Populorum progressio DE 38


38 Inder Arbeit an der Entwicklung wird dem Menschen, der in der Familie seine erste Heimstatt hat, oft von Berufsorganisationen geholfen. Wenn deren Daseinsberechtigung in der Wahrung der Interessen ihrer Mitglieder besteht, dann haben sie eine große Verantwortung für die erzieherische Aufgabe, die sie leisten können und müssen. In ihrer Aufklärungs- und Bildungsarbeit haben sie die große Möglichkeit, in allen den Gemeinsinn und die Verpflichtung dem Gemeinwohl gegenüber zu wecken.


39 Alles soziale Handeln setzt eine gewisse Lehre voraus. Der Christ kann kein System annehmen, dem eine materialistische und atheistische Philosophie zugrunde liegt, die weder die Ausrichtung des Menschen auf sein letztes Ziel, noch seine Freiheit, noch seine Würde als Mensch achtet. Wo jedoch diese Werte sichergestellt sind, ist nichts gegen einen Pluralismus beruflicher und gewerkschaftlicher Organisationen einzuwenden; in bestimmter Hinsicht ist er sogar nützlich, sofern er die Freiheit schützt und den Wetteifer anregt. Aufrichtig bekunden Wir allen, die in diesen Organisationen im selbstlosen Dienst für ihre Brüder arbeiten, Unsere Hochschätzung.


40 Neben den Berufsorganisationen sind auch kulturelle Einrichtungen am Werk. Ihre Rolle ist für das Gelingen der Entwicklung nicht weniger wichtig. "Es gerät nämlich", wie das Konzil mit Nachdruck sagt, "das künftige Geschick der Welt in Gefahr, wenn nicht weisere Menschen auftreten." Und es fügt hinzu: "Viele Nationen sind an wirtschaftlichen Gütern verhältnismäßig arm, an Weisheit aber reicher und können den übrigen hervorragende Hilfe leisten (34)."Reich oder arm, jedes Land hat eine Kultur, die es von den Vorfahren übernommen bat: Institutionen für das materielle Leben, Werke geistigen Lebens, künstlerischer, denkerischer, religiöser Art. Sofern sie wahre menschliche Werte darstellen, wäre es ein großer Fehler, sie aufzugeben. Ein Volk, das dazu bereit wäre, verlöre das Beste seiner selbst, es gäbe, um zu leben, den Grund seines Lebens hin. Das Wort Christi: "Was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, aber seine Seele verliert (Mt 16,26)", gilt auch für die Völker.


41 Die ärmeren Völker können sich nie genug vor der Versuchung hüten, die ihnen von den reicheren kommt. Diese bieten nur allzu oft neben dem Vorbild ihrer Erfolge im Technischen und Zivilisatorischen das Beispiel eines hauptsächlich auf das materielle Wohl ausgerichteten Handelns. Nicht als ob dieses von sich aus gegen den Geist gerichtet wäre. Im Gegenteil: "Der Geist des Menschen kann sich, von der Versklavung unter die Sachwelt befreit, ungehinderter zur Kontemplation und Anbetung des Schöpfers erheben (35)." Aber "die heutige Zivilisation kann oft, zwar nicht von ihrem Wesen her, aber durch ihre einseitige Zuwendung zu den irdischen Wirklichkeiten, den Zugang zu Gott erschweren (36)". Die Entwicklungsländer müssen also aus dem, was ihnen angeboten wird, auswählen: kritisch beleuchten und ablehnen die Scheinwerte, die den Charakter des menschlichen Lebens verderben, annehmen dagegen die gesunden und nützlichen Werte, um sie zusammen mit ihren eigenen ihrer Eigenart gemäß weiterzuentwickeln.

Schluss

42 Das ist der Humanismus im Vollsinn des Wortes, den es zu entfalten gilt (37). Und was ist dies anders als eine umfassende Entwicklung des ganzen Menschen und der ganzen Menschheit? Ein verkürzter Humanismus, der die Augen vor den Werten des Geistes und vor Gott, ihrer Quelle und ihrem Ursprung, verschließt, kann nur scheinbar Erfolg haben. Gewiß, der Mensch kann die Erde ohne Gott gestalten, aber "ohne Gott kann er sie letzten Endes nur gegen den Menschen formen. Der in sich verschlossene Humanismus ist ein unmenschlicher Humanismus(38)". Nur jener Humanismus also ist der wahre, der sich zum Absoluten hin öffnet, in Dank für eine Berufung, die die richtige Auffassung vom menschlichen Leben schenkt. Der Mensch ist keineswegs letzte Norm seiner selbst und wird nur durch Hinausschreiten über sich selbst zu dem, der er sein soll, gemäß dem tiefen Wort Pascals: unermeßlich übersteigt der Mensch sich selbst (39).


