Novo miilennio ineunte DE 33


33 Ist es nicht vielleicht ein »Zeichen der Zeit«, daß man heute in der Welt trotz der weitreichenden Säkularisierungsprozesse ein verbreitetes Bedürfnis nach Spiritualitätverzeichnet, das größtenteils eben in einem erneuerten Gebetsbedürfnis zum Ausdruck kommt? Auch die anderen Religionen, die nunmehr in den alten Christianisierungsgebieten weit verbreitet sind, bieten ihre eigenen Antworten auf dieses Bedürfnis an und tun dies manchmal mit gewinnenden Methoden. Da uns die Gnade gegeben ist, an Christus zu glauben, den Offenbarer des Vaters und Retter der Welt, haben wir die Pflicht zu zeigen, in welche Tiefe die Beziehung zu ihm zu führen vermag.

Die große mystische Tradition der Kirche im Osten wie im Westen hat diesbezüglich viel zu sagen. Sie zeigt, wie das Gebet Fortschritte machen kann. Als wahrer und eigentlicher Dialog der Liebe kann er die menschliche Person ganz zum Besitz des göttlichen Geliebten machen, auf den Anstoß des Heiligen Geistes hin bewegt und als Kind Gottes dem Herzen des Vaters überlassen. Dann macht man die lebendige Erfahrung der Verheißung Christi: »Wer mich liebt, wird von meinem himmlischen Vater geliebt werden, und auch ich werde ihn lieben und mich ihm offenbaren« (
Jn 14,21). Es handelt sich um einen Weg, der ganz von der Gnade gehalten ist und dennoch einen starken geistlichen Einsatz verlangt. Er kennt auch schmerzvolle Reinigungen (die »dunkle Nacht«), führt aber in verschiedenen möglichen Weisen zur unsagbaren Freude, die von den Mystikern als »bräutliche Vereinigung« erlebt wurde. Wie kann man an dieser Stelle unter so vielen strahlenden Zeugnissen die Lehre des heiligen Johannes vom Kreuz und der heiligen Theresia von Avila übergehen?

Ja, liebe Schwestern und Brüder, unsere christlichen Gemeinden müssen echte »Schulen« des Gebets werden, wo die Begegnung mit Christus nicht nur im Flehen um Hilfe Ausdruck findet, sondern auch in Danksagung, Lob, Anbetung, Betrachtung, Zuhören, Leidenschaft der Gefühle bis hin zu einer richtigen »Liebschaft« des Herzens. Ein intensives Gebet also, das jedoch nicht von der historischen Aufgabe ablenkt: Denn während es auf Grund seiner Natur das Herz der Gottesliebe öffnet, öffnet es dieses auch der Liebe zu den Brüdern und befähigt sie, die Geschichte nach Gottes Plan aufzubauen.18

(18) Vgl. Kongregation für die glaubenslehre, Schreiben über einige Aspekte der christlichen Meditation Orationis forma (15. Oktober 1989): AAS 82 (1990), 362-379.
34 Gewiß sind zum Gebet vor allem jene Gläubigen aufgerufen, die das Geschenk der Berufung zu einem Leben besonderer Weihe empfangen haben: Das Gebet macht sie auf Grund seines Wesens bereiter für die kontemplative Erfahrung. Deshalb müssen sie es mit hochherzigem Einsatz pflegen. Aber man ginge fehl, würde man annehmen, die gewöhnlichen Christen könnten sich mit einem oberflächlichen Gebet zufriedengeben, das ihr Leben nicht zu erfüllen vermag. Besonders angesichts der zahlreichen Prüfungen, vor die die heutige Welt den Glauben stellt, wären sie nicht nur mittelmäßige Christen, sondern »gefährdete Christen«. Denn sie würden das gefährliche Risiko eingehen, ihren Glauben allmählich schwinden zu sehen. Schließlich würden sie womöglich dem Reiz von »Surrogaten« erliegen, indem sie alternative religiöse Angebote annehmen und sogar den seltsamen Formen des Aberglaubens nachgeben.

Deshalb muß die Gebetserziehung auf irgendeine Weise zu einem bedeutsamen Punkt jeder Pastoralplanung werden. Ich selbst habe mich darauf eingestellt, die nächsten Mittwochskatechesen der Reflexion über die Psalmen zu widmen, angefangen mit denen der Laudes. Da lädt das öffentliche Gebet der Kirche uns ein, unsere Tage zu heiligen und ihnen eine Richtung zu geben.

Wie nützlich wäre es, wenn nicht nur in den Ordensgemeinschaften, sondern auch in den Pfarrgemeinden mehr Wert auf ein Klima gelegt würde, in dem das Gebet vorherrscht. Man müßte mit der gebotenen Unterscheidung die Weisen der Volksfrömmigkeit hochschätzen und das Volk vor allem für die liturgischen Formen bilden. Der Tagesplan einer christlichen Gemeinde müßte die vielfältigen pastoralen Tätigkeiten und das Zeugnis in der Welt mit der Feier der Eucharistie und womöglich mit den Laudes und der Vesper verbinden. Ein solcher Tagesablauf ist denkbarer, als man gemeinhin glauben mag. Das zeigt die Erfahrung vieler christlich engagierter Gruppen, die auch einen hohen Anteil an Laien unter sich verzeichnen.

Die sonntägliche Eucharistiefeier


35 Der größte Einsatz muß daher für die Liturgie aufgewandt werden, die der »Höhepunkt [ist], dem das Tun der Kirche zustrebt, und zugleich die Quelle, aus der all ihre Kraft strömt«.19 Im 20. Jahrhundert, besonders seit dem Konzil, ist die christliche Gemeinde in der Feier der Sakramente, vor allem der Eucharistie, gewachsen. Man muß diese Richtung weiterverfolgen durch besondere Hervorhebung der sonntäglichen Eucharistiefeier und des Sonntags selbst, der als besonderer Tag des Glaubens, als Tag des auferstandenen Herrn und des Geschenkes des Geistes, als wöchentliches Ostern wahrgenommen wird.20 Seit zweitausend Jahren ist die christliche Zeitrechnung von der Erinnerung an jenen »ersten Tag der Woche« (Mc 16,2 Mc 16,9 Lc 24,1 Jn 20,1) geprägt, an dem der auferstandene Christus den Aposteln das Geschenk des Friedens und des Geistes brachte (vgl. Joh Jn 20,19-23). Die Wahrheit von der Auferstehung Christi ist das Ur-Ereignis, auf dem der christliche Glaube beruht (vgl. 1Co 15,14), das Ereignis, dasim Zentrum des Geheimnisses der Zeit steht und auf den letzten Tag vorausweist, an dem der glorreiche Christus wiederkommen wird. Wir wissen zwar nicht, welche Geschehnisse uns das eben beginnende Jahrtausend bescheren wird; doch wir haben die Gewißheit, daß es fest in den Händen Christi liegen wird, der »König der Könige und Herr der Herren« ist (Ap 19,16). Dadurch, daß die Kirche nicht nur einmal im Jahr, sondern an jedem Sonntag Ostern feiert, wird sie weiterhin jede Generation hinweisen »auf die tragende Achse der Geschichte, auf die sich das Geheimnis des Anfangs der Welt wie das ihrer endgültigen Bestimmung zurückführen lassen«.21

(19) II. Vat. Konzil, Konstitution über die heilige Liturgie Sacrosanctum Concilium, SC 10.
(20) Vgl. Johannes Paul II., Apostol. Schreiben über die Heiligung des Sonntags Dies Domini(31. Mai 1998), 19: AAS 90 (1978), 724.
(21) Ebd., 2: aaO., 714.
36 Deshalb möchte ich auf der Linie von Dies Domini bekräftigen, daß die Teilnahme an der Eucharistie für jeden Getauften wirklich das Herz des Sonntags sei. Dies ist ein unverzichtbarer Anspruch, den man nicht nur erfüllt, um einer Pflicht nachzukommen, sondern weil er für ein wahrhaft bewußtes und stimmiges christliches Leben notwendig ist. Wir treten in ein Jahrtausend ein, in dem sich auch in den Ländern alter christlicher Tradition ein Ineinander von Kulturen und Religionen abzeichnet. In vielen Gebieten sind oder werden die Christen eine »kleine Herde« (Lc 12,32). Dieser Umstand stellt sie vor die Herausforderung, oft auf verlorenem Posten und unter Schwierigkeiten noch kraftvoller für die besonderen Züge der eigenen Identität Zeugnis abzulegen. Dazu gehört auch die Pflicht, jeden Sonntag an der Eucharistiefeier teilzunehmen. Die Eucharistie sammelt jede Woche am Sonntag die Christen als Familie Gottes um den Tisch des Wortes und des Lebensbrotes. So ist sie auch das natürlichste Mittel gegen die Zerstreuung. Sie ist der vorzügliche Ort, wo die Gemeinschaft ständig verkündet und gepflegt wird. Gerade durch die Teilnahme an der Eucharistie wird der Tag des Herrn auch der Tag der Kirche,22 die auf diese Weise ihre Rolle als Sakrament der Einheit wirksam spielen kann.

(22) Vgl. ebd., 35: aaO., 734.

