Verbum Domini DE 14

Die eschatologische Dimension des Wortes Gottes


14 Mit all dem bringt die Kirche das Bewußtsein zum Ausdruck, daß sie in Jesus Christus dem endgültigen Wort Gottes gegenübersteht; er ist »der Erste und der Letzte« (Ap 1,17). Er hat der Schöpfung und der Geschichte ihren endgültigen Sinn gegeben; deshalb sind wir berufen, in diesem eschatologischen Rhythmus des Wortes die Zeit zu leben, die Schöpfung Gottes zu bewohnen; »daher ist die christliche Heilsordnung, nämlich der neue und endgültige Bund, unüberholbar, und es ist keine neue öffentliche Offenbarung mehr zu erwarten vor der Erscheinung unseres Herrn Jesus Christus in Herrlichkeit (vgl. 1Tim 1Tm 6,14 und Tit Tt 2,13)«.[41] Wie die Väter während der Synode in Erinnerung gerufen haben, »zeigt sich das Besondere des Christentums im Ereignis Jesu Christi, Höhepunkt der Offenbarung, Erfüllung der Verheißungen Gottes und Mittler der Begegnung zwischen dem Menschen und Gott. Er, „der von Gott Kunde gebracht hat“ (vgl. Joh Jn 1,18), ist das einzige und endgültige Wort, das der Menschheit gegeben wurde«.[42] Der hl. Johannes vom Kreuz hat diese Wahrheit wunderbar ausgedrückt: »Da Gott uns seinen Sohn geschenkt hat, der sein einziges und endgültiges Wort ist, hat er uns in diesem einzigen Wort alles auf einmal gesagt und nichts mehr hinzuzufügen ... Denn was er ehedem den Propheten nur teilweise kundgetan hat, das hat er in seinem Sohn vollständig mitgeteilt, indem er uns dieses Ganze gab, seinen Sohn. Wer darum den Herrn jetzt noch befragen oder von ihm Visionen oder Offenbarungen haben wollte, der würde nicht bloßunvernünftig handeln, sondern Gott beleidigen, weil er seine Augen nicht einzig auf Christus richtet, sondern Anderes und Neues sucht«.[43]

Folglich hat die Synode empfohlen, »den Gläubigen zu helfen, das Wort Gottes von Privatoffenbarungen zu unterscheiden«.[44] Diese »sind nicht dazu da, die endgültige OffenbarungChristi … zu „vervollständigen“, sondern sollen helfen, in einem bestimmten Zeitalter tiefer aus ihr zuleben«.[45] Der Wert der Privatoffenbarungen ist wesentlich unterschieden von der einer öffentlichen Offenbarung: Diese fordert unseren Glauben an, denn in ihr spricht durch Menschenworte und durch die Vermittlung der lebendigen Gemeinschaft der Kirche hindurch Gott selbst zu uns. Der Maßstab für die Wahrheit einer Privatoffenbarung ist ihre Hinordnung auf Christus selbst. Wenn sie uns von ihm wegführt, dann kommt sie sicher nicht vom Heiligen Geist, der uns in das Evangelium hinein- und nicht aus ihm herausführt. Die Privatoffenbarung ist eine Hilfe zu diesem Glauben, und sie erweist sich gerade dadurch als glaubwürdig, daß sie auf die eine öffentliche Offenbarung verweist. Die kirchliche Approbation einer Privatoffenbarung zeigt daher im wesentlichen an, daß die entsprechende Botschaft nichts enthält, was dem Glauben und den guten Sitten entgegensteht; es ist erlaubt, sie zu veröffentlichen, und den Gläubigen ist es gestattet, ihr in kluger Weise ihre Zustimmung zu schenken. Eine Privatoffenbarung kann neue Akzente setzen, neue Weisen der Frömmigkeit herausstellen oder alte vertiefen. Sie kann einen gewissen prophetischen Charakter besitzen (vgl. 1Thess 1Th 5,19-21) und eine wertvolle Hilfe sein, das Evangelium in der jeweils gegenwärtigen Stunde besser zu verstehen und zu leben; deshalb soll man sie nicht achtlos beiseite schieben. Sie ist eine Hilfe, die angeboten wird, aber von der man nicht Gebrauch machen muß. Auf jeden Fall muß es darum gehen, daß sie Glaube, Hoffnung und Liebe nährt, die der bleibende Weg des Heils für alle sind.[46]

Das Wort Gottes und der Heilige Geist


15 Nachdem wir uns beim letzten und endgültigen Wort Gottes an die Welt aufgehalten haben, müssen wir jetzt an die Sendung des Heiligen Geistes in bezug auf das göttliche Wort erinnern, denn es gibt kein wahres Verständnis der christlichen Offenbarung außerhalb des Wirkens des Parakleten. Das hängt damit zusammen, daß die Selbstmitteilung Gottes stets die Beziehung zwischen dem Sohn und dem Heiligen Geist einschließt; Irenäus von Lyon nennt sie »die beiden Hände des Vaters«.[47]Im übrigen ist es die Heilige Schrift, die uns auf die Gegenwart des Heiligen Geistes in der Heilsgeschichte und insbesondere im Leben Jesu hinweist: Dieser wird durch das Wirken des Heiligen Geistes von der Jungfrau Maria empfangen (vgl. Mt Mt 1,18 Lk Lc 1,35); zu Beginn seines öffentlichen Wirkens, am Ufer des Jordan, sieht er ihn wie eine Taube auf sich herabkommen (vgl. Mt Mt 3,16); im selben Geist handelt, spricht und frohlockt Jesus (vgl. Lk Lc 10,21); und im Geist opfert er sich selbst (vgl. Hebr He 9,14). Gegen Ende seiner Sendung bringt Jesus dem Bericht des Evangelisten Johannes zufolge die Hingabe seines Lebens eindeutig in Verbindung mit der Sendung des Heiligen Geistes an die Seinen (vgl. Joh Jn 16,7). Der auferstandene Jesus, der an seinem Leib die Zeichen der Passion trägt, gießt dann mit seinem Hauch den Geist über die Seinen aus (vgl. Joh Jn 20,22) und läßt sie so an seiner eigenen Sendung teilhaben (vgl. Joh Jn 20,21). Der Heilige Geist wird die Jünger alles lehren und sie an alles erinnern, was Christus gesagt hat (vgl. Joh Jn 14,26), denn er, der Geist der Wahrheit (vgl. Jn 15,26), wird die Jünger in die ganze Wahrheit führen. In der Apostelgeschichte steht schließlich, daß der Heilige Geist auf die Apostel herabkommt, die am Pfingsttag zusammen mit Maria im Gebet versammelt sind (vgl. 2,1-4), und sie für die Sendung, allen Völkern die Frohe Botschaft zu verkünden, ermutigt.[48]

Das Wort Gottes kommt also durch das Wirken des Heiligen Geistes in menschlichen Worten zum Ausdruck. Die Sendung des Sohnes und jene des Heiligen Geistes sind untrennbar miteinander verbunden und bilden eine einzige Heilsökonomie. Der Geist, der in der Inkarnation des Wortes im Schoß der Jungfrau Maria wirkt, ist derselbe, der Jesus in seiner ganzen Sendung leitet und der den Jüngern verheißen wird. Derselbe Geist, der durch die Propheten gesprochen hat, stützt und inspiriert die Kirche in ihrer Aufgabe, das Wort Gottes zu verkündigen, und in der Predigt der Apostel; schließlich ist es dieser Geist, der die Autoren der Heiligen Schrift inspiriert hat.


16 Im Bewußtsein dieser pneumatologischen Perspektive haben die Synodenväter an die Bedeutung des Wirkens des Heiligen Geistes im Leben der Kirche und in den Herzen der Gläubigen in bezug auf die Heilige Schrift erinnert:[49] Ohne das wirkungsvolle Handeln des »Geistes der Wahrheit« (Jn 14,16) kann man die Worte des Herrn nicht verstehen. Auch der hl. Irenäus sagt: »Jene, die nicht teilhaben am Geist, ziehen nicht aus der Brust ihrer Mutter (der Kirche) die lebensspendende Nahrung, sie erhalten nichts aus der reinsten Quelle, die dem Leib Christi entspringt«.[50] Wie das Wort Gottes im Leib Christi, im eucharistischen Leib und im Leib der Schriften durch das Wirken des Heiligen Geistes zu uns kommt, so kann es nur durch denselben Geist angenommen und wirklich verstanden werden.

Die großen Autoren der christlichen Tradition stimmen überein in ihrer Beurteilung der Rolle, die der Heilige Geist in der Beziehung der Gläubigen zur Heiligen Schrift spielen muß. Der hl. Johannes Chrysostomos sagt, daß die Schrift »der Offenbarung des Geistes bedarf, damit wir reichen Nutzen ziehen können aus der Entdeckung des wahren Sinnes der Dinge, die darin verborgen sind«.[51] Auch der hl. Hieronymus ist fest davon überzeugt, daß wir »nicht zum Verständnis der Heiligen Schrift gelangen können ohne die Hilfe des Heiligen Geistes, der sie inspiriert hat«.[52] Der hl. Gregor der Große hebt sehr schön das Wirken desselben Geistes in der Herausbildung und in der Auslegung der Bibel hervor: »Er selbst hat die Worte der heiligen Testamente erschaffen, er selbst hat ihren Sinn enthüllt«.[53] Richard von Sankt Viktor ruft in Erinnerung, daß man »Taubenaugen« braucht, die vom Geist erleuchtet und unterwiesen sind, um den heiligen Text zu verstehen.[54]

Hervorheben möchte ich noch, wie wichtig das Zeugnis über die Beziehung zwischen dem Geist und der Schrift ist, das wir in den liturgischen Texten finden, wo das Wort Gottes verkündigt, gehört und den Gläubigen ausgelegt wird. Dies gilt für die antiken Gebete, die in Form einer Epiklese vor den Lesungen den Geist anrufen: »Sende deinen Heiligen Geist, den Beistand, in unsere Herzen, und laß uns die von ihm inspirierten Schriften verstehen; gib, daß ich sie würdig auslege, auf daß die hier versammelten Gläubigen daraus Nutzen ziehen«. Ebenso finden sich Gebete, die nach der Predigt Gott noch einmal um die Gabe des Geistes an die Gläubigen anrufen: »Gott, unser Retter, … wir bitten dich: Sende den Heiligen Geist auf dieses Volk herab. Der Herr Jesus möge bei ihm sein, den Verstand aller ansprechen, die Herzen für den Glauben bereiten und unsere Seelen zu dir führen, barmherziger Gott«.[55] Aus alledem wird leicht verständlich, warum man den Sinn des Wortes nicht erfassen kann, wenn man das Wirken des Parakleten in der Kirche und in den Herzen der Gläubigen nicht annimmt.

Überlieferung und Schrift


17 Indem wir erneut die tiefe Verbindung zwischen dem Heiligen Geist und dem Wort Gottes festgestellt haben, haben wir auch die Grundlagen geschaffen, um den Sinn und den entscheidenden Wert der lebendigen Überlieferung und der Heiligen Schrift in der Kirche zu verstehen. Weil nämlich »Gott die Welt so sehr geliebt hat, daß er seinen einzigen Sohn hingab« (? Jn 3,16), hat sich das in der Zeit gesprochene göttliche Wort hingegeben und sich der Kirche endgültig »überantwortet«, damit das Heil zu allen Zeiten und an allen Orten kraftvoll verkündet werden kann. Wie uns die dogmatische Konstitution Dei Verbum in Erinnerung ruft, hat Jesus Christus selbst »den Aposteln geboten, das Evangelium, das er als die Erfüllung der früher ergangenen prophetischen Verheißung selbst gebracht und persönlich öffentlich verkündet hat, allen zu predigen als die Quelle jeglicher Heilswahrheit und Sittenlehre und ihnen so göttliche Gaben mitzuteilen. Das ist treu ausgeführt worden, und zwar sowohl durch die Apostel, die durch mündliche Predigt, durch Beispiel und Einrichtungen weitergaben, was sie aus Christi Mund, im Umgang mit ihm und durch seine Werke empfangen oder was sie unter der Eingebung des Heiligen Geistes gelernt hatten, als auch durch jene Apostel und apostolischen Männer, die unter der Inspiration des gleichen Heiligen Geistes die Botschaft vom Heil niederschrieben«.[56]


18 Darüber hinaus erinnert das Zweite Vatikanische Konzil daran, daß diese Überlieferung apostolischen Ursprungs eine lebendige und dynamische Wirklichkeit ist: Sie »kennt in der Kirche unter dem Beistand des Heiligen Geistes einen Fortschritt«, aber nicht in dem Sinne, daß sie sich in ihrer Wahrheit verändert, die immerwährend ist. Vielmehr »wächst das Verständnis der überlieferten Dinge und Worte« durch die Betrachtung und das Studium, durch Einsicht, die aus tieferer geistlicher Erfahrung stammt, und durch »die Verkündigung derer, die mit der Nachfolge im Bischofsamt das sichere Charisma der Wahrheit empfangen haben«.[57]

Die lebendige Überlieferung ist wesentlich, damit die Kirche im Laufe der Zeit im Verständnis der in den Schriften offenbarten Wahrheit wachsen kann; es wird nämlich »durch dieselbe Überlieferung … der Kirche der vollständige Kanon der Heiligen Bücher bekannt, in ihr werden die Heiligen Schriften selbst tiefer verstanden und unaufhörlich wirksam gemacht«.[58] Letztendlich ist es die lebendige Überlieferung der Kirche, die uns die Heilige Schrift als Wort Gottes angemessen verstehen läßt. Obgleich das Wort Gottes der Heiligen Schrift vorausgeht und sie übersteigt, enthält sie doch, da sie von Gott inspiriert ist, das göttliche Wort (vgl. 2Tim
2Tm 3,16) »in ganz einzigartiger Weise«.[59]

Daraus geht hervor, wie wichtig es ist, daß das Volk Gottes klar unterwiesen wird, den Zugang zur Heiligen Schrift in Verbindung mit der lebendigen Überlieferung der Kirche zu suchen und so in ihr das Wort Gottes selbst zu erkennen. Unter dem Gesichtspunkt des geistlichen Lebens ist es sehr wichtig, dafür zu sorgen, daß diese Haltung bei den Gläubigen zunimmt. In diesem Zusammenhang kann der Hinweis auf eine von den Kirchenvätern entwickelte Analogie zwischen dem Wort Gottes, das »Fleisch« wird, und dem Wort, das »Buch« wird, hilfreich sein.[60] Die dogmatische KonstitutionDei Verbum greift die alte Überlieferung auf, der zufolge »der Leib des Sohnes die uns überlieferte Schrift ist«, wie der hl. Ambrosius sagt,[61] und erklärt: »Gottes Worte, durch Menschenzunge formuliert, sind menschlicher Rede ähnlich geworden, wie einst des ewigen Vaters Wort durch die Annahme menschlich-schwachen Fleisches den Menschen ähnlich geworden ist«.[62] So verstanden stellt sich uns die Heilige Schrift trotz der Vielfalt ihrer Formen und Inhalte als Einheit dar. Denn »durch alle Worte der Heiligen Schrift sagt Gott nur ein Wort: sein eingeborenes Wort, in dem er sich selbst ganz aussagt (vgl. Hebr He 1,1-3)«,[63] wie bereits der hl. Augustinus deutlich gemacht hat: »Erinnert euch daran, daß Gottes Rede nur eine ist, die sich in der ganzen Heiligen Schrift entfaltet, und daß nur eines das Wort ist, das aus dem Mund aller heiligen Autoren ertönt«.[64]

Letztlich gibt die Kirche durch das Wirken des Heiligen Geistes und unter der Führung des Lehramts an alle Generationen das weiter, was in Christus offenbart wurde. Die Kirche lebt in der Gewißheit, daß ihr Herr, der in der Vergangenheit gesprochen hat, auch heute noch sein Wort in der lebendigen Überlieferung der Kirche und in der Heiligen Schrift mitteilt. Das Wort Gottes schenkt sich uns in der Heiligen Schrift als inspiriertes Zeugnis der Offenbarung, die mit der lebendigen Überlieferung der Kirche die höchste Richtschnur des Glaubens darstellt.[65]

Heilige Schrift, Inspiration und Wahrheit


19 Ein Schlüsselbegriff, der dazu dient, die Heilige Schrift als Wort Gottes in menschlichen Worten zu erfassen, ist die Inspiration. Auch hier kann man eine Analogie anführen: So wie das Wort Gottes im Schoß der Jungfrau Maria Fleisch geworden ist durch das Wirken des Heiligen Geistes, wird die Heilige Schrift durch das Wirken desselben Geistes im Schoß der Kirche geboren. Die Heilige Schrift ist »Gottes Rede, insofern sie unter dem Anhauch des Heiligen Geistes schriftlich aufgezeichnet wurde«.[66] So erkennt man die ganze Bedeutung des menschlichen Autors, der die inspirierten Texte geschrieben hat, und gleichzeitig Gott selbst als den wahren Autor.

In diesem Zusammenhang zeigt sich ganz deutlich, so die Synodenväter, wie entscheidend das Thema der Inspiration für eine adäquate Annäherung an die Schrift und ihre korrekte Hermeneutik ist,[67] die wiederum in demselben Geist geschehen muß, in dem sie geschrieben wurde.[68] Wenn in uns das Bewußtsein für die Inspiration abnimmt, dann besteht die Gefahr, die Schrift als Objekt historischen Interesses zu lesen und nicht als Werk des Heiligen Geistes, in dem wir die Stimme des Herrn hören und seine Gegenwart in der Geschichte erfahren können.

Außerdem haben die Synodenväter hervorgehoben, daß mit dem Thema der Inspiration auch das Thema der Wahrheit der Schrift verbunden ist.[69] Eine Vertiefung der Dynamik der Inspiration führt daher zweifellos auch zu einem besseren Verständnis der in den heiligen Büchern enthaltenen Wahrheit. Die Aussagen des Konzils bekräftigen diesbezüglich, daß die inspirierten Bücher die Wahrheit lehren: »Da also alles, was die inspirierten Verfasser oder Hagiographen aussagen, als vom Heiligen Geist ausgesagt zu gelten hat, ist von den Büchern der Schrift zu bekennen, daß sie sicher, getreu und ohne Irrtum die Wahrheit lehren, die Gott um unseres Heiles willen in heiligen Schriften aufgezeichnet haben wollte. Daher „ist jede Schrift, von Gott eingegeben, auch nützlich zur Belehrung, zur Beweisführung, zur Zurechtweisung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit, damit der Gott gehörige Mensch bereit sei, wohlgerüstet zu jedem guten Werk“ (2Tim 3,16-17gr.)«.[70]

Gewiß wurden in der theologischen Reflexion Inspiration und Wahrheit stets als zwei Schlüsselbegriffe für eine kirchliche Hermeneutik der Heiligen Schrift betrachtet. Dennoch muß man einräumen, daß es heute notwendig ist, diese Wirklichkeiten adäquat zu vertiefen, um besser antworten zu können auf das, was für eine wesensgemäße Auslegung der heiligen Texte erforderlich ist. In dieser Hinsicht möchte ich meinen dringenden Wunsch zum Ausdruck bringen, daß die Forschung in diesem Bereich fortschreiten und für die Bibelwissenschaft und für das geistliche Leben der Gläubigen Früchte tragen möge.

Gott Vater, Quell und Ursprung des Wortes


20 Die Ökonomie der Offenbarung hat ihren Beginn und ihren Ursprung in Gott, dem Vater. Durch sein Wort »wurden die Himmel geschaffen, ihr ganzes Heer durch den Hauch seines Mundes« (Ps 33,6). Er ist es, durch den wir »erleuchtet werden zur Erkenntnis des göttlichen Glanzes auf dem Antlitz Christi« (2Co 4,6 vgl. Mt Mt 16,17
Lk 9,29).

Im Sohn, dem »fleischgewordenen Logos« (vgl. Joh Jn 1,14), der gekommen ist, um den Willen dessen zu tun, der ihn gesandt hat (vgl. Joh Jn 4,34), zeigt sich Gott, der Quell der Offenbarung, als Vater und bringt die göttliche Erziehung des Menschen zur Vollendung, die bereits vorher durch die Worte der Propheten und die Wunder, die er in der Schöpfung und in der Geschichte seines Volkes und aller Menschen gewirkt hat, angeregt worden war. Den Höhepunkt der Offenbarung Gottes des Vaters bietet der Sohn mit der Gabe des Parakleten (vgl. Joh Jn 14,16) – des Geistes des Vaters und des Sohnes –, der uns »in die ganze Wahrheit führt« (? Jn 16,13).

So werden alle Verheißungen Gottes zum »Ja« in Jesus Christus (vgl. 2Kor 2Co 1,20). Auf diese Weise eröffnet sich dem Menschen die Möglichkeit, den Weg zu gehen, der ihn zum Vater führt (vgl. Joh Jn 14,6), damit am Ende Gott »alles in allem sei« (1Co 15,28).


21 Wie das Kreuz Christi zeigt, spricht Gott auch durch sein Schweigen. Das Schweigen Gottes, die Erfahrung der Ferne des allmächtigen Vaters, ist ein entscheidender Abschnitt auf dem irdischen Weg des Sohnes Gottes, des fleischgewordenen Wortes. Am Holz des Kreuzes hängend, hat er den Schmerz beklagt, den dieses Schweigen ihm zufügt: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« (Mc 15,34
Mt 27,46). Gehorsam bis zum letzten Atemzug, hat Jesus in der Finsternis des Todes den Vater angerufen. Ihm vertraute er sich im Augenblick des Übergangs durch den Tod zum ewigen Leben an: »Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist«

(@LC 23,46@).

Diese Erfahrung Jesu ist bezeichnend für die Situation des Menschen, der, nachdem er das Wort Gottes gehört und erkannt hat, es auch mit seinem Schweigen aufnehmen muß. Es ist eine Erfahrung, die etliche Heilige und Mystiker gemacht haben und die auch heute zum Weg vieler Gläubigen gehört. Das Schweigen Gottes ist wie eine Verlängerung der Worte, die er zuvor gesprochen hat. In diesen dunklen Augenblicken spricht er im Geheimnis seines Schweigens. Darum erscheint in der Dynamik der christlichen Offenbarung das Schweigen als wichtiger Ausdruck des Wortes Gottes.

Die Antwort des Menschen an den Gott,
der spricht

Berufen, in den Bund mit Gott einzutreten


22 Durch die Hervorhebung der Vielgestaltigkeit des Wortes konnten wir uns vor Augen führen, auf wie viele Weisen Gott zum Menschen spricht und ihm entgegenkommt, sich ihm im Dialog zu erkennen gibt. Gewiß, »wenn der Dialog« – wie die Synodenväter betont haben – »im Bezug zur Offenbarung steht, ist damit der Primat des an den Menschen gerichteten Wortes Gottes verbunden«.[71] Das Geheimnis des Bundes bringt die Beziehung zwischen Gott, der durch sein Wort ruft, und dem Menschen, der antwortet, zum Ausdruck, im klaren Bewußtsein, daß es sich nicht um eine Begegnung zwischen zwei gleichrangigen Parteien handelt. Das, was wir den Alten und den Neuen Bund nennen, ist kein Übereinkommen zwischen zwei gleichen Teilen, sondern ein reines Geschenk Gottes. Indem er durch dieses Geschenk seiner Liebe jede Distanz überwindet, macht er uns wirklich zu seinen »Partnern« und verwirklicht so das hochzeitliche Geheimnis der Liebe zwischen Christus und der Kirche. In dieser Perspektive erscheint jeder Mensch als der Empfänger des Wortes: Er wird angesprochen und aufgerufen, durch eine freie Antwort in diesen Dialog der Liebe einzutreten. So befähigt Gott einen jeden von uns, das göttliche Wort zu hören und darauf zuantworten. Der Mensch wurde im Wort erschaffen und lebt in ihm; er kann sich selbst nicht verstehen, wenn er sich diesem Dialog nicht öffnet. Das Wort Gottes offenbart das auf Kindschaft und Beziehung beruhende Wesen unseres Lebens. Wir sind wirklich aus Gnade berufen, Christus, dem Sohn des Vaters, gleichgestaltet und in ihm verwandelt zu werden.

Gott hört den Menschen und antwortet auf seine Fragen


23 In diesem Dialog mit Gott verstehen wir uns selbst und finden eine Antwort auf die tiefsten Fragen, die wir in unserem Herzen tragen. Das Wort Gottes stellt sich nämlich nicht gegen den Menschen, es unterdrückt nicht seine echten Wünsche, sondern erleuchtet sie sogar, indem es sie reinigt und zur Vollendung führt. Wie wichtig ist es doch für unsere Zeit zu entdecken, daß nur Gott auf das Verlangen antwortet, das im Herzen eines jeden Menschen wohnt! In unserer Zeit hat sich leider, vor allem im Westen, die Vorstellung verbreitet, daß Gott mit dem Leben und den Problemen des Menschen nichts zu tun hat, daß seine Gegenwart sogar eine Bedrohung für die Unabhängigkeit des Menschen sein kann. In Wirklichkeit zeigt uns die gesamte Heilsökonomie, daß Gott zugunsten des Menschen und seines ganzheitlichen Heils spricht und in die Geschichte eingreift. Unter dem Gesichtspunkt der Seelsorge ist es daher entscheidend zu vermitteln, daß das Wort Gottes im Dialog steht mit den Problemen, denen der Mensch im täglichen Leben gegenübersteht. Gerade Jesus zeigt sich uns als derjenige, der gekommen ist, damit wir das Leben in Fülle haben (vgl. Joh Jn 10,10). Wir müssen daher alles tun, um dem Menschen das Wort Gottes in der ihm eigenen Aufgeschlossenheit gegenüber seinen Problemen nahezubringen, als Antwort auf seine Fragen, als Weitung seines Werthorizontes und zugleich als Erfüllung seiner persönlichen Erwartungen. Die Seelsorge der Kirche muß deutlich machen, daß Gott die Nöte des Menschen und sein Schreien hört. Der hl. Bonaventura sagt in seinem Breviloquium: »Die Frucht der Heiligen Schrift ist nicht irgendeine, sondern sogar die Fülle der ewigen Glückseligkeit. Denn die Heilige Schrift ist ja das Buch, in dem Worte des ewigen Lebens geschrieben stehen, damit wir nicht nur glauben, sondern auch das ewige Leben besitzen, in dem wir sehen und lieben werden und in dem all unsere Wünsche erfüllt werden«.[72]

Mit Gott sprechen durch seine Worte


24 Das göttliche Wort führt einen jeden von uns ins Gespräch mit dem Herrn ein: Der Gott, der spricht, lehrt uns, wie wir mit ihm sprechen können. Man denkt unwillkürlich an das Buch der Psalmen, in dem er uns die Worte gibt, mit denen wir ihn anreden, im Gespräch unser Leben vor ihn tragen können und so das Leben selbst in eine Bewegung auf Gott hin verwandeln.[73] In den Psalmen finden wir tatsächlich die ganze Bandbreite der Empfindungen, die der Mensch in seinem Leben haben kann und die mit Weisheit vor Gott gebracht werden: Freude und Schmerz, Angst und Hoffnung, Furcht und Zittern kommen hier zum Ausdruck. Zusammen mit den Psalmen denken wir auch an die zahlreichen anderen Texte der Heiligen Schrift, die die Hinwendung des Menschen zu Gott ausdrücken in Form der Fürbitte (vgl. Ex Ex 33,12-16), des Jubelliedes um den Sieg (vgl. Ex Ex 15) oder der Wehklage in der Ausübung der eigenen Sendung (vgl. Jer Jr 20,7-18). Auf diese Weise wird das Wort, das der Mensch an Gott richtet, selbst zum Wort Gottes in Bestätigung des dialogischen Wesens der ganzen christlichen Offenbarung,[74] und die gesamte Existenz des Menschen wird zu einem Dialog mit Gott, der spricht und zuhört, der ruft und Bewegung in unser Leben bringt. Das Wort Gottes offenbart hier, daß das gesamte Leben des Menschen unter dem göttlichen Ruf steht.[75]

Das Wort Gottes und der Glaube


25 »Dem offenbarenden Gott ist der „Gehorsam des Glaubens“ (Rm 16,26 vgl. Röm Rm 1,5 2Co 10,5-6) zu leisten. Darin überantwortet sich der Mensch Gott als ganzer in Freiheit, indem er sich „dem offenbarenden Gott mit Verstand und Willen voll unterwirft“ und seiner Offenbarung willig zustimmt«.[76] Mit diesen Worten hat die dogmatische Konstitution Dei Verbum die Haltung des Menschen gegenüber Gott treffend zum Ausdruck gebracht. Die eigentliche Antwort des Menschen an Gott, der zu ihm spricht, ist der Glaube.Daraus wird ersichtlich, daß »der Mensch, um die Offenbarung anzunehmen, den Verstand und das Herz öffnen muß für das Wirken des Heiligen Geistes, der ihn das in der Heiligen Schrift gegenwärtige Wort Gottes verstehen läßt«.[77] Tatsächlich ist es gerade die Verkündigung des göttlichen Wortes, die den Glauben hervorruft, durch den wir der uns offenbarten Wahrheit von Herzen zustimmen und unser ganzes Sein Christus anvertrauen: »So gründet der Glaube in der Botschaft, die Botschaft im Wort Christi« (Rm 10,17). Die ganze Heilsgeschichte zeigt uns fortschreitend diese enge Verbindung zwischen dem Wort Gottes und dem Glauben, der in der Begegnung mit Christus Erfüllung findet. Durch ihn nimmt der Glaube die Form der Begegnung mit einer Person an, der man sein Leben anvertraut. Christus Jesus bleibt heute in der Geschichte, in seinem Leib, der Kirche, gegenwärtig. Unser Glaubensakt ist daher ein persönlicher und zugleich kirchlicher Akt.

Die Sünde als Nichthören auf das Wort Gottes


26 Das Wort Gottes offenbart unvermeidlich auch die dramatische Möglichkeit, die der Freiheit des Menschen gegeben ist, sich diesem Dialog des Bundes mit Gott, für den wir geschaffen sind, zu entziehen. Das göttliche Wort enthüllt nämlich auch die Sünde, die im Herzen des Menschen wohnt. Sehr häufig finden wir sowohl im Alten als auch im Neuen Testament die Beschreibung der Sünde als ein Nichthören auf das Wort, als Bundesbruch und damit als Verschlossenheit gegenüber Gott, der zur Gemeinschaft mit sich ruft.[78] Die Heilige Schrift zeigt uns, daß die Sünde des Menschen im wesentlichen Ungehorsam und »Nichthören« ist. Gerade der radikale Gehorsam Christi bis zum Tod am Kreuz (vgl. Phil Ph 2,8) entlarvt diese Sünde bis auf den Grund. In seinem Gehorsam wird der Neue Bund zwischen Gott und dem Menschen geschlossen und uns die Möglichkeit der Versöhnung geschenkt. Jesus wurde ja vom Vater gesandt als Sühneopfer für unsere Sünden und für die der ganzen Welt (vgl. 1Joh 1Jn 2,2 1Jn 4,10 Hebr He 7,27). So werden uns aus Barmherzigkeit die Möglichkeit der Erlösung und der Beginn eines neuen Lebens in Christus angeboten. Es ist daher wichtig, daß die Gläubigen dazu erzogen werden, die Wurzel der Sünde im Nichthören auf das Wort des Herrn zu erkennen und in Jesus, dem Wort Gottes, die Vergebung anzunehmen, die uns für das Heil öffnet.

Maria »Mater Verbi Dei« und »Mater fidei«


27 Die Synodenväter haben erklärt, daß es der XII. Versammlung grundlegend darum ging, »den Glauben der Kirche an das Wort Gottes zu erneuern«. Dazu müssen wir dorthin blicken, wo die Wechselseitigkeit zwischen dem Wort Gottes und dem Glauben vollkommene Erfüllung gefunden hat: auf die Jungfrau Maria, »die mit ihrem Ja zum Wort des Bundes und zu ihrer Sendung die göttliche Berufung der Menschheit vollkommen erfüllt«.[79] Die durch das Wort geschaffene menschliche Wirklichkeit findet ihre vollendete Gestalt im gehorsamen Glauben Marias. Von der Verkündigung bis Pfingsten zeigt sie sich uns als Frau, die sich dem Willen Gottes ganz und gar übereignet. Sie ist die Unbefleckte Empfängnis, die von Gott »Begnadete« (vgl. Lk Lc 1,28), bedingungslos fügsam gegenüber dem göttlichen Wort (vgl. Lk Lc 1,38). Ihr gehorsamer Glaube prägt ihr Leben in jedem Augenblick angesichts der Initiative Gottes. Als hörende Jungfrau lebt sie in vollem Einklang mit dem göttlichen Wort; die Ereignisse, die ihren Sohn betreffen, bewahrt sie in ihrem Herzen und setzt sie gleichsam zu einem einzigen Mosaik zusammen (vgl. Lk Lc 2,19 Lk Lc 2,51).[80]

In unserer Zeit müssen die Gläubigen unterwiesen werden, die Verbindung zwischen Maria von Nazaret und dem gläubigen Hören auf das göttliche Wort tiefer zu entdecken. Ich fordere auch die Fachleute auf, die Beziehung zwischen Mariologie und Theologie des Wortes weiter zu vertiefen. Das kann sowohl für das geistliche Leben als auch für die theologischen und biblischen Studien sehr nützlich sein. Denn das, was das Glaubensverständnis über Maria aussagt, gehört zum innersten Kern der christlichen Wahrheit. Tatsächlich ist die Inkarnation des Wortes undenkbar ohne die Freiheit dieser jungen Frau, die durch ihre Zustimmung entscheidend zum Eintritt des Ewigen in die Zeit beiträgt. Sie ist die Gestalt der Kirche, die auf das Wort Gottes hört, das in ihr Fleisch wird. Maria ist auch Symbol der Öffnung gegenüber Gott und dem Nächsten; sie ist aktives Hören, das verinnerlicht, assimiliert, in dem das Wort Lebensform wird.


28 Bei dieser Gelegenheit möchte ich die Aufmerksamkeit auf die Vertrautheit Marias mit dem Wort Gottes richten. Das leuchtet ganz besonders eindringlich im Magnifikat auf. Hier sieht man gewissermaßen, wie sie sich mit dem Wort identifiziert, in es hineintritt; in diesem wunderbaren Glaubensgesang preist die Jungfrau Maria den Herrn mit seinem eigenen Wort: »Das Magnifikat – gleichsam ein Porträt ihrer Seele – ist ganz gewoben aus Fäden der Heiligen Schrift, aus den Fäden von Gottes Wort. So wird sichtbar, daß sie im Wort Gottes wirklich zu Hause ist, darin aus- und eingeht. Sie redet und denkt mit dem Wort Gottes; das Wort Gottes wird zu ihrem Wort, und ihr Wort kommt vom Wort Gottes her. So ist auch sichtbar, daß ihre Gedanken Mitdenken mit Gottes Gedanken sind, daß ihr Wollen Mitwollen mit dem Willen Gottes ist. Weil sie zuinnerst von Gottes Wort durchdrungen war, konnte sie Mutter des fleischgewordenen Wortes werden«.[81]

Die Bezugnahme auf die Mutter Gottes zeigt uns außerdem, daß das Handeln Gottes in der Welt immer unsere Freiheit mit einschließt, denn im Glauben verwandelt uns das göttliche Wort. Auch unser apostolisches und seelsorgliches Handeln kann niemals wirksam sein, wenn wir nicht von Maria lernen, uns vom Wirken Gottes in uns formen zu lassen: »Die fromme und liebevolle Aufmerksamkeit gegenüber der Gestalt Marias als Vorbild und Urbild des Glaubens der Kirche ist von grundlegender Bedeutung, um auch heute eine konkrete Änderung des Beziehungsmusters der Kirche zum Wort zu bewirken, sowohl in der Haltung betenden Hörens als auch in der Großherzigkeit des Einsatzes für die Sendung und die Verkündigung«.[82]

Durch die Betrachtung des Lebens der Mutter Gottes, das völlig vom Wort geprägt ist, entdecken wir, daß auch wir berufen sind, in das Geheimnis des Glaubens einzutreten, durch das Christus in unserem Leben Wohnung nimmt. Jeder gläubige Christ, so der hl. Ambrosius, empfängt und gebiert gewissermaßen das Wort Gottes in sich: Wenn es auch nur eine Mutter Christi dem Fleische nach gibt, so ist doch dem Glauben nach Christus die Frucht aller.[83] Was an Maria geschehen ist, kann daher in jedem von uns täglich beim Hören auf das Wort und bei der Feier der Sakramente wieder geschehen.

Die Hermeneutik der Heiligen Schrift
in der Kirche

Die Kirche als der ursprüngliche Ort der Bibelhermeneutik


29 Ein weiteres großes, während der Synode aufgekommenes Thema, auf das ich jetzt aufmerksam machen möchte, ist die Auslegung der Heiligen Schrift in der Kirche.Gerade durch die innere Verbindung zwischen Wort und Glauben wird deutlich, daß die authentische Bibelhermeneutik nur im kirchlichen Glauben angesiedelt sein kann, der im »Ja« Marias sein Urbild besitzt. Der hl. Bonaventura sagt in diesem Zusammenhang, daß es ohne den Glauben keinen Schlüssel zur Heiligen Schrift gibt: »Das ist die Erkenntnis Jesu Christi, aus der die Sicherheit und das Verständnis der ganzen Heiligen Schrift wie aus einer Quelle hervorgehen. Niemand kann zu ihr vordringen und sie erkennen, wenn er nicht vorher den Glauben besitzt, der Licht, Tor und Fundament der ganzen Heiligen Schrift ist«.[84] Und der hl. Thomas von Aquin sagt unter Berufung auf Augustinus mit Nachdruck: »Auch der Buchstabe des Evangeliums tötet, wenn im Innern die heilsame Gnade des Glaubens fehlt«.[85]

So können wir ein grundlegendes Kriterium der Bibelhermeneutik in Erinnerung rufen: Der ursprüngliche Ort der Schriftauslegung ist das Leben der Kirche.Dies verweist auf den kirchlichen Bezug nicht als äußeres Kriterium, dem die Exegeten sich beugen müssen, sondern es ist ein Erfordernis, das in der Schrift selbst und in der Weise, wie sie sich im Laufe der Zeit herausgebildet hat, liegt. Denn »die Glaubenstraditionen bildeten das lebendige Umfeld, in das sich die literarische Tätigkeit der Verfasser der Heiligen Schrift einfügen konnte. Hierzu gehörten auch das liturgische Leben und die äußere Tätigkeit der Gemeinschaften, ihre geistige Welt, ihre Kultur und ihr geschichtliches Schicksal. Die biblischen Verfasser nahmen an alledem teil. In ähnlicher Weise verlangt also die Auslegung der Heiligen Schrift die Teilnahme der Exegeten am ganzen Leben und Glauben der Glaubensgemeinschaft ihrer Zeit«.[86] »Da die Heilige Schrift in dem Geist gelesen und ausgelegt werden muß, in dem sie geschrieben wurde«,[87] müssen also die Exegeten, die Theologen und das ganze Volk Gottes sie als das betrachten, was sie wirklich ist: als das Wort Gottes, das sich uns durch menschliche Worte mitteilt (vgl. 1Thess
1Th 2,13). Das ist eine immerwährende, in der Bibel selbst enthaltene Gegebenheit: »Keine Weissagung der Schrift darf eigenmächtig ausgelegt werden; denn niemals wurde eine Weissagung ausgesprochen, weil ein Mensch es wollte, sondern vom Heiligen Geist getrieben haben Menschen im Auftrag Gottes geredet« (2P 1,20). Im übrigen ist es gerade der Glaube der Kirche, der in der Bibel das Wort Gottes erkennt, wie der hl. Augustinus sehr schön sagt: »Ich würde nicht an das Evangelium glauben, wenn mich nicht die Autorität der katholischen Kirche dazu bewegen würde«.[88] Der Heilige Geist, der das Leben der Kirche beseelt, ist es, der dazu befähigt, die Schriften authentisch auszulegen. Die Bibel ist das Buch der Kirche, und aus ihrem Eingebettetsein im kirchlichen Leben entspringt auch ihre wahre Hermeneutik.


30 Der hl. Hieronymus erinnert daran, daß wir die Schrift niemals alleine lesen können. Wir finden zu viele verschlossene Türen und gleiten leicht in den Irrtum ab. Die Bibel wurde vom Volk Gottes und für das Volk Gottes unter der Eingebung des Heiligen Geistes geschrieben. Nur in dieser Gemeinschaft mit dem Volk Gottes können wir wirklich mit dem »Wir« in den Kern der Wahrheit eintreten, die Gott selbst uns mitteilen will.[89] Der große dalmatische Gelehrte, für den »Unkenntnis der Schrift Unkenntnis Christi« [90] ist, sagt, daß die Kirchlichkeit der Bibelauslegung kein von außen auferlegter Anspruch ist: Das Buch ist wirklich die Stimme des pilgernden Gottesvolkes, und nur im Glauben dieses Volkes befinden wir uns sozusagen in der richtigen Tonart, um die Heilige Schrift zu verstehen. Eine authentische Auslegung der Bibel muß stets in harmonischer Übereinstimmung mit dem Glauben der katholischen Kirche stehen. Zu einem Priester sagte Hieronymus: »Halte fest an der überlieferten Lehre, in der du unterwiesen wurdest, damit du im Sinne der gesunden Lehre ermahnen und jene widerlegen kannst, die ihr widersprechen«.[91]

Ansätze, die unter Ausklammerung des Glaubens an den heiligen Text herangehen, können zwar interessante Elemente zutage fördern, indem sie auf die Struktur des Textes und seine Formen eingehen, ein solcher Versuch wäre jedoch stets nur vorbereitender Art und vom Aufbau her unvollständig. So hat die Päpstliche Bibelkommission ein in der modernen Hermeneutik allgemein anerkanntes Prinzip wiedergegeben und bekräftigt: »Das richtige Verständnis des biblischen Textes ist nur dem zugänglich, der eine lebendige Beziehung zu dem hat, wovon der Text spricht«.[92] All das unterstreicht die Beziehung zwischen dem geistlichen Leben und der Hermeneutik der Schrift. Denn »mit dem Wachsen des Lebens im Geiste weitet sich bei der Leserschaft das Verständnis der Wirklichkeiten, von denen der biblische Text spricht«.[93] Die Intensität einer authentischen kirchlichen Erfahrung fördert unwillkürlich ein authentisches Glaubensverständnis hinsichtlich des Wortes Gottes, und umgekehrt ist zu sagen, daß das gläubige Lesen der Schrift das kirchliche Leben selbst steigert. Von diesem Ansatz her können wir das bekannte Wort des hl. Gregor des Großen neu erfassen: »Die göttlichen Worte wachsen mit dem, der sie liest«.[94] So bildet und fördert das Hören auf das Wort Gottes die kirchliche Gemeinschaft mit allen, die im Glauben unterwegs sind.


Verbum Domini DE 14