Redemptor hominis 16

16. Fortschritt oder Bedrohung?

Wenn sich diese Zeit, die Zeit unserer Generation, die sich dem Ende des zweiten Jahrtausends unserer christlichen Ära nähert, uns als eine Zeit großen Fortschritts offenbart, so erscheint sie uns andererseits auch als eine Zeit vielfältiger Bedrohungen für den Menschen, über die die Kirche mit allen Menschen guten Willens sprechen und immer im Gespräch bleiben muß. Die Situation des Menschen in der heutigen Zeit scheint in der Tat noch fern zu sein von den objektiven Forderungen der sittlichen Ordnung wie auch von den Forderungen der Gerechtigkeit und mehr noch von der sozialen Liebe. Es geht hier darum, was schon in der ersten Botschaft des Schöpfers an den Menschen in dem Augenblick Ausdruck gefunden hat, als dieser ihm die Erde anvertraute, damit er sie sich »unterwerfe«. 100 Diese erste Botschaft ist im Geheimnis der Erlösung von Jesus Christus neu bekräftigt worden. Das II. Vatikanische Konzil hat dies in den wunderbaren Lehraussagen über die »Königswürde« des Menschen, das heißt über seine Berufung zur Teilnahme am Königsamt - munus regale - Christi dargelegt. 101 Der zentrale Sinn dieser »Königswürde« und dieser »Herrschaft« des Menschen über die sichtbare Welt, die ihm vom Schöpfer als Aufgabe anvertraut worden ist, besteht im Vorrang der Ethik vor der Technik, im Primat der Person über die Dinge, in der Überordnung des Geistes über die Materie.

Aus diesem Grund muß man alle Phasen des heutigen Fortschritts aufmerksam verfolgen. Man muß unter diesem Gesichtspunkt gleichsam eine Durchleuchtung seiner einzelnen Etappen vornehmen. Es handelt sich hier um die Entwicklung von Personen und nicht nur der vielen Dinge, deren sich die Personen bedienen können. Es geht - wie ein zeitgenössischer Philosoph gesagt und auch das Konzil festgestellt hat - nicht so sehr darum, »mehr zu haben«, sondern »mehr zu sein«. 102 In der Tat besteht schon eine wirkliche, erkennbare Gefahr, daß der Mensch bei dem enormen Fortschritt in der Beherrschung der gegenständlichen Welt die entscheidenden Fäden, durch die er sie beherrscht, aus der Hand verliert und ihnen auf verschiedene Weise sein Menschsein unterordnet und selbst Objekt wird von vielfältigen, wenn auch oft nicht direkt wahrnehmbaren Manipulationen durch die Organisation des gesellschaftlichen Lebens, durch das Produktionssystem und durch den Druck der sozialen Kommunikationsmittel. Der Mensch kann nicht auf sich selber verzichten noch auf den Platz, der ihm in der sichtbaren Welt zukommt; er darf nicht Sklave der Dinge, Sklave der Wirtschaftssysteme, Sklave der Produktion, Sklave der eigenen Produkte werden. Eine Zivilisation von rein materialistischem Charakter verurteilt den Menschen zu solcher Sklaverei, wenn dies auch mitunter zweifellos gegen die Absichten und Programme ihrer maßgeblichen Führer geschieht. Der gegenwärtigen Sorge um den Menschen liegt ganz gewiß dieses Problem zugrunde. Es handelt sich hier nicht nur darum, auf die Frage: Wer ist der Mensch? eine abstrakte Antwort zu geben. Es geht vielmehr um den gesamten Dynamismus des Lebens und der Zivilisation. Es geht um den Sinn der verschiedenen Initiativen des täglichen Lebens und gleichzeitig um die Voraussetzungen für zahlreiche Programme der Zivilisation, um politische, wirtschaftliche, soziale, staatliche und viele andere Programme.

Wenn wir es wagen, die Situation des Menschen in der Welt von heute als noch fern von den objektiven Forderungen der sittlichen Ordnung, von den Forderungen der Gerechtigkeit und mehr noch von der sozialen Liebe zu bezeichnen, so geschieht es deswegen, weil dies von den allgemein bekannten Tatsachen und Gegenüberstellungen bestätigt wird, die auch schon mehrmals in päpstlichen, konziliaren und synodalen Verlautbarungen erwähnt worden sind. 103 Die Situation des Menschen in unserer Epoche ist sicher nicht einförmig, sie ist auf vielfältige Weise differenziert. Diese Differenzen haben ihre geschichtlichen Gründe, aber auch eine stark ethische Komponente. Allgemein bekannt ist das Bild der Konsumgesellschaft, die einen gewissen Überfluß an den für den Menschen und die ganze Gesellschaft notwendigen Gütern besitzt - gemeint sind die reichen und weit fortgeschrittenen Gesellschaften -, während die übrigen, zumindest in weiten Schichten, Hunger leiden und viele Personen in ihnen täglich an Hunger und Unterernährung sterben. Hand in Hand damit geht für die einen ein bestimmter Mißbrauch der Freiheit, der mit einer konsumistischen Verhaltensweise verbunden ist, die nicht von der Ethik gezügelt wird; gleichzeitig wird dadurch die Freiheit der anderen beschränkt, die schon großen Mangel leiden und somit in noch stärkere Armut und ins Elend getrieben werden.

Dieser Vergleich, der allgemein bekannt ist, und der Gegensatz, auf den die Päpste unseres Jahrhunderts, in jüngster Zeit Johannes XXIII. und Paul VI., 104 in ihren Lehrschreiben des öfteren hingewiesen haben, erscheinen wie die gigantische Vergrößerung des biblischen Gleichnisses vom reichen Prasser und dem armen Lazarus. 105

Der Umfang des Problems führt uns zur Prüfung der Strukturen und Mechanismen im Bereich der Finanzen und des Geldwertes, der Produktion und des Handels, die mit Hilfe von verschiedenen politischen Druckmitteln die Weltökonomie beherrschen: sie zeigen sich unfähig, die aus der Vergangenheit überkommenen Ungerechtigkeiten aufzufangen oder den Herausforderungen und ethischen Ansprüchen der Gegenwart standzuhalten. Indem sie den Menschen selbstverursachten Spannungen aussetzen, in beschleunigtem Tempo die Reserven an Grundmaterien und Energie vergeuden und den geophysischen Lebensraum schädigen, bewirken sie, daß sich die Zonen des Elends mit ihrer Last an Angst, Enttäuschung und Bitterkeit unaufhörlich weiter ausdehnen. 106

Diese dramatische Lage darf uns nicht gleichgültig sein: derjenige, der höchsten Profit daraus zieht, und derjenige, der davon Unrecht und Schaden erleidet, ist in jedem Fall der Mensch. Die dramatische Situation wird noch dadurch verschärft, daß bessergestellte Gesellschaftsschichten sowie die reichen Länder, die Werte im Übermaß anhäufen und oft durch Mißbrauch von ihrem eigenen Reichtum krank werden, daran beteiligt sind. Das Fieber der Inflation und die Plage der Arbeitslosigkeit sind weitere Symptome dieser schweren moralischen Unordnung auf Weltebene, die darum kühne und schöpferische Entscheidungen nötig macht, 107 wie sie die Würde der menschlichen Person fordert.

Die Verwirklichung dieser Aufgabe ist nicht unmöglich. Das Prinzip der Solidarität im weiteren Sinne muß die wirksame Suche nach Institutionen und geeigneten Mechanismen bestimmen, sowohl im Bereich des Welthandels, wo man sich von den Gesetzen eines gesunden Wettbewerbs leiten lassen sollte, wie auch im Bereich einer umfassenden und unmittelbaren Umverteilung der Reichtümer und ihrer Kontrolle, damit die Völker, die noch auf dem Weg ihrer wirtschaftlichen Entwicklung sind, nicht nur ihre wesentlichen Bedürfnisse befriedigen, sondern auch stufenweise, aber doch wirksam vorankommen können.

Man wird auf diesem schwierigen Weg der unbedingt notwendigen Veränderung der Strukturen des Wirtschaftslebens nur dann Fortschritte machen, wenn eine wahre Umkehr der Mentalität, des Willens und des Herzens stattfindet. Die Aufgabe erfordert den entschlossenen Einsatz der Menschen und Völker in Freiheit und Solidarität. Allzu oft verwechselt man jedoch Freiheit mit dem Instinkt für das individuelle oder kollektive Interesse oder sogar mit dem Instinkt, sich durchzusetzen und zu beherrschen, ganz gleich, mit welchen ideologischen Farben dies versehen wird. Offenbar existieren solche Instinkte; es wird aber keine wirklich menschenwürdige Wirtschaftspraxis geben, wenn diese nicht aufgegriffen, ausgerichtet und geleitet werden durch die wertvolleren Kräfte im Innern des Menschen, von denen die wahre Kultur der Völker abhängt. Von diesen Quellen muß das Bemühen ausgehen, das der echten Freiheit des Menschen Gestalt gibt und darum fähig sein wird, diese auch für den wirtschaftlichen Bereich zu sichern. Das notwendige wirtschaftliche Wachstum mit seinen ihm eigenen Gesetzmäßigkeiten muß in die Perspektive einer ganzheitlichen und solidarischen Entwicklung der einzelnen Menschen und Völker einbezogen werden, wie uns mein Vorgänger Paul VI. in der Enzyklika Populorum Progressio mit Nachdruck in Erinnerung gerufen hat. Sonst wird der Teilbereich »wirtschaftliches Wachstum«so übermächtig, daß er den gesamten Bereich des menschlichen Lebens seinen partiellen Erfordernissen unterordnet, dabei den Menschen erstickt, die Gesellschaft zersetzt und schließlich in den eigenen Spannungen und Exzessen steckenbleibt.

Es ist durchaus möglich, eine solche Verpflichtung zu übernehmen; das bezeugen einige sichere Fakten und all jene Resultate, die hier genauer aufzuzählen schwierig wäre. Eines jedoch ist gewiß: bei dieser ungeheueren Aufgabe muß man von vornherein den Inhalt der moralischen Verantwortung, die der Mensch dabei übernehmen soll, genau festsetzen, annehmen und weiter vertiefen. Subjekt der Verantwortung ist einzig und allein der Mensch selbst. Für uns Christen wird eine solche Verantwortung besonders offenkundig, wenn wir - und das sollten wir stets tun - uns an das Geschehen des Jüngsten Gerichtes erinnern nach den Worten Christi, die uns im Matthäusevangelium überliefert sind. 108

Dieses eschatologische Bild muß immer auf die Geschichte des Menschen »angewandt«werden, muß stets der »Maßstab« für die menschlichen Handlungen sein, gleichsam ein Grundschema für die Gewissenserforschung eines jeden einzelnen und von allen zusammen: »Ich war hungrig, und ihr habt mir nichts zu essen gegeben; ... ich war nackt, und ihr habt mich nicht bekleidet; ich war ... im Gefängnis, und ihr habt mich nicht besucht«. 109 Diese Worte erhalten eine noch eindringlichere Mahnung, wenn wir daran denken, daß anstelle von Brot und kultureller Hilfe den neuen Staaten und Nationen, die zur Unabhängigkeit erwachen, mitunter große Mengen von modernen Waffen und Zerstörungsmitteln angeboten werden, die bewaffneten Auseinandersetzungen und Kriegen dienen sollen, welche in diesen Ländern nicht so sehr für die Verteidigung ihrer legitimen Rechte oder ihrer Souveränität notwendig sind, sondern vielmehr eine Form des Chauvinismus, des Imperialismus, des Neokolonialismus verschiedenster Art darstellen. Wir alle wissen, daß die Gebiete, in denen auf der Erde Elend und Hunger herrschen, in kurzer Zeit hätten fruchtbar gemacht werden können, wenn die ungeheueren Geldsummen anstatt für Waffen, die dem Krieg und der Zerstörung dienen, zur Nahrungsmittelproduktion eingesetzt worden wären, die dem Leben dient.

Vielleicht bleiben diese Überlegungen teilweise »abstrakt«, vielleicht bieten sie der einen oder anderen »Seite« Gelegenheit, sich gegenseitig anzuklagen, wobei jede ihre eigene Schuld vergißt. Vielleicht werden sie auch neue Anklagen gegen die Kirche hervorrufen. Diese verfügt über keine anderen Waffen als nur über die Waffen des Geistes, über Waffen des Wortes und der Liebe; sie kann es aber nicht unterlassen, »das Wort zu verkünden... zu gelegener und ungelegener Zeit«. 110 Deswegen hört sie auch nicht auf, jede der beiden Seiten zu bitten und alle zusammen im Namen Gottes und im Namen des Menschen aufzufordern: Tötet nicht! Bringt den Menschen keine Zerstörung und Vernichtung! Denkt an eure Brüder, die Hunger und Elend erleiden! Achtet die Würde und die Freiheit eines jeden Menschen!


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17. Menschenrechte:»Buchstabe« oder »Geist«

Unser Jahrhundert ist bisher ein Jahrhundert der großen Unglücke für den Menschen, der großen Verwüstungen, nicht nur der materiellen, sondern auch und vielleicht sogar vor allem der moralischen, gewesen. Es ist gewiß nicht leicht, unter diesem Gesichtspunkt Epochen und Jahrhunderte miteinander zu vergleichen; ihre Beurteilung hängt nämlich auch von geschichtlichen Kriterien ab, die sich ändern. Aber auch ohne solche Vergleiche muß man feststellen, daß dieses Jahrhundert bisher eine Periode gewesen ist, in der die Menschen sich gegenseitig viele Ungerechtigkeiten und Leiden zugefügt haben. Ist dieser Entwicklung nun endgültig Einhalt geboten? Wir dürfen es in jedem Fall nicht unterlassen, mit Achtung und großer Hoffnung für die Zukunft an die großartigen Anstrengungen zu erinnern, mit denen man die Organisation der Vereinten Nationen ins Leben gerufen hat; Anstrengungen, die darauf abzielen, die objektiven und unverletzlichen Menschenrechte zu umschreiben und festzusetzen, wobei sich die Mitgliedstaaten gegenseitig verpflichteten, diese genau zu beachten. Die Verpflichtung ist von fast allen heutigen Staaten übernommen und ratifiziert worden; das sollte eine Garantie dafür sein, daß die Menschenrechte in der ganzen Welt zum Grundprinzip aller Bemühungen um das Wohl des Menschen werden.

Die Kirche braucht nicht zu betonen, wie sehr dieses Problem mit ihrer Sendung in der Welt von heute verbunden ist. Es bildet nämlich eine der grundlegenden Voraussetzungen für den sozialen und internationalen Frieden, wie Johannes XXIII., das II. Vatikanische Konzil und auch Paul VI. in besonderen Dokumenten dargelegt haben. Letztlich führt sich der Frieden zurück auf die Achtung der unverletzlichen Menschenrechte - opus iustitiae pax -, während der Krieg aus der Verletzung dieser Rechte entsteht und noch größere derartige Verletzungen nach sich zieht. Wenn die Menschenrechte in Friedenszeiten verletzt werden, ist dies besonders schmerzlich und stellt unter dem Gesichtspunkt des Fortschritts ein unverständliches Phänomen des Kampfes gegen den Menschen dar, das auf keine Weise mit irgendeinem Programm, das sich selbst als »humanistisch« bezeichnet, in Einklang gebracht werden kann. Und welches soziale, wirtschaftliche, politische und kulturelle Programm könnte auf diese Bezeichnung verzichten? Wir hegen die tiefe Überzeugung, daß es in der Welt von heute kein Programm gibt, in dem nicht, nicht einmal auf der Ebene entgegengesetzter ideologischer Weltanschauungen, der Mensch immer an die erste Stelle gesetzt wird.

Wenn aber nun trotz dieser Voraussetzungen die Menschenrechte auf verschiedene Weise verletzt werden, wenn wir Zeugen von Konzentrationslagern, von Gewalt und Torturen, von Terrorismus und vielfältigen Diskriminierungen sind, so muß das eine Folge anderer Vorbedingungen sein, die die Wirksamkeit der humanistischen Voraussetzungen in jenen modernen Programmen und Systemen bedrohen oder oft auch zunichte machen. Somit drängt sich notwendig die Pflicht auf, diese Programme unter dem Gesichtspunkt der objektiven und unverletzlichen Menschenrechte einer ständigen Revision zu unterziehen.

Die Menschenrechtserklärung, die in Verbindung mit der Errichtung der Organisation der Vereinten Nationen erfolgte, hatte gewiß nicht nur das Ziel, sich von den furchtbaren Erfahrungen des letzten Weltkrieges zu distanzieren, sondern sollte auch eine Grundlage für eine solche ständige Revision der Programme, Systeme und Regime schaffen, die unter diesem einzigen grundlegenden Gesichtspunkt zu geschehen hat, dem Wohl des Menschen, das heißt der Person in der Gesellschaft; dieses muß als Grundfaktor des Gemeinwohls das wesentliche Kriterium für alle Programme, Systeme und Regime bilden. Andernfalls ist das menschliche Leben, auch in Friedenszeiten, zu verschiedenen Leiden verdammt; gleichzeitig damit entwickeln sich verschiedene Formen von Vorherrschaft, von Totalitarismus, Neokolonialismus, Imperialismus, die auch das Zusammenleben zwischen den Nationen gefährden. Es ist in der Tat eine bezeichnende Tatsache, die mehrmals durch die Erfahrungen der Geschichte bestätigt worden ist, daß nämlich die Verletzung der Menschenrechte mit der Verletzung der Rechte der Nation Hand in Hand geht; mit ihr ist der Mensch ja durch organische Bande wie mit einer großen Familie verbunden.

Schon seit der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts, als sich verschiedene totalitäre Staatssysteme entwickelten, die dann bekanntlich zu der furchtbaren Kriegskatastrophe führten, hat die Kirche ihre Haltung gegenüber diesen Regimen klar umrissen; denn diese handelten nur scheinbar im Interesse eines höheren Gutes, nämlich für das Wohl des Staates, während die Geschichte dagegen zeigen sollte, daß dies nur das Wohl einer bestimmten Partei war, die sich mit dem Staat identifizierte. 111 In Wirklichkeit haben diese Regime die Rechte der Bürger eingeschränkt, indem sie ihnen die Anerkennung gerade jener unverletzlichen Bürgerrechte versagten, die um die Mitte unseres Jahrhunderts auf internationaler Ebene offiziell festgelegt und anerkannt worden sind. Während die Kirche die Freude über diese Errungenschaft mit allen Menschen guten Willens, mit allen Menschen, die die Gerechtigkeit und den Frieden wirklich lieben, teilt, muß sie im Bewußtsein, daß der »Buchstabe« allein töten kann, während nur »der Geist lebendig macht«, 112 zusammen mit diesen Menschen guten Willens ständig fragen, ob die Erklärung der Menschenrechte und die Annahme ihres »Buchstabens« überall auch die Verwirklichung ihres »Geistes« bedeuten. Es erheben sich nämlich begründete Befürchtungen, daß wir sehr oft noch ziemlich fern von dieser Verwirklichung sind und der Geist des sozialen und öffentlichen Lebens mitunter in einem schmerzlichen Gegensatz zum erklärten »Buchstaben« der Menschenrechte steht. Ein solcher Stand der Dinge, der für die betroffenen Gesellschaften eine Last ist, müßte diejenigen, die ihn mitverursacht haben, gegenüber diesen Gesellschaften und der Geschichte des Menschen in besonderer Weise verantwortlich machen.

Das Wesen des Staates als politischer Gemeinschaft besteht darin, daß die Gesellschaft, die ihn bildet, das Volk, Herr seines eigenen Geschickes ist. Dieser Sinn wird nicht verwirklicht, wo wir anstelle der Machtausübung mit moralischer Beteiligung der Gesellschaft oder des Volkes sehen, daß die Macht von einer bestimmten Gruppe allen anderen Gliedern dieser Gesellschaft aufgezwungen wird. Dies sind wesentliche Dinge in unserer Epoche, in der das soziale Bewußtsein der Menschen und damit verbunden auch das Verlangen nach einer richtigen Beteiligung der Bürger am politischen Leben der Gemeinschaft enorm gewachsen sind, 113 wenn auch für die Art dieser Beteiligung die realen Möglichkeiten eines jeden Volkes sowie die Notwendigkeit einer festen staatlichen Autorität berücksichtigt werden müssen. Dies sind somit unter dem Gesichtspunkt des persönlichen Fortschritts des Menschen und der gesamtheitlichen Entwicklung seines Menschseins Probleme von erstrangiger Bedeutung.

Die Kirche hat stets gelehrt, daß es Pflicht ist, sich für das Gemeinwohl einzusetzen, und hat dadurch auch für jeden Staat gute Bürger erzogen. Sie hat ferner immer gelehrt, daß es die grundlegende Verpflichtung der staatlichen Autorität ist, für das Gemeinwohl der Gesellschaft Sorge zu tragen; hiervon leiten sich ihre Grundrechte ab. Gerade wegen dieser Voraussetzungen, die der objektiven ethischen Ordnung angehören, können die Rechte der staatlichen Gewalt nicht anders verstanden werden als auf der Grundlage der Achtung der objektiven und unverletzlichen Menschenrechte. Jenes Gemeinwohl, dem die Autorität im Staate dient, ist nur dann voll verwirklicht, wenn alle Bürger ihrer Rechte sicher sind. Andernfalls endet man beim Zusammenbruch der Gesellschaft, gelangt man zum Widerstand der Bürger gegen die Autorität oder zu einem Zustand der Unterdrückung, der Einschüchterung, der Gewalt, des Terrors, wovon uns die Totalitarismen unseres Jahrhunderts zahlreiche Beispiele gegeben haben. Auf diese Weise berührt das Prinzip der Menschenrechte zutiefst den Bereich der sozialen Gerechtigkeit und wird zum Maßstab für ihre grundlegende Überprüfung im Leben der politischen Institutionen.

Zu diesen Rechten zählt man berechtigterweise auch das Recht auf Religions- und Gewissensfreiheit. Das II. Vatikanische Konzil hat es als besonders notwendig erachtet, zu diesem Thema eine ausführliche Erklärung zu erarbeiten. Gemeint ist das Dokument Dignitatis humana, 114 in dem nicht nur die theologische Konzeption des Problems ausgedrückt worden ist, sondern dieses auch unter dem Aspekt des Naturrechts erörtert wird, das heißt vom »rein menschlichen« Standpunkt aus, von jenen Voraussetzungen her, die von der Erfahrung des Menschen, von seiner Vernunft und vom Sinn der Menschenwürde gefordert sind. Die Einschränkung der religiösen Freiheit von Personen und Gemeinschaften ist gewiß nicht nur eine schmerzliche Erfahrung, sondern trifft vor allem auch die Würde des Menschen unabhängig von der Religion, die einer bekennt, oder vom Weltverständnis, das er hat. Die Beschränkung der Religionsfreiheit und deren Verletzung stehen im Gegensatz zur Würde des Menschen und zu seinen objektiven Rechten. Das obengenannte Konzilsdokument sagt hinreichend deutlich, was eine solche Beschränkung der Religionsfreiheit bedeutet. Zweifellos stehen wir hier vor einer tiefgreifenden Ungerechtigkeit gegenüber allem, was den Menschen in seiner Tiefe betrifft, was wesentlich menschlich ist. Denn sogar das Phänomen der Ungläubigkeit, der Religionslosigkeit und des Atheismus versteht man als menschliches Phänomen nur in Bezug zum Phänomen der Religion und des Glaubens. Es ist deshalb schwierig, auch schon vom »rein menschlichen« Gesichtspunkt her eine Position hinzunehmen, nach der nur der Atheismus das Bürgerrecht im öffentlichen und sozialen Leben besitzt, während die gläubigen Menschen fast aus Prinzip kaum geduldet oder als Bürger zweiter Klasse behandelt werden oder sogar - was auch schon geschehen ist - der Bürgerrechte völlig beraubt sind.

Auch dieses Thema mußte hier, wenn auch nur kurz, behandelt werden, weil es zur Gesamtsituation des Menschen in der heutigen Welt gehört, weil es bezeugt, wie sehr diese Situation durch Vorurteile und verschiedenartigste Ungerechtigkeiten belastet ist. Wenn wir davon absehen, auf Einzelheiten in diesem Bereich einzugehen, für den wir ein besonderes Recht und eine besondere Pflicht haben, so geschieht das vor allem deshalb, weil wir zusammen mit allen, die Qualen der Diskriminierung und der Verfolgung um des Namens Gottes willen erdulden, vom Glauben an die erlösende Kraft des Kreuzes geleitet werden. Dennoch möchte ich mich kraft meines Amtes im Namen aller Gläubigen der ganzen Welt an diejenigen wenden, von denen in irgendeiner Weise die Gestaltung des sozialen und öffentlichen Lebens abhängt. Wir fordern von ihnen dringend die Achtung der Rechte der Religion und des Wirkens der Kirche. Wir beanspruchen kein Privileg, sondern die Achtung eines elementaren Rechtes. Die Verwirklichung dieses Rechtes ist eine der grundlegenden Proben für den wahren Fortschritt des Menschen in einem jeden Regime, in jeder Gesellschaft, in jedem System und in jeder Lage.

IV. DIE SENDUNG DER KIRCHE UND DAS SCHICKSAL DES MENSCHEN


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18. Die Kirche in ihrer Sorge um die Berufung des Menschen in Christus

Dieser notwendig summarische Blick auf die Situation des Menschen in der Welt von heute läßt uns Herzen und Gedanken noch mehr auf Jesus Christus, auf das Geheimnis der Erlösung richten, dem das Problem des Menschen mit der starken Kraft der Wahrheit und Liebe eingeprägt ist. Wenn Christus »sich gewissermaßen mit jedem Menschen vereinigt hat«, 115 so lebt auch die Kirche, indem sie mit ihrer reichen und universalen Sprache bis in das Innerste dieses Geheimnisses vordringt, noch tiefer ihre eigene Natur und Sendung. Nicht umsonst spricht der Apostel Paulus vom Leib Christi, der die Kirche ist. 116 Wenn nun dieser mystische Leib Christi das Volk Gottes ist - wie daraufhin das II. Vatikanische Konzil gestützt auf die ganze biblische und patristische Tradition sagen wird -, so heißt das, daß jeder Mensch in ihm durchdrungen ist von jenem Lebenshauch, der von Christus kommt. Auf diese Weise bewirkt auch die Hinwendung zum Menschen, zu seinen konkreten Problemen, zu seinen erfüllten und zerschlagenen Hoffnungen und Leiden, daß die Kirche selbst als Leib, als Organismus, als soziale Einheit, die gleichen göttlichen Impulse, die Eingebungen und Kräfte des Geistes wahrnimmt, die vom gekreuzigten und auferstandenen Christus herkommen; und gerade dafür lebt und wirkt sie. Die Kirche hat kein anderes Leben außer jenem, das ihr von ihrem Bräutigam und Herrn geschenkt wird. In der Tat, weil Christus in seinem Geheimnis der Erlösung sich mit ihr vereint hat, muß auch die Kirche mit jedem Menschen eng verbunden sein.

Diese Vereinigung Christi mit dem Menschen ist in sich selbst ein Geheimnis, aus dem der »neue Mensch« hervorgeht, berufen zur Teilnahme am Leben Gottes, 117 neugeschaffen in Christus zur Fülle der Gnade und Wahrheit. 118 Die Einheit Christi mit dem Menschen ist Kraft und zugleich Quelle der Kraft, nach dem markanten Wort des hl. Johannes im Prolog seines Evangeliums: »Das Wort gab Macht, Kinder Gottes zu werden«. 119 Sie ist die Kraft, die den Menschen innerlich umgestaltet, das Prinzip eines neuen Lebens, das nicht dahinschwindet und vergeht, sondern Dauer hat für das ewige Leben. 120 Dieses Leben, einem jeden Menschen zugesagt und vom Vater angeboten in Jesus Christus, dem ewigen und eingeborenen Sohn, der in der Fülle der Zeit 121 Fleisch geworden und geboren ist aus der Jungfrau Maria, ist die endgültige Erfüllung der Berufung des Menschen. Es ist in gewisser Weise Erfüllung jenes »Schicksals«, das ihm Gott von Ewigkeit her bereitet hat. Dieses »göttliche Schicksal« geht weiter, über alle Rätsel, unbekannte Größen, Umwege und Windungen des »menschlichen Schicksals« in der zeitlichen Welt hinaus. Wenn nämlich all dies, auch bei allem Reichtum des zeitlichen Lebens, mit unvermeidbarer Notwendigkeit an die Grenze des Todes und in die Nähe der Auflösung unseres Leibes führt, dann erscheint uns Christus jenseits dieser Grenze: »Ich bin die Auferstehung und das Leben; wer an mich glaubt, wird in Ewigkeit nicht sterben«. 122 In Jesus Christus, der gekreuzigt und begraben wurde und wieder auferstanden ist, »erstrahlt uns die Hoffnung, daß wir zur Seligkeit auferstehn..., die Verheißung der künftigen Unsterblichkeit«, 123 auf die der Mensch durch den Tod des Leibes zugeht, da er mit der ganzen sichtbaren Schöpfung demselben Zwang unterliegt, dem die Materie unterworfen ist. Wir beabsichtigen und versuchen, den Aussagegehalt jener Wahrheit immer mehr zu vertiefen, die der Erlöser des Menschen in dem Satz ausgedrückt hat: »Der Geist ist es, der Leben schafft, das Fleisch nützt nichts«. 124 Diese Worte drücken entgegen allem Anschein die höchste Bejahung des Menschen aus: die Bejahung des Leibes, den der Geist lebendig macht!

Die Kirche lebt diese Wirklichkeit, sie lebt aus dieser Wahrheit über den Menschen, die ihr erlaubt, die Grenzen der Zeitlichkeit zu überschreiten und gleichzeitig mit besonderer Liebe und Sorge an all das zu denken, was in den Dimensionen dieser Zeitlichkeit das Leben des Menschen und des menschlichen Geistes entscheidend prägt, in dem sich nach den Worten des hl. Augustinus jene immerwährende Unruhe bekundet: »Du hast uns, o Herr, für dich geschaffen, und unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir«. 125 In dieser schöpferischen Unruhe schlägt und pulsiert das, was zutiefst menschlich ist: die Suche nach der Wahrheit, der unstillbare Durst nach dem Guten, der Hunger nach Freiheit, die Sehnsucht nach dem Schönen, die Stimme des Gewissens. Die Kirche, die versucht, den Menschen gleichsam mit »den Augen Christi selbst« zu betrachten, wird sich immer mehr bewußt, die Hüterin eines großen Schatzes zu sein, den sie nicht vergeuden darf, sondern vielmehr ständig mehren muß. In der Tat hat Christus gesagt: »Wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut«. 126 Dieser Schatz der Menschheit, der durch das unausprechliche Geheimnis der Gotteskindschaft, 127 der gnadenhaften Annahme an Kindes Statt 128 im eingeborenen Sohn Gottes noch reicher geworden ist, durch dessen Vermittlung wir zu Gott »Abba, Vater« 129 sagen, ist zugleich eine gewaltige Kraft, die die Kirche vor allem von innen her eint und ihrer ganzen Tätigkeit Sinn verleiht. Durch diese Kraft vereint sich die Kirche mit dem Geist Christi, mit jenem Heiligen Geist, den der Erlöser versprochen hatte, der sich beständig mitteilt und dessen Herabkunft am Pfingstfest offenbar geworden ist und für immer fortdauert. So offenbaren sich in den Menschen die Kräfte des Geistes, 130 die Gaben des Geistes, 131 die Früchte des Heiligen Geistes. 132 Die Kirche unserer Zeit scheint mit immer größerem Eifer inständig und beharrlich zu wiederholen: »Komm, Heiliger Geist!« Komm! Komm! »Was befleckt ist, wasche rein! Dürrem gieße Leben ein! Heile du, wo Krankheit quält! Löse, was in sich erstarrt! Wärme du, was kalt und hart! Lenke, was den Weg verfehlt!«. 133

Dieses inständige Gebet zum Geist und um den Geist zu empfangen, ist die Antwort auf alle »Materialismen« unserer Epoche. Sie sind es ja, die so viele Formen unstillbarer Sehnsucht in unserem Herzen hervorrufen. Diesen Gebetsruf kann man an verschiedenen Stellen hören, und es scheint, daß er auch auf verschiedene Weise Frucht bringt. Kann man also sagen, daß die Kirche mit diesem Gebet nicht allein ist? Ja, das kann man, weil »das Bedürfnis« nach dem Spirituellen auch bei Personen Ausdruck findet, die außerhalb der sichtbaren Grenzen der Kirche stehen. 134 Wird dies nicht auch von jener Wahrheit über die Kirche bestätigt, die vom letzten Konzil in der Dogmatischen Konstitution Lumen Gentium mit solcher Klarheit hervorgehoben wurde, indem es lehrt, daß die Kirche »gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit« ist? 135 Diese Anrufung des Geistes und im Geist ist nichts anderes als ein beständiges Sichvertiefen in die volle Dimension des Geheimnisses der Erlösung, in der Christus, vereint mit dem Vater und mit jedem Menschen, uns ständig jenen Geist mitteilt, der in uns das Bewußtsein von Söhnen erzeugt und uns zum Vater hinlenkt. 136 Deswegen muß sich die Kirche unserer Zeit - einer Zeit, die besonders nach dem Geist hungert, weil sie hungert nach Gerechtigkeit und Frieden, nach Liebe und Güte, nach Starkmut und Verantwortung, nach Menschenwürde - auf jenes Geheimnis konzentrieren und sich in ihm versammeln, damit sie darin das Licht und die unentbehrliche Kraft für die eigene Sendung empfängt. Wenn der Mensch - wie schon früher gesagt worden ist - wirklich der Weg des täglichen Lebens der Kirche ist, dann muß diese sich der Würde der Gotteskindschaft, die der Mensch in Christus durch die Gnade des Heiligen Geistes 137 erhält, und seiner Bestimmung zur Gnade und zur Herrlichkeit immer bewußt sein. 138 Indem die Kirche all dies immer neu bedenkt und es sich mit immer bewußterem Glauben und mit immer stärkerer Liebe zu eigen macht, wird sie gleichzeitig fähiger für jenen Dienst am Menschen, zu dem Christus, der Herr, sie beruft, wenn er sagt: »Der Menschensohn... ist nicht gekommen, sich bedienen zu lassen, sondern zu dienen«. 139 Die Kirche verwirklicht diesen Auftrag, indem sie teilnimmt »am dreifachen Amt«, das ihr Meister und Erlöser selbst innehat. Diese Lehre, zusammen mit ihrer biblischen Begründung, ist vom II. Vatikanischen Konzil zum großen Nutzen für das Leben der Kirche wieder leuchtend herausgestellt worden. Denn wenn wir uns der Teilnahme und der dreifachen Sendung Christi, an seinem dreifachen Amt - dem Priester-, Propheten- und Königsamt 140 - bewußt werden, verstehen wir gleichzeitig besser, welches der Dienst der ganzen Kirche als Gesellschaft und Gemeinschaft des Volkes Gottes auf Erden ist, und verstehen ebenfalls, worin die Teilnahme eines jeden von uns an dieser Sendung und an diesem Dienst bestehen muß.


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19. Die Verantwortung der Kirche für die Wahrheit

Im Licht der feierlich verkündeten Lehre des II. Vatikanischen Konzils steht uns die Kirche als die Gemeinschaft vor Augen, die für die göttliche Wahrheit verantwortlich ist. In tiefer Ergriffenheit hören wir Christus selbst sprechen: »Das Wort, das ihr hört, ist nicht mein Wort, sondern das des Vaters, der mich gesandt hat«. 141 Wird uns nicht in dieser Aussage unseres Herrn die Verantwortung für die geoffenbarte Wahrheit deutlich, die ja Gottes persönliches »Eigentum« ist, wenn selbst er, »der eingeborene Sohn«, der »am Herzen des Vaters ruht«, 142 es für notwendig hält zu betonen, daß er in vollkommener Treue zu seinem göttlichen Ursprung handelt, wenn er diese Wahrheit als Prophet und Meister weitergibt? Die gleiche Treue muß ein wesentlicher Bestandteil des Glaubens der Kirche sein, wenn sie ihn lehrt oder verkündet. Der Glaube, der als eine besondere übernatürliche Tugend dem menschlichen Geist eingegossen ist, läßt uns am Erkennen Gottes teilhaben, wenn wir auf sein geoffenbartes Wort antworten. Darum muß die Kirche, wenn sie den Glauben bekennt und lehrt, sich eng an die göttliche Wahrheit anschließen 143 und sie als den ihr angemessenen Gottesdienst 144 in ihrem Leben ausprägen. Um diese Treue zur göttlichen Wahrheit zu gewährleisten, hat Christus der Kirche den besonderen Beistand des Geistes der Wahrheit verheißen. Er hat jenen die Gabe der Unfehlbarkeit 145 verliehen, die den Auftrag haben, diese Wahrheiten zu verbreiten und zu lehren, 146 wie es schon das I. Vatikanische Konzil 147 klar definiert und dann das II. Vatikanische Konzil 148 wiederholt hat. Das ganze Volk Gottes hat er außerdem mit einem besonderen Glaubenssinn 149 ausgestattet.

So sind wir also Teilhaber an dieser prophetischen Sendung Christi geworden, und aus der Kraft der gleichen Sendung dienen wir zusammen mit ihm der göttlichen Wahrheit in der Kirche. Die Verantwortung für eine solche Wahrheit bedeutet auch, sie zu lieben und möglichst genau zu verstehen zu suchen, damit sie uns selbst und den anderen in all ihrer erlösenden Kraft, in ihrem hellen Glanz, in ihrer Tiefe und zugleich Einfachheit immer vertrauter wird. Diese Liebe und das Verlangen, die Wahrheit besser zu verstehen, müssen zusammengehen, wie die Lebensgeschichten der Heiligen in der Kirche bestätigen. Das wahre Licht, das die göttliche Wahrheit erhellt und uns so die Wirklichkeit Gottes selbst näherbringt, hat immer diejenigen am meisten erleuchtet, die in Ehrfurcht und Liebe dieser Wahrheit begegnet sind: Liebe vor allem zu Christus, dem lebendigen Wort der göttlichen Wahrheit, und dann Liebe zu dessen menschlichem Ausdruck im Evangelium, in der Tradition und in der Theologie. Auch heute brauchen wir vor allem anderen ein solches Verständnis und eine solche Auslegung des Wortes Gottes sowie eine solche Theologie. Die Theologie ist heute, genau so wie früher, sehr wichtig dafür, daß die Kirche, das Volk Gottes, in kreativer und fruchtbarer Weise an der prophetischen Sendung Christi teilnehmen kann. Darum dürfen die Theologen, wenn sie als Diener an der göttlichen Wahrheit sich in ihren Studien und Arbeiten einem immer tiefer eindringenden Verständnis widmen, niemals die Bedeutung ihres Dienstes in der Kirche aus den Augen verlieren, wie sie in dem Begriff »intellectus fidei« (= »verstehender Glaube«) enthalten ist. Dieser Doppelbegriff gilt in zweifacher Richtung nach der Formel »intellege, ut credas - crede, ut intellegas« (= »verstehe, um zu glauben - glaube, um zu verstehen«) 150 und kommt dort voll zum Tragen, wo man dem Lehramt, das in der Kirche den Bischöfen anvertraut ist, die ihrerseits mit dem Nachfolger des Petrus in hierarchischer Einheit verbunden sind, zu dienen sucht und sich ihrer Sorge für die Verkündigung und Pastoral sowie den apostolischen Initiativen des ganzen Gottesvolkes zur Verfügung stellt.

Wie in früheren Epochen so sind auch heute - und heute vielleicht noch dringender - die Theologen und alle Wissenschaftler in der Kirche aufgerufen, den Glauben mit ihrem Wissen und inrer Weisheit zu verbinden, damit diese sich gegenseitig durchdringen können, wie wir es in der Oration zum Fest des hl. Kirchenlehrers Albert lesen. Diese Aufgabe hat sich heute durch den Fortschritt der Wissenschaft, ihrer Methoden und Resultate in der Kenntnis der Welt und des Menschen enorm erweitert. Das betrifft die Naturwissenschaften ebenso wie die Geisteswissenschaften und auch die Philosophie, deren enge Verbindung mit der Theologie das II. Vatikanische Konzil in Erinnerung gerufen hat. 151

In diesem Bereich menschlichen Wissens, der sich fortwährend ausweitet und auffächert, muß sich auch der Glaube beständig vertiefen, indem er auf die Dimension des geoffenbarten Geheimnisses hinweist und sich um das Verständnis der Wahrheit bemüht, die in Gott ihre einzige und höchste Quelle hat. Wenn es auch erlaubt ist - und man sollte es sogar wünschen -, daß bei der Durchführung dieses weiten Arbeitsauftrages eine gewisse Vielfalt an Methoden in Betracht kommt, so darf sich doch diese Tätigkeit nicht von der fundamentalen Einheit in der Verkündigung des Glaubens und der Moral als einem Ziel, das ihr wesentlich ist, entfernen. Darum ist eine enge Zusammenarbeit der Theologie mit dem Lehramt unentbehrlich. Jeder Theologe muß sich in besonderer Weise dessen bewußt sein, was Christus selbst gemeint hat, wenn er sagte: »Das Wort, das ihr hört, ist nicht mein Wort, sondern das des Vaters, der mich gesandt hat«. 152 Niemand darf deshalb aus der Theologie so etwas machen wie eine einfache Sammlung von eigenen persönlichen Auffassungen; sondern jeder muß darauf bedacht sein, in enger Verbindung zu bleiben mit dem Sendungsauftrag, die Wahrheit zu lehren, für die die Kirche verantwortlich ist.

Die Teilnahme am prophetischen Amt Christi formt das Leben der ganzen Kirche von Grund auf. Einen besonderen Anteil an diesem Auftrag haben die Hirten der Kirche, die in die Wahrheit Christi einführen und in beständiger, vielfältiger Weise die Lehre des Glaubens und der christlichen Moral verkündigen und ausbreiten. Diese Glaubensunterweisung - sei es in der Mission sei es unter den Christen selbst - trägt dazu bei, daß das Volk Gottes sich um Christus versammelt; sie bereitet auf die Teilnahme an der Eucharistie vor und gibt die Wege für ein Leben aus der Kraft des Sakramentes an. Die Bischofssynode vom Jahre 1977 hat ihre besondere Aufmerksamkeit der Katechese in der heutigen Welt gewidmet, und die reife Frucht ihrer Beratungen, Erfahrungen und Anregungen wird bald - einem Vorschlag der Teilnehmer der Synode entsprechend - in einem eigenen päpstlichen Dokument erscheinen. Die Katechese ist sicherlich eine dauerhafte und grundlegende Form des Wirkens der Kirche; hierin zeigt sich ihr prophetisches Charisma: Glaubenszeugnis und Unterweisung gehören zusammen. Wenn es hierbei auch in erster Linie um die Priester geht, dürfen wir doch in keiner Weise die große Zahl von Ordensleuten übersehen, die aus Liebe zu Christus in der Katechese tätig sind. Ebenso müssen wir schließlich die zahlreichen Laien erwähnen, die durch solche Tätigkeit den Glauben und ihre apostolische Verantwortung konkret leben.

Wir müssen außerdem dafür Sorge tragen, daß die verschiedenen Formen der Katechese in ihren vielfältigen Bereichen - angefangen bei jener grundlegenden Form, die die Katechese in der Familie darstellt, das heißt die Katechese der Eltern für ihre eigenen Kinder - die breite Teilnahme des ganzen Gottesvolkes am prophetischen Amt Christi aufweisen. So muß, hiermit verbunden, die Verantwortung der Kirche für die göttliche Wahrheit immer mehr und in unterschiedlicher Weise von allen geteilt werden. Wir denken dabei auch an die Fachleute der verschiedenen Disziplinen, an die Vertreter der Natur- und Geisteswissenschaften, an die Ärzte, die Juristen, die Künstler, die Ingenieure, an die Lehrer der verschiedenen Grade und Spezialisierungen. Sie alle haben als Mitglieder des Volkes Gottes ihren eigenen Anteil an der prophetischen Sendung Christi, an seinem Dienst für die göttliche Wahrheit. Das gilt schon für ihre lautere Einstellung zu jeglicher Wahrheit und immer dann, wenn sie andere zur Wahrheit erziehen und sie lehren, in der Liebe und Gerechtigkeit zu reifen. So stellt das Verantwortungsbewußtsein für die Wahrheit eine der wichtigsten Stellen dar, wo die Kirche jedem Menschen begegnen kann, und ist zugleich eine wesentliche Anforderung, die die Berufung des Menschen in der Gemeinschaft der Kirche bestimmt. Angeleitet vom Bewußtsein, für die Wahrheit verantwortlich zu sein, muß die Kirche unserer Tage ihrer eigenen Natur treu bleiben, zu der die prophetische Sendung gehört, die von Christus selbst herstammt: »Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch.... Empfangt den Heiligen Geist«. 153



Redemptor hominis 16