Populorum progressio DE


POPULORUM PROGRESSIO


DIE ENTWICKLUNG DER VÖLKER

26. März 1967 (1)



Einleitung

WELTWEITE AUSMASSE DER SOZIALEN FRAGE



1 Die Entwicklung der Völker wird von der Kirche aufmerksam verfolgt: vor allem derer, die dem Hunger, dem Elend, den herrschenden Krankheiten, der Unwissenheit zu entrinnen suchen; derer, die umfassender an den Früchten der Zivilisation teilnehmen und ihre Begabung wirksamer zur Geltung bringen wollen, die entschieden ihre vollere Entfaltung erstreben. Das Zweite Vatikanische Konzil wurde vor kurzem abgeschlossen. Seither steht das, was das Evangelium in dieser Frage fordert, klarer und lebendiger im Bewußtsein der Kirche. Es ist ihre Pflicht, sich in den Dienst der Menschen zu stellen, um ihnen zu helfen, dieses schwere Problem in seiner ganzen Breite anzupacken, und sie in diesem entscheidenden Augenblick der Menschheitsgeschichte von der Dringlichkeit gemeinsamen Handelns zu überzeugen.


2 In ihren großen Enzykliken Rerum novarum Leos XIII. (2), Quadragesimo anno Pius' XI. (3)- nicht zu sprechen von den Botschaften, die Pius XII. (4) durch den Rundfunk an alle Völker gerichtet hat3 -, Mater et magistra (5) und Pacem in terris (6) Johannes' XXIII. haben sich Unsere Vorgänger der Pflicht ihres Amtes, die soziale Frage ihre Zeit im Licht des Evangeliums zu erhellen, nicht entzogen.


3 Heute ist - darüber müssen sich alle klar sein - die soziale Frage weltweit geworden. Johannes XXIII. hat dies deutlich ausgesprochen (7), und das Konzil hat es in der pastoralen Konstitution über Die Kirche in der Welt von heute (8) bestätigt. Die darin enthaltene Lehre ist gewichtig, ihre Verwirklichung drängt. Die Völker, die Hunger leiden, bitten die Völker, die im Wohlstand leben, dringend und inständig um Hilfe. Die Kirche erzittert vor diesem Schrei der Angst und wendet sich an jeden einzelnen, dem Hilferuf seines Bruders in Liebe zu antworten.


4 Bevor Uns die Leitung der katholischen Kirche anvertraut wurde, haben Uns zwei Reisen, die eine nach Lateinamerika (1960), die andere nach Afrika (1962), in unmittelbare Berührung mit den beängstigenden Problemen gebracht, die jene Kontinente, die an sich reich sind an unverbrauchten körperlichen und geistigen Kräften, bedrängen und geradezu einschnüren. Erhoben zu dem Amt, dem die väterliche Sorge um alle Menschen obliegt, konnten Wir anläßlich der Reisen ins Heilige Land und nach Indien die ungeheuren Schwierigkeiten sehen und gleichsam mit unseren Händen greifen, mit denen sich jene Völker einer alten Kultur auseinanderzusetzen haben, um die Entwicklung ihrer Verhältnisse zu erlangen. Schließlich ergab sich gegen Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils für Uns durch Gottes Fügung die Gelegenheit, Uns an die Generalversammlung der Vereinten Nationen zu wenden. Wir haben Uns vor diesem weltweiten Forum zum Anwalt der armen Völker gemacht.


5 Erst jüngst haben Wir schließlich in dem Bestreben, den Wünschen des Konzils zu entsprechen und zugleich dem Interesse des Apostolischen Stuhles an der großen und gerechten Sache der Entwicklungsländer Ausdruck zu geben, es für Unsere Pflicht erachtet, die Behörden der Römischen Kurie durch eine Päpstliche Kommission zu ergänzen, deren Aufgabe es sein soll, "im ganzen Volk Gottes die Einsicht zu wecken, welche Aufgaben die Gegenwart von ihm fordert: die Entwicklung der armen Völker vorantreiben, die soziale Gerechtigkeit zwischen den Nationen fördern; den weniger entwickelten Nationen zu helfen, daß sie selbst und für sich selbst an ihrem Fortschritt arbeiten können (9)". "Gerechtigkeit und Friede" ist Name und Programm dieser Kommission. Wir zweifeln nicht daran, daß sich mit Unseren katholischen Söhnen und den christlichen Brüdern alle Menschen guten Willens vereinen werden, um diese Vorhaben in die Tat umzusetzen. Deshalb richten Wir heute an alle diesen feierlichen Aufruf zu gemeinsamem Werk in Fragen der Entwicklung, einer umfassenden für jeden Menschen, einer solidarischen für die Menschheit.

