Redemptoris Mater 15


15 Als Maria bei der Verkündigung vom Sohn sprechen hört, dessen Mutter sie werden und dem sie »den Namen Jesus (= Erlöser) geben soll«, erfährt sie auch, daß ihrem Sohn »der Herr den Thron seines Vaters David geben wird«, daß er »über das Haus Jakob in Ewigkeit herrschen und seine Herrschaft kein Ende haben wird« (Lc 1,32-33). In diese Richtung ging die Hoffnung ganz Israels. Der verheißene Messias sollte »groß« sein, und auch der himmlische Bote verkündet, daß er »groß sein wird« - groß, sei es durch den Namen Sohn des Höchsten, sei es durch die Übernahme von Davids Erbe. Er soll also König sein und »über das Haus Jakob« herrschen. Konnte Maria, die inmitten dieser Erwartungen ihres Volkes aufgewachsen ist, im Augenblick der Verkündigung erfassen, welche wesentliche Bedeutung diese Worte des Engels haben? Wie soll man jenes »Reich« verstehen, das »kein Ende« haben wird?

Wenn sie sich auch in jenem Augenblick durch ihren Glauben als Mutter des »Messias-König« fühlte, so antwortete sie doch: »Ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe, wie du es gesagt hast« (Lc 1,38). Vom ersten Augenblick an hat Maria den »Gehorsam des Glaubens« bekannt, indem sie sich der geheimnisvollen Bedeutung überantwortete, die jenen Worten der Verkündigung derjenige gegeben hat, von dem sie kamen: Gott selbst.


16 Auf dem Weg dieses »Gehorsams des Glaubens« hört Maria etwas später noch andere Worte, die im Tempel von Jerusalem ausgesprochen werden. Es war der vierzigste Tag nach der Geburt Jesu, als Maria und Josef nach der Vorschrift des mosaischen Gesetzes »das Kind nach Jerusalem hinaufbrachten, um es dem Herrn zu weihen« (Lc 2,22). Die Geburt war in größter Armut erfolgt. Wir wissen ja von Lukas, daß Maria, als sie sich anläßlich der von der römischen Obrigkeit angeordneten Volkszählung mit Josef nach Betlehem begab und sich »in der Herberge kein Platz« für sie fand, ihren Sohn in einem Stall geboren hat und »ihn in eine Krippe legte« (vgl. Lc 2,7).

