Redemptor hominis 9

Die göttliche Dimension im Geheimnis der Erlösung

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Während wir diesen wundervollen Text des konziliaren Lehramtes erneut überdenken, vergessen wir nicht, auch nicht für einen Augenblick, daß Jesus Christus, der Sohn des lebendigen Gottes, unsere Versöhnung beim Vater 48 geworden ist. Gerade er, er allein, hat der ewigen Liebe des Vaters Genüge getan, jener Vaterschaft, die von Anfang an in der Schöpfung der Welt zum Ausdruck gekommen ist, die dem Menschen den ganzen Reichtum des Erschaffenen anvertraute und ihn selbst »nur wenig unter die Engel« 49 gestellt hat, dadurch daß er ihn nach dem Ebenbild und Gleichnis Gottes 50 geschaffen hat; ebenso hat er auch jener Vaterschaft Gottes und jener Liebe Genüge getan, die vom Menschen mit dem Bruch des ersten Bundes 51 und der nachfolgenden, die Gott »immer wieder den Menschen angeboten hat«, 52 in gewisser Weise zurückgewiesen worden ist. Die Erlösung der Welt - dieses ehrfurchtgebietende Geheimnis der Liebe, in dem die Schöpfung erneuert wird 53 - ist in ihrer tiefsten Wurzel die Fülle der Gerechtigkeit in einem menschlichen Herzen: im Herzen des Erstgeborenen Sohnes, damit sie Gerechtigkeit der Herzen vieler Menschen werden kann, die ja im Erstgeborenen Sohn von Ewigkeit vorherbestimmt sind, Kinder Gottes zu werden, 54 berufen zur Gnade und zur Liebe. Das Kreuz auf dem Kalvarienberg, durch das Jesus Christus - Mensch, Sohn der Jungfrau Maria, vor dem Gesetz Sohn des Josef von Nazaret - diese Welt »verläßt«, ist zur gleichen Zeit eine neue Manifestation der ewigen Vaterschaft Gottes, der sich in ihm erneut der Menschheit und jedem Menschen nähert, indem er ihm den dreimalheiligen Geist der Wahrheit schenkt. 55

Mit dieser Offenbarung des Vaters und der Ausgießung des Heiligen Geistes, die dem Geheimnis der Erlösung ein unauslöschliches Merkmal einprägen, erklärt sich der Sinn des Kreuzes und des Todes Christi. Der Gott der Schöpfung offenbart sich als Gott der Erlösung, als Gott, der sich selbst treu ist, 56 treu seiner Liebe zum Menschen und zur Welt, wie sie sich schon am Tag der Schöpfung offenbart hat. Seine Liebe ist eine Liebe, die vor nichts zurückweicht, was die Gerechtigkeit in ihm selbst fordert. Und darum hat Gott den Sohn, »der die Sünde nicht kannte, für uns zur Sünde gemacht«. 57 Wenn er den, der völlig ohne Sünde war, »zur Sünde gemacht hat«, so tat er dies, um die Liebe zu offenbaren, die immer größer ist als alles Geschaffene, die Liebe, die er selber ist, denn »Gott ist Liebe«. 58 Die Liebe ist vor allem größer als die Sünde, als die Schwachheit und die Vergänglichkeit des Geschaffenen, 59 stärker als der Tod; es ist eine Liebe, die stets bereit ist, aufzurichten und zu verzeihen, stets bereit, dem verlorenen Sohn entgegenzugehen 60 und immer auf der Suche ist nach dem »Offenbarwerden der Söhne Gottes«, 61 die zur künftigen Herrlichkeit berufen sind. 62 Diese Offenbarung der Liebe wird auch Barmherzigkeit genannt; 63 diese Offenbarung der Liebe und der Barmherzigkeit hat in der Geschichte nur eine Form und einen Namen: sie heißt Jesus Christus.

48 Cf
Rm 5,11 Col 1,20
49 Ps 8,6
50 Cf Gn 1,26
51 Cf Gn 3,6-13
52 Cf IV Prece eucaristica.
53 Cf Conc. Ecum. Vat. II, Cost. past. sulla Chiesa nel mondo contemporaneo GS 37: AAS 58 (1966) 1054 ss.; Cost dogm. sulla Chiesa LG 48: AAS 57 (1965) 53 ss.
54 Cf Rm 8,29 ss.; Ep 1,8
55 Cf Jn 16,13
56 Cf 1Th 5,24
57 2Co 5,21; cf Ga 3,13
58 1Jn 4,8 1Jn 4,16
59 Cf Rm 8,20
60 Cf Lc 15,11-32
61 Rm 8,19
62 Cf Rm 8,18

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10. Die menschliche Dimension im Geheimnis der Erlösung