Das Sakrament der Versöhnung


37 Sodann bitte ich um einen neuen pastoralen Mut, damit die tägliche Pädagogik der christlichen Gemeinden überzeugend und wirksam die Praxis des Sakramentes der Versöhnungvorzulegen vermag. Wie ihr euch erinnert, habe ich mich im Jahre 1984 zu diesem Thema mit der nachsynodalen Exhortation Reconciliatio et paenitentia geäußert. Dieses Dokument faßte die Früchte der Überlegungen zusammen, die eine Versammlung der Bischofssynode zu diesem Problem hervorgebracht hatte. Damals habe ich darum gebeten, mit aller Anstrengung die Krise des »Sündenbewußtseins« anzugehen, die sich in der zeitgenössischen Kultur feststellen läßt.23Mehr noch habe ich dazu eingeladen, Jesus Christus als mysterium pietatis wieder freizulegen. In Christus zeigt uns Gott sein mitfühlendes Herz und versöhnt uns ganz mit sich. Dieses Antlitz Christi muß man auch durch das Sakrament der Buße neu zeigen. Das Bußsakrament ist für einen Christen »der ordentliche Weg, um die Vergebung und die Verzeihung seiner schweren Sünden zu erlangen, die er nach der Taufe begangen hat«.24 Als die schon erwähnte Synode das Problem behandelte, hatten alle die Krise des Sakraments im Auge, die sich besonders in einigen Gebieten der Welt zeigt. Die Gründe, die an der Wurzel liegen, sind in dieser kurzen Zeitspanne nicht geschwunden. Doch war das Jubiläumsjahr besonders von einer Rückkehr zur sakramentalen Buße geprägt; so hält es eine ermutigende Botschaft bereit, die man nicht unterschlagen sollte: Wenn viele Gläubige, darunter auch zahlreiche Jugendliche, dieses Sakrament fruchtbar empfangen haben, dann müssen wahrscheinlich die Hirten mehr Vertrauen, mehr Phantasie und einen längeren Atem haben, um das Bußsakrament in der Verkündigung vorzulegen und seine Wertschätzung zu fördern. Wir dürfen, liebe Brüder im Priesteramt, vor zeitbedingten Krisen nicht resignieren! Die Gaben des Herrn — und die Sakramente gehören zu den wertvollsten — kommen von Demjenigen, der das Herz des Menschen gut kennt und der der Herr der Geschichte ist.

(23) Vgl. Nr. 18: AAS 77 (1985), 224.
(24) Ebd., 31: aaO., 258.

Der Vorrang der Gnade


38 Sich mit größerem Vertrauen in der vor uns liegenden Planung für eine Seelsorge einzusetzen, die dem persönlichen und gemeinschaftlichen Gebet ganz Raum gibt, bedeutet ein wesentliches Prinzip der christlichen Lebensauffassung zu achten: der Vorrang der Gnade. Es gibt eine Versuchung, die seit jeher jeden geistlichen Weg und selbst das pastorale Wirken gefährdet: zu glauben, daß die Ergebnisse von unserem Machen und Planen abhängen. Gewiß bittet uns Gott um eine reale Mitwirkung an seiner Gnade und fordert uns daher auf, alle unsere intellektuellen und praktischen Fähigkeiten in unseren Dienst für die Sache des Reiches Gottes zu investieren. Aber wehe, wenn wir vergessen, daß wir »ohne Christus nichts vollbringen können« (vgl. Joh Jn 15,5).

Das Gebet läßt uns genau in dieser Wahrheit leben. Es erinnert uns beständig an den Primat Christi und im Verhältnis zu ihm an den Primat des inneren Lebens und der Heiligkeit. Muß man sich, wann immer dieses Prinzip nicht eingehalten wird, noch wundern, wenn die pastoralen Vorhaben auf ein Scheitern zusteuern und im Herzen ein entmutigendes Gefühl der Frustration zurücklassen? Dann machen wir die Erfahrung, die den Jüngern beim wunderbaren Fischfang zuteil wurde. Das Evangelium berichtet von dieser Episode: »Wir haben die ganze Nacht gearbeitet und nichts gefangen« (Lc 5,5). Das ist der Augenblick des Glaubens, des Gebets, des Dialogs mit Gott, um das Herz dem Strom der Gnade zu öffnen und dem Wort Christi zu gestatten, uns mit aller Kraft zu durchdringen: Duc in altum! Es war Petrus, der bei jenem Fischfang das Wort des Glaubens sprach: »Doch wenn du es sagst, werde ich die Netze auswerfen« (ebd.). Gestattet dem Nachfolger Petri an diesem Beginn des Jahrtausends, die ganze Kirche zu diesem Glaubensakt einzuladen, der sich in einem erneuerten Bemühen um das Gebet ausdrückt.

Auf das Wort hören


39 Es besteht kein Zweifel, daß man diesen Primat des Gebets und der Heiligkeit nur von einem erneuerten Hören des Wortes Gottes her annehmen kann. Seitdem das II. Vatikanische Konzil die herausragende Rolle des Wortes Gottes im Leben der Kirche unterstrichen hat, hat man im eifrigen Hören und aufmerksamen Lesen der Heiligen Schrift sicher große Fortschritte gemacht. Der Heiligen Schrift ist die Ehre sicher, die sie im öffentlichen Gebet der Kirche verdient. Auf sie greifen nunmehr in größerem Maße die einzelnen und die Gemeinden zurück; gerade unter den Laien gibt es viele, die sich ihr auch mit der wertvollen Hilfe theologischer und biblischer Studien widmen. Vor allem ist es auch die Arbeit der Evangelisierung und der Katechese, die gerade in der Aufmerksamkeit für das Wort Gottes neu belebt wird. Liebe Brüder und Schwestern, diese Linie gilt es auch durch die Verbreitung der Bibel in den Familien zu festigen und zu vertiefen. Besonders notwendig ist es, daß das Hören des Wortes zu einer lebendigen Begegnung in der alten und noch immer gültigen Tradition der lectio divina wird. Sie läßt uns im biblischen Text das lebendige Wort erfassen, das Fragen an uns stellt, Orientierung gibt und unser Dasein gestaltet.

Das Wort verkünden


40 Uns vom Wort nähren, um im Bemühen um die Evangelisierung »Diener des Wortes zu sein«: Das ist mit Sicherheit eine Priorität für die Kirche am Beginn des neuen Jahrtausends. Der Bestand einer »christlichen Gesellschaft«, die sich, trotz der vielen Schwächen, die das Menschliche immer kennzeichnen, ausdrücklich an die Werte des Evangeliums hielt, gehört inzwischen auch in den alten Evangelisierungsgebieten der Vergangenheit an. Heute muß man sich mutig einer Situation stellen, die im Zusammenhang mit der Globalisierung und der neuen gegenseitigen Verflechtung von Völkern und Kulturen, die sie mit sich bringt, immer vielfältiger und anspruchsvoller wird. Unzählige Male habe ich in diesen Jahren den Aufruf zurNeuevangelisierung wiederholt. Ich bekräftige ihn jetzt noch einmal, vor allem um darauf hinzuweisen, daß es unbedingt nötig ist, in uns wieder den Schwung des Anfangs dadurch zu entzünden, daß wir uns von dem glühenden Eifer der apostolischen Verkündigung, die auf Pfingsten folgte, mitreißen lassen. Wir müssen uns die glühende Leidenschaft des Paulus zu eigen machen, der ausrief: »Weh mir, wenn ich das Evangelium nicht verkünde!« (1Co 9,16).

Diese Leidenschaft wird es nicht versäumen, ein neues missionarisches Engagement in der Kirche zu wecken, das nicht einer kleinen Schar von »Spezialisten« übertragen werden kann, sondern letztendlich die Verantwortung aller Glieder des Gottesvolkes einbeziehen muß. Wer Christus wirklich begegnet ist, kann ihn nicht für sich behalten, er muß ihn verkündigen. Ein neuer apostolischer Aufbruch tut not, der als tägliche Verpflichtung der christlichen Gemeinden und Gruppen gelebt werden soll. Das wird jedoch mit dem gebührenden Respekt vor dem jeweils unterschiedlichen Weg eines jeden Menschen und mit Aufmerksamkeit gegenüber den verschiedenen Kulturen geschehen, in die die christliche Botschaft eingebettet werden soll, so daß die spezifischen Werte jedes Volkes nicht verleugnet, sondern gereinigt und zu ihrer Fülle gebracht werden.

Das Christentum des dritten Jahrtausends wird immer auf diese Notwendigkeit der Inkulturationeingehen müssen. Es bewahrt voll seine eigene Identität in totaler Treue zur Verkündigung des Evangeliums und zur Tradition der Kirche und trägt auch das Angesicht der vielen Kulturen und Völker, in die es hineingegeben und verwurzelt wird. An der Schönheit dieses vielseitigen Gesichtes der Kirche haben wir uns besonders im Jubiläumsjahr erfreut. Vielleicht ist es nur ein Anfang, eine gerade einmal skizzierte Ikone der Zukunft, die Gottes Geist für uns bereitet.

Das Angebot Jesu Christi muß voll Vertrauen an alle ergehen. Man soll sich an die Erwachsenen, an die Familien, an die Jugendlichen, an die Kinder wenden, ohne jemals die radikalsten Forderungen zu verheimlichen, die das Evangelium stellt. Doch man muß auch den Bedürfnissen jedes einzelnen entgegenkommen, was Einfühlungsvermögen und Sprache angelangt. Paulus kann dafür als Beispiel dienen: »Allen bin ich alles geworden, um auf jeden Fall einige zu retten« (1Co 9,22). Während ich das alles empfehle, denke ich besonders an die Jugendseelsorge.Gerade im Hinblick auf die Jugendlichen hat uns das Jubiläum — woran ich kurz vorher schon erinnert habe — ein Zeugnis hochherziger Bereitschaft geboten. Wir müssen diese tröstende Antwort dadurch zur Geltung bringen, daß wir jenen Enthusiasmus wie ein neues Talent investieren (vgl. Mt Mt 25,15), das der Herr uns in die Hand gegeben hat, damit wir es Früchte bringen lassen.


41 In diesem vertrauensvollen, zupackenden und kreativen missionarischen Bemühen trage und leite uns das leuchtende Beispiel vieler Glaubenszeugen, an die uns das Jubiläum erinnert hat. Die Kirche hat in ihren Märtyrern stets einen Samen des Lebens gefunden. Sanguis martyrum — semen christianorum: 25 Dieses berühmte »Gesetz«, das Tertullian aufstellte, hat seine Wahrheit in der Geschichte bewiesen. Wird es nicht auch so sein für das Jahrhundert, ja das Jahrtausend, das wir gerade beginnen? Vielleicht haben wir uns zu sehr daran gewöhnt, die Märtyrer weit weg von uns zu rücken, als handelte es sich um eine Kategorie der Vergangenheit, die vor allem mit den ersten Jahrhunderten der christlichen Zeitrechnung zu verbinden ist. Das Gedächtnis des Jubiläums hat uns einen überraschenden Schauplatz eröffnet. Es hat uns gezeigt, daß unsere Zeit reich ist an Zeugen, die auf je eigene Weise trotz Widerstand und Verfolgung das Evangelium zu leben vermochten und dabei oft bis zur höchsten Hingabe des Blutes gegangen sind. In ihnen ist das Wort Gottes auf guten Boden gefallen und hat hundertfältige Frucht gebracht (vgl. Mt Mt 13,8 Mt Mt 13,23). Mit ihrem Beispiel haben sie uns den Weg in die Zukunft gewiesen und gleichsam geebnet. Uns bleibt nichts, als mit der Gnade Gottes in ihre Fußstapfen zu treten.