Erster Teil


UMFASSENDE ENTWICKLUNG DES MENSCHEN

1. Das Problem


6 Freisein von Elend, Sicherung des Lebensunterhalts, Gesundheit, feste Beschäftigung, Schutz vor Situationen, die seine Würde als Mensch verletzen, ständig wachsende Leistungsfähigkeit, bessere Bildung, mit einem Wort: mehr arbeiten, mehr lernen, mehr besitzen, um mehr zu gelten. Das ist die Sehnsucht des Menschen von heute, und doch ist eine große Zahl von ihnen dazu verurteilt, unter Bedingungen zu leben, die dieses Verlangen illusorisch machen. Überdies empfinden viele Völker, die erst vor kurzem ihre nationale Selbständigkeit erlangt haben, die Notwendigkeit, daß zu der erlangten bürgerlichen Freiheit die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung hinzukomme, um ihren Bürgern eine volle menschliche Entfaltung zu sichern und somit einen angemessenen Platz in der Gemeinschaft der Völker zu erlangen.


7 Vor dem Umfang und der Dringlichkeit dieser Aufgabe sind die bisherigen Mittel unzureichend; aber sie waren nicht schlechthin falsch. Man wird sicher zugeben müssen, daß die Kolonialmächte häufig ihre eigenen Interessen verfolgt haben, ihre Machtstellung, ihr Ansehen, und daß ihr Abzug manchmal eine verwundbare wirtschaftliche Situation hinterlassen hat, die z.B. an den Ertrag einer Monokultur gebunden war, deren Erzeugnisse jähen und breiten Preisschwankungen ausgesetzt sind. Man kann sicherlich manche Übelstände eines sogenannten Kolonialismus und seine Folgen nicht leugnen. Trotzdem darf man auch die Tüchtigkeit und das Werk mancher Kolonisatoren rühmend erwähnen, die so manchem bettelarmen Land ihr Wissen und ihr Können zur Verfügung gestellt und gesegnete Früchte ihres Wirkens hinterlassen haben. So unvollkommen auch die damals geschaffenen Einrichtungen sein mögen, sie haben die Unwissenheit und die Krankheit zurückgedrängt, neue Verbindungswege eröffnet und die Lebenslage verbessert.


8 Dies alles zugegeben, ist es trotzdem einleuchtend, daß diese Einrichtungen schlechthin unzureichend sind, um der schwierigen wirtschaftlichen Situation in unseren Tagen zu steuern. Wenn nämlich die Möglichkeiten, die heute zur Verfügung stehen, nicht genutzt werden, so führt dies notwendig zur Verschärfung der Ungleichheiten, nicht zur Entspannung, zum Mißverhältnis im Lebensstandard: die reichen Völker erfreuen sich eines raschen Wachstums, bei den armen geht es nur langsam voran. Die Störung des Gleichgewichts wird bedrohlicher: die einen erzeugen Nahrungsmittel in Überfluß, während andere daran jämmerlichen Mangel leiden oder für ihren geringfügigen Überschuß keine gesicherten Absatzmöglichkeiten haben.


9 Gleichzeitig haben die sozialen Konflikte weltweites Ausmaß angenommen. Unruhen, die die ärmeren Bevölkerungsklassen während der Entwicklung ihres Landes zum Industriestaat erfaßt haben, greifen auch auf Länder über, deren Wirtschaft noch fast rein agrarisch ist. Auch die ländliche Bevölkerung wird sich so heute ihrer "elenden und unheilvollen Verhältnisse" bewußt(10). Und zu allem kommt der Skandal schreiender Ungerechtigkeit nicht nur im Besitz der Güter, sondern mehr noch in deren Gebrauch. Eine kleine Schicht genießt in manchen Ländern alle Vorteile der Zivilisation und der Rest der Bevölkerung ist arm, hin- und hergeworfen und ermangelt "fast jeder Möglichkeit, initiativ und eigenverantwortlich zu handeln, und befindet sich oft in Lebens- und Arbeitsbedingungen, die des Menschen unwürdig sind (11)".


10 Ein weiterer Punkt: das Aufeinanderprallen der überlieferten Kulturen mit der neuen industriellen Welt zerbricht die Strukturen, die sich nicht den neuen Gegebenheiten anpassen. Ihr Gefüge, manchmal sehr starr, war der notwendige Halt für das Leben des einzelnen wie der Familie. Die Älteren halten noch daran fest, die Jungen entziehen sich ihnen als einem unnützen Hindernis und wenden sich begierig den neuen Formen sozialen Lebens zu. Der Konflikt der Generationen verschärft sich so zu einem tragischen Dilemma: entweder die Gebräuche und Überzeugung der Väter bewahren und auf den Fortschritt verzichten, oder sich der von außen kommenden Technik und Zivilisation öffnen und die Tradition mit ihrem ganzen menschlichen Reichtum hingeben. Und in der Tat: der sittliche, geistige, religiöse Halt von früher löst sich nur allzuoft auf, ohne daß die Eingliederung in die neue Welt genügend gesichert ist.