Der Mensch kann nicht ohne Liebe leben. Er bleibt für sich selbst ein unbegreifliches Wesen; sein Leben ist ohne Sinn, wenn ihm nicht die Liebe geoffenbart wird, wenn er nicht der Liebe begegnet, wenn er sie nicht erfährt und sich zu eigen macht, wenn er nicht lebendigen Anteil an ihr erhält. Und eben darum macht Christus, der Erlöser, wie schon gesagt, dem Menschen den Menschen selbst voll kund. Dieses ist - wenn man sich so ausdrücken darf - die menschliche Dimension im Geheimnis der Erlösung. In dieser Dimension findet der Mensch die Größe, die Würde und den Wert, die mit seinem Menschsein gegeben sind. Im Geheimnis der Erlösung wird der Mensch »neu bestätigt« und in gewisser Weise neu geschaffen. Er ist neu erschaffen! »Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid "einer" in Christus Jesus«. 64 Der Mensch, der sich selbst bis in die Tiefe verstehen will - nicht nur nach unmittelbar zugänglichen, partiellen, oft oberflächlichen und sogar nur scheinbaren Kriterien und Maßstäben des eigenen Seins -, muß sich mit seiner Unruhe, Unsicherheit und auch mit seiner Schwäche und Sündigkeit, mit seinem Leben und Tode Christus nahen. Er muß sozusagen mit seinem ganzen Selbst in ihn eintreten, muß sich die ganze Wirklichkeit der Menschwerdung und der Erlösung »aneignen« und assimilieren, um sich selbst zu finden. Wenn sich in ihm dieser tiefgreifende Prozeß vollzieht, wird er nicht nur zur Anbetung Gottes veranlaßt, sondern gerät auch in tiefes Staunen über sich selbst. Welchen Wert muß der Mensch in den Augen des Schöpfers haben, wenn »er verdient hat, einen solchen und so großen Erlöser zu haben«, 65 wenn »Gott seinen Sohn hingegeben hat«, damit er, der Mensch, »nicht verlorengeht, sondern das ewige Leben hat«. 66 Dieses tiefe Staunen über den Wert und die Würde des Menschen nennt sich Evangelium, Frohe Botschaft. Dieses Staunen rechtfertigt die Sendung der Kirche in der Welt, auch und vielleicht vor allem »in der Welt von heute«. Dieses Staunen und zugleich die Überzeugung und Gewißheit, die in ihrer tiefsten Wurzel Glaubensgewißheit ist, die aber auf verborgene und geheimnisvolle Weise auch jeden Aspekt des wahren Humanismus beseelt, ist eng mit Christus verbunden. Dies bestimmt auch seinen Platz, sein - wenn man so sagen darf - besonderes Bürgerrecht in der Geschichte des Menschen und der Menschheit. Die Kirche, die nicht aufhört, das Geheimnis Christi in seiner Gesamtheit zu betrachten, weiß mit voller Glaubensgewißheit, daß die Erlösung, die durch das Kreuz erfolgt ist, dem Menschen endgültig seine Würde und den Sinn seiner Existenz in der Welt zurückgegeben hat, den Sinn, den er in beachtlichem Maße durch die Sünde verloren hatte. Deshalb hat die Erlösung sich im Ostergeheimnis vollendet, das durch das Kreuz und den Tod zur Auferstehung führt.

Die grundlegende Aufgabe der Kirche in allen Epochen und besonders in der unsrigen ist es, den Blick des Menschen, das Bewußtsein und die Erfahrung der ganzen Menschheit auf das Geheimnis Christi zu lenken und auszurichten, allen Menschen zu helfen, mit dem tiefen Geheimnis der Erlösung, die sich in Jesus Christus ereignet, vertraut zu werden. Gleichzeitig berührt man damit auch die tiefste Schicht im Menschen, die Sphäre des menschlichen Herzens, des Bewußtseins und des Lebensgeschickes der Menschen.


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11. Das Geheimnis Christi als Grundlage der Sendung der Kirche und des Christentums

Das II. Vatikanische Konzil hat eine ungeheuere Arbeit geleistet, um jenes volle und universale Bewußtsein der Kirche heranzubilden, von dem Papst Paul VI. in seiner ersten Enzyklika schreibt. Ein solches Bewußtsein - oder besser Selbstverständnis der Kirche - entwickelt sich »im Dialog«, der, bevor er zum Gespräch werden kann, die eigene Aufmerksamkeit auf »den anderen« lenken muß, das heißt auf den, mit dem wir sprechen wollen. Das ökumenische Konzil hat einen entscheidenen Impuls gegeben, um das Selbstverständnis der Kirche zu formen, indem es uns in angemessener und kompetenter Weise die Sicht des Erdkreises als einer »Karte« mit verschiedenen Religionen vermittelt hat. Darüber hinaus hat es gezeigt, wie sich auf dieser Karte der Weltreligionen in vorher nie gekannten und für unsere Zeit typischen Schichten das Phänomen des Atheismus in seinen verschiedenen Formen darüberlagert, angefangen vom programmatischen über den organisierten bis hin zum politisch strukturierten Atheismus.

