Veritatis splendor 60


60 Wie das Naturgesetz selbst und jede praktische Erkenntnis, hat auch das Urteil des Gewissens befehlenden Charakter: Der Mensch soll in Übereinstimmung mit ihm handeln. Wenn der Mensch gegen dieses Urteil handelt oder auch wenn er bei fehlender Sicherheit über die Richtigkeit und Güte eines bestimmten Aktes diesen dennoch ausführt, wird er vom eigenen Gewissen, das die letzte maßgebliche Norm der persönlichen Sittlichkeit ist, verurteilt. Die Würde dieser Vernunftinstanz und die Autorität ihrer Stimme und ihrer Urteile stammen aus der Wahrheit über sittlich Gut und Böse, die zu hören und auszudrücken sie gerufen ist. Auf diese Wahrheit wird vom »göttlichen Gesetz«, der universalen und objektiven Norm der Sittlichkeit, hingewiesen. Das Urteil des Gewissens begründet nicht das Gesetz, aber es bestätigt die Autorität des Naturgesetzes und der praktischen Beziehung in Beziehung zum höchsten Gut, dessen Anziehungskraft die menschliche Person erfährt und dessen Gebote sie annimmt: »Das Gewissen ist keine autonome und ausschließliche Instanz, um zu entscheiden, was gut und was böse ist; ihm ist vielmehr ein Prinzip des Gehorsams gegenüber der objektiven Norm tief eingeprägt, welche die Übereinstimmung seiner Entscheidungen mit den Geboten und Verboten begründet und bedingt, die dem menschlichen Verhalten zugrundeliegen.« 106


61 Die im Gesetz der Vernunft ausgesprochene Wahrheit über das sittlich Gute wird vom Urteil des Gewissens praktisch und konkret anerkannt, was dazu führt, die Verantwortung für das vollbrachte Gute und das begangene Böse zu übernehmen: Wenn der Mensch Schlechtes tut, bleibt das richtige Gewissensurteil in ihm Zeuge der universalen Wahrheit des Guten wie auch der Schlechtigkeit seiner Einzelentscheidung. Aber der Spruch des Gewissens bleibt in ihm auch so etwas wie ein Unterpfand der Hoffnung und des Erbarmens: Während es das begangene Übel bestätigt, erinnert es auch daran, um Verzeihung zu bitten, das Gute zu tun und unaufhörlich mit Gottes Gnade die Tugend zu üben.

So offenbart sich im praktischen Urteil des Gewissens, das der menschlichen Person die Verpflichtung zum Vollzug einer bestimmten Handlung auferlegt, das Band zwischen Freiheit und Wahrheit. Deshalb zeigt sich das Gewissen mit »Urteils«-Akten, die die Wahrheit über das Gute widerspiegeln, und nicht in willkürlichen »Entscheidungen«. Und die Reife und Verantwortung dieser Urteile - und letztlich des Menschen, der ihr Subjekt ist - läßt sich nicht an der Befreiung des Gewissens von der objektiven Wahrheit zugunsten einer mutmaßlichen Autonomie der eigenen Entscheidungen messen, sondern im Gegenteil am beharrlichen Suchen nach der Wahrheit und daran, daß man sich von ihr beim Handeln leiten läßt.


Nach dem Wahren und Guten suchen

62 Das Gewissen als Urteil über eine Handlung ist nicht frei von der Möglichkeit zu irren. »Nicht selten geschieht es - schreibt das Konzil -, daß das Gewissen aus unüberwindlicher Unkenntnis irrt, ohne daß es dadurch seine Würde verliert. Das kann man aber nicht sagen, wenn der Mensch sich zuwenig darum müht, nach dem Wahren und Guten zu suchen, und das Gewissen durch Gewöhnung an die Sünde allmählich fast blind wird«. 107 Mit diesen knappen Worten bietet das Konzil eine Zusammenfassung der Lehre, welche die Kirche im Laufe von Jahrhunderten über das irrende Gewissen erarbeitet hat.

Gewiß, der Mensch muß, um ein »gutes Gewissen« (
1Tm 1,5) zu haben, nach der Wahrheit suchen und gemäß dieser Wahrheit urteilen. Das Gewissen muß, wie der Apostel Paulus sagt, »vom Heiligen Geist erleuchtet« sein (Rm 9,1), es muß »rein« sein (2Tm 1,3), es darf »das Wort Gottes nicht verfälschen«, sondern muß »offen die Wahrheit lehren« (2Co 4,2). Andererseits ermahnt derselbe Apostel die Christen mit den Worten: »Gleicht euch nicht dieser Welt an, sondern wandelt euch und erneuert euer Denken, damit ihr prüfen und erkennen könnt, was der Wille Gottes ist: was ihm gefällt, was gut und vollkommen ist« (Rm 12,2).