11 In dieser Verwirrung wächst die Versuchung, sich durch großtuerische, aber trügerische Versprechungen von Menschen verlocken zu lassen, die sich wie ein zweiter Messias aufspielen. Wer sieht nicht die daraus erwachsenden Gefahren: Zusammenrottung der Massen, Aufstände, Hineinschlittern in totalitäre Ideologien? Das sind die verschiedenen Gesichtspunkte des Problems, um das es geht, deren schwerwiegender Bedeutung, so meinen Wir, sich niemand entziehen kann.


2. Die Kirche und die Entwicklung

12 Treu der Weisung und dem Beispiel ihres göttlichen Stifters, der die Verkündigung der Frohbotschaft an die Armen als Zeichen für seine Sendung hingestellt hat (Vgl. Lk Lc 7,22), hat sich die Kirche immer bemüht, die Völker, denen sie den Glauben an Christus brachte, zur menschlichen Entfaltung zu führen. Ihre Missionare haben neben Kirchen auch Hospize, Krankenhäuser, Schulen, Universitäten gebaut. Sie haben die Eingeborenen gelehrt, die Hilfsquellen ihres Landes besser zu nutzen, und haben sie so nicht selten gegen die Gier der Fremden geschützt. Natürlich war auch ihr Werk, wie jegliches menschliche Werk, nicht vollkommen, und manche von ihnen mögen ihre heimische Denk- und Lebensweise mit der Verkündigung der eigentlichen Frohbotschaft verbunden haben. Trotzdem verstanden sie es, auch die dortigen Lebensformen zu pflegen und zu fordern Vielerorts gehören sie zu den Pionieren des materiellen Fortschritts und des kulturellen Aufstiegs; um nur ein Beispiel zu nennen: Charles de Foucauld, der um seiner Nächstenliebe willen "Bruder aller" genannt wurde und der ein wertvolles Lexikon der Sprache der Tuareg schuf. Sie alle sollen in Ehren erwähnt sein, die allzu oft Unbekannten, die Vorboten, die die Liebe Christi drängte, und die ihrem Beispiel und ihren Spuren gefolgt sind und noch heute in einem hochherzigen und selbstlosen Dienst bei denen ausharren, denen sie die Frohbotschaft bringen.


13 Aber diese Anstrengungen, die heute von einzelnen und Gruppen in jenen Ländern unternommen werden, genügen heute jedoch nicht mehr. Die gegenwärtige Situation der Welt verlangt ein gemeinsames Handeln, beginnend bereits mit einer klaren Konzeption auf wirtschaftlichem, sozialem, kulturellem und geistigem Gebiet. Auf Grund ihrer Erfahrung in allem, was den Menschen betrifft, geht es der Kirche, ohne sich in die staatlichen Belange einmischen zu wollen, "nur um dies eine: unter Führung des Geistes, des Trösters, das Werk Christi selbst weiterzuführen, der in die Welt kam, um der Wahrheit Zeugnis zu geben (Vgl. Joh Jn 18,37); zu retten, nicht zu richten; zu dienen, nicht sich bedienen zu lassen (Vgl. Joh Jn 3,17 Mt 20,28 Mc 10,45)" (12). Gegründet, um schon auf dieser Erde das Himmelreich aufzurichten, nicht um irdische Macht zu erringen, bezeugt sie ohne Zweideutigkeit, daß die beiden Bereiche voneinander verschieden sind, daß beide, die kirchliche und die staatliche Gewalt, die höchste ist in ihrer Ordnung (13). Aber, weil die Kirche wirklich unter den Menschen lebt, darum hat sie "die Pflicht, nach den Zeichen der Zeit zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten (14)". Sie teilt mit den Menschen deren bestes Streben, und leidet, wenn es nicht erfüllt wird. Sie möchte ihnen helfen, sich voll zu entfalten, und deswegen eröffnet sie ihnen das, was ihr allein eigen ist: eine umfassende Sicht des Menschen und des Menschentums.


14 Entwicklung ist nicht einfach gleichbedeutend mit ,wirtschaftlichem Wachstum. Wahre Entwicklung muß umfassend sein, sie muß jeden Menschen und den ganzen Menschen im Auge haben, wie ein Fachmann auf diesem Gebiet geschrieben hat: "Wir lehnen es ab, die Wirtschaft vom Menschlichen zu trennen, von der Entwicklung der Kultur, zu der sie gehört. Was für uns zählt, ist der Mensch, jeder Mensch, jede Gruppe von Menschen bis hin zur gesamten Menschheit (15)."


15 Nach dem Plan Gottes ist jeder Mensch gerufen, sich zu entwickeln, weil das Leben eines jeden Menschen von Gott zu irgendeiner Aufgabe bestimmt ist. Von Geburt an ist allen keimhaft eine Fülle von Fähigkeiten und Eigenschaften gegeben, die Frucht tragen sollen. Ihre Entfaltung, Ergebnis der Erziehung durch die Umwelt und persönlicher Anstrengung, gibt jedem die Möglichkeit, sich auf das Ziel auszurichten, das ihm sein Schöpfer gesetzt hat. Mit Verstand und freiem Willen begabt, ist der Mensch für seinen Fortschritt ebenso verantwortlich wie für sein Heil. Unterstützt, manchmal auch behindert durch seine Erzieher und seine Umwelt, ist jeder seines Glückes Schmied, seines Versagens Ursache, wie immer auch die Einflüsse sind, die auf ihn wirken. Jeder Mensch kann durch die Kräfte seines Geistes und seines Willens als Mensch wachsen, mehr wert sein, sich vervollkommnen.


16 Dieses Wachstum der menschlichen Persönlichkeit ist nicht dem freien Belieben des Menschen anheimgestellt. Wie die gesamte Schöpfung auf ihren Schöpfer hingeordnet ist, so ist auch das geistbegabte Geschöpf gehalten, von sich aus sein Leben auf Gott, die erste Wahrheit und das höchste Gut, auszurichten. Deshalb ist auch für uns die Entfaltung der menschlichen Person unsere oberste Pflicht. Mehr noch, dieser durch persönliche und verantwortungsbewußte Anstrengung zur Ausgewogenheit gekommene Mensch ist darüber hinaus zu einer höheren Würde berufen. Durch seine Eingliederung in den lebendigmachenden Christus gelangt er zu einer neuen Entfaltung, zu einem Humanismus jenseitiger, ganz anderer Art, der ihm die höchste Lebensfülle schenkt: das ist das letzte Ziel und der letzte Sinn menschlicher Entfaltung.


17 Der Mensch ist aber auch Glied der Gemeinschaft. Er gehört zur ganzen Menschheit. Nicht nur dieser oder jener, alle Menschen sind aufgerufen, zur vollen Entwicklung der ganzen menschlichen Gesellschaft beizutragen. Die Kulturen entstehen, wachsen, vergehen. Aber wie jede Woge der steigenden Hut weiter als die vorhergehende den Strand überspült, schreitet auch die Menschheit auf dem Weg ihrer Geschichte voran. Erben unserer Väter und Beschenkte unserer Mitbürger, sind wir allen verpflichtet, und jene können uns nicht gleichgültig sein, die nach uns den Kreis der Menschheitsfamilie weiten. Die Solidarität aller, die etwas Wirkliches ist, bringt für uns nicht nur Vorteils mit sich, sondern auch Pflichten.


18 Die Entfaltung des einzelnen und der ganzen Menschheit wäre in Frage gestellt, wenn die wahre Hierarchie der Werte abgebaut würde. Da das Verlangen des Menschen, sich die notwendigen Güter zu beschaffen, berechtigt ist, folgt, daß die Arbeit, durch die wir jene Güter erlangen, zur Pflicht wird: "Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen (2Th 3,10)." Aber der Erwerb zeitlicher Güter kann zu maßloser Gier führen, zum Verlangen nach immer mehr Besitz und zum Streben nach immer größerer Macht. Die Habsucht der einzelnen, der Familien, der Völker kann die Armen und die Reichen packen und bei den einen wie den andern einen erstickenden Materialismus hervorrufen.


19 Mehr haben ist also weder für die Völker noch für den einzelnen das höchste Ziel. Jedes Wachstum hat seine zwei Seiten. Es ist unentbehrlich, damit der Mensch mehr Mensch werde, aber es sperrt ihn wie in ein Gefängnis ein, wenn es zum höchsten Wert wird, der dem Menschen den Blick nach oben versperrt. Dann verhärtet sich das Herz, der Geist verschließt sich, die Menschen kennen keine Freundschaft mehr, sondern nur noch das eigene Interesse, das sie gegeneinander aufbringt und entzweit. Das ausschließliche Streben nach materiellen Gütern verhindert das innere Wachstum und steht seiner wahren menschlichen Größe entgegen. Sowohl die Völker als auch die einzelnen, die von der Habsucht infiziert sind, offenbaren deutlich eine moralische Unterentwicklung.


20 Die Entwicklungshilfe braucht immer mehr Techniker. Noch nötiger freilich hat sie weise Menschen mit tiefen Gedanken, die nach einem neuen Humanismus Ausschau halten, der den Menschen von heute sich selbst finden läßt, im Ja zu den hohen Werten der Liebe, der Freundschaft, des Gebets, der Betrachtung (16). Nur so kann sich die wahre Entwicklung voll und ganz erfüllen, die für den einzelnen, die für die Völker der Weg von weniger menschlichen zu Menschlicheren Lebensbedingungen ist.


21 Weniger menschlich: das sind die materiellen Nöte derer, denen das Existenzminimum fehlt; das ist die sittliche Not derer, die vom Egoismus zerfressen sind. Weniger menschlich: das sind die Züge der Gewalt, die im Mißbrauch des Besitzes oder der Macht ihren Grund haben, in der Ausbeutung der Arbeiter, in ungerechtem Geschäftsgebaren. Menschlicher: das ist der Aufstieg aus dem Elend zum Besitz des Lebensnotwendigen, die Überwindung der sozialen Mißstände, die Erweiterung des Wissens, der Erwerb von Bildung. Menschlicher: das ist das deutlichere Wissen um die Würde des Menschen, das Ausrichten auf den Geist der Armut (Vgl. Mt Mt 5,3),, die Zusammenarbeit zum Wohle aller, der Wille zum Frieden. Menschlicher: das ist die Anerkennung letzter Werte von seiten des Menschen und die Anerkennung Gottes, ihrer Quelle und ihres Zieles. Menschlicher: das ist endlich vor allem der Glaube, Gottes Gabe, angenommen durch des Menschen guten Willen, und die Einheit in der Liebe Christi, der uns alle ruft, als Kinder am Leben des lebendigen Gottes teilzunehmen, des Vaters aller Menschen.


3. Die Aufgabe

22 "Erfüllt die Erde und macht sie euch untertan (Gn 1,28)": die Heilige Schrift lehrt uns auf ihrer ersten Seite, daß die gesamte Schöpfung für den Menschen da ist. Freilich, er muß seine Geisteskraft einsetzen, um ihre Werte zu entwickeln und sie durch seine Arbeit sich dienstbar zu machen und der Vollendung näher zu bringen. Wenn aber die Erde da ist, um jedem die Mittel für seine Existenz und seine Entwicklung zu geben, dann hat jeder Mensch das Recht, auf ihr das zu finden, was er nötig hat. Das Konzil hat dies in Erinnerung gerufen: "Gott hat die Erde mit allem, was sie enthält, zum Nutzen für alle Menschen und Völker bestimmt; darum müssen diese geschaffenen Güter in einem billigen Verhältnis allen zustatten kommen, dabei hat die Gerechtigkeit die Führung, Hand in Hand geht mit ihr die Liebe (17)." Alle anderen Rechte, ganz gleich welche, auch das des Eigentums und des freien Tausches, sind diesem Grundgesetz untergeordnet. Sie dürfen seine Verwirklichung nicht erschweren, sondern müssen sie im Gegenteil erleichtern. Es ist eine ernste und dringende soziale Aufgabe, alle diese Rechte zu ihrem ursprünglichen Sinn zurückzuführen.


23 "Wer die Güter dieser Welt hat und seinen Bruder Not leiden sieht und sein Herz gegen ihn verschließt, wie soll da die Liebe Gottes in ihm blelben? (1Jn 3,17)" Es ist bekannt, mit welcher Entschiedenheit die Kirchenväter gelehrt haben, welche Haltung die Besitzenden gegenüber den Notleidenden einzunehmen haben: "Es ist nicht dein Gut", sagt Ambrosius, "mit dem du dich gegen den Armen großzügig weist. Du gibst ihm nur zurück, was ihm gehört. Denn du hast dir herausgenommen, was zu gemeinsamer Nutzung gegeben ist. Die Erde ist für alle da, nicht nur für die Reichen (18)." Das Privateigentum ist also für niemand ein unbedingtes und unumschränktes Recht. Niemand ist befugt, seinen Überfluß ausschließlich sich selbst vorzubehalten, wo andern das Notwendigste fehlt. "Das Eigentumsrecht darf nach der herkömmlichen Lehre der Kirchenväter und der großen Theologen niemals zum Schaden des Gemeinwohls genutzt werden. Sollte ein Konflikt zwischen den "wohlerworbenen Rechten des einzelnen und den Grundbedürfnissen der Gemeinschaft" entstehen, dann ist es an der staatlichen Gewalt, "unter aktiver Beteiligung der einzelnen und der sozialen Gruppen eine Lösung zu suchen(19)".


24 Das Gemeinwohl verlangt deshalb manchmal eine Enteignung von Grundbesitz, wenn dieser wegen seiner Größe, seiner geringen oder überhaupt nicht erfolgten Nutzung, wegen des Elends, das die Bevölkerung durch ihn erfährt, wegen eines beträchtlichen Schadens, den die Interessen des Landes erleiden, dem Gemeinwohl hemmend im Wege steht. Das Konzil hat das ganz klar gesagt (20). Und nicht weniger klar hat es erklärt, daß verfügbare Mittel nicht einfach dem willkürlichen Belieben der Menschen überlassen sind und daß egoistische Spekulationen keinen Platz haben dürfen. Deshalb darf es nicht geduldet werden, daß Bürger mit übergroßen Einkommen aus den Mitteln und der Arbeit des Landes davon einen großen Teil ins Ausland schaffen, zum ausschließlichen persönlichen Nutzen, ohne sich um das offensichtliche Unrecht zu kümmern, das sie ihrem Lande damit zufügen (21).


25 Für das wirtschaftliche Wachstum und den menschlichen Fortschritt unentbehrlich ist die Industrialisierung, die sowohl Kennzeichen als auch treibende Kraft der Entwicklung bedeutet. Durch die zähe Anwendung seiner Intelligenz und seiner Arbeit entreißt der Mensch Schritt um Schritt der Natur ihre verborgenen Gesetze und macht sich ihre Kräfte dienstbar. Indem er seine Lebensweise in Zucht nimmt, entwickelt er in sich den Drang am Forschen und Erfinden, das Ja zum berechneten Risiko, das Wagnis zu neuen und großzügigen Unternehmungen und den Sinn für Verantwortung.


26 Im Gefolge dieses Wandels der Daseinsbedingungen haben sich unversehens Vorstellungen in die menschliche Gesellschaft eingeschlichen, wonach der Profit der eigentliche Motor des wirtschaftlichen Fortschritts, der Wettbewerb das oberste Gesetz der Wirtschaft, das Eigentum an den Produktionsmitteln ein absolutes Recht, ohne Schranken, ohne entsprechende Verpflichtungen der Gesellschaft gegenüber darstellt. Dieser ungehemmte Liberalismus führte zu jener Diktatur, die Pius XI. mit Recht als die Ursache des finanzkapitalistischen Internationalismus oder des Imperialismus des internationalen Finanzkapitals (22) brandmarkte. Man kann diesen Mißbrauch nicht scharf genug verurteilen. Noch einmal sei feierlich daran erinnert, daß die Wirtschaft ausschließlich dem Menschen zu dienen hat (23). Aber wenn es auch wahr ist, daß viele Übel, Ungerechtigkeiten und brudermörderische Kämpfe, deren Folgen heute noch zu spüren sind, sich von einer bestimmten Abart dessen, was man "Kapitalismus" nennt, herleiten, so würde man doch zu Unrecht der Industrialisierung als solcher die Übel anlasten, die in Wahrheit den verderblichen Auffassungen von der Wirtschaft zur Last zu legen sind, die neben dem wirtschaftlichen Aufschwung herliefen. Ganz im Gegenteil ist der unersetzbare Beitrag anzuerkennen, den die Organisierung der Arbeit und der industrielle Fortschritt zur Entwicklung geleistet haben.


27 Und ebenso bleibt es wahr, daß die Arbeit, mag sie auch hier und da in verstiegener Weise mystifiziert werden, von Gott befohlen und gesegnet ist. Nach dem Bilde Gottes geschaffen, "muß der Mensch mit dem Schöpfer an der Vollendung der Schöpfung mitarbeiten und die Welt mit dem Siegel seines Geistes prägen, den er selbst empfangen hat (24)". Gott, der den Menschen mit Verstand, Phantasie und Einfühlungsvermögen ausgestattet hat, hat ihm auch die Mittel gegeben, irgendwie sein Werk zu vollenden. Ob Künstler oder Handwerker, ob Unternehmer, Arbeiter oder Bauer, jeder, der arbeitet, ist in gewissem Sinne schöpferisch tätig. Beschäftigt mit einer widerspenstigen Materie, prägt er ihr sein Siegel auf und bildet bei sich Zähigkeit, Scharfsinn und Erfindungsgabe aus. Ja, gemeinsame, in Hoffnung, Mühen, Streben und Freude geteilte Arbeit eint die Willen, bringt die Geister einander näher und verbindet die Herzen: im gemeinsamen Werk entdecken sich die Menschen als Brüder (25).


28 In zweifacher Richtung wirkt die Arbeit: einerseits verspricht sie Geld, Vergnügen, Macht, drängt die einen zur Selbstsucht, die anderen zur Revolte; andererseits entwickelt sie Berufsethos, Pflichtbewußtsein und Nächstenliebe. Wenn auch die Arbeit heute mehr nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten ausgeführt wird und in wirksamerer Weise organisiert ist, so bleibt doch immer die Gefahr bestehen, daß durch sie der Mensch entmenschlicht und ihr Sklave wird. Die Arbeit ist nur dann menschlich, wenn sie der Intelligenz und der Freiheit Platz läßt. Johannes XXIII. hat an die dringende Aufgabe erinnert, dem Arbeiter seine Würde zu geben, ihn wirklich am gemeinsamen Werk teilnehmen zu lassen: "Das Ziel muß in jedem Falle sein, das Unternehmen zu einer echten menschlichen Gemeinschaft zu machen; diese muß den wechselseitigen Beziehungen der Beteiligten bei aller Verschiedenheit ihrer Aufgaben und Pflichten das Gepräge geben (26)." Die Mühen der Menschen haben für den Christen noch einen weiteren Sinn: beizutragen am Aufbau einer übernatürlichen Welt (27), die erst dann vollendet ist, wenn wir alle zusammen den vollkommenen Menschen bilden, von dem der heilige Paulus spricht und der die "Fülle Christi" darstellt (Ep 4,13).


29 Es eilt. Zu viele Menschen sind in Not, und es wächst der Abstand, der den Fortschritt der einen von der Stagnation, besser gesagt, dem Rückschritt der anderen trennt. Die zu treffenden Maßnahmen müssen aufeinander abgestimmt werden; andernfalls würden sie sich wechselseitig stören. Eine unbedachte Agrarreform kann ihr Ziel verfehlen. Eine übereilte Industrialisierung kann Strukturen zerschlagen, die noch notwendig sind, und zu sozialen Mißständen führen, was menschlich gesehen ein Rückschritt wäre.


30 Es gibt ganz sicher Situationen, deren Ungerechtigkeit zum Himmel schreit. Wenn ganze Völker, die am Mangel des Notwendigsten leiden, unter fremder Herrschaft gehindert werden, irgend etwas aus eigener Initiative zu unternehmen, zu höherer Bildung aufzusteigen, am sozialen und politischen Leben teilzunehmen, dann ist die Versuchung groß, solches gegen die menschliche Würde verstoßende Unrecht mit Gewalt zu beseitigen.


31 Trotzdem: Jede Revolution - ausgenommen im Fall der eindeutigen und lange dauernden Gewaltherrschaft, die die Grundrechte der Person schwer verletzt und dem Gemeinwohl des Landes ernsten Schaden zufügt - zeugt neues Unrecht, bringt neue Störungen des Gleichgewichts mit sich, ruft neue Zerrüttung hervor. Man kann das Übel, das existiert, nicht mit einem noch größeren Übel vertreiben.


32 Man verstehe Uns recht: wir müssen uns der gegenwärtigen Situation mutig stellen und ihre Ungerechtigkeiten tilgen und aus der Welt schaffen. Das Entwicklungswerk verlangt kühne bahnbrechende Umgestaltungen. Drängende Reformen müssen unverzüglich in Angriff genommen werden. Alle müssen sich hochherzig daran beteiligen, vor allem jene, die durch Erziehung, Stellung, Einfluß große Möglichkeiten haben. Möchten sie doch, Beispiel gebend, wie es einige Unserer Brüder aus dem Episkopat taten (28), aus ihrem eigenen Vermögen etwas opfern. Damit entsprechen sie der Erwartung der Menschen, damit gehorchen sie dem Geist Gottes, denn "der Sauerteig des Evangeliums hat im Herzen des Menschen den unbezwingbaren Anspruch auf Würde erweckt und erweckt ihn auch weiter (29)".


33 Die Einzelinitiative und das freie Spiel des Wettbewerbs können den Erfolg des Entwicklungswerkes jedoch nicht sichern. Man darf es nicht darauf ankommen lassen, daß der Reichtum der Reichen und die Stärke der Starken noch größer werden, während man das Elend der Völker verewigt und die Knechtschaft der Unterdrückten noch härter werden läßt, Man braucht Programme, die die Aktion en da einzelnen und der Organisationen "fördern, anregen und regeln, Programme, die Lücken schließen und Vollständigkeit gewährleisten (30)". Es ist Sache der Staaten, die Vorhaben, die Ziele und die Verfahrensweisen zu bestimmen und verbindlich aufzuerlegen; an ihnen ist es auch, die Kräfte aller zu mobilisieren, die an diesem Gemeinschaftswerk mitzuwirken haben. Ebenso sollen sie sich bemühen, auch die privaten Unternehmer und Verbände zur Mitwirkung heranzuziehen. So wird die Gefahr einer Kollektivierung oder einer mehr oder weniger willkürlichen Planung vermieden, die, freiheitsfeindlich, die Ausübung grundlegender Rechte der menschlichen Person unmöglich machen.