Was die Religion betrifft, handelt es sich in der Hauptsache um die Religion als universales Phänomen, das von Anfang an mit der Geschichte des Menschen verbunden ist; ferner geht es um die verschiedenen nichtchristlichen Religionen und schließlich um das Christentum selbst. Das Konzilsdokument, das den nichtchristlichen Religionen gewidmet ist, ist in besonderer Weise voll tiefer Wertschätzung für die großen geistigen Werte, ja mehr noch, für den Primat dessen, was geistig ist und im Leben der Menschheit in der Religion und in den moralischen Prinzipien, die sich in der jeweiligen Kultur widerspiegeln, seinen Ausdruck findet. Zu Recht sahen die Kirchenväter in den verschiedenen Religionen gleichsam auch Reflexe einer einzigen Wahrheit als »Keime des Wortes«, 67 die bezeugen, daß das tiefste Streben des menschlichen Geistes, wenn auch auf verschiedenen Wegen, so doch in eine einzige Richtung ausgerichtet ist. Dieses Streben des Geistes drückt sich aus in der Suche nach Gott und zugleich - aufgrund seiner Hinordnung auf Gott - in der Suche nach der vollen Dimension des Menschseins oder der vollen Sinndeutung des menschlichen Lebens. Das Konzil hat eine besondere Aufmerksamkeit der jüdischen Religion gewidmet. Es hat die Christen und Juden an das große gemeinsame geistige Erbe erinnert. Zugleich hat es auch seine Wertschätzung gegenüber den Gläubigen des Islams bekundet, deren Glaube auch auf Abraham Bezug nimmt. 68

Durch die Öffnung, die vom II. Vatikanischen Konzil vollzogen wurde, konnten die Kirche und alle Christen zu einem vollständigeren Wissen um das Geheimnis Christi kommen, »das Geheimnis, das seit ewigen Zeiten verborgen war« 69 in Gott, um geoffenbart zu werden in der Zeit im Menschen Jesus Christus und um sich ständig jeder Zeit zu offenbaren. In Christus und durch Christus hat sich Gott der Menschheit vollkommen geoffenbart und sich ihr endgültig genähert. Gleichzeitig hat der Mensch in Christus und durch Christus ein volles Wissen um seine Würde, um seine Erhebung, um den transzendenten Wert des eigenen Menschseins und um den Sinn seiner Existenz erworben.

Es ist also notwendig, daß wir alle, die wir Jünger Christi sind, uns zusammenfinden und um ihn vereinigen. Diese Einheit in den verschiedenen Bereichen des Lebens, der Tradition, der Strukturen und Disziplinen der einzelnen Kirchen oder kirchlichen Gemeinschaften kann nicht verwirklicht werden ohne aufrichtiges Bemühen, das nach gegenseitigem Sichkennenlernen und nach Beseitigung der Hindernisse auf dem Weg zu einer vollkommenen Einheit strebt. Dennoch können und müssen wir schon von jetzt an unsere Einheit leben und sie der Welt bekunden: in der Verkündigung des Geheimnisses Christi, im Aufzeigen der göttlichen und zugleich menschlichen Dimension der Erlösung, in dem mit unermüdlicher Ausdauer geführten Kampf für jene Würde, die jeder Mensch in Christus erreicht hat und beständig erreichen kann. Es ist die Würde der gnadenhaften Gotteskindschaft und zugleich die Würde der inneren Wahrheit des Menschseins, das - wenn dieses im allgemeinen Bewußtsein der heutigen Welt schon eine solche grundlegende Bedeutung erhalten hat - für uns noch bedeutsamer wird im Lichte jener Wirklichkeit, die er ist: Jesus Christus.

Jesus Christus ist feststehendes Prinzip und beständiges Zentrum des Auftrags, den Gott selbst dem Menschen anvertraut hat. An diesem Auftrag müssen wir alle teilnehmen, auf ihn müssen wir alle unsere Kräfte konzentrieren, da er mehr als je zuvor notwendig ist für die Menschheit in unserer Zeit. Und wenn ein solcher Auftrag heute größeren Widerständen als in jeder anderen Zeit zu begegnen scheint, so zeigt dies nur, daß der Auftrag in unserer Epoche noch dringlicher ist und - trotz der Widerstände - mehr erwartet wird als je zuvor. Hier berühren wir indirekt jenes Geheimnis der göttlichen Heilsordnung, das die Erlösung und die Gnade mit dem Kreuz verbunden hat. Nicht umsonst hat Christus gesagt, daß »dem Himmelreich Gewalt angetan wird und die Gewalttätigen es an sich reißen«; 70 und ferner daß »die Kinder dieser Welt ... klüger sind als die Kinder des Lichts«. 71 Gern akzeptieren wir diesen Vorwurf, um wie jene »Gewalttäter Gottes« zu sein, die wir in der Geschichte der Kirche so oft gesehen haben und auch heute noch erblicken, um uns bewußt im großen Auftrag zu vereinen, der da heißt: Christus der Welt zu offenbaren, einem jeden Menschen zu helfen, damit er sich selbst in ihm wiederfinde, den heutigen Generationen unserer Brüder und Schwestern, Völkern, Nationen, Staaten, der Menschheit, weniger entwickelten und reichen Ländern, kurz allen zu helfen, um den »unergründlichen Reichtum Christi« 72 kennenzulernen, damit dieser jedem Menschen zur Verfügung stehe und zum Besitz jedes einzelnen werde.


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12. Der Auftrag der Kirche und die Freiheit des Menschen

In dieser Verbundenheit im Auftrag, über den vor allem Christus selbst entscheidet, müssen alle Christen entdecken, was sie bereits vereint, noch bevor sich ihre volle Gemeinschaft verwirklicht. Das ist die apostolische und missionarische, die missionarische und apostolische Einheit. Dank dieser Einheit können wir uns zusammen dem großartigen Erbe des menschlichen Geistes nähern, das sich in allen Religionen kundgetan hat, wie die Erklärung Nostra Aetate des II. Vatikanischen Konzils sagt. 73 Dank dieser Einheit nähern wir uns gleichzeitig allen Kulturen, allen Weltanschauungen und allen Menschen guten Willens. Wir nähern uns ihnen mit jener Wertschätzung, mit jenem Respekt und jenem Geist der Unterscheidung, der seit den Zeiten der Apostel die missionarische Tätigkeit und die Haltung des Missionars ausgezeichnet haben. Es genügt, an den hl. Paulus zu erinnern, z.B. an seine Rede vor dem Areopag in Athen. 74 Die missionarische Verhaltensweise beginnt immer mit einem Gefühl der Hochachtung vor dem, was »in jedem Menschen ist«, 75 vor dem, was er selbst im Innersten seines Wesens schon erarbeitet hat bezüglich der tiefsten und bedeutendsten Probleme; es handelt sich um die Achtung vor allem, was der Geist in ihm gewirkt hat, der »weht, wo er will«. 76 Die Mission ist niemals Zerstörung, sondern Aufnahme vorhandener Werte und Neuaufbau, wenn auch in der Praxis diesem hohen Ideal nicht immer voll entsprochen worden ist. Dabei wissen wir sehr gut, daß die Bekehrung, die von der Mission ihren Anfang nehmen muß, Werk der Gnade ist. In ihr muß der Mensch vollständig zu sich selbst zurückfinden.

Deswegen legt die Kirche in unserer Zeit einen großen Wert auf alles, was das II. Vatikanische Konzil in der Erklärung über die Religionsfreiheit dargelegt hat, sei es im ersten, sei es im zweiten Teil des Dokumentes. 77 Wir spüren zutiefst den verpflichtenden Charakter der Wahrheit, die Gott uns geoffenbart hat. Wir empfinden insbesondere die große Verantwortung für diese Wahrheit. Die Kirche ist kraft der Einsetzung durch Christus Wächterin und Lehrerin der Wahrheit, dadurch daß sie ja ausgestattet ist mit einem besonderen Beistand des Heiligen Geistes, damit sie über die Wahrheit treu wachen und sie in ihrer ganzen Fülle unverfälscht lehren kann. 78 Indem wir diesen Auftrag erfüllen, schauen wir auf Christus selbst, der der erste Verkünder der Frohen Botschaft ist; 79 ebenso schauen wir auch auf seine Apostel, Märtyrer und Bekenner. Die Erklärung über die Religionsfreiheit macht uns in überzeugender Weise deutlich, wie Christus und folglich seine Apostel in der Verkündigung der Wahrheit, die nicht von den Menschen, sondern von Gott kommt (»Meine Lehre stammt nicht von mir, sondern von dem, der mich gesandt hat«), das heißt vom Vater, 80 obgleich sie alle Überzeugungskünste des Geistes einsetzen, eine tiefe Wertschätzung für den Menschen, für seinen Verstand, seinen Willen, sein Gewissen und seine Freiheit bewahren. 81 Auf diese Weise wird die Würde der menschlichen Person Bestandteil jener Botschaft, wenn auch nicht in Worten, so doch durch das Verhalten ihr gegenüber. Diese Verhaltensweise scheint übereinzustimmen mit den besonderen Bedürfnissen unserer Zeit. Da sich nicht in allem, was die verschiedenen Systeme und auch einzelne Menschen als Freiheit ansehen und propagieren, die wahre Freiheit des Menschen findet, wird die Kirche um so mehr kraft ihrer göttlichen Sendung zur Wächterin dieser Freiheit, die Bedingung und Grundlage für die wahre Würde der menschlichen Person ist.

Jesus Christus geht dem Menschen jeder Epoche, auch der unseren, mit den gleichen Worten entgegen: »Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen«. 82 Diese Worte schließen eine wesentliche Forderung und zugleich eine Ermahnung ein: die Forderung eines ehrlichen Verhältnisses zur Wahrheit als Bedingung einer authentischen Freiheit; und auch die Ermahnung, daß jede nur scheinbare Freiheit, jede oberflächliche und einseitige Freiheit und jede Freiheit, die nicht von der ganzen Wahrheit über den Menschen und die Welt geprägt ist, vermieden werde. Auch heute, nach 2000 Jahren, erscheint uns Christus als der, der dem Menschen die Freiheit bringt, die auf der Wahrheit begründet ist, als der, der den Menschen befreit von allem, was diese Freiheit in der Seele des Menschen, in seinem Herzen und in seinem Gewissen beschränkt, schmälert und gleichsam von den Ursprüngen selbst trennt. Welche wundervolle Bestätigung haben dafür diejenigen gegeben und geben sie noch immer, die durch Christus und in Christus zur wahren Freiheit gelangt sind und sie sogar unter Bedingungen äußerer Nötigung bekundet haben!

Als Jesus Christus als Gefangener vor das Gericht des Pilatus trat und von ihm zur Anklage befragt wurde, die gegen ihn von den Vertretern des Synedriums erhoben worden war, hat er da nicht selbst geantwortet: »Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, daß ich für die Wahrheit Zeugnis ablege«? 83 Es ist, als ob er mit diesen Worten vor dem Richter im entscheidenden Augenblick noch einmal den schon vorher ausgesprochenen Satz bestätigt hätte: »Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen«. Ist nicht Jesus Christus selbst im Verlauf so vieler Jahrhunderte und so vieler Generationen, angefangen von den Zeiten der Apostel, sehr oft an die Seite von Menschen getreten, über die um der Wahrheit willen gerichtet wurde; ist er nicht auch mit Menschen in den Tod gegangen, die um der Wahrheit willen verurteilt wurden? Ist er nicht weiterhin Sprecher und Anwalt des Menschen, der im Geist und in der Wahrheit 84 lebt? Wie er nicht aufhört, vor dem Vater zu sein, so ist er auch in der Geschichte des Menschen stets anwesend. Die Kirche läßt ihrerseits trotz aller Schwächen, die zu ihrer menschlichen Geschichte gehören, nicht nach, ihm zu folgen, der gesagt hat: »Es kommt die Stunde, und sie ist jetzt da, in der die wahren Beter zum Vater beten werden im Geist und in der Wahrheit; denn solche Beter verlangt der Vater. Gott ist Geist, und alle, die anbeten, müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten«. 85

III. DER ERLÖSTE MENSCH UND SEINE SITUATION IN DER WELT VON HEUTE


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13. Christus ist mit jedem Menschen verbunden

Wenn wir durch die beständig und immer schneller wachsenden Erfahrungen der Menschheitsfamilie tiefer in das Geheimnis Jesu Christi eindringen, erkennen wir immer deutlicher, daß all jenen Wegen, auf denen die Kirche in unseren Tagen nach den richtungweisenden Worten von Papst Paul VI. 86 voranschreiten muß, ein besonderer Weg zugrunde liegt, der seit Jahrhunderten erprobt ist und zugleich in die Zukunft führt. Unser Herr Jesus Christus hat uns selbst auf diesen Weg verwiesen, da - wie das Konzil uns lehrt - »der Sohn Gottes durch seine Menschwerdung sich gleichsam mit jedem Menschen verbunden hat«. 87 Die Kirche sieht es darum als ihre grundlegende Aufgabe an, darauf hinzuwirken, daß diese Einheit immer wieder Gestalt und neues Leben gewinnt. Diesem Ziel allein möchte die Kirche dienen: jeder Mensch soll Christus finden können, damit Christus jeden einzelnen auf seinem Lebensweg begleiten kann mit jener kraftvollen Wahrheit über den Menschen und die Welt, wie sie im Geheimnis der Menschwerdung und der Erlösung enthalten ist, mit der Macht jener Liebe, die hiervon ausstrahlt. Auf dem Hintergrund von immer vielfältigeren geschichtlichen Entwicklungen, die zu unserer Zeit im Bereich der verschiedenen Systeme, Weltanschauungen und Staatsformen besonders erfolgreich zu sein scheinen, wird Jesus Christus gleichsam noch einmal gegenwärtig trotz vieler Anzeichen einer scheinbaren Abwesenheit, trotz aller Einschränkungen, welche die offizielle Gegenwart und Aktivität der Kirche erfahren. Jesus Christus wird gegenwärtig durch die Kraft jener Wahrheit und Liebe, die sich in einzigartiger und einmaliger Fülle in ihm ausgeprägt haben, obgleich sein irdisches Leben nur kurz und noch kürzer sein öffentliches Wirken war.

Jesus Christus ist der Hauptweg der Kirche. Er selbst ist unser Weg zum Haus des Vaters 88 und ist auch der Zugang zu jedem Menschen. Auf dieser Straße, die von Christus zum Menschen führt, auf der Christus jedem Menschen zur Seite tritt, darf die Kirche sich von niemandem aufhalten lassen. Das fordert das zeitliche wie auch das ewige Heil des Menschen. Wenn die Kirche auf Christus sieht und auf das Geheimnis, welches ihr Leben ausmacht, dann kann sie nicht unempfindlich bleiben für alles, was dem wahren Wohl des Menschen dient, so wie es ihr auch nicht gleichgültig sein kann, wenn dieses bedroht wird. Das II. Vatikanische Konzil hat an verschiedenen Stellen seiner Dokumente diese fundamentale Sorge der Kirche formuliert, damit »das Leben in dieser Welt mehr der überragenden Würde des Menschen entspreche« 89 in allen ihren Aspekten »und immer humaner gestaltet werde«. 90 Das ist die Sorge von Christus selbst, dem Guten Hirten aller Menschen. Im Namen dieser Hirtensorge - so lesen wir in der Pastoralkonstitution des Konzils - ist »die Kirche, die in keiner Weise hinsichtlich ihrer Aufgabe und Zuständigkeit mit der politischen Gemeinschaft verwechselt werden darf noch auch an irgendein politisches System gebunden ist, zugleich Zeichen und Schutz der Transzendenz der menschlichen Person«. 91

Es geht also hier um den Menschen in seiner vollen Wahrheit, in all seinen Dimensionen. Es geht nicht um einen »abstrakten« Menschen, sondern um den realen, den »konkreten« und »geschichtlichen« Menschen. Jeder »einzelne« Mensch ist gemeint; denn jeder ist vom Geheimnis der Erlösung betroffen, mit jedem ist Christus für immer durch dieses Geheimnis verbunden. Jeder Mensch, der im Mutterschoß empfangen und von seiner Mutter in diese Welt hineingeboren wird, ist gerade wegen dieses Erlösungswerkes der Obhut der Kirche anvertraut. Ihre Sorge schaut auf den ganzen Menschen und ist ihm in einzigartiger Weise zugewandt. Sie kümmert sich um den Menschen in seiner individuellen, unwiederholbaren Wirklichkeit, in der unzerstörbar das Bild und Gleichnis Gottes enthalten ist. 92 Das meint das Konzil, wenn es diese Ähnlichkeit erwähnt und dabei daran erinnert, daß »der Mensch auf Erden die einzige von Gott um ihrer selbst gewollte Kreatur ist«. 93 So wie dieser Mensch von Gott »gewollt« ist, wie er von Ewigkeit her von ihm »erwählt« ist, gerufen und bestimmt für die Gnade und das Heil, so ist jeder Mensch ganz »konkret«, ganz »real«. Dies ist der Mensch im vollen Licht des Geheimnisses, an dem er durch Jesus Christus teilnimmt, ein Geheimnis, an dem jeder einzelne der vier Milliarden Menschen teilhat, die auf unserem Planeten leben, vom ersten Moment an, da er unter dem Herzen der Mutter empfangen wird.


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14. Alle Wege der Kirche führen zum Menschen

Die Kirche darf am Menschen nicht vorbeigehen; denn sein »Geschick«, das heißt seine Erwählung, seine Berufung, seine Geburt und sein Tod, sein ewiges Heil oder Unheil sind auf so enge und unaufhebbare Weise mit Christus verbunden. Dabei geht es wirklich um jeden Menschen auf diesem Planeten, unserer Erde, die der Schöpfer dem ersten Menschen anvertraut hat, als er zum Mann und zu der Frau sprach: »Unterwerft sie euch und herrscht über sie«. 94 Es geht um jeden Menschen in all seiner unwiederholbaren Wirklichkeit im Sein und im Handeln, im Bewußtsein und im Herzen. Der Mensch in seiner Einmaligkeit - weil er »Person« ist - hat seine eigene Lebensgeschichte und vor allem eine eigene Geschichte seiner Seele. Von der intentionalen Öffnung seines Geistes und zugleich von den zahlreichen und so verschiedenen Bedürfnissen seines Leibes und seiner irdischen Existenz bestimmt, schreibt der Mensch diese seine persönliche Geschichte durch zahllose Bindungen, Kontakte, Situationen und soziale Strukturen, die ihn mit anderen Menschen verbinden; und dies tut er vom ersten Augenblick seiner irdischen Existenz an, angefangen bei seiner Empfängnis und Geburt. Der Mensch in der vollen Wahrheit seiner Existenz, seines persönlichen und zugleich gemeinschaftsbezogenen und sozialen Seins - im Bereich der eigenen Familie, auf der Ebene der Gesellschaft und so vieler verschiedener Umgebungen, auf dem Gebiet der eigenen Nation oder des eigenen Volkes oder vielleicht auch nur des eigenen Klans oder Stammes, schließlich auch im Bereich der gesamten Menschheit - dieser Mensch ist der erste Weg, den die Kirche bei der Erfüllung ihres Auftrags beschreiten muß: er ist der erste und grundlegende Weg der Kirche, ein Weg, der von Christus selbst vorgezeichnet ist und unabänderlich durch das Geheimnis der Menschwerdung und der Erlösung führt.

Diesen Menschen in der ganzen Wirklichkeit seines Lebens, mit seinem Bewußtsein, mit seiner fortwährenden Neigung zur Sünde und zugleich mit seinem ständigen Durst nach Wahrheit, nach dem Guten und Schönen, nach Gerechtigkeit und Liebe, gerade diesen Menschen hatte das II. Vatikanische Konzil im Auge, als es bei der Beschreibung seiner Lage in der heutigen Welt jeweils von den äußeren Komponenten dieser Lage zur inneren Wahrheit des Menschseins vorstieß: »... im Menschen selbst sind viele widersprüchliche Elemente gegeben. Einerseits erfährt er sich nämlich als Geschöpf vielfältig begrenzt, andererseits empfindet er sich in seinem Verlangen unbegrenzt und berufen zu einem Leben höherer Ordnung. Zwischen vielen Möglichkeiten, die ihn anrufen, muß er dauernd unweigerlich eine Wahl treffen und so auf dieses oder jenes verzichten. Als schwacher Mensch und Sünder tut er oft das, was er nicht will, und was er tun wollte, tut er nicht. So leidet er an einer inneren Zwiespältigkeit, und daraus entstehen viele und schwere Zerwürfnisse auch in der Gesellschaft«. 95

Dieser Mensch ist der Weg der Kirche, der in gewisser Weise an der Basis all jener Wege verläuft, auf denen die Kirche wandert; denn der Mensch - und zwar jeder Mensch ohne jede Ausnahme - ist von Christus erlöst worden. Christus ist mit jedem Menschen, ohne Ausnahme, in irgendeiner Weise verbunden, auch wenn sich der Mensch dessen nicht bewußt ist: »Christus, der für alle gestorben und auferstanden ist, schenkt dem Menschen« - jedem einzelnen und allen zusammen - »fortwährend Licht und Kraft durch seinen Geist, damit er seiner höchsten Berufung entsprechen kann«. 96

Da also der Mensch der Weg der Kirche ist, der Weg ihres täglichen Lebens und Erlebens, ihrer Aufgaben und Mühen, muß sich die Kirche unserer Zeit immer wieder neu die »Situation« des Menschen bewußt machen. Sie muß seine Möglichkeiten kennen, die eine immer neue Richtung nehmen und so zu Tage treten; zugleich aber muß die Kirche die Bedrohungen kennen, die über dem Menschen hängen. Sie muß sich all dessen bewußt sein, was offenkundig dem Bemühen entgegensteht, das Leben der Menschen »immer humaner zu gestalten«, 97 damit alle Bereiche dieses Lebens der wahren Würde des Menschen entsprechen. Mit einem Wort: die Kirche muß alles kennen, was diesem Prozeß entgegensteht.

15 15. Die Ängste des heutigen Menschen

Während wir also das Bild vom Menschen lebendig im Gedächtnis behalten, das uns das II. Vatikanische Konzil in so tiefer und maßgeblicher Weise gezeichnet hat, wollen wir es doch auch an die heutigen »Zeichen der Zeit« anpassen und an die Erfordernisse der Lebensumstände, die sich ja fortwährend ändern und in bestimmte Richtungen entwickeln.

Der Mensch von heute scheint immer wieder von dem bedroht zu sein, was er selbst produziert, das heißt vom Ergebnis der Arbeit seiner Hände und noch mehr vom Ergebnis der Arbeit seines Verstandes und seiner Willensentscheidung. Die Früchte dieser vielgestaltigen Aktivität des Menschen sind nicht nur Gegenstand von »Entfremdung«, weil sie demjenigen, der sie hervorgebracht hat, einfachhin genommen werden; allzu oft und nicht selten unvorhersehbar wenden sich diese Früchte, wenigstens teilweise, in einer konsequenten Folge von Wirkungen indirekt gegen den Menschen selbst. So sind sie tatsächlich gegen ihn gerichtet oder können es jederzeit sein. Hieraus scheint das wichtigste Kapitel des Dramas der heutigen menschlichen Existenz in seiner breitesten und universellen Dimension zu bestehen. Der Mensch lebt darum immer mehr in Angst. Er befürchtet, daß seine Produkte, natürlich nicht alle und auch nicht die Mehrzahl, aber doch einige und gerade jene, die ein beträchtliches Maß an Genialität und schöpferischer Kraft enthalten, sich in radikaler Weise gegen ihn selbst kehren könnten; er fürchtet, sie könnten Mittel und Instrumente einer unvorstellbaren Selbstzerstörung werden, vor der alle Katastrophen der Geschichte, die wir kennen, zu verblassen scheinen. Hieraus muß sich also die Frage ergeben: Wieso wendet sich diese Macht, die von Anfang an dem Menschen gegeben war, um damit die Erde zu beherrschen, 98 gegen ihn selbst und ruft diesen verständlichen Zustand der Unruhe, der bewußten und unbewußten Angst und der Bedrohung hervor, der sich in verschiedener Weise der gesamten Menschheitsfamilie mitteilt und vielfältige Erscheinungsformen kennt?

Dieser Zustand der Bedrohung, die die eigenen Produkte dem Menschen erzeugen, wirkt sich in verschiedenen Richtungen aus und zeigt unterschiedliche Intensitäten. Wir scheinen uns heute wohl der Tatsache mehr bewußt zu sein, daß die Nutzung der Erde, jenes Planeten, auf dem wir leben, eine vernünftige und gerechte Planung erfordert. Gleichzeitig aber bewirken diese Nutzung zu wirtschaftlichen und sogar militärischen Zwecken, diese unkontrollierte Entwicklung der Technik, die nicht eingeordnet ist in einen Gesamtplan eines wirklich menschenwürdigen Fortschrittes, oft eine Bedrohung der natürlichen Umgebung des Menschen, sie entfremden ihn in seiner Beziehung zur Natur, sie trennen ihn von ihr ab. Der Mensch scheint oft keine andere Bedeutung seiner natürlichen Umwelt wahrzunehmen, als allein jene, die den Zwecken eines unmittelbaren Gebrauchs und Verbrauchs dient. Dagegen war es der Wille des Schöpfers, daß der Mensch der Natur als »Herr« und besonnener und weiser »Hüter« und nicht als »Ausbeuter«und skrupelloser »Zerstörer« gegenübertritt.

Der Fortschritt der Technik und die Entwicklung der heutigen Zivilisation, die von der Vorherrschaft der Technik geprägt ist, erfordern eine entsprechende Entwicklung im sittlichen Leben und in der Ethik. Diese scheint jedoch leider immer zurückzubleiben. Der Fortschritt, der ja andererseits so staunenswert ist, weil wir in ihm auch echte Zeichen der Größe des Menschen mühelos entdecken können, wie sie uns in ihren schöpferischen Anfängen schon im Buch der Genesis bei der Darstellung der Schöpfung 99 offenbart worden sind, muß darum doch auch vielfältige Sorgen wecken. Die erste Sorge betrifft die wesentliche und grundlegende Frage: Macht dieser Fortschritt, dessen Urheber und Förderer der Mensch ist, das menschliche Leben auf dieser Erde wirklich in jeder Hinsicht »menschlicher«? Macht er das Leben »menschenwürdiger«? Zweifellos ist dies in mancher Hinsicht der Fall. Die Frage meldet sich jedoch hartnäckig wieder, wenn es um das Wesentliche geht: Wird der Mensch als Mensch im Zusammenhang mit diesem Fortschritt wirklich besser, das heißt geistig reifer, bewußter in seiner Menschenwürde, verantwortungsvoller, offener für den Mitmenschen, vor allem für die Hilfsbedürftigen und Schwachen, und hilfsbereiter zu allen?

Diese Frage müssen sich die Christen stellen, eben weil Jesus Christus sie so umfassend für das Problem des Menschen empfänglich gemacht hat. Die gleiche Frage aber stellt sich allen Menschen, besonders denjenigen, die in solchen sozialen Bereichen leben, die sich aktiv für die Entwicklung und den Fortschritt in unserer Zeit einsetzen. Wenn wir diese Entwicklungen beobachten und sogar an ihnen teilnehmen, darf uns nicht Euphorie überkommen noch dürfen wir uns von einseitigem Enthusiasmus fortreißen lassen, sondern wir alle müssen uns mit äußerster Ehrlichkeit, Objektivität und moralischem Verantwortungsbewußtsein den wesentlichen Fragen stellen, die die Situation des Menschen heute und in Zukunft betreffen.

Stimmen alle diese Errungenschaften, die bisher erreicht wurden oder von der Technik für die Zukunft geplant werden, mit dem moralischen und geistigen Fortschritt des Menschen überein? Entwickelt sich der Mensch als solcher in diesem Zusammenhang, macht er wirklich Fortschritte oder fällt er zurück und sinkt in seiner Menschlichkeit nach unten? Überwiegt unter den Menschen, »in der Welt des Menschen«, die von sich aus das Gute und das Böse enthält, das Gute vor dem Bösen? Wachsen tatsächlich in den Menschen und untereinander die Nächstenliebe, die Achtung vor den Rechten des anderen - sei es der einzelne, eine Nation oder ein Volk - oder nehmen vielmehr die Egoismen verschiedener Art und die übertriebenen Nationalismen anstelle einer echten Vaterlandsliebe zu sowie das Streben, andere über die eigenen legitimen Rechte und Verdienste hinaus zu beherrschen, wie auch die Tendenz, allen materiellen und wirtschaftlichen Fortschritt allein zu dem Zweck auszunützen, um die Vorherrschaft über andere zu besitzen oder diesen oder jenen Imperialismus zu fördern?

Dies sind die wesentlichen Fragen, die die Kirche sich stellen muß, weil Milliarden von Menschen, die heute auf der Welt leben, mehr oder weniger ausdrücklich solche Fragen stellen. Das Thema »Entwicklung und Fortschritt« taucht in allen Gesprächen auf und erscheint in den Spalten aller Zeitungen und Publikationen in fast allen Sprachen der heutigen Welt. Dabei dürfen wir jedoch nicht vergessen, daß dieses Thema nicht nur Feststellungen und gesicherte Aussagen enthält, sondern auch Fragen und bedrückende Sorgen. Und dies letztere ist genau so wichtig wie das erste. Sie entsprechen der dialektischen Natur menschlicher Erkenntnis und vor allem dem Grundbedürfnis der Sorge des Menschen für den Menschen, für seine eigene Menschlichkeit, für die Zukunft der Menschen auf dieser Erde. Die Kirche, die aus einem eschatologischen Glauben lebt, betrachtet diese Besorgnis des Menschen um seine Menschlichkeit, um die Zukunft der Menschen auf Erden und damit auch um die Richtung von Entwicklung und Fortschritt als ein wesentliches Element ihrer Sendung, das hiervon nicht getrennt werden darf. Den Kern dieser Sorge findet die Kirche in Jesus Christus selbst, wie die Evangelien bezeugen. Gerade darum möchte sie dieses Engagement aus der Einheit mit ihm verstärken, indem sie die Situation des Menschen in der heutigen Welt nach den wichtigsten Zeichen unserer Zeit interpretiert.


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16. Fortschritt oder Bedrohung?


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