Ein gerechter und gottesfürchtiger Mann namens Simeon erscheint an jenem Beginn des Glaubensweges Marias. Seine Worte, die vom Heiligen Geist eingegeben wurden (vgl. Lc 2,25-27), bestätigen einerseits die Wahrheit der Verkündigung. Wir lesen nämlich, daß er das Kind »in seine Arme nahm«, dem - nach dem Auftrag des Engels - »der Name Jesus gegeben worden war« (vgl. Lc 2,21). Die Rede Simeons entspricht dem Inhalt dieses Namens, der Heiland bedeutet: »Gott ist Heil«. Zum Herrn gewandt, sagt er: »Meine Augen haben das Heil gesehen, das du vor allen Völkern bereitet hast, ein Licht, das die Heiden erleuchtet, und Herrlichkeit für dein Volk Israel« (Lc 2,30 Lc 2,32). Zugleich aber wendet sich Simeon auch an Maria mit den folgenden Worten: »Dieser ist dazu bestimmt, daß viele in Israel durch ihn zu Fall kommen und viele aufgerichtet werden, und er wird ein Zeichen sein, dem widersprochen wird. Dadurch sollen die Gedanken vieler Menschen offenbar werden«. Und mit direktem Bezug auf Maria fügt er hinzu: »Dir selbst aber wird ein Schwert durch die Seele dringen« (vgl. Lc 2,34 Lc 2,35). Die Worte Simeons werfen auf die Verkündigung, die Maria vom Engel gehört hat, ein neues Licht: Jesus ist der Heiland, er ist »Licht«, das die Menschen »erleuchtet«. Ist es nicht das, was sich in gewisser Weise in der Nacht von Weihnachten offenbart hat, als die Hirten zum Stall gekommen sind? (vgl. Lc 2,8-20). Ist es nicht das, was sich noch deutlicher im Kommen der Weisen aus dem Morgenland kundtun sollte? (vgl. Mt 2,1-12). Zugleich aber wird der Sohn Marias schon am Anfang seines Lebens - und mit ihm seine Mutter - auch die Wahrheit der anderen Worte Simeons an sich erfahren: »Zeichen, dem widersprochen wird« (Lc 2,34). Dieses Wort Simeons erscheint wie eine zweite Verkündigung an Maria; denn es zeigt ihr die konkrete geschichtliche Dimension, in der ihr Sohn seine Sendung ausführen wird, nämlich im Unverständnis und im Leid. Wenn eine solche Ankündigung einerseits ihren Glauben an die Erfüllung der göttlichen Heilsverheißungen bestätigt, so offenbart sie andererseits auch, daß Maria ihren Glaubensgehorsam im Leid leben muß, an der Seite des leidenden Heilandes, und daß ihre Mutterschaft umschattet und schmerzenreich sein wird. Und in der Tat, schon nach dem Besuch der Weisen, nach ihrer Ehrenbezeugung ( »sie fielen nieder und huldigten ihm« ), nach der Übergabe der Geschenke (vgl. Mt 2,11) muß Maria zusammen mit ihrem Kind unter dem sorgenden Schutz Josefs nach Ägypten fliehen; denn »Herodes suchte das Kind, um es zu töten« (vgl. Mt 2,13). Und bis zum Tode des Herodes werden sie in Ägypten bleiben müssen (vgl. Mt 2,15).


17 Als die heilige Familie nach dem Tode des Herodes nach Nazaret zurückkehrt, beginnt die lange Periode ihres verborgenen Lebens. Diejenige, »die geglaubt hat, daß sich erfüllt, was der Herr ihr sagen ließ« (Lc 1,45), lebt jeden Tag den Inhalt dieser Worte. Täglich ist an ihrer Seite der Sohn, dem sie »den Namen Jesus gegeben hat«; gewiß benutzte sie im Umgang mit ihm diesen Namen, der übrigens bei niemandem Verwunderung erregen konnte, da er seit langer Zeit in Israel gebräuchlich war. Dennoch weiß Maria, daß jener, der den Namen Jesus trägt, vom Engel »Sohn des Höchsten« genannt worden ist (vgl. Lc 1,32). Maria weiß, daß sie ihn empfangen und geboren hat, »ohne einen Mann zu erkennen«, durch den Heiligen Geist, durch die Kraft des Höchsten, die sie überschattet hat (vgl. Lc 1,35), so wie die Wolke zur Zeit des Mose und der Väter die Gegenwart Gottes umhüllte (vgl. Ex 24,16 Ex 40,34-35 1R 8,10-12). Maria weiß also, daß der Sohn, der von ihr auf diese Weise jungfräulich geboren worden ist, eben jener »Heilige«, »der Sohn Gottes« ist, von dem der Engel gesprochen hat.