34 Jedes Programm zur Steigerung der Produktion hat nur so weit Berechtigung, als es dem Menschen dient. Es soll die Ungleichheiten abtragen, Diskriminierungen beseitigen, den Menschen aus Versklavungen befreien und ihn so fähig machen, in eigener Verantwortung sein materielles Wohl, seinen sittlichen Fortschritt, seine geistige Entfaltung in die Hand zu nehmen. Entwicklung besagt, sich den sozialen Fortschritt ebenso angelegen sein lassen wie den wirtschaftlichen. Es reicht nicht, den allgemeinen Wohlstand zu erhöhen, um alte in angemessener Weise daran teilnehmen zu lassen. Es reicht nicht, die Technik auszubauen, damit die Erde menschlicher zu bewohnen sei. Die Irrtümer der Vergangenheit sollten die Entwicklungsländer vor den Gefahren auf diesem Gebiet warnen. Die Technokratie von morgen kann genau so schwere Fehler begehen wie der Liberalismus von gestern. Wirtschaft und Technik erhalten ihren Sinn erst durch den Menschen, dem sie zu dienen haben. Und der Mensch ist nur in dem Maß wahrer Mensch, als er, Herr seiner Handlungen und Richter über ihren Wert, selbst der Meister seines Fortschritts ist, in Übereinstimmung mit seiner Natur, die ihm der Schöpfer gegeben hat und zu deren Möglichkeiten und Forderungen er in Freiheit sein Ja sagt.


35 Man kann sogar sagen, daß das wirtschaftliche Wachstum in erster Linie vom sozialen Fortschritt abhängt. Deshalb ist eine Grundausbildung die erste Stufe eines Entwicklungsplanes. Der Hunger nach Bildung ist nicht weniger bitter als der Hunger nach Nahrung. Ein Analphabet ist geistig unterentwickelt. Lesen und schreiben können, eine Berufsausbildung erwerben heißt Selbstvertrauen gewinnen und entdecken, daß man zusammen mit anderen vorankommt. Wie Wir schon in Unserer Botschaft an den UNESCO-Kongreß von Teheran im Jahre 1965 gesagt haben, ist die Erlernung des Alphabets für den Menschen "ein erstrangiger Faktor seiner sozialen Eingliederung und seiner reicheren persönlichen Entfaltung, für die Gesellschaft ein hervorragendes Mittel des wirtschaftlichen Fortschritts und der Entwicklung (31)". Deshalb freuen Wir Uns über die gute Arbeit, die auf diesem Gebiet durch Einzelinitiative, staatliche und internationale Stellen geleistet wird. Sie sind die Hauptträger der Entwicklung; denn sie machen den Menschen fähig, zu sich selbst zu kommen.


36 Aber der Mensch ist ganz er selbst nur in seiner sozialen Umwelt, in der die Familie die erste Rolle spielt. Das konnte nach Zeiten und Orten das rechte Maß übersteigen, vor allem dann, wenn es sich zum Nachteil der grundlegenden Freiheiten der menschlichen Person auswirkte. Oft zu starr und schlecht strukturiert, sind die alten sozialen Verbände in den Entwicklungsländern trotzdem noch eine Zeitlang notwendig, freilich ihre allzu starren Bande müssen Schritt für Schritt gelockert werden. Aber die natürliche Familie, die auf der Einehe beruht und fest gegründet ist, die Familie, wie sie nach Gottes Plan sein soll (Vgl. Mt Mt 19,6) und die das Christentum geheiligt hat, in der "verschiedene Generationen zusammenleben und sich gegenseitig helfen, um zu größerer Weisheit zu gelangen und die Rechte der einzelnen Personen mit den anderen Notwendigkeiten des gesellschaftlichen Lebens zu vereinbaren, ist das Fundament der Gesellschaft (32)".


37 Es ist richtig, daß zu oft ein schnelles Anwachsen der Bevölkerung für das Entwicklungsproblem eine zusätzliche Schwierigkeit bedeutet; die Bevölkerung wächst schneller als die zur Verfügung stehenden Hilfsmittel, und man gerät sichtlich in einen Engpaß. Dann ist die Versuchung groß, das Anwachsen der Bevölkerung durch radikale Maßnahmen aufzuhalten. Der Staat hat zweifellos innerhalb der Grenzen seiner Zuständigkeit das Recht, hier einzugreifen, eine zweckmäßige Aufklärung durchzuführen und geeignete Maßnahmen zu treffen, vorausgesetzt, daß diese in Übereinstimmung mit dem Sittengesetz sind und die berechtigte Freiheit der Eheleute nicht antasten. Ohne das unabdingbare Recht auf Ehe und Zeugung gibt es keine Würde des Menschen. Die letzte Entscheidung über die Kinderzahl liegt beiden. Eltern. Sie haben es reiflich zu überlegen. Sie nehmen die Verantwortung auf sich vor Gott, vor sich selbst, vor den Kindern, die sie bereits haben, vor der Gemeinschaft, zu der sie gehören, nach ihrem gemäß dem authentisch interpretierten Gesetz Gottes gebildeten und durch ihr Gottvertrauen gestärkten Gewissen (33).


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