(25) Tertullian, Apolog., 50,13: PL 1, 534.


IV

EINE ZUKUNFT DER LIEBE


42 »Daran werden alle erkennen, daß ihr meine Jünger seid: wenn ihr einander liebt« (Jn 13,35). Wenn wir das Antlitz Christi wirklich betrachtet haben, liebe Brüder und Schwestern, dann muß sich unsere pastorale Planung an dem »neuen Gebot« ausrichten, das er uns gegeben hat: »Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben« (Jn 13,34).

Der andere große Bereich, wo sich ein entschlossenes Engagement für die Planung auf der Ebene der Gesamtkirche und der Teilkirchen ausdrücken muß, ist die Gemeinschaft (koinonía, communio), die das eigentliche Wesen des Geheimnisses der Kirche verkörpert und deutlich macht. Die Gemeinschaft ist Frucht und sichtbarer Ausdruck jener Liebe, die aus dem Herzen des ewigen Vaters entspringt und durch den Geist, den uns Jesus schenkt (vgl. Röm Rm 5,5), in uns ausgegossen wird, um aus uns allen »ein Herz und eine Seele« (Ac 4,32) zu machen. Durch die Verwirklichung dieser Liebesgemeinschaft offenbart sich die Kirche als »Sakrament«, das heißt als »Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit«.26

Die Worte, die der Herr dafür findet, sind zu klar, als daß man ihre Bedeutung unterschätzen könnte. Wenn die Kirche auf ihrem Weg durch die Zeit auch im neuen Jahrhundert viele Dinge braucht, ohne die Liebe (agape) wäre alles umsonst. Der Apostel Paulus selbst erinnert uns daran in seinem Hymnus an die Liebe: Auch wenn wir in den Sprachen der Menschen und Engel redeten und einen Glauben hätten, »um damit Berge zu versetzen«, hätten aber die Liebe nicht, wäre alles »nichts« (vgl. 1Co 13,2). Die Liebe ist wirklich das »Herz« der Kirche, wie es die heilige Theresia von Lisieux richtig erfaßt hatte. Gerade als Expertin der scientia amoris habe ich sie zur Kirchenlehrerin erhoben: »Ich verstand, daß die Kirche ein Herz hatte und daß dieses Herz von Liebe entflammt war. Ich verstand, daß nur die Liebe die Glieder der Kirche handeln ließ [...]. Ich verstand, daß die Liebe alle Berufungen einschloß, daß die Liebe alles war«.27

(26) II. Vat. Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium, LG 1.
(27) MSB 3vo, Opere Complete, Città del Vaticano 1997, 223.

Eine Spiritualität der Gemeinschaft


43 Die Kirche zum Haus und zur Schule der Gemeinschaft machen, darin liegt die große Herausforderung, die in dem beginnenden Jahrtausend vor uns steht, wenn wir dem Plan Gottes treu sein und auch den tiefgreifenden Erwartungen der Welt entsprechen wollen.

Was bedeutet das konkret? Auch hier könnte die Rede sofort praktisch werden, doch es wäre falsch, einem solchen Anstoß nachzugeben. Vor der Planung konkreter Initiativen gilt es, eine Spiritualität der Gemeinschaft zu fördern, indem man sie überall dort als Erziehungsprinzip herausstellt, wo man den Menschen und Christen formt, wo man die geweihten Amtsträger, die Ordensleute und die Mitarbeiter in der Seelsorge ausbildet, wo man die Familien und Gemeinden aufbaut. Spiritualität der Gemeinschaft bedeutet vor allem, den Blick des Herzens auf das Geheimnis der Dreifaltigkeit zu lenken, das in uns wohnt und dessen Licht auch auf dem Angesicht der Brüder und Schwestern neben uns wahrgenommen werden muß. Spiritualität der Gemeinschaft bedeutet zudem die Fähigkeit, den Bruder und die Schwester im Glauben in der tiefen Einheit des mystischen Leibes zu erkennen, d.h. es geht um »einen, der zu mir gehört«, damit ich seine Freuden und seine Leiden teilen, seine Wünsche erahnen und mich seiner Bedürfnisse annehmen und ihm schließlich echte, tiefe Freundschaft anbieten kann. Spiritualität der Gemeinschaft ist auch die Fähigkeit, vor allem das Positive im anderen zu sehen, um es als Gottesgeschenk anzunehmen und zu schätzen: nicht nur ein Geschenk für den anderen, der es direkt empfangen hat, sondern auch ein »Geschenk für mich«. Spiritualität der Gemeinschaft heißt schließlich, dem Bruder »Platz machen« können, indem »einer des anderen Last trägt« (
Ga 6,2) und den egoistischen Versuchungen widersteht, die uns dauernd bedrohen und Rivalität, Karrierismus, Mißtrauen und Eifersüchteleien erzeugen. Machen wir uns keine Illusionen: Ohne diesen geistlichen Weg würden die äußeren Mittel der Gemeinschaft recht wenig nützen. Sie würden zu seelenlosen Apparaten werden, eher Masken der Gemeinschaft als Möglichkeiten, daß diese sich ausdrücken und wachsen kann.


44 Auf dieser Grundlage werden wir uns im neuen Jahrhundert mehr denn je dafür einsetzen müssen, jene Bereiche und Hilfsmittel zu erschließen und zu entwickeln, die gemäß den großen Richtlinien des II. Vatikanischen Konzils dazu dienen, die Gemeinschaft zu stützen und zu sichern. Muß man da nicht vor allem an die besonderen Dienste an der Gemeinschaft denken, wie etwa das Petrusamt und, in enger Beziehung zu ihm, die bischöfliche Kollegialität? Es handelt sich um Wirklichkeiten, die ihre Grundlage und ihren Bestand im Plan Christi für die Kirche haben,28 aber eben deshalb einer ständigen Überprüfung bedürfen, damit garantiert bleibt, daß sie wirklich vom Evangelium her inspiriert sind.

Auch was die Reform der Römischen Kurie, die Organisation der Synoden und die Arbeitsweise der Bischofskonferenzen betrifft, ist seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil viel geschehen. Aber es bleibt sicherlich noch viel zu tun, um die Möglichkeiten dieser Werkzeuge der Gemeinschaft besser zum Ausdruck zu bringen. Sind diese doch heute besonders notwendig, da man unverzüglich und wirkungsvoll auf die Probleme antworten muß, mit denen sich die Kirche in den sich überstürzenden Veränderungen unserer Zeit auseinanderzusetzen hat.

(28) Vgl. II. Vat. Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium, Kap. III.

45 Die Räume der Gemeinschaft müssen im gesamten Leben jeder Kirche Tag für Tag auf allen Ebenen gepflegt und ausgeweitet werden. Hier muß die Gemeinschaft zum Strahlen kommen in den Beziehungen zwischen Bischöfen, Priestern und Diakonen, zwischen Hirten und dem ganzen Volk Gottes, zwischen Klerus und Ordensleuten, zwischen kirchlichen Vereinigungen und Bewegungen. Zu diesem Zweck muß man die vom Kirchenrecht zur Mitarbeit in der Teilkirche vorgesehenen Organe, wie die Priester- und Pastoralräte, immer besser zur Geltung bringen. Sie folgen zwar bekanntlich nicht den Kriterien der parlamentarischen Demokratie, weil ihre Arbeit Beratungs- und nicht Entscheidungscharakter hat; 29 doch verlieren sie deshalb nicht anBedeutung. Theologie und Spiritualität der Gemeinschaft bewirken nämlich ein wechselseitiges Zuhören zwischen Hirten und Gläubigen. Dadurch bleiben sie einerseits in allem, was wesentlich ist, a priori eins, und andererseits führt das Zuhören dazu, daß es auch in den diskutierbaren Fragen normalerweise ausgewogene und gemeinsam vertretbare Entscheidungen kommt.

Zu diesem Zweck müssen wir uns die alte pastorale Weisheit zu eigen machen, welche die Hirten, ohne jegliche Schmälerung ihrer Autorität, dazu ermutigte, das ganze Volk Gottes so weit wie möglich anzuhören. Bezeichnend ist, woran der heilige Benedikt den Abt des Klosters erinnert, wenn er ihn auffordert, auch die jüngsten Mitglieder zu befragen: »Der Herr offenbart oft einem Jüngeren, was das Bessere ist«.30 Und der heilige Paulinus von Nola mahnt: »Wir wollen an den Lippen aller Glaubenden hängen, weil in jedem Gläubigen der Geist Gottes weht«.31

Wenn daher die Rechtsweisheit durch präzise Festlegung von Regeln für die Teilnahme die hierarchische Struktur der Kirche herausstellt sowie Versuchungen zu Willkür und ungerechtfertigten Ansprüchen abwehrt, so verleiht die Spiritualität der Gemeinschaft dem institutionellen Tatbestand eine Seele und leitet zu Vertrauen und Öffnung an, die der Würde und Verantwortung eines jeden Gliedes des Gottesvolkes voll entspricht.

(29) Vgl. Kongregation für den klerus und andere, Instruktion zu einigen Fragen über die Mitarbeit der Laien am Dienst der Priester Ecclesiae de mysterio (15. August 1997): AAS 89 (1997), S. 852-877, besonders Art. 5: Organe der Mitarbeit in der Teilkirche.
(30) Regula, III, 3: »Ideo autem omnes ad consilium vocari diximus, quia saepe iuniori Dominus revelat quod melius est«.
(31) »De omnium fidelium ore pendeamus, quia in omnem fidelem Spiritus Dei spirat«: Epist.23, 36 an Sulpicius Severus: CSEL 29, 193.

Die Vielfalt der Berufungen


46 Diese Sicht von Gemeinschaft ist eng verbunden mit der Fähigkeit der christlichen Gemeinschaft, allen Gaben des Geistes Raum zu geben. Die Einheit der Kirche bedeutet nicht Einförmigkeit, sondern organische Integration der legitimen Verschiedenheiten. Es geht um die Wirklichkeit, daß die vielen Glieder in einem Leib verbunden sind, dem einzigen Leib Christi (vgl. 1Co 12,12). Es ist daher notwendig, daß die Kirche des dritten Jahrtausends alle Getauften und Gefirmten dazu anspornt, sich ihrer aktiven Verantwortung im kirchlichen Leben bewußt zu werden. Neben dem geweihten Amt können zum Wohl der ganzen Gemeinschaft noch andere Dienste blühen, die durch Einsetzung oder einfach durch Anerkennung übertragen werden. Diese Dienste unterstützen die Gemeinschaft in ihren vielfältigen Bedürfnissen — von der Katechese bis zur Gestaltung des Gottesdienstes, von der Erziehung der Kinder bis zu den verschiedenartigsten Formen der Nächstenliebe.

Gewiß muß man sich mit vollem Eifer — vor allem durch das inständige Gebet zum »Herrn der Ernte« (vgl. Mt Mt 9,38) — für die Förderung der Priester- und Ordensberufe einsetzen. Darin liegt ein Problem, das für das Leben der Kirche in allen Teilen der Welt von hoher Tragweite ist. In bestimmten Ländern, die schon seit alten Zeiten das Evangelium empfangen hatten, ist es geradezu dramatisch geworden. Das liegt an dem veränderten gesellschaftlichen Umfeld und an der religiösen Austrocknung, die vom Konsumismus und vom Säkularismus herrührt. Es ist dringend notwendig, eine breitangelegte und engmaschige Berufungspastoral zu schaffen. Sie muß die Pfarreien, Bildungszentren und Familien erreichen und ein aufmerksameres Nachdenken über die wesentlichen Werte des Lebens wecken. Diese finden ihre entscheidende Zusammenschau in der Antwort, die jeder auf den Ruf Gottes geben soll. Dies gilt besonders dann, wenn die Antwort es erfordert, sich selbst ganz hinzugeben und die eigenen Energien für das Reich Gottes einzusetzen.

In diesem Zusammenhang bekommt auch jede andere Berufung ihre Bedeutung, die letztlich im Reichtum des im Sakrament der Taufe empfangenen neuen Lebens wurzelt. Besonders muß man immer besser die Berufung entdecken, die den Laien zu eigen ist. Sie sind dazu berufen, »in der Verwaltung und gottgemäßen Regelung der zeitlichen Dinge das Reich Gottes zu suchen« 32 und »durch ihr Bemühen um die Evangelisierung und Heiligung der Menschen« 33 die ihnen eigenen Aufgaben in Kirche und Welt zu erfüllen.

Genauso bedeutsam für die Gemeinschaft ist die Verpflichtung, die verschiedenen Wirklichkeiten von Zusammenschlüssen zu fördern. Ob in den traditionelleren Formen oder in den neueren Formen der kirchlichen Bewegungen, jedenfalls hören sie nicht auf, der Kirche eine Lebendigkeit zu verleihen, die Geschenk Gottes ist und einen echten »Frühling des Geistes« darstellt. Natürlich müssen die Verbände und Bewegungen sowohl in der Universalkirche als auch in den Teilkirchen in vollem Einklang mit der Kirche und im Gehorsam gegenüber den authentischen Weisungen der Bischöfe arbeiten. Für alle gilt aber auch die anspruchsvolle und deutliche Mahnung des Apostels: »Löscht den Geist nicht aus! Verachtet prophetisches Reden nicht! Prüft alles und behaltet das Gute!« (1Th 5,19-21).

(32) II. Vat. Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium, LG 31.
(33) II. Vat. Konzil, Dekret über das Laienapostolat Apostolicam actuositatem, AA 2.
47 Mit besonderer Sorgfalt muß man sich der Familienpastoral widmen, die um so nötiger ist in diesem Augenblick der Geschichte, da eine verbreitete und tiefgreifende Krise dieser fundamentalen Institution zu verzeichnen ist. In der christlichen Auffassung von der Ehe entspricht die Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau — eine gegenseitige und ganzheitliche, einzige und unauflösbare Beziehung — dem ursprünglichen Plan Gottes, der in der Geschichte durch die Verhärtung des Herzens verdunkelt worden war; doch Christus stellte durch die Enthüllung dessen, was Gott »am Anfang« gewollt hat (Mt 19,8), die Ehe in ihrem ursprünglichen Glanz wieder her. In der zur Würde des Sakraments erhobenen Ehe kommt sodann das »tiefe Geheimnis« der bräutlichen Liebe Christi zu seiner Kirche zum Ausdruck (vgl. Ep 5,32).

Die Kirche darf in diesem Punkt dem Druck einer bestimmten Kultur, mag sie auch weit verbreitet und mitunter kämpferisch sein, nicht nachgeben. Vielmehr muß man alles daran setzen, daß durch eine immer vollkommenere Erziehung im Geist des Evangeliums die christlichen Familien ein überzeugendes Beispiel dafür geben, daß man eine Ehe leben kann, die voll und ganz dem Plan Gottes und den tatsächlichen Bedürfnissen der menschlichen Person entspricht: jener der Eheleute und vor allem jener viel zerbrechlicheren der Kinder. Die Familien selbst müssen sich immer mehr die den Kindern gebührende Sorge und Aufmerksamkeit bewußt machen und zu aktiven Trägern einer wirksamen Präsenz in Kirche und Gesellschaft zum Schutz ihrer Rechte werden.

Der ökumenische Einsatz


48 Was soll man sagen über die Dringlichkeit einer Förderung der Gemeinschaft in dem heiklen Bereich des ökumenischen Bemühens? Die traurige Hinterlassenschaft der Vergangenheit verfolgt uns noch über die Schwelle des neuen Jahrtausends hinaus. Die Feier des Jubiläums hat einige wahrhaft prophetische und ergreifende Zeichen gesetzt; aber es steht uns noch ein weiter Weg bevor.

Indem das Große Jubiläum unseren Blick auf Christus hinlenkte, hat es uns die Kirche als Geheimnis der Einheit wieder bewußter gemacht. »Ich glaube die eine Kirche«: Was wir im Glaubensbekenntnis sprechen, hat seine letzte Grundlage in Christus (vgl.
1Co 1,11-13), in dem die Kirche nicht geteilt ist. Insofern die Kirche in der vom Geschenk des Geistes her gewirkten Einheit sein Leib ist, ist sie unteilbar. Die Wirklichkeit der Spaltung ist ein Ergebnis der Geschichte und eine Sache der Beziehung unter den Söhnen und Töchtern der Kirche, eine Folge der menschlichen Gebrochenheit im Hinblick auf die Annahme des Geschenks, das ständig von Christus, dem Haupt, in den mystischen Leib fließt. Jesus hat im Abendmahlssaal gebetet: »Alle sollen eins sein. Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns sein« (Jn 17,21). Diese Bitte ist Offenbarung und Anrufung zugleich. Sie offenbart die Einheit Jesu Christi mit dem Vater als Quelle der Einheit der Kirche und immerwährendes Geschenk, das die Kirche in ihm auf geheimnisvolle Weise bis zum Ende der Zeiten empfängt. Diese Einheit, die sich trotz der dem Menschlichen eigenen Grenzen in der katholischen Kirche konkret verwirklicht, wirkt in verschiedenem Maß auch in den vielen Elementen der Heiligung und Wahrheit, die sich in den anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften finden. Diese Elemente sind der Kirche Jesu Christi eigene Gaben und drängen die anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften unablässig zur vollen Einheit.34

Das Gebet Jesu Christi erinnert uns, daß dieses Geschenk immer mehr angenommen und noch tiefer erfaßt werden muß. Die Anrufung »ut unum sint« ist zugleich Imperativ, der verpflichtet, Kraft, die trägt und heilsamer Tadel für unsere Trägheit und Enge des Herzens. Nicht auf unseren Fähigkeiten, sondern auf dem Gebet Jesu fußt das Vertrauen, daß wir auch in der Geschichte zur vollen und sichtbaren Gemeinschaft mit allen Christen gelangen können.

Aus dieser Sicht eines nach dem Jubiläumsjahr erneuerten Weges blicke ich mit großer Hoffnung auf die Kirchen des Ostens und wünsche mir, daß jener Austausch von Gaben wieder voll einsetzen möge, der die Kirche des ersten Jahrtausends bereichert hat. Möge die Erinnerung an die Zeit, in der die Kirche mit »zwei Lungen« atmete, die Christen im Osten und im Westen anspornen, einen gemeinsamen Weg zu gehen in der Einheit des Glaubens und in der Achtung vor den legitimen Unterschieden, indem sie sich gegenseitig als Glieder des einen Leibes Christi annehmen und unterstützen.

Mit ähnlichem Engagement muß man den ökumenischen Dialog mit den Brüdern und Schwestern der anglikanischen Gemeinschaft und der aus der Reformation hervorgegangenen kirchlichen Gemeinschaften pflegen. Die theologische Gegenüberstellung über wesentliche Punkte des Glaubens und der christlichen Moral, die Zusammenarbeit in der Liebe und vor allem der großartige Ökumenismus der Heiligkeit werden mit Gottes Hilfe in Zukunft ihre Früchte tragen. Inzwischen setzen voll Zuversicht unseren Weg fort, während wir den Augenblick herbeisehnen, da wir zusammen mit allen Jüngern Christi ohne Ausnahme aus voller Kehle singen können: »Seht doch, wie gut und schön ist es, wenn Brüder miteinander in Eintracht wohnen« (Ps 133,1).

(34) Vgl. II. Vat. Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium, LG 8.


Novo miilennio ineunte DE 33