Während der Jahre des verborgenen Lebens Jesu im Haus von Nazaret ist auch das Leben Marias »mit Christus verborgen in Gott« (vgl. Col 3,3) durch den Glauben. Der Glaube ist nämlich eine Berührung mit dem Geheimnis Gottes. Maria ist ständig, täglich in Berührung mit dem unaussprechlichen Geheimnis Gottes, der Mensch geworden ist, einem Geheimnis, das alles übersteigt, was im Alten Bund offenbart worden ist. Seit dem Augenblick der Verkündigung ist der Geist der Jungfrau und Mutter in die völlige »Neuheit« der Selbstoffenbarung Gottes eingeführt und sich dieses Geheimnisses bewußt geworden. Sie ist die erste jener »Kleinen«, von denen Jesus eines Tages sagen wird: »Vater,... du hast all das den Weisen und Klugen verborgen, den Unmündigen aber offenbart« (Mt 11,25). Denn »niemand kennt den Sohn, nur der Vater« (Mt 11,27). Wie kann also Maria »den Sohn kennen«? Natürlich kennt sie ihn nicht wie der Vater. Und doch ist sie die erste unter denen, denen der Vater »ihn hat offenbaren wollen« (vgl. Mt 11,26-27 1Co 2,11). Wenn Maria aber vom Augenblick der Verkündigung an der Sohn offenbart worden ist, von dem nur der Vater die volle Wahrheit kennt als derjenige, der ihn im ewigen »Heute« zeugt (vgl. Ps 2,7), so ist sie, die Mutter, mit der Wahrheit ihres Sohnes nur im Glauben und durch den Glauben in Berührung! Sie ist also selig, weil sie »geglaubt hat« und jeden Tag glaubt inmitten der Prüfungen und Widerwärtigkeiten in der Zeit der Kindheit Jesu und dann während der Jahre seines verborgenen Lebens in Nazaret, wo Jesus »ihnen gehorsam war« (Lc 2,51): gehorsam Maria und auch Josef gegenüber, weil dieser vor den Menschen die Stelle des Vaters vertrat; deswegen wurde der Sohn Marias von den Leuten als »der Sohn des Zimmermanns« angesehen (Mt 13,55).

Die Mutter jenes Sohnes, eingedenk all dessen, was ihr bei der Verkündigung und den nachfolgenden Begebenheiten gesagt worden ist, trägt also die völlige »Neuheit« des Glaubens in sich: den Anfang des Neuen Bundes. Dieser ist der Anfang des Evangeliums, der guten, frohen Botschaft. Es ist aber nicht schwer, in jenem Anfang auch eine besondere Mühe des Herzens zu erkennen, die mit einer gewissen »Glaubensnacht« verbunden ist - um ein Wort des hl. Johannes vom Kreuz zu gebrauchen -, gleichsam ein »Schleier«, durch den hindurch man sich dem Unsichtbaren nahen und mit dem Geheimnis in Vertrautheit leben muß.36 Auf diese Weise lebte Maria viele Jahre in Vertrautheit mit dem Geheimnis ihres Sohnes und schritt voran auf ihrem »Glaubensweg«, während Jesus »an Weisheit zunahm und Gefallen fand bei Gott und den Menschen« (Lc 2,52). Immer mehr offenbarte sich vor den Augen der Menschen die besondere Liebe, die Gott für ihn hatte. Die erste unter diesen menschlichen Geschöpfen, die Christus immer tiefer erkennen durften, war Maria, die mit Josef im selben Haus in Nazaret lebte.

Als die Eltern den zwölfjährigen Jesus im Tempel wiederfanden und seine Mutter ihn fragte: »Wie konntest du uns das antun«, antwortete dieser: »Wußtet ihr nicht, daß ich in dem sein muß, was meinem Vater gehört?«. Aber der Evangelist fügt hinzu: »Doch sie (Josef und Maria) verstanden nicht, was er damit sagen wollte« (Lc 2,48-50). Jesus war sich also bewußt, daß »den Sohn nur der Vater kennt« (vgl. Mt 11,27). Sogar diejenige, der das Geheimnis seiner göttlichen Sohnschaft tiefer offenbart worden war, seine Mutter, lebte nur durch den Glauben in Vertrautheit mit diesem Geheimnis! An der Seite ihres Sohnes, unter demselben Dach, »bewahrte sie die Verbundenheit mit dem Sohn in Treue« und schritt voran »auf dem Pilgerweg des Glaubens«, wie es das Konzil unterstreicht.37 So tat sie es auch während des öffentlichen Lebens Christi (vgl. Mc 3,21-35), wobei sich an ihr täglich die Seligpreisung erfüllte, die bei ihrem Besuch von Elