbeitsverhältnisses dem Gesetz von Gerechtigkeit und Billigkeit entspricht; ferner darüber, daß auf dem Arbeitsplatz nicht die Würde der menschlichen Person an Leib und Seele verletzt wird. In dieser Beziehung enthält das Rundschreiben Leos XIII. oberste Sozialrechtsgrundsätze, die die modernen Staaten in ihrer Gesetzgebung verwerten konnten. Sie haben, wie schon Unser Vorgänger Pius XI. im Rundschreiben Quadragesimo Anno bemerkt, nicht wenig zum Werden und zur Entwicklung eines neuen Rechtszweiges beigetragen, nämlich des Arbeitsrechtes.

22. Den Arbeitern, so heißt es in dem Rundschreiben weiter, steht das naturgegebene Recht zu, Vereine und Verbände zu gründen; seien es reine Arbeiterorganisationen oder gemischte Verbände, aus Arbeitnehmern und Arbeitgebern als Mitgliedern zusammengesetzt; ferner das Recht, diesen Vereinigungen jene Organisationsform zu geben, die sie in ihrem beruflichen Interesse für die geeignetste halten; schließlich das Recht, sich ungestört, frei und in eigener Initiative für die Verfolgung ihrer Interessen einzusetzen.
407 23. Endlich sollen Arbeiter und Arbeitgeber ihre Beziehungen zueinander regeln nach den Grundsätzen der menschlichen Solidarität und im Sinn der christlichen Brüderlichkeit; dagegen sind sowohl ein Wettbewerb, wie ihn die sogenannten Liberalen wollen, als auch der Klassenkampf im Sinn des Marxismus ganz und gar unvereinbar mit I der christlichen Lehre, ja mit der menschlichen Natur.

24. Das, Ehrwürdige Brüder, sind die Grundlagen, die den Aufbau einer Ordnung in Wirtschaft und Gesellschaft tragen sollen.

25. Es ist also nicht zu verwundern, wenn hervorragende Katholiken, angespornt durch dieses Schreiben, in einer Fülle von Initiativen darangingen, die hier vorgetragenen Grundsätze zu verwirklichen. Den gleichen Weg gingen in den verschiedenen Ländern der Welt, bewegt von den gleichen Forderungen der menschlichen Natur, auch andere ausgezeichnete Menschen guten Willens.

26. So galt und gilt das Rundschreiben mit vollem Recht als Magna Charta einer neuen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung.



Das Rundschreiben \I"Quadragesimo Anno"

27. Unser Vorgänger Pius XI. veröffentlichte vierzig Jahre nach dem Erscheinen des RundschreibensRerum Novarum ein eigenes Rundschreiben, Quadragesimo Anno.

28. In dieser Verlautbarung bekräftigt der Papst das Recht und die Pflicht der Kirche, ihren besonderen Beitrag zur Lösung der ernsten sozialen Frage zu leisten, die die ganze Menschheit so sehr bewegt. Er bestätigt und betont noch einmal die der geschichtlichen Situation entsprechenden Grundsätze und Forderungen des Leoschen Rundschreibens. Dann ergreift er die Gelegenheit, einige Lehrstücke zu klären, über die unter den Katholiken selbst Meinungsverschiedenheiten entstanden waren; ferner um zu zeigen, wie diese Grundsätze und Forderungen der Sozialordnung in Auseinandersetzung mit der veränderten Zeitlage weiterzuentwickeln sind.

408 29. Die damals entstandenen Zweifel bezogen sich auf die rechte Haltung der Katholiken in der Frage des Privateigentums, der Lohngerechtigkeit sowie einer gemäßigten Form des Sozialismus.

30. Zunächst verkündet Unser Vorgänger erneut den naturrechtlichen Charakter des Privateigentums; er betont zugleich seine soziale Seite und entwickelt und erläutert seine soziale Funktion.

31. In bezug auf das Lohnverhältnis weist der Papst die Behauptung zurück, es sei seiner Natur nach ungerecht. Zugleich bedauert er die unmenschlichen und ungerechten Formen, die es in der Praxis nicht selten annimmt. Er weist eingehend auf die Normen und Bedingungen hin, die zu wahren sind, wenn man hier nicht vom Weg der Gerechtigkeit oder Billigkeit abkommen will.

32. Auf diesem Gebiet, sagt Unser Vorgänger, empfehle es sich heute, den Arbeitsvertrag durch Übernahme einiger Elemente des Gesellschaftsvertrages aufzulockern; "Arbeiter und Angestellte gelangen auf diese Weise zu Mitbesitz oder Mitverwaltung oder zu irgendeiner Art Gewinnbeteiligung" (Quadragesimo Anno, 65).

33. Theoretisch und praktisch bedeutsam ist zweifellos auch die Feststellung Pius' XI.: "Außerachtlassung des zugleich sozialen und individualen Charakters der menschlichen Arbeit verunmöglicht daher wie ihre gerechte Wertung, so ihre Abgeltung zum Gleichwert" (Quadragesimo Anno, 69). Deshalb verlangt die Gerechtigkeit, daß man bei der Bemessung des Arbeitslohnes außer dem Bedarf des einzelnen Arbeiters und seiner Familie auch der Lage des Betriebs Rechnung trägt, in dem der Arbeiter beschäftigt ist, sowie umfassend den Erfordernissen "der allgemeinen Wohlfahrt" (Quadragesimo Anno, 74).

34. Kommunismus und Christentum, so erklärt der Papst, widersprechen sich radikal. Aber auch die Lehre der wohl eine mildere Richtung vertretenden Sozialisten sei für Katholiken durchaus unannehmbar. Aus ihrer Auffassung ergebe sich nämlich zunächst eine rein diesseitige Sicht der gesellschaftlichen Ordnung, und darum eine ausschließliche Hinordnung derselben auf das irdische Wohlergehen; auch beeinträchtige die einseitig auf die Gütererzeugung ausgerichtete Gestaltung der Gesellschaft die menschliche Freiheit unerträglich, zumal man es am rechten Verständnis für wahre gesellschaftliche Autorität fehlen lasse.
409 35. Es entgeht Pius XI. nicht, daß sich in den vierzig Jahren seit Erscheinen des Leoschen Schreibens die geschichtliche Situation grundlegend geändert hat. Das zeigt sich unter anderem darin, daß der freie Wettbewerb sich schließlich kraft einer inneren Gesetzlichkeit selbst fast ganz aufgehoben hatte. Diese habe zu einer ungeheuren Konzentration des Reichtums und damit maßloser Herrschaftsgewalt in den Händen weniger geführt, "die sehr oft gar nicht Eigentümer, sondern Treuhänder oder Verwalter anvertrauten Gutes sind, über das sie mit geradezu uneingeschränkter Machtvollkommenheit verfügen" (Quadragesimo Anno, 105).

36. Der Papst bemerkt: "An die Stelle der freien Marktwirtschaft trat die Vermachtung der Wirtschaft. Das Gewinnstreben steigerte sich zum zügellosen Machtstreben. Dadurch kam in das ganze Wirtschaftsleben eine furchtbare grauenerregende Härte" (Quadragesimo Anno, 109). Sie lieferte im Ergebnis die staatliche Gewalt der Selbstsucht der Mächtigeren aus und mündete im internationalen Finanzimperialismus.

37. Um dieser Entwicklung der Dinge zu begegnen, verweist der auf ein denkwürdiges Ereignis hinzuweisen, das in den Annalen der Papst auf folgende Leitsätze: Die Welt der Wirtschaft muß wieder zur Achtung vor der sittlichen Ordnung zurückkehren, das Einzel- oder Gruppeninteresse muß wieder in Einklang kommen mit dem Gemeinwohl. Das verlangt, so fordert Unser Vorgänger, zunächst die Wiederherstellung der gesellschaftlichen Ordnung durch auf den wirtschaftlichen und beruflichen Raum bezogene Sozialgebilde eigenen Rechtes, die keine Staatsschöpfungen sein dürfen; ferner die Wiederherstellung der Hoheitsfunktion der staatlichen Gewalt, damit sie nicht die Sorge für das Gemeinwohl zu kurz kommen läßt; endlich fordert der Papst gemeinsame Beratungen zwischen den Staaten und Zusammenarbeit auf Weltebene, auch zum Zweck des wirtschaftlichen Wohles der Völker.

410 38. Die wesentlichen Grundgedanken des Rundschreibens Pius' XI. lassen sich vor allem auf zwei zurückführen. Der erste ist dieser: Oberster Maßstab in der Wirtschaft darf unter keinen Umständen das Einzel- und Gruppeninteresse sein; auch nicht der zügellose Wettbewerb oder die hemmungslose Macht des Stärkeren, das nationale Prestige oder der Machtwille der Nation oder irgendein derartiger Maßstab.

39. Herrschen müssen in allen wirtschaftlichen Unternehmungen vielmehr Gerechtigkeit und Liebe als die obersten Gesetze sozialen Verhaltens.

40. Der zweite Grundgedanke ist wohl: Zu fordern ist der Ausbau einer innerstaatlichen und internationalen Rechtsordnung mit einem Einrichtungen, öffentlicher und freier, das Ganze beseelt von der sozialen Gerechtigkeit. In ihr müssen die in der Wirtschaft Tätigen ihr eigenes Interesse mit dem Gemeinwohl harmonisch vereinigen können.

\IDie Rundfunkbotschaft von Pfingsten 1941

41. Aber auch Unser Vorgänger Pius XII. Hat zur Klärung der sozialen Pflichten und Rechte nicht wenig beigetragen. Am heiligen Pfingstfest, dem 1Juni1941, erging von ihm eine Rundfunkbotschaft an die ganze Welt, "um die Aufmerksamkeit der katholischen Welt Kirche mit goldenen Lettern aufgezeichnet zu werden verdient: auf das Erscheinen von Leos XIII. grundlegendem sozialem Lehrschreiben Rerum Novarum vor fünfzig Jahren am 15. Mai 1891" (Pfingstbotschaft vom 1.6.1941) und "um dem Allmächtigen demütigen und tief empfundenen Dank abzustatten für die Gabe, die er vor fünfzig Jahren mit jenem Rundschreiben seines Stellvertreters auf Erden seiner Kirche schenkte, um ihn zu preisen für das erfrischende Geisteswehen, das er von ihr stärker und immer stärker über die ganze Menschheit ausströmen ließ" (ebd.).

42. In der Rundfunkbotschaft betont der Papst: "Zum unanfechtbaren Geltungsbereich der Kirche gehört es... darüber zu befinden, ob die Grundlagen der jeweiligen gesellschaftlichen Ordnung mit der ewig gültigen Ordnung übereinstimmen, die Gott, der Schöpfer und Erlöser, durch Naturrecht und Offenbarung kundgetan hat" (ebd.).
411 Er bestätigt die bleibende Bedeutung des Rundschreibens Rerum Novarum und seine unerschöpfliche Fruchtbarkeit. Er ergreift die Gelegenheit, "zu drei Grundwerten des Gemeinschafts- und Wirtschaftslebens weitere Richtlinien sittlichen Gehalts zugeben. Die drei Grundwerte, die sich gegenseitig bedingen, durchdringen und fördern, sind die Nutzung der Erdengüter, die Arbeit und die Familie" (ebd.).

43. Was das erste angeht, so stellt Unser Vorgänger fest, daß das Recht jedes Menschen, materielle Güter zu seinem Lebensunterhalt zu nutzen, einen Vorrang hat vor jedem andern Recht wirtschaftlichen Inhalts, also auch vor dem Recht auf Privateigentum. Gewiß gründet, so gibt Unser Vorgänger zu bedenken, auch das Recht auf Privateigentum in der menschlichen Natur. Nach der objektiven, von Gott eingerichteten Ordnung kann das Recht auf Eigentum sich nicht als Hindernis entgegenstellen. um die Erfüllung "der unumstößlichen Forderung" zu vereiteln, ",daß die Güter, die Gott für die Menschen insgesamt schuf, im Ausmaß der Billigkeit nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und Liebe allen zuströmen'" (ebd.).

44. Mit Beziehung auf die Arbeit greift Pius XII. einen Gedanken aus dem Rundschreiben Leos auf und betont, daß sie gleichzeitig eine Pflicht und ein Recht der Einzelmenschen ist. Folglich kommt es auch ihnen in erster Linie zu, ihre gegenseitigen Beziehungen im Arbeitsverhältnis zu regeln. Nur in dem Fall, daß die Beteiligten ihre Aufgabe nicht erfüllen wollen oder nicht erfüllen können, "ist es Aufgabe des Staates, einzugreifen in den Einsatz wie in die Verteilung der Arbeit auf die Art und in dem Maße, wie es die Wahrung des wohlverstandenen Gemeinwohls verlangt" (ebd.).

45. Zur Familie übergehend, weist der Papst darauf hin, welche Bedeutung das Privateigentum an den materiellen Gütern als Lebensraum der Familie habe; es soll "dem Familienvater die nötige Freiheit und Unabhängigkeit sichern, deren er bedarf, um die vorn Schöpfer selbst ihm auferlegten Pflichten hinsichtlich des leiblichen, geistigen und religiös-sittlichen Wohl es der Familie erfüllen zu können" (ebd.). Ebendarin gründet auch das Recht der Familie auszuwandern. Unser Vorgänger mahnt darum die verantwortlichen Lenker der Staaten, die die Auswanderung freigeben, wie jener, die neue Menschen aufnehmen, "alle etwa möglichen Hindernisse eines wirklichen Vertrauens zwischen dem Heimatland und dem der Einwanderung zu beseitigen" (ebd.).
412 Geschehe das, so ergebe sich daraus für beide Völker ein bedeutsamer wirtschaftlicher und kultureller Fortschritt.

\INeue Wandlungen

46. Wenn schon Pius XII. die Zeit der von ihm begangenen Gedenkfeier gegenüber früher erheblich verändert fand, so hat sich die Lage in diesen letzten zwanzig Jahren erneut und grundlegend gewandelt; und dies nicht nur innerhalb der einzelnen Staaten, sondern auch im Verhältnis der Staaten zueinander.

47. Betrachten wir den Bereich der Wissenschaft, der Technik und der Wirtschaft, so stehen hier heute vor allem diese neuen Gegebenheiten: die Entdeckung der Atomkraft; ihre erste Anwendung zu Kriegszwecken, dann ihre täglich wachsende Nutzung für friedliche Zwecke; die fast unbegrenzten Möglichkeiten der Herstellung synthetischer Stoffe durch die Chemie; die immer mehr zunehmende Anwendung der Automation in der Gütererzeugung und in den Dienstleistungen; die Modernisierung der Landwirtschaft; das fast völlige Schwinden der Entfernungen zwischen den Völkern im Nachrichtenwesen, vor allem durch Rundfunk und Fernsehen; das rasch wachsende Tempo im gesamten Verkehr; schließlich unser Vorstoß in den Weltraum.

48. Wenden wir uns dem gesellschaftlichen Bereich zu, so stellen wir heute fest: erweiterte Leistungen der Sozialversicherungen in einigen wirtschaftlich fortgeschrittenen Ländern; die Einführung umfassender Systeme sozialer Sicherheit; in den Arbeiterorganisationen ein wachsendes Bewußtsein der wesentlichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenhänge; eine allgemeine Hebung der Elementarbildung in vielen Ländern; die Ausdehnung des Wohlstandes auf immer breitere Schichten der Bevölkerung; die wachsende Beweglichkeit des Menschen zwischen den einzelnen Industriezweigen und die ständige Verminderung des Unterschieds zwischen den verschiedenen Schichten; die wachsende Anteilnahme des einfachen Mannes an den Ereignissen in der ganzen Welt.
413 Gleichzeitig wachsen mit dem mächtigen Fortschritt der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Organisation in einer zunehmenden Zahl von Staaten auch täglich offenkundiger werdende Spannungen; so zwischen der Landwirtschaft, der Industrie und den Dienstleistungsgewerben; zwischen wirtschaftlich verschieden gut gestellten Gebieten innerhalb des gleichen Landes; endlich auf Weltebene die Spannungen zwischen wirtschaftlich unterschiedlich entwickelten Völkern.

49. Beim Blick auf den politischen Bereich stellen wir ebenfalls Veränderungen fest. In vielen Ländern beteiligt die Demokratisierung eine wachsende Zahl von Bürgern aller sozialen Schichten an der politischen Verantwortung. Immer weiter, immer tiefer greifen die Regierungen in Wirtschaft und Gesellschaft ein. Nach dem Untergang der Kolonialherrschaft erreichten die Völker Asiens und Afrikas ihre politische Selbständigkeit; es wachsen die Verflochtenheiten der Völker untereinander und damit die Abhängigkeit der Völker voneinander; es entstehen und entwickeln sich auf Weltebene immer weitere überstaatliche Organisationen und Gremien wirtschaftlich er, sozialer oder kultureller Art, mit dem Ziel, das Wohl der weltweiten Völkergemeinschaft zu gewährleisten.

50. Im Blick auf diese Vorgänge schien es Uns als Unsere Pflicht, die von Unsern großen Vorgängern entzündete Flamme unauslöschlich lebendigzuhalten und alle aufzufordern, von ihr aus Licht und Antrieb zu empfangen für gegenwartsgerechte Lösungen der sozialen Frage. Darum möchten Wir dieses Rundschreiben nicht nur dem verdienten Gedenken an das Rundschreiben Leos widmen, sondern auch angesichts der veränderten Lage der Welt die von Unsern Vorgängern dargelegten Weisungen bekräftigen und klärend weiterführen. Wir möchten zugleich aber auch die Lehre der Kirche im Hinblick auf die neuen und ernsten Anliegen der Gegenwart nach verschiedenen Seiten entfalten.

II.


KLARSTELLUNGEN UND WEITERFÜHRUNGEN


ZUR LEHRE VON


RERUM NOVARUM


Persönliche Initiative und staatlicher Eingriff in die Wirtschaft

414 51. Von vornherein ist festzuhalten: Im Bereich der Wirtschaft kommt der Vorrang der Privatinitiative der einzelnen zu, die entweder für sich allein oder in vielfältiger Verbundenheit mit andern zur Verfolgung gemeinsamer Interessen tätig werden.

52. Aber aus den bereits von Unsern Vorgängern angeführten Gründen bedarf es in der Wirtschaft auch des tätigen Eingreifens der staatlichen Gewalt, um in der rechten Weise die Wohlstandssteigerung zu fördern, so daß mit ihr zugleich ein sozialer Fortschritt verbunden ist und sie so allen Bürgern zustatten kommt.

53. Dieses staatliche Eingreifen, das fördert, anregt, regelt, Lücken schließt und Vollständigkeit gewährleistet, findet seine Begründung in dem "Subsidiaritätsprinzip" (Quadragesimo Anno, 78), sowie es Pius XI. in dem Rundschreiben Quadragesimo Anno ausgesprochen hat: "Fest und unverrückbar bleibt jener oberste Grundsatz der Sozialphilosophie, an dem nicht zu rütteln noch zu deuteln ist: Wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen; zugleich ist es überaus nachteilig und verwirrt die rechte Ordnung. Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär: sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen" (Quadragesimo Anno, 79).

54. Es ist wahr, die Fortschritte der wissenschaftlichen Erkenntnis und Produktionstechnik geben augenscheinlich der staatlichen Führung heute in umfassenderem Maß als früher Möglichkeiten an die Hand, Spannungen zwischen den verschiedenen Wirtschaftszweigen, zwischen den verschiedenen Gebieten ein und derselben Nation wie zwischen den verschiedenen Nationen auf Weltebene zu mildern; die aus den Konjunkturschwankungen der Wirtschaft sich ergebenden Störungen zu begrenzen und durch vorbeugende Maßnahmen den Eintritt von Massenarbeitslosigkeit wirksam zu verhindern. Darum ist von der staatlichen Führung, die für das Gemeinwohl verantwortlich ist, immer wieder zu fordern, daß sie sich in vielfältiger Weise, umfassender und planmäßiger als früher, wirtschaftspolitisch betätigt und dafür angepaßte Einrichtungen, Zuständigkeiten, Mittel und Verfahrensweisen ausbildet.
415 55. Immer aber muß dabei festgehalten werden: Die Sorge des Staates für die Wirtschaft, so weit und so tief sie auch in das Gemeinschaftsleben eingreift, muß dergestalt sein, daß sieden Raum der Privatinitiative der einzelnen Bürger nicht nur nicht einschränkt, sondern vielmehr ausweitet, allerdings so, daß die wesentlichen Rechte jeder menschlichen Person gewahrt bleiben. Zu diesen ist zunächst das Recht und die Pflicht der einzelnen zu zählen, in der Regel sich und ihre Angehörigen selbst mit dem Lebensunterhalt zu versorgen. Das besagt: daß es überall in der Wirtschaft einem jeden nicht nur möglich, sondern leicht gemacht werden muß, erwerbstätig zu sein.

56. Übrigens macht die geschichtliche Entwicklung selbst immer einsichtiger: Ein geordnetes und gedeihliches Zusammenleben der Menschen ist einfach nicht möglich, ohne daß die Bürger und die politische Führung in der Wirtschaft zusammenwirken; das erfordert einträchtige gemeinsame Anstrengung derart, daß der Beitrag beider den Erfordernissen des Gemeinwohls je nach den wechselnden Verhältnissen möglichst gut entspricht.

57. In der Tat belehrt uns die ständige Erfahrung. Wo die Privatinitiative der einzelnen fehlt, herrscht politisch die Tyrannei; da geraten aber auch manche Wirtschaftsbereiche ins Stocken; da fehlt es an tausenderlei Verbrauchsgütern und Diensten, auf die Leib und Seele angewiesen sind; Güter und Dienste, die zu erlangen in besonderer Weise die Schaffensfreude und den Fleiß der einzelnen auslöst und anstachelt.

58. Wo umgekehrt in der Wirtschaft die gebotene wirtschaftspolitische Aktivität des Staates gänzlich fehlt oder unzureichend ist, kommt es schnell zu heilloser Verwirrung. Da herrscht die freche Ausbeutung fremder Not durch von Skrupeln wenig gehemmte Stärkere, die sich - leider - allzeit und allenthalben breitmachen wie Unkraut im Weizen.

\IDie gesellschaftliche Verflechtung

\IUrsprung und Umfang der Erscheinung

416 59. Zu den für unsere Zeit kennzeichnenden Merkmalen gehört zweifellos die wachsende Zahl gesellschaftlicher Verflechtungen, dieses täglich dichter werdende Netz sozialer Beziehungen zwischen den Menschen, die ihr Leben und Wirken durch eine Fülle von Organisationen bereichert haben, teils privatrechtlicher, teils öffentlich-rechtlicher Art. Das hat seinen Grund in einer Mehrzahl von zeitgeschichtlichen Umständen; zum Beispiel im wissenschaftlichen und technischen Fortschritt, in der gesteigerten Ergiebigkeit der Wirtschaft, in der gehobenen Lebenshaltung.

60. Diese im gesellschaftlichen Leben zu beobachtenden Tendenzen sind einerseits Anzeichen, anderseits aber auch Ursache dafür, daß der Staat mehr und mehr in Bereiche eindringt, die zum Persönlichsten des Menschen gehören und darum von höchster Bedeutung, aber auch ernsten Gefährdungen ausgesetzt sind. Als Beispiel seien genannt: Gesundheitswesen, Unterricht und Erziehung der jungen Generation, Berufsberatung, Mittel und Wege der Rehabilitation und Wiedereingliederung der verschiedenen Gruppen von Behinderten. Eben diese Tendenzen sind aber auch teils Ergebnis, teils Ausdruck eines sozusagen unwiderstehlichen Strebens der menschlichen Natur, des Strebens, sich mit andern zusammenzutun, wenn es darum geht, Güter zu erlangen, die von den einzelnen begehrt werden, jedoch die Möglichkeiten und Mittel der einzelnen übersteigen. Dieses Streben führt, vor allem in der jüngsten Gegenwart, zu einer reichen Vielfalt von Verbänden, Vereinigungen, Einrichtungen mit wirtschaftlicher, gesellschaftlicher, kultureller, unterhaltender, sportlicher, beruflicher und politischer Zielsetzung sowohl im nationalen Raum wie auf Weltebene.

61. Zweifellos bringt der so verstandene Vergesellschaftungsprozeß mancherlei Vorteile. So kann zahlreichen Rechtsansprüchen der Person Genüge geschehen, insbesondere solchen wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Natur, zum Beispiel auf Deckung des lebensnotwendigen Bedarfs, auf Gesundheitspflege, auf erweiterten und vertieften Grundunterricht, auf eine angemessene Fachausbildung, auf Wohnung, Arbeit, auf gebührende Freizeit und angemessene Erholung. Hinzu kommt, daß die immer vollkommenere Organisation der modernen Nachrichtenmittel, der Presse, des Films, des Rundfunks und Fernsehens den Menschen überall in der Welt gestattet, auch an weit entfernt sich abspielenden Ereignissen unmittelbaren Anteil zu nehmen.
417 62. Aber dieser täglich fortschreitende und wechselvolle Vergesellschaftungsprozeß läßt in vielen Bereichen auch die Vorschriften und Bindungen zahlreicher werden, die die wechselseitigen Beziehungen der Menschen regeln wollen. Dadurch wird der den einzelnen zur Verfügung stehende Freiheitsraum mehr und mehr eingeschränkt. Es kommen Mittel zur Anwendung, es entwickeln sich Methoden, es bilden sich Umweltbedingungen, unter denen es für den einzelnen wirklich schwer ist, noch unabhängig von äußeren Einflüssen zu denken, aus eigener Initiative tätig zu werden, in Eigenverantwortung seine Rechte auszuüben und seine Pflichten zu erfüllen, die geistigen Anlagen voll zu betätigen und zu entfalten. Werden also mit fortschreitendem Vergesellschaftungsprozeß die Menschen entpersönlicht werden und aufhören, eigenverantwortlich zu sein? Dem ist entschieden zu widersprechen.

63. Der Vergesellschaftungsprozeß ist ja nicht das Produkt unwiderstehlich wirkender Naturgewalten; er ist vielmehr, wie gesagt, eine Schöpfung des Menschen selbst, freier Wesen also, von Natur auf verantwortliches Handeln angelegt; nichtsdestoweniger sind sie genötigt, die Gesetze einer wirtschaftlichen Entwicklung anzuerkennen und sich einem Fortschritt der Kultur zu fügen; sie sind nicht in der Lage, sich dem Druck ihrer Umwelt vollständig zu entziehen.

64. Deswegen kann und solider Vergesellschaftungsprozeß sich nach unserer Meinung in einer Weise vollziehen, die bei größtmöglicher Nutzung seiner Vorteile doch die mit ihm verbundenen Nachteile vermeidet oder mildert.

65. Um zu diesem erwünschten Ergebnis zu gelangen, müssen die Staatslenker die richtige Auffassung vom Gemeinwohl haben. Dieses umfaßt ja den Inbegriff jener gesellschaftlichen Voraussetzungen, die den Menschen die volle Entfaltung ihrer Werte ermöglichen oder erleichtern. Außerdem halten Wir es für notwendig, daß die leistungsgemeinschaftlichen Gebilde sowie die vielfachen Unternehmungen, in denen der Vergesellschaftungsprozeß sich vorzugsweise abspielt, sich wirklich kraft eigenen Rechtes entwickeln können und daß die Verfolgung ihrer Interessen in Einklang mit dem Gemeinwohl bleibt. Aber nicht weniger notwendig ist, daß diese Sozialgebilde die Gestalt und den Charakter echter Gemeinschaftlichkeit haben, das heißt, daß sie ihre Glieder wirklich als menschliche Personen betrachten und zur aktiven Mitarbeit anhalten.

418 66. In der Entwicklung der Organisationsform des gesellschaftlichen Zusammenlebens unserer Zeit kommen die Staaten um so leichter zur rechten Ordnung, je mehr ihnen der Ausgleich zwischen zwei Kräften gelingt: einmal den Kräften, über die die einzelnen Bürger und Gruppen verfügen, sich unter Wahrung des Zusammenhalts des Ganzen selbst zu bestimmen; dann der staatlichen Tätigkeit, die die privaten Unternehmungen in geeigneter Weise ordnet und fördert.

67. Solange sich das gesellschaftliche Leben an diese Leitsätze und an die sittliche Ordnung hält, birgt seine Verdichtung nicht naturnotwendig neue Gefahren oder untragbare Belastungen für den einzelnen Menschen in sich; ja man darf sogar hoffen, daß sie nicht nur die Behauptung und Entfaltung der der Person eigentümlichen Anlagen fördert, sondern auch zu einem gedeihlichen Zusammenwachsen der menschlichen Gesellschaft beiträgt. Dieses erwünschte Zusammenwirken ist, wie Unser Vorgänger Pius XI. im Rundschreiben Quadragesimo Anno zu bedenken gibt, eine unerläßliche Voraussetzung dafür, daß den Rechten und Pflichten des gesellschaftlichen Lebens voll Genüge geschehen kann (Quadragesimo Anno, 136/137).


Mater et Magistra DE