Zweiter Teil

UM EINE SOLIDARISCHE ENTWICKLUNG DER MENSCHHEIT

43 Die allseitige Entwicklung des Einzelmenschen muß Hand in Hand gehen mit der Entwicklung der gesamten Menschheit; beide müssen sich wechselseitig unterstützen. Wir sagten in Bombay: "Der Mensch muß dem Menschen begegnen. Die Völker müssen sich als Brüder und Schwestern begegnen, als Kinder Gottes. In diesem gegenseitigen Verstehen und in dieser Freundschaft, in dieser heiligen Gemeinschaft müssen wir mit dem gemeinsamen Werk und der gemeinsamen Zukunft der Menschheit beginnen (40)." Deshalb schlugen Wir vor, konkrete Mittel und praktische Formen der Organisation und Zusammenarbeit zu suchen, um die verfügbaren Hilfsmittel gemeinsam zu nutzen und so eine echte Gemeinschaft unter den Völkern zu stiften.


44 Diese Pflicht betrifft an erster Stelle die Begüterten. Sie wurzelt in der natürlichen und übernatürlichen Brüderlichkeit der Menschen, und zwar in dreifacher Hinsicht: zuerst in der Pflicht zur Solidarität, der Hilfe, die die reichen Völker den Entwicklungsländern leisten müssen; sodann in der Pflicht zur sozialen Gerechtigkeit, das, was an den Wirtschaftsbeziehungen zwischen den mächtigen und schwachen Völkern ungesund ist, abzustellen; endlich in der Pflicht zur Liebe zu allen, zur Schaffung einer menschlicheren Welt für alle, wo alle geben und empfangen können, ohne daß der Fortschritt der einen ein Hindernis für die Entwicklung der anderen ist. Diese Angelegenheit wiegt schwer; von ihr hängt die Zukunft der Zivilisation ab.

1. Die Hilfe für die Schwachen

45 "Wenn ein Bruder oder eine Schwester keine Kleidung besitzen, wie es bei Jakobus heißt, oder der täglichen Nahrung entbehren, es sagt aber einer von euch zu ihnen. Geht hin in Frieden, erwärmt und sättigt euch, ihr gebt ihnen aber nicht, was sie für ihren Körper brauchen, was nützt das?" (Jc 2,15-16). Heute gibt es - da ist niemand, der es nicht wüßte - in einigen Kontinenten unzählige Männer und Frauen, die vom Hunger gequält werden; unzählige Kinder, die unterernährt sind, so daß viele noch im zarten Alter sterben; bei anderen ist aus diesem Grunde die. körperliche und geistige Entwicklung gefährdet, und ganze Landstriche sind zu düsterer Hoffnungslosigkeit verurteilt.


46 Aufrufe aus tiefer Sorge sind schon ergangen. Der Appell von Johannes XXIII. wurde herzlich aufgenommen (41). Wir selbst haben ihn in Unserer Weihnachtsbotschaft von 1963 (42)wiederholt und von neuem zugunsten Indiens im Jahre 1966 (43). Der Kampf gegen den Hunger, den die Internationale Organisation für Ernährung und Landwirtschaft (FAO) führt und worin sie vom Heiligen Stuhl ermutigt wird, wird hochherzig unterstützt. Unsere Caritas Intemationalis ist überall am Werk, und viele Katholiken steuern unter Führung Unserer Brüder aus dem Episkopat bei und setzen sich voll und ganz ein, um den Notleidenden zu helfen, und weiten den Kreis ihrer Nächsten so mehr und mehr aus.


47 Aber das reicht nicht aus, ebensowenig wie die privaten und öffentlichen geschenkten oder kreditierten Geldmittel. Denn es handelt sich nicht nur darum, den Hunger zu besiegen, die Armut einzudämmen. Der Kampf gegen das Elend, so dringend und notwendig er ist, ist zu wenig. Es geht darum, eine Welt zu bauen, wo jeder Mensch, ohne Unterschied der Rasse, der Religion, der Abstammung, ein volles menschliches Leben führen kann, frei von Versklavung seitens der Menschen oder einer noch nicht hinreichend gebändigten Natur; eine Welt, wo die Freiheit nicht ein leeres Wort ist, wo der arme Lazarus an derselben Tafel mit dem Reichen sitzen kann (Vgl. Lc 16,19-31). Das fordert von diesem ein hohes Maß an Hochherzigkeit, große Opfer und unermüdliche Anstrengungen Jeder muß sein Gewissen erforschen, das ihn auf diese neuen Forderungen für unsere Zeit hinweist. Ist er bereit, auf seine Kosten die Werke und Aufgaben zugunsten der Ärmsten zu unterstützen? Mehr Steuern zu zahlen, damit die öffentlichen Stellen ihre Entwicklungshilfe intensivieren können? Höhere Preise für Einfuhrgüter zu zahlen, damit die Erzeuger einen angemessenen Verdienst erhalten? Notfalls seine Heimat zu verlassen, wenn er jung ist, um den zu höherer Zivilisation aufstrebenden Nationen zu helfen?


48 Die Pflicht zur Solidarität unter den Menschen besteht auch für die Völker. "Es ist eine schwere Verpflichtung der hochentwickelten Länder, den aufstrebenden Völkern zu helfen (44)." Diese Lehre des Konzils muß in die Tat umgesetzt werden. Wenn es auch richtig ist, daß jedes Volk die Gaben, die ihm die Vorsehung als Frucht seiner Arbeit geschenkt hat, an erster Stelle genießen darf, so kann trotzdem kein Volk seinen Reichtum für sich allein beanspruchen. Jedes Volk muß mehr und besser produzieren, einmal um seinen eigenen Angehörigen ein wahrhaft menschenwürdiges Leben zu gewährleisten, dann aber auch, um an der solidarischen Entwicklung der Menschheit mitzuarbeiten. Bei der wachsenden Not der unterentwickelten Länder ist es durchaus in der Ordnung, daß die reichen Länder einen Teil ihrer Produktion zur Befriedigung der Bedürfnisse der andern abzweigen; und ebenso, daß sie Lehrer, Ingenieure, Techniker, Wissenschaftler ausbilden, die ihr Wissen und Können in den Dienst der anderen stellen.


49 Es sei noch einmal wiederholt: Der Überfluß der reichen Länder muß den ärmeren zustatten kommen. Die Regel, die einmal zugunsten der nächsten Angehörigen galt, muß heute auf die Gesamtheit der Weltnöte angewandt werden. Die Reichen haben davon den ersten Vorteil. Tun sie es nicht, so wird ihr hartnäckiger Geiz das Gericht Gottes und den Zorn der Armen erregen, und unabsehbar werden die Folgen sein. Würden sich die heute blühenden Kulturen in ihrem Egoismus verschanzen, so verübten sie einen Anschlag auf ihre höchsten Werte; den Willen, sich durch Leistungen anzureichern, opferten sie der Gier, mehr zu haben. Und es gälte von ihren das Wort vom Reichen, dessen Ländereien so guten Ertrag abwarfen, daß er ihn nicht unterzubringen wußte. "Gott aber sprach zu ihm: Du Tor, in dieser Nacht wird man dein Leben von dir fordern(Lc 12,20).


50 Damit diese Anstrengungen einen vollen Erfolg zeitigen, dürfen sie nicht verzettelt werden und noch weniger aus Geltungssucht und Machtstreben einander entgegenarbeiten. Die Situation verlangt Programme, die aufeinander abgestimmt sind. Ein Programm ist wirksamer und besser als eine Hilfe, die je nach Gelegenheit dem guten Willen der einzelnen überlassen bleibt. Das setzt, Wir haben bereits darauf hingewiesen, vertiefte Studien voraus. Festlegung der Ziele, Bestimmung der Mittel, Zusammenfassung der Kräfte, um den augenblicklichen Nöten und den voraussehbaren Erfordernissen zu begegnen. Mehr noch: ein Programm übersteigt die Gesichtspunkte des rein wirtschaftlichen Wachstums und des sozialen Fortschritts: es gibt dem Werk, das getan werden soll, Bedeutung und Gewicht. Und indem es sich um eine Verbesserung der Ordnung in der Welt bemüht, verleiht es dem Menschen selbst ein höheres Maß an Würde und Kraft.


51 Man muß aber noch weiter gehen. Als Wir anläßlich des Eucharistischen Weltkongresses in Bombay weilten, forderten Wir die obersten Lenker der Staaten auf, sie möchten einen Teil der Beträge, die sie für Rüstungszwecke ausgeben, zur Schaffung eines Weltfonds verwenden, um so den notleidenden Völkern zu helfen (45). Was für den unmittelbaren Kampf gegen das Elend gilt, hat seine Bedeutung auch für die Entwicklungshilfe. Nur eine weltweite Zusammenarbeit, für die der gemeinsame Fonds Symbol und Mittel wäre, würde es erlauben, unfruchtbare Rivalitäten zu überwinden und ein fruchtbares und friedliches Gespräch unter den Völkern in Gang zu bringen.


52 Ohne Zweifel bleibt daneben auch Raum für bilaterale und multilaterale Abkommen: sie geben die Möglichkeit, die Abhängigkeitsverhältnisse und Bitterkeiten, die noch als Folgen der Kolonialzeit geblieben sind, durch Freundschaftsbeziehungen auf dem Boden rechtlicher und politischer Gleichheit zu ersetzen. Eingebettet in Programme weltweiter Zusammenarbeit, wären sie über jeden Verdacht erhaben. Die Empfänger brauchten kein Mißtrauen und keine Furcht zu haben vor einem sogenannten Neokolonialismus, der unter dem Schein finanzieller und technischer Hilfe politischen Druck und wirtschaftliches Übergewicht ausübt, um eine Vormachtstellung zu verteidigen oder zu erobern.


53 Wer sähe nicht, daß ein solcher Fonds manche Vergeudung, zu der heute Furcht oder Stolz verleiten, verhindern könnte? Wenn so viele Völker Hunger leiden, wenn so viele Familien in Elend sind, wenn so viele Menschen in Unwissenheit dahinleben, wenn so viele Schulen, Krankenhäuser, richtige Wohnungen zu bauen sind, dann ist jede öffentliche und private Vergeudung, jede aus nationalem oder persönlichem Ehrgeiz gemachte Ausgabe, jedes die Kräfte erschöpfende Wettrüsten ein unerträgliches Ärgernis. Wir müssen das anprangern! Möchten Uns doch die Verantwortlichen hören, bevor es zu spät ist!


54 Es ist daher unbedingt notwendig, daß zwischen allen ein Gespräch beginnt, zu dem Wir in Unserer ersten Enzyklika Ecclesiam suam (46) aufgerufen haben. Ein solches Gespräch zwischen denen, die die Hilfsmittel bereitstellen, und denen, die sie empfangen, ermöglichte es, die Größe der Beiträge festzusetzen, nicht nur nach Hochherzigkeit und Bereitschaft der einen, sondern auch nach den wirklichen Bedürfnissen und Verwendungsmöglichkeiten der anderen. Die Entwicklungsländer liefen nicht mehr Gefahr, von Schulden erdrückt zu werden, deren Abzahlung ihr ganzes Aufkommen von Zahlungsmitteln verschlingt. Zinsen und Laufzeit der Anleihen könnten so geregelt werden, daß es für die einen wie die anderen erträglich ist: es ließe sich nämlich ein vernünftiges Verhältnis herstellen zwischen unentgeltlichen Hilfeleistungen, zinslosen oder niedrig verzinsbaren Anleihen und den Tilgungsfristen. Garantien für eine geplante und wirksame Verwendung der Kredite könnten denen gegenüber, die Hilfe leisten, übernommen werden. Denn es kann sich nicht darum handeln, Bequemlichkeit und Schmarotzertum zu unterstützen. Die Empfänger könnten verlangen, daß man sich nicht in ihre Politik einmische, daß man ihre soziale Ordnung nicht in Unordnung bringe. Sie sind souverän, und es ist ihre Sache, die eigenen Angelegenheiten selbst zu führen, ihre Politik selbst zu bestimmen, sich nach eigenem Ermessen frei eine Staatsform zu wählen. Es geht also darum, eine freie Zusammenarbeit zustandezubringen, in gleichberechtigter Partnerschaft eine wahrhaft menschenwürdige Gemeinschaft zu schaffen.


55 Ein solches Vorhaben scheint unmöglich zu sein in Ländern, wo die tägliche Existenzsorge das gesamte Dasein der Familien in Beschlag nimmt, so daß man gar nicht auf den Gedanken kommen kann, Vorbereitungen für ein weniger kummervolles Leben in der Zukunft zu treffen. Aber gerade diesen Männern und Frauen muß man helfen; man überzeugen, daß sie selbst ihr Vorankommen in die Hand nehmen und schrittweise die Mittel dazu erwerben müssen. Dieses gemeinsame Werk kann nicht ohne gemeinsame zähe und mutige Anstrengung geschehen. Aber jeder sei davon überzeugt: es geht um das Leben der armen Völker, es geht um die Eintracht der Bürger in den Entwicklungsländern, es geht um den Frieden der Welt.


2. Recht und Billigkeit in den Handelsbeziehungen

56 Auch beträchtliche Anstrengungen, um den Entwicklungsländern finanziell und technisch zu helfen, sind umsonst, wenn ihre Erfolge durch die Schwankungen in den Handelsbeziehungen zwischen den reichen und armen Ländern großenteils wieder zunichte gemacht würden. Das Vertrauen der armen würde erschüttert, wenn sie den Eindruck gewännen, daß die anderen wieder wegnehmen, was sie ihnen gegeben haben.


57 Die hochindustrialisierten Nationen exportieren vor allem Fertigprodukte, während die unterentwickelten Wirtschaften nur Agrarprodukte und Rohstoffe exportieren können. Dank dem technischen Fortschritt steigt deren Wertschätzung rasch, und sie finden einen guten Absatz. Dagegen unterliegen die Produkte der unterentwickelten Länder breiten und jähen Preisschwankungen, an eine sich steigernde Wertschätzung ist gar nicht zu denken. Daraus entstehen für die wenig industrialisierten Nationen große Schwierigkeiten, wenn sie aus ihren Exporterlösen ihren öffentlichen Haushalt ausgleichen und ihre Entwicklungspläne verwirklichen wollen. Die armen Völker werden dabei immer ärmer, die reichen immer reicher.


58 Die Spielregel des freien Handels kann also für sich allein die internationalen Beziehungen nicht regieren. Ihre Vorteile sind klar, wo es sich um Partner in nicht allzu ungleicher wirtschaftlicher Lage handelt: sie fördert den weiteren Fortschritt und belohnt die Anstrengung. Deshalb sehen die Industrieländer darin in gewissem Sinne ein Gesetz der Gerechtigkeit. Aber es ist etwas anderes, wenn die Bedingungen von Land zu Land zu ungleich sind: Die Preise, die sich frei auf dem Markt bilden, können ganz verderbliche Folgen haben. Man muß es einfach zugeben: in diesem Bereich wird ein Grundprinzip des sogenannten Liberalismus als Regel des Handels überaus fragwürdig.


59 Noch immer gilt die Lehre Leos XIII. in Rerum novarum: das Einverständnis von Partnern, die in zu ungleicher Situation sind, genügt nicht, um die Gerechtigkeit eines Vertrages zu garantieren. Die Regel, wonach Verträge durch das freie Einverständnis der Partner zustandekommen, ist den Forderungen des Naturrechts untergeordnet (47). Was dort von dem gerechten Lohn für den einzelnen Arbeiter gelehrt wird, gilt ebenso von internationalen Verträgen: eine Verkehrswirtschaft kann nicht mehr allein auf die Gesetze des freien und ungezügelten Wettbewerbs gegründet sein, der nur zu oft zu einer Wirtschaftsdiktatur führt. Der freie Austausch von Gütern ist nur dann recht und billig, wenn er mit den Forderungen der sozialen Gerechtigkeit übereinstimmt.


60 Die hochentwickelten Länder haben dies übrigens für sich schon begriffen, und sie bemühen sich, durch geeignete Maßnahmen innerhalb ihrer Wirtschaft ein gewisses Gleichgewicht herzustellen, das der sich selbst überlassene freie Wettbewerb zu stören droht. So stützen sie oft ihre Landwirtschaft mit Zuwendungen, deren Aufbringung sie den höhere Gewinne erzielenden Wirtschaftszweigen auferlegen. Um ferner ihre gegenseitigen Handelsbeziehungen vor allem innerhalb eines gemeinsamen Marktes zu fördern, bemüht sich ihre Finanz-, Steuer- und Sozialpolitik, den unter ungünstigen Wettbewerbsbedingungen stehenden Industrien in etwa vergleichbare Chancen zu schaffen.


61 Man darf hier nicht zweierlei Maß anwenden. Was von der Volkswirtschaft gilt, was man unter den hochentwickelten Ländern gelten läßt, muß auch von den Handelsbeziehungen zwischen den reichen und armen Ländern gelten. Ohne den freien Markt abzuschaffen, sollte man doch den Wettbewerb in den Grenzen halten, die ihn gerecht und sozial, also menschlich machen. Im Austausch zwischen entwickelten und unterentwickelten Wirtschaften sind die Situationen zu verschieden und die gegebenen Möglichkeiten zu ungleich. Die soziale Gerechtigkeit fordert, daß der internationale Warenaustausch, um menschlich und sittlich zu sein, zwischen Partnern geschehe, die wenigstens eine gewisse Gleichheit der Chancen haben. Diese ist sicher nicht schnell zu erreichen. Um sie zu beschleunigen, sollte schon jetzt eine wirkliche Gleichheit im Gespräch und in der Preisgestaltung geschaffen werden. Auch hier könnten sich internationale Abkommen, an denen eine hinreichend große Zahl von Staaten beteiligt sind, als nützlich erweisen; sie könnten allgemeine Normen und gewisse Preise regeln, könnten gewisse Produktionen sichern, gewisse sich im Aufbau befindliche Industrien stützen. Wer sähe nicht, daß ein solch gemeinsames Bemühen um eine größere Gerechtigkeit in den Handelsbeziehungen zwischen den Völkern den Entwicklungsländern positiv helfen würde? Eine solche Hilfe hätte nicht nur unmittelbare, sondern auch dauernde Wirkungen.


62 Noch andere Hindernisse stellen sich dem Aufbau einer gerechteren und nach dem Prinzip der wechselseitigen Solidarität geordneten menschlichen Gesellschaft heute entgegen: der Nationalismus und der Rassenwahn. Es ist verständlich, daß die Völker, die erst jüngst ihre politische Unabhängigkeit erlangt haben, eifersüchtig auf ihre noch zerbrechliche nationale Einheit bedacht sind und sich bemühen, sie zu schützen. Es ist ebenfalls normal, daß die Völker einer alten Kultur stolz sind auf das Erbe, das ihnen die Geschichte überliefert hat Aber diese berechtigten Gefühle müssen doch überhöht werden durch eine Liebe, die alle Glieder der Menschenheitsfamilie umfaßt. Der Nationalismus trennt die Völker voneinander und schadet ihrem wahren Wohl. Er wirkt sich dort besonders schädlich aus, wo die Schwäche der Volkswirtschaften vielmehr die Gemeinsamkeit von Anstrengungen, Erkenntnissen und finanziellen Mitteln fordert, um die Entwicklungsprogramme zu verwirklichen und den wirtschaftlichen und kulturellen Austausch zu fördern.


63 Der Rassenwahn ist keineswegs eine Eigenart der jüngst erst zur politischen Selbständigkeit gelangten Völker, wo er sich unter den Rivalitäten der Stammesverbände und der politischen Parteien verbirgt, zum großen Schaden der Gerechtigkeit und zur Gefahr für den inneren Frieden. Während der Kolonialzeit wütete er oft zwischen den Kolonisatoren und den Eingeborenen. Er verhinderte so ein fruchtbares gegenseitiges Verständnis und ließ als Folge vieler Ungerechtigkeiten bittere Abneigung entstehen. Und noch immer verhindert er die Zusammenarbeit zwischen den Entwicklungsländern; er ist ein Ferment der Trennung und des Hasses inmitten der Staaten, wenn sich unter Mißachtung der unaufgebbaren Rechte der menschlichen Person, die einzelnen und die Familien ihrer Rasse oder Hautfarbe wegen ungerecht einer Ausnahmeregelung unterworfen sehen.


64 Diese Situation voll dunkler Drohungen für die Zukunft bedrückt Uns zutiefst. Wir hegen jedoch die Hoffnung: schließlich wird sich doch die immer stärker spürbare Notwendigkeit einer Zusammenarbeit, der immer wacher werdende Sinn für Solidarität über alles Unverständnis und allen Egoismus durchsetzen. Wir hoffen, daß aneinander angrenzende Entwicklungsländer die Möglichkeit nutzen werden, ihre weiten Gebiete zu einheitlichen Wirtschaftsräumen zusammenzufassen, wobei sie gemeinsame Programme aufstellen, die Investitionen koordinieren, die Produktion verteilen, den Güteraustausch organisieren. Wir hoffen auch, daß die Organisationen, die einige oder sogar fast alle Nationen umfassen, entsprechende Mittel und Wege finden, die es den Entwicklungsländern möglich machen, aus den Engpässen, in denen sie sind, herauszukommen und in Treue zu ihrem Wesen selbst die Mittel zu ihrem sozialen und menschlichen Fortschritt zu finden.


65 Das muß unbedingt erstrebt werden. Es scheint, daß diese Solidarität unter den Völkern der Erde immer mehr Wirklichkeit wird. Sie muß es allen Völkern erlauben, ihr Geschick selbst in die Hand zu nehmen Die Vergangenheit war zu oft von den Gewalttaten der Völker gegeneinander gekennzeichnet. Möge der Tag kommen, wo die internationalen Beziehungen von gegenseitiger Achtung und Freundschaft geprägt sind, von gegenseitiger Zusammenarbeit, von gemeinsamem Aufstieg, für den sich jeder verantwortlich fühlt. Die jetzt aufstrebenden ärmeren Völker fordern ihren Anteil am Aufbau einer besseren Welt, in der die Rechte und die Aufgaben eines jeden geachtet werden. Dieses Verlangen ist berechtigt, jeder muß es hören und darauf antworten.


3. Die Liebe zu allen

66 Die Weit ist krank. Das Übel liegt jedoch weniger darin, daß die Hilfsquellen versiegt sind oder daß einige wenige alles abschöpfen. Es liegt im Fehlen der brüderlichen Bande unter den Menschen und unter den Völkern.


67 Wir können nicht genug auf die Pflicht zur Gastfreundschaft hinweisen - eine Pflicht menschlicher Solidarität und christlicher Liebe -, die den Familien und den Kulturwerken der Staaten obliegt. Vor allem sollten Familien und Reime in größerer Zahl namentlich zur Aufnahme von Jugendlichen bereitstehen. Deren bedarf es, um sie vor der Einsamkeit zu bewahren, vor dem Gefühl der Verlassenheit, der Trostlosigkeit, wo jegliche sittliche Widerstandskraft zerbricht. Auch um sie in der ungesunden Situation zu beschützen, in der sie sich befinden, wo sich ihnen der Vergleich zwischen der furchtbaren Armut ihrer Heimat mit dem Luxus und der Verschwendung, die sie oft umgeben, geradezu aufdrängt. Und auch, um sie vor verderblichen Lehren zu bewahren und vor Versuchungen, die sie überfallen, wenn sie an so viel unverdientes Elend (48) daheim denken. Schließlich aber, um ihnen in herzlicher brüderlicher Gastfreundschaft das Beispiel eines gesunden Lebens zu geben, sie zu einer Hochschätzung der wahren und wirksamen christlichen Liebe, der Achtung vor den geistigen Werten zu führen.


68 Es ist für Uns schmerzlich, daran denken zu müssen: viele junge Menschen, die in die hochentwickelten Länder kommen, um dort Wissen, Können, Bildung zu erwerben, damit sie ihrer Heimat besser dienen können, erwerben dort zwar ganz gewiß eine Ausbildung von hoher Qualität, aber sie verlieren zu oft die Achtung vor den geistigen Werten, die sich als kostbares Erbe in den Kulturen finden, in denen sie groß geworden sind.


69 Die gleiche Gastfreundschaft sind wir auch den Gastarbeitern schuldig, die oft unter menschenunwürdigen Bedingungen leben und mit ihrem Geld äußerst sparsam umgehen müssen, um ihre Familie zu unterhalten, die in der Heimat zurückgeblieben ist und Not leidet.


70 Unsere Mahnung richten Wir weiterhin an die, die ihr Beruf in die Länder führt, die erst jüngst der Industrialisierung erschlossen wurden: Industrielle, Kaufleute, Leiter und Bevollmächtigte von Großunternehmen. Nicht selten erweisen sie sich in ihrer Heimat für soziale Verantwortung aufgeschlossen. Warum betreiben sie dann aber in den Entwicklungsländern ihre Geschäfte nach den unmenschlichen Grundsätzen des krassen Eigennutzes? Ihre Überlegenheit sollte für sie doch eigentlich ein Ansporn sein, dort, wo sie von ihren geschäftlichen Interessen hingeführt werden, als Initiatoren des sozialen Fortschritts und des menschlichen Aufstiegs zu wirken. Ihre unternehmerische Begabung müßte ihnen Wege zeigen, wie man die Arbeit der Eingeborenen produktiver gestalten könnte; wie Facharbeiter, Ingenieure und Betriebsleiter heranzubilden sind; wie man ihre Initiative wecken, wie man sie Schritt für Schritt in führende Stellungen bringen kann, um somit ihnen in nicht allzu ferner Zukunft die Führungsverantwortung zu teilen. In der Zwischenzeit sollten wenigstens die Beziehungen zwischen Vorgesetzten und Untergebenen immer nach der Gerechtigkeit geregelt, die gegenseitigen Verpflichtungen in einwandfreien Verträgen niedergelegt und keiner, welche Stellung er immer haben mag, rechtlos der Willkür anderer ausgeliefert sein!


71 Wir freuen Uns über die stetig wachsende Zahl von Fachleuten, die von weltweiten oder auf gegenseitiger Vereinbarung beruhenden Institutionen oder auch von privaten Organisationen zur Entwicklungshilfe ausgesandt werden. "Sie dürfen bei ihrem Einsatz (jedoch) nicht als Herren auftreten, sondern sollen Helfer und Mitarbeiter sein (49)." Jedes Volk merkt sehr schnell, ob seine Helfer mit oder ohne Zuneigung zugreifen, ob sie nur Technik bringen oder die Würde der Menschen fördern wollen. Ihre Botschaft wird nur dann angenommen, wenn sie von brüderlicher Liebe getragen ist.


72 Das unerläßlich fachliche Können genügt also nicht, hinzukommen müssen echte Erweise selbstloser Liebe. Frei von jedem nationalistischen Hochmut wie von jedem Anschein eines Rassenvorurteils, müssen diese Fachleute lernen, eng mit allen zusammenzuarbeiten. Sie müssen wissen, daß ihr Fachwissen durchaus keine Überlegenheit auf allen Gebieten besagt. Die Kultur, in der sie aufgewachsen sind, enthält zweifellos Elemente eines universalen Humanismus, aber sie ist nicht die einzige, darf andere nicht ablehnen und bedarf der Anpassung, wenn sie in andere Weltteile übertragen werden soll. Wer sich dieser Aufgabe widmet, dem muß es ein Anliegen sein, mit der Geschichte des Landes, in dem er gleichsam als Gast weilt, auch dessen kulturelle Kräfte und Reichtümer zu entdecken. So kommt es zu einer beider Kulturen, durch die beide befruchtet werden.


73 Aufrichtiger Austausch zwischen den Kulturen wie den Menschen schafft brüderliche Gesinnung. Wenn alle, angefangen von den Regierungen und ihren Vertretern bis zum letzten Fachmann, von brüderlich er Liebe beseelt und von dem aufrichtigen Verlangen erfüllt sind, eine allgemeine Geisteskultur auf der ganzen Welt aufzubauen, dann werden die Unternehmungen der Entwicklungshilfe die Völker innerlich verbinden. Dann nimmt das Gespräch seinen Anfang mit dem Menschen, nicht mit Agrar- und Industrieerzeugnissen. Es wird fruchtbar sein, wenn es den Völkern, die so ins Sprechen gekommen sind, die Möglichkeit gibt, wirtschaftlich und geistig voranzukommen; wenn die Techniker zu Lehrern werden, und wenn die Unterweisung von solcher geistiger und sittlicher Kraft ist, daß sie nicht nur den wirtschaftlichen, sondern auch den menschlichen Fortschritt gewährleistet; dann bleiben auch nach Abschluß der Hilfeleistung die entstandenen menschlichen Beziehungen bestehen. Und wer sähe nicht, welche Bedeutung dies für den Frieden der Welt hat?


74 Viele junge Menschen haben bereits mit Feuereifer auf den Anruf Pius' XII. für die laienmissionarische Bewegung geantwortet (50). Zahlreich sind auch jene, die sich freiwillig den öffentlichen und privaten Organisationen zur Arbeit in den Entwicklungsländern zur Verfügung gestellt haben. Wir freuen Uns zu hören, daß in manchen Nationen der durch einen Sozialdienst oder überhaupt durch irgendeinen sonstigen Dienst wenigstens teilweise ersetzt werden kann. Wir segnen diese Initiativen und die Menschen voll guten Willens, die sie verwirklichen. Möchten doch alle, die sich zu Christus bekennen, seinen Ruf hören: "Ich war hungrig, ihr habt mich gespeist; ich war durstig, ihr habt mich getränkt; ich war Fremdling, ihr habt mich beherbergt; ich war nackt, ihr habt mich bekleidet; ich war krank, ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis, ihr seid zu mir gekommen (Mt 25,35-36)." Niemand darf dem Los seiner Brüder gleichgültig gegenüberstehen, die in Elend versunken, der Unwissenheit ausgeliefert, Opfer der Unsicherheit sind. Wie das Herz Christi, muß auch das Herz der Christen mit dem Elend mitempfinden: "Mich erbarmt des Volkes (Mc 8,2)"


75 Möchten doch alle Gott, den allmächtigen Vater, bitten, daß sich die Menschheit in Erkenntnis der großen Übel mit Intelligenz und Mut daran mache, sie aus der Welt zu schaffen. Diesem Gebetseifer aller muß die Entschlossenheit eines jeden entsprechen, sich nach dem Maß seiner Kräfte und Möglichkeiten im Kampf gegen die Unterentwicklung einzusetzen. Möchten sich doch alle Menschen, die sozialen Gruppen und die Völker, brüderlich die Hand reichen, die Starken den Schwachen zum Fortschritt verhelfen, indem sie ihre ganze Einsicht, ihre Tatkraft, ihre selbstlose Liebe einsetzen. Mehr als irgend jemand, ist der wahre Liebende erfinderisch im Entdecken der Ursachen des Elends, im Finden der Mittel, es zu bekämpfen und zu besiegen. Der Friedensstifter "geht gerade seinen Weg, entzündet die Freude und verbreitet Licht und Gnade in den Herzen der Menschen auf der ganzen Welt, und lehrt sie über alle Grenzen hinweg das Antlitz von Brüdern, das Antlitz von Freunden, entdecken (51)".


Schluss

Entwicklung, der neue Name für Friede

76 Die zwischen den Völkern bestehenden übergroßen Unterschiede der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse, wie auch der Lehrmeinungen, sind dazu angetan, Eifersucht und Uneinigkeit hervorzurufen und gefährden so immer wieder den Frieden. Nach der Rückkehr von Unserer Friedensreise zur UNO haben Wir vor den Konzilsvätern gesagt: "Die Daseinsbedingungen der Entwicklungsländer verdienen unsere gespannte Aufmerksamkeit, deutlicher gesagt; unsere Liebe zu den Armen in dieser Welt - und es sind unzählige Scharen - muß hellhöriger, aktiver, hochherziger werden (52)." Das Elend bekämpfen und der Ungerechtigkeit entgegentreten heißt nicht nur die äußeren Lebensverhältnisse bessern, sondern auch am geistigen und sittlichen Fortschritt aller arbeiten und damit zum Nutzen der Menschheit beitragen. Der Friede besteht nicht einfach im Schweigen der Waffen, nicht einfach im immer schwankenden Gleichgewicht der Kräfte. Er muß Tag für Tag aufgebaut werden mit dem Ziel einer von Gott gewollten Ordnung, die eine vollkommenere Gerechtigkeit unter den Menschen herbeiführt (53).


Populorum progressio DE 38