Die Mahnung des Paulus hält uns zur Wachsamkeit an mit dem warnenden Hinweis, daß sich in den Urteilen unseres Gewissens immer auch die Möglichkeit des Irrtums einnistet. Das Gewissensurteil ist kein unfehlbares Urteil: es kann irren. Nichtsdestoweniger kann der Irrtum des Gewissens das Ergebnis einer unüberwindbaren Unwissenheit sein, das heißt einer Unkenntnis, derer sich der Mensch nicht bewußt ist und aus der er allein nicht herausgelangen kann.

In dem Fall, wo diese unüberwindliche Unkenntnis nicht schuldhaft ist, verliert das Gewissen - so erinnert uns das Konzil - nicht seine Würde, weil es, auch wenn es uns tatsächlich in einer von der objektiven sittlichen Ordnung abweichenden Weise anleitet, dennoch nicht aufhört im Namen jener Wahrheit vom Guten zu reden, zu deren aufrichtiger Suche der Mensch aufgerufen ist.


63 Auf jeden Fall beruht die Würde des Gewissens immer auf der Wahrheit: Im Falle des rechten Gewissens handelt es sich um die vom Menschen angenommene objektive Wahrheit, im Falle des irrenden Gewissens handelt es sich um das, was der Mensch ohne Schuld subjektiv für wahr hält. Auf der anderen Seite ist es niemals zulässig, einen »subjektiven« Irrtum hinsichtlich des sittlich Guten mit der »objektiven«, dem Menschen auf Grund seines Endzieles rational einsehbaren Wahrheit zu vermengen oder zu verwechseln, noch den sittlichen Wert der mit wahrem und lauterem Gewissen vollzogenen Handlung mit jener gleichzusetzen, die in Befolgung des Urteils eines irrenden Gewissens ausgeführt wurde. 108 Das aufgrund einer unüberwindbaren Unwissenheit oder eines nicht schuldhaften Fehlurteils begangene Übel kann zwar der Person, die es begeht, nicht als Schuld anzurechnen sein; doch auch in diesem Fall bleibt es ein Übel, eine Unordnung in bezug auf die Wahrheit des Guten. Zudem trägt das nicht erkannte Gute nicht zu sittlicher Reifung des betreffenden Menschen bei: Es vervollkommnet ihn nicht und hilft ihm nicht, ihn geneigt zu machen für das höchste Gut. Bevor wir uns so leichtfertigerweise im Namen unseres Gewissens gerechtfertigt fühlen, sollten wir über den Psalm nachdenken: »Wer bemerkt seine eigenen Fehler? Sprich mich frei von Schuld, die mir nicht bewußt ist!« (Ps 19,13). Es gibt Schuld, die wir nicht zu erkennen vermögen und die dennoch Schuld bleibt, weil wir uns geweigert haben, auf das Licht zuzugehen (vgl. Jn 9,39-41).

Das Gewissen als letztes konkretes Urteil setzt seine Würde dann aufs Spiel, wenn es schuldhaft irrt, das heißt, »wenn sich der Mensch nicht müht, das Wahre und Gute zu suchen, und wenn das Gewissen infolge der Gewöhnung an die Sünde gleichsam blind wird«. 109 Auf die Gefahren der Verformung des Gewissens spielt Jesus an, wenn er mahnt: »Das Auge gibt dem Körper Licht. Wenn dein Auge gesund ist, dann wird dein Körper hell sein. Wenn aber dein Auge krank ist, dann wird dein ganzer Körper finster sein. Wenn nun das Licht in dir Finsternis ist, wie groß muß dann die Finsternis sein!« (Mt 6,22-23).


64 In den oben wiedergegebenen Worten Jesu finden wir auch den Aufruf, das Gewissen zu bilden, es zum Gegenstand ständiger Bekehrung zum Wahren und Guten zu machen. Analog dazu ist die Aufforderung des Apostels zu verstehen, uns nicht dieser Welt anzugleichen, sondern »uns zu wandeln und unser Denken zu erneuern« (vgl. Rm 12,2). In Wirklichkeit ist das zum Herrn und zur Liebe des Guten bekehrte »Herz« die Quelle der wahren Urteile des Gewissens. Denn »damit ihr prüfen und erkennen könnt, was der Wille Gottes ist: was ihm gefällt, was gut und vollkommen ist« (Rm 12,2), ist zwar die Kenntnis des Gesetzes Gottes im allgemeinen notwendig, aber sie genügt nicht: eine Art von »Konnaturalität« zwischen dem Menschen und dem wahrhaft Guten ist unabdingbar. 110 Eine solche Konnaturalität schlägt Wurzel und entfaltet sich in den tugendhaften Haltungen des Menschen selbst: der Klugheit und den anderen Kardinaltugenden und, grundlegender noch, in den göttlichen Tugenden des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe. In diesem Sinne hat Jesus gesagt: »Wer aber die Wahrheit tut, kommt zum Licht » (Jn 3,21).

Eine große Hilfe für die Gewissensbildung haben die Christen in der Kirche und ihrem Lehramt, wie das Konzil ausführt: »Bei ihrer Gewissensbildung müssen jedoch die Christgläubigen die heilige und sichere Lehre der Kirche sorgfältig vor Augen haben. Denn nach dem Willen Christi ist die katholische Kirche die Lehrerin der Wahrheit; ihre Aufgabe ist es, die Wahrheit, die Christus ist, zu verkündigen und authentisch zu lehren, zugleich auch die Prinzipien der sittlichen Ordnung, die aus dem Wesen des Menschen selbst hervorgehen, autoritativ zu erklären und zu bestätigen«. 111

Die Autorität der Kirche, die sich zu moralischen Fragen äußert, tut also der Gewissensfreiheit der Christen keinerlei Abbruch: nicht nur, weil die Freiheit des Gewissens niemals Freiheit »von« der Wahrheit, sondern immer und nur Freiheit »in« der Wahrheit ist; sondern auch weil das Lehramt an das christliche Gewissen nicht ihm fremde Wahrheiten heranträgt, wohl aber ihm die Wahrheiten aufzeigt, die es bereits besitzen sollte, indem es sie, ausgehend vom ursprünglichen Glaubensakt, zur Entfaltung bringt. Die Kirche stellt sich immer nur in den Dienst des Gewissens, indem sie ihm hilft, nicht hin- und hergetrieben zu werden von jedem Windstoß der Lehrmeinungen, dem Betrug der Menschen ausgeliefert (vgl. Ep 4,14), und nicht von der Wahrheit über das Gute des Menschen abzukommen, sondern, besonders in den schwierigeren Fragen, mit Sicherheit die Wahrheit zu erlangen und in ihr zu bleiben.


III. Grundentscheidung und konkrete Verhaltensweisen

»Nur nehmt die Freiheit nicht zum Vorwand für das Fleisch, sondern dient einander in Liebe!«

(Ga 5,13)
65 Das heute besonders brennende Interesse an der Freiheit veranlaßt viele Vertreter der Humanwissenschaften wie auch der Theologie, eine gründlichere Analyse ihrer Natur und ihrer Dynamik zu entwickeln. Mit Recht betont man, daß Freiheit nicht nur bedeutet, diese oder jene Einzelhandlung zu wählen; sondern sie ist, innerhalb einer solchen Wahl, auch Entscheidung über sich und Verfügung darüber, das eigene Leben für oder gegen das Gute, für oder gegen die Wahrheit, endgültig für oder gegen Gott einzusetzen. Mit Recht unterstreicht man die herausragende Bedeutung einiger Entscheidungen, die dem ganzen sittlichen Leben eines Menschen dadurch »Gestalt« verleihen, daß sie gleichsam zum Flußbett werden, in dem dann auch andere tägliche Einzelentscheidungen Platz und Entfaltung finden können.

Einige Autoren schlagen freilich eine viel radikalere Revision der Beziehung zwischen Person und Handlung vor. Sie sprechen von einer »fundamentalen Freiheit«, die tiefgründiger und anders als die Wahlfreiheit ist und ohne deren Berücksichtigung die menschlichen Handlungen weder begriffen noch korrekt bewertet werden könnten. Nach diesen Autoren käme die Schlüsselrolle im sittlichen Leben einer »Grundoption« zu, die durch jene fundamentale Freiheit vollzogen wird, mittels der die menschliche Person über sich selbst als ganze entscheidet, und zwar nicht durch bestimmte und bewußte Wahl auf reflexer Ebene, sondern in »transzendentaler« und »athematischer« Weise. Die aus dieser Option stammenden Einzelhandlungen wären nur partiell und niemals endgültige Versuche, diese Grundoption auszudrücken; sie wären lediglich »Zeichen« oder Symptom für sie. Unmittelbarer Gegenstand dieser Handlungen ist - so heißt es - nicht das absolute Gute (dem gegenüber sich, auf transzendentaler Ebene, die Freiheit der Person äußern würde), sondern es sind die Einzelgüter (auch »kategoriale« Güter genannt). Doch nach der Meinung einiger Theologen könnte aufgrund ihrer partialen Natur keines dieser Güter die Freiheit des Menschen als Person völlig in Anspruch nehmen, auch wenn der Mensch nur durch ihre Verwirklichung bzw. ihre Zurückweisung seine Grundoption zum Ausdruck bringen kann.

So wird schließlich eine Unterscheidung zwischen der Grundoption und der freien Wahl konkreter Verhaltensweisen eingeführt, eine Unterscheidung, die bei einigen Autoren genau dann die Form einer Dissoziierung annimmt, wenn sie das sittlich »Gute« und »Schlechte« ausdrücklich der transzendentalen Dimension der Grundoption vorbehalten, während sie die Wahl einzelner »innerweltlicher« - das heißt die Beziehungen des Menschen zu sich selber, zu den anderen und zur Welt der Dinge betreffender - Verhaltensweisen als »richtig« oder »falsch« bezeichnen. Auf diese Weise scheint sich im menschlichen Handeln eine Spaltung zwischen zwei Ebenen der Sittlichkeit abzuzeichnen: die vom Willen abhängige Ordnung von Gut und Böse auf der einen und die konkreten Verhaltensweisen auf der anderen Seite, die erst infolge einer technischen Abwägung des Verhältnisses zwischen »vorsittlichen« oder »physischen« Gütern und Übeln, auf die sich die Handlung tatsächlich bezieht, als sittlich richtig oder falsch beurteilt werden. Und das geht so weit, daß ein konkretes Verhalten, obwohl frei gewählt, gleich wie ein bloßes Naturgeschehen und nicht nach den auf menschliche Handlungen zutreffenden Kriterien betrachtet wird. Das Ergebnis, zu dem man gelangt, lautet: die im eigentlichen Sinn sittliche Qualifizierung der Person hängt allein von der Grundoption ab; welche Einzelhandlungen oder konkrete Verhaltensweisen man wählt, ist für deren Ausformung ganz oder teilweise belanglos.


66 Zweifellos anerkennt die christliche Sittenlehre in ihren eigenen biblischen Wurzeln die besondere Bedeutung einer Grundentscheidung, die das sittliche Leben kennzeichnet und die Freiheit radikal Gott gegenüber in Anspruch nimmt. Es handelt sich um die Entscheidung des Glaubens, um denGehorsam des Glaubens (vgl. Rm 16,26), in dem »der Mensch sich als ganzer Gott in Freiheit überantwortet, indem er sich "dem offenbarenden Gott mit Verstand und Willen voll unterwirft"« 112 Dieser Glaube, der in der Liebe wirksam ist (vgl. Ga 5,6), kommt aus der Mitte des Menschen, aus seinem »Herzen« (vgl. Rm 10,10) und ist von daher berufen, Gutes hervorzubringen in den Werken (vgl. Mt 12,33-35 Lc 6,45 Rm 8,5-8 Ga 5,22). Im Dekalog steht über den einzelnen Geboten der fundamentale Satz: »Ich bin Jahwe, dein Gott...« (Ex 20,2), der dadurch, daß er den vielfältigen und verschiedenen Einzelgeboten den ursprünglichen Sinn aufprägt, der Moral des Bundes den Charakter der Ganzheit, Einheit und Tiefe sichert. Die Grundentscheidung Israels betrifft also das grundlegende Gebot (vgl. Jos 24,14-25 Ex 19,3-8 Mich Ex 6,8).Auch die Moral des Neuen Bundes wird von dem grundlegenden Aufruf Jesu zu seiner »Nachfolge« beherrscht - so sagt er auch zu dem jungen Mann: »Wenn du vollkommen sein willst, ... komm und folge mir nach!« (Mt 19,21) -: Auf diesen Anruf antwortet der Jünger mit einer radikalen Entscheidung. Die evangelischen Gleichnisse vom Schatz im Acker und von der verlorenen Perle, für die einer seinen ganzen Besitz verkauft, sind beredte und wirkungsvolle Bilder für den radikalen und bedingungslosen Charakter der Entscheidung, die das Reich Gottes erfordert. Die Radikalität der Entscheidung, Jesus nachzufolgen, findet großartigen Ausdruck in seinen Worten: »Wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen und um des Evangeliums willen verliert, wird es retten« (Mc 8,35).

Der Aufruf Jesu »komm und folge mir nach« bezeichnet den größtmöglichen Lobpreis der Freiheit des Menschen und bestätigt gleichzeitig die Wahrheit und Verpflichtung von Glaubensakten und Entscheidungen, die man Grundoption nennen kann. Einer ähnlichen Hochschätzung der menschlichen Freiheit begegnen wir in den Worten des hl. Paulus: »Ihr seid zur Freiheit berufen, Brüder« (Ga 5,13). Aber der Apostel fügt sogleich eine ernste Mahnung an: »Nur nehmt die Freiheit nicht zum Vorwand für das Fleisch!«. In dieser Mahnung klingen seine vorausgegangenen Worte an: »Zur Freiheit hat uns Christus befreit. Bleibt daher fest und laßt euch nicht von neuem das Joch der Knechtschaft auflegen!« (Ga 5,1). Der Apostel Paulus fordert uns zur Wachsamkeit auf: Die Freiheit ist ständig von der Knechtschaft bedroht. Und genau das trifft auf einen Glaubensakt - im Sinne einer Grundoption - zu, der den oben erwähnten Tendenzen entsprechend von der Wahl der Einzelakte getrennt wird.


67 Diese Tendenzen stehen also im Gegensatz zur biblischen Lehre, welche die Grundoption als eine echte und eigentliche Entscheidung der Freiheit versteht und diese Entscheidung zutiefst mit den konkreten Einzelhandlungen verbindet. Durch die Grundentscheidung ist der Mensch befähigt, dem göttlichen Ruf folgend sein Leben auf sein Ziel auszurichten und dies mit Hilfe der Gnade anzustreben. Aber tatsächlich ausgeübt wird diese Befähigung jeweils in der konkreten Wahl bestimmter Handlungen, durch die der Mensch sich aus freiem Entschluß nach dem Willen, der Weisheit und dem Gesetz Gottes richtet. Es muß deshalb festgehalten werden, daß sich die sogenannte Grundoption - insoweit sie sich von einer bloß generellen, bezüglich der konkret engagierten Festlegung der Freiheit noch umbestimmten Intention unterscheidet - immer durch bewußte und freie Wahlakte verwirklicht. Eben deshalb wird die Grundoption genau dann widerrufen, wenn der Mensch in sittlich schwerwiegender Materie seine Freiheit durch bewußte, in entgegengesetzte Richtung weisende Wahlakte engagiert.

Die Grundoption von den konkreten Verhaltensweisen zu trennen heißt, sich mit der wesenhaften Integrität oder der leib-seelischen personalen Einheit des sittlich Handelnden in Widerspruch zu setzen. Eine Grundoption, verstanden ohne ausdrückliche Berücksichtigung der Möglichkeiten, die sie aktualisiert, und der Konkretisierungen, in denen sie zum Ausdruck kommt, wird der dem Handeln des Menschen und jeder seiner freien Wahlakte innewohnenden rationalen Zielhaftigkeit nicht gerecht. In Wirklichkeit ist die sittliche Qualität der menschlichen Handlungen nicht allein aus der Absicht, der Grundorientierung oder Grundoption abzuleiten - verstanden im Sinne einer Intention ohne klar bestimmte bindende Inhalte bzw. einer Intention, die kein tatkräftiges Bemühen hinsichtlich der verschiedenen Verpflichtungen des sittlichen Lebens entspricht. Die Sittlichkeit kann nicht beurteilt werden, wenn man absieht von der Übereinstimmung bzw. dem Widerspruch der bedachten Wahl einer konkreten Verhaltensweise mit der Würde und der integralen Berufung der menschlichen Person. Jede Handlungswahl schließt immer eine Bezugnahme des freien Willens auf jene Güter und Übel ein, wie sie vom Naturgesetz als zu verfolgendes Gutes und zu meidendes Übel aufgewiesen werden. Im Falle der positiv gebietenden sittlichen Gebote ist es stets Aufgabe der Klugheit festzustellen, wie weit sie für eine bestimmte Situation zutreffen, indem man zum Beispiel andere, vielleicht wichtigere oder dringendere Verpflichtungen berücksichtigt. Die negativ formulierten sittlichen Gebote hingegen, das heißt diejenigen, die einige konkrete Handlungen oder Verhaltensweisen als in sich schlecht verbieten, lassen keine legitime Ausnahme zu; sie lassen keinerlei moralisch annehmbaren Freiraum für die »Kreativität« irgendeiner gegensätzlichen Bestimmung. Ist einmal die sittliche Artbestimmung einer von einer allgemeingültigen Regel verbotenen konkret definierten Handlung erkannt, so besteht das sittlich gute Handeln allein darin, dem Sittengesetz zu gehorchen und die Handlung, die es verbietet, zu unterlassen.


68 Hier gilt es, eine wichtige pastorale Überlegung anzufügen. Gemäß der Logik der oben skizzierten Positionen könnte der Mensch kraft einer Grundoption Gott treu bleiben unabhängig davon, ob einige seiner Wahlentscheidungen und seiner konkreten Handlungen mit den spezifischen darauf bezogenen sittlichen Normen oder Regeln übereinstimmen oder nicht. Aufgrund einer anfänglichen Option für die Liebe könnte der Mensch sittlich gut bleiben, in der Gnade Gottes verharren und sein Heil erlangen, auch wenn einige seiner konkreten Verhaltensweisen aus freiem Entschluß und in schwerwiegender Sache zu den von der Kirche wieder vorgelegten Geboten Gottes entschieden und ernsthaft im Gegensatz stünden.

In Wirklichkeit geht der Mensch nicht nur durch die Untreue gegenüber jener Grundoption verloren, durch die er sich »als ganzer Gott in Freiheit« überantwortet. 113 Durch jede aus bedachtem Entschluß begangene Todsünde beleidigt er Gott, der ihm das Gesetz geschenkt hat, und macht sich daher dem ganzen Gesetz gegenüber schuldig (vgl.
Jc 2,8-11); auch wenn er im Glauben bleibt, verliert er die »heiligmachende Gnade«, die »Liebe« und die »ewige Seligkeit«. 114 »Die einmal empfangene Gnade der Rechtfertigung - so lehrt das Konzil von Trient - kann nicht nur durch die Untreue, die den Menschen um seinen Glauben bringt, sondern auch durch jede andere Todsünde verlorengehen«. 115

Todsünde und läßliche Sünde

69 Die Erwägungen über die Grundoption haben, wie wir bemerkten, einige Theologen veranlaßt, auch die traditionelle Unterscheidung zwischen Todsünden und läßlichen Sünden einer tiefgreifenden Revision zu unterziehen. Sie unterstreichen, daß der Widerspruch zum Gesetz Gottes, der den Verlust der heiligmachenden Gnade - und, im Falle des Todes in einem solchen Zustand der Sünde, die ewige Verdammnis - verursacht, nur das Ergebnis eines Aktes sein kann, der die Person in ihrer Totalität beansprucht, das heißt eben eines Aktes der Grundoption. Nach diesen Theologen würde sich die Todsünde, die den Menschen von Gott trennt, nur in der Zurückweisung Gottes ereignen, vollzogen auf einer nicht mit einem Wahlakt identifizierbaren und nicht durch reflektierte Bewußtheit erreichbaren Ebene der Freiheit. In diesem Sinne - so fügen sie hinzu - ist es zumindest psychologisch schwierig, die Tatsache zu akzeptieren, daß ein Christ, der mit Jesus Christus und seiner Kirche vereint bleiben will, so leicht und immer wieder Todsünden begehen kann, wie dies die »Materie« seiner Taten hin und wieder vermuten ließe. Ebenso fiele es schwer anzunehmen, der Mensch sei imstande, in kurzer Zeit die Bande der Gemeinschaft mit Gott radikal zu zerbrechen und sich im nachhinein durch aufrichtige Buße zu ihm zu bekehren. Es wäre daher notwendig - so heißt es -, die Schwere der Sünde eher am Grad zu messen, in dem sie die Freiheit der handelnden Person engagiert, als an der Materie der betreffenden Handlung.


70 Das nachsynodale Apostolische Schreiben Reconciliatio et paenitentia hat die Bedeutung und bleibende Aktualität der Unterscheidung zwischen Todsünden und läßlichen Sünden, gemäß der Tradition der Kirche, betont. Und die Bischofssynode von 1983, aus der dieses Schreiben hervorgegangen ist, »hat nicht nur die vom Tridentinischen Konzil über Existenz und Natur von Todsünde und läßlicher Sünde verkündete Lehre bekräftigt, sondern hat auch daran erinnern wollen, daß jene Sünde eine Todsünde ist, die eine schwerwiegende Materie zum Gegenstand hat und die dazu mit vollem Bewußtsein und bedachter Zustimmung begangen wird«. 116

Die Aussage des Konzils von Trient hat nicht nur die »schwerwiegende Materie« der Todsünde im Auge, sondern erwähnt auch als ihre Voraussetzung »das volle Bewußtsein und die bedachte Zustimmung«. Im übrigen kennt man sowohl in der Moraltheologie wie in der Seelsorgspraxis Fälle, wo ein aufgrund seiner Materie schwerwiegender Akt deshalb keine Todsünde darstellt, weil das volle Bewußtsein oder die bedachte Zustimmung dessen, der den Akt vollbrachte, nicht gegeben war. Andererseits »muß man vermeiden, die Todsünde zu beschränken auf den Akt einer Grundentscheidung oder Grundoption ("optio fundamentalis") gegen Gott, wie man heute zu sagen pflegt, unter der man dann eine ausdrückliche und formale Beleidigung Gottes oder des Nächsten oder eine mitinbegriffene und unüberlegte Zurückweisung der Liebe versteht. Es handelt sich nämlich auch um eine Todsünde, wenn sich der Mensch bewußt und frei aus irgendeinem Grunde für etwas entscheidet, was in schwerwiegender Weise sittlich ungeordnet ist. Tatsächlich ist ja in einer solchen Entscheidung bereits eine Mißachtung des göttlichen Gebotes enthalten, eine Zurückweisung der Liebe Gottes zur Menschheit und zur ganzen Schöpfung: Der Mensch entfernt sich so von Gott und verliert die Liebe. Die Grundorientierung kann also durch konkrete Einzelhandlungen völlig umgeworfen werden. Zweifellos kann es unter psychologischem Aspekt viele komplexe und dunkle Situationen geben, die auf die subjektive Schuld des Sünders Einfluß haben mögen. Aufgrund einer Betrachtung auf psychologischer Ebene kann man jedoch nicht zur Schaffung einer theologischen Kategorie, wie gerade diejenige der "optio fundamentalis" übergehen, wenn sie so verstanden wird, daß sie auf der objektiven Ebene die traditionelle Auffassung von Todsünde ändert oder in Zweifel zieht«. 117

Die Dissoziierung von Grundoption und bedachter, diese nicht in Frage stellender Wahl bestimmter, in sich selbst oder durch die Umstände ungeordneter Verhaltensweisen, hängt also mit der Verkennung der katholischen Lehre über die Todsünde zusammen: »Mit der ganzen Tradition der Kirche nennen wir denjenigen Akt eine Todsünde, durch den ein Mensch bewußt und frei Gott und sein Gesetz sowie den Bund der Liebe, den dieser ihm anbietet, zurückweist, indem er es vorzieht, sich sich selbst zuzuwenden oder irgend einer geschaffenen oder endlichen Wirklichkeit, irgendeiner Sache, die im Widerspruch zum göttlichen Willen steht (conversio ad creaturam - Hinwendung zum Geschaffenen). Dies kann auf direkte und formale Weise geschehen, wie bei den Sünden der Götzenverehrung, des Abfalles von Gott und der Gottlosigkeit, oder auf gleichwertige Weise, wie in jedem Ungehorsam gegenüber den Geboten Gottes bei schwerwiegender Materie«. 118


IV. Die sittliche Handlung


Teleologie und Teleologismus


71 Die Beziehung zwischen der Freiheit des Menschen und dem Gesetz Gottes, die ihren tiefsten und lebendigen Sitz im sittlichen Gewissen hat, äußert und verwirklicht sich in den menschlichen Handlungen. Gerade durch seine Handlungen vervollkommnet sich der Mensch als Mensch, als Mensch, der berufen ist, aus eigenem Entschluß seinen Schöpfer zu suchen und in Zugehörigkeit zu ihm frei zur vollen und seligen Vollendung zu gelangen. 119

Menschliche Handlungen sind sittliche Handlungen, weil sie das Gutsein oder die Schlechtigkeit des jene Handlungen vollziehenden Menschen selbst ausdrücken und über sie entscheiden. 120 Sie rufen nicht nur Veränderungen in dem Menschen äußerlichen Sachverhalten hervor, sondern als freie Wahlakte qualifizieren sie in sittlicher Hinsicht die Person selbst, die sie vollzieht, und bestimmen ihr geistiges Tiefenprofil, wie der hl. Gregor von Nyssa eindrucksvoll feststellt: »Alle dem Werden unterworfenen Wesen bleiben niemals sich selbst identisch, sondern gehen durch eine dauernd wirkende Veränderung zum Guten oder zum Schlechten ständig von einem Zustand in einen anderen über... Der Veränderung unterworfen sein, heißt also unablässig geboren werden... Aber die Geburt erfolgt hier nicht durch einen äußeren Eingriff, wie es bei den leiblichen Wesen der Fall ist... Sie ist das Ergebnis freier Wahl, und so sind wir gewissermaßen unsere eigenen Erzeuger, indem wir uns so erschaffen, wie wir wollen, und uns mit unserer Wahl die Gestalt geben, die wir wollen«. 121


72 Die Sittlichkeit der Handlungen bestimmt sich aufgrund der Beziehung der Freiheit des Menschen zum wahrhaft Guten. Dieses Gute ist als ewiges Gesetz durch Gottes Weisheit begründet, die jedes Wesen auf sein Endziel hinordnet: Erkannt wird dieses ewige Gesetz sowohl durch die natürliche Vernunft des Menschen (so heißt es »Naturgesetz«) als auch - in vollumfänglicher und vollkommener Weise - durch die übernatürliche Offenbarung Gottes (dann nennt man es »göttliches Gesetz«). Das Handeln ist sittlich gut, wenn die der Freiheit entspringenden Wahlakte mit dem wahren Gut des Menschen übereinstimmen und damit Ausdruck der willentlichen Hinordnung der Person auf ihr letztes Ziel, also Gott selber, sind: Das höchste Gut, in dem der Mensch sein volles und vollkommenes Glück findet. Die Eingangsfrage in dem Gespräch des jungen Mannes mit Jesus: »Was muß ich Gutes tun, um das ewige Leben zu gewinnen?« (Mt 19,16), verdeutlicht in direkter Weise den wesenhaften Zusammenhang zwischen dem sittlichen Wert einer Handlung und dem letzten Ziel des Menschen. Jesus bestätigt in seiner Antwort die Überzeugung seines Gesprächspartners: Das Tun des Guten, wie es von dem geboten ist, der »Wein der Gute« ist, stellt die unerläßliche Voraussetzung und den Weg zur ewigen Seligkeit dar: »Wenn du das Leben erlangen willst, halte die Gebote« (Mt 19,17). Die Antwort Jesu und der Hinweis auf die Gebote machen auch offenkundig, daß der Weg zum Ziel von der Befolgung der göttlichen Gesetze, die das menschliche Wohl schützen, vorgezeichnet wird. Nur eine Handlung, die dem Guten entspricht, kann Weg zum Leben sein.

Die vernunftgeleitete Hinordnung der menschlichen Handlungen auf das wahrhaft Gute und das willentliche Streben nach diesem Gut machen die Sittlichkeit aus. Das menschliche Handeln kann also nicht allein deshalb als sittlich gut bewertet werden, weil es dazu dienlich ist, dieses oder jenes verfolgte Ziel zu erreichen, oder einfach weil die Absicht des Handelnden gut ist. 122 Das menschliche Handeln ist dann sittlich gut, wenn es die willentliche Hinordnung der menschlichen Person auf das letzte Ziel und die Übereinstimmung der konkreten Handlung mit dem wahren menschlichen Gut, wie es von der Vernunft in seiner Wahrheit erkannt wird, bestätigt und zum Ausdruck bringt. Wenn der Gegenstand der konkreten Handlung nicht mit dem wahren Gut der Person in Einklang steht, macht die Wahl dieser Handlung unseren Willen und uns selber sittlich schlecht und setzt uns damit in Gegensatz zu unserem letzten Ziel, dem höchsten Gut, das heißt Gott selber.


73 Dank der Offenbarung Gottes und des Glaubens weiß der Christ um das »Neue«, von dem die Sittlichkeit seiner Taten gekennzeichnet ist; diesen kommt es zu, bestehender oder nicht bestehender konsequenter Übereinstimmung mit jener Würde und Berufung Ausdruck zu geben, die ihm durch Gnade geschenkt worden sind: In Jesus Christus und seinem Geist ist der Christ eine »neue Schöpfung«, Kind Gottes, und durch seine Handlungen bekundet er seine Übereinstimmung mit oder seine Abweichung von dem Bild des Sohnes, der der Erstgeborene unter vielen Brüdern ist (vgl. Rm 8,29), lebt er seine Treue oder Untreue gegenüber dem Geschenk des Geistes und öffnet oder verschließt er sich dem ewigen Leben, der Gemeinschaft von Schau, Liebe und Seligkeit mit Gott Vater, Sohn und Heiligem Geist. 123 Christus »gestaltet uns so nach seinem Bild - schreibt der hl. Kyrillos von Alexandrien -, daß durch die Heiligung und die Gerechtigkeit und das gute und tugendmäßige Leben die Züge seiner göttlichen Natur in uns zum Leuchten kommen... Die Schönheit dieses Bildes erstrahlt in uns, die wir in Christus sind, wenn wir uns in den Werken als gute Menschen erweisen«. 124

In diesem Sinne besitzt das sittliche Leben einen wesenhaft »teleologischen« Charakter, weil es in der freien und bewußten Hinordnung des menschlichen Handelns auf Gott, das höchste Gut und letzte Ziel (telos) des Menschen, besteht. Das bestätigt wiederum die Frage des jungen Mannes an Jesus: »Was muß ich Gutes tun, um das ewige Leben zu gewinnen?« Aber diese Hinordnung auf das letzte Ziel bewegt sich nicht in einer bloß subjektivistischen Dimension, die nur von der Absicht abhinge. Sie setzt voraus, daß diesen Handlungsweisen von sich aus die Eigenschaft zukommt, auf dieses Ziel hingeordnet werden zu können, weil sie nämlich dem durch die Gebote geschützten wahren sittlichen Gut des Menschen entsprechen. Genau das spricht Jesus in der Antwort an den reichen Jüngling an: »Wenn du das Leben erlangen willst, halte die Gebote!« (Mt 19,17).

Offensichtlich geht es um eine vernunftgeleitete und freie, bewußte und überlegte Hinordnung, kraft welcher der Mensch für seine Handlungen »verantwortlich« und dem Urteil Gottes unterworfen ist, des gerechten und guten Richters, der das Gute belohnt und das Böse bestraft, wie der Apostel Paulus ausführt: »Denn wir alle müssen vor dem Richterstuhl Christi offenbar werden, damit jeder seinen Lohn empfängt für das Gute oder Böse, das er im irdischen Leben getan hat« (2Co 5,10).


Veritatis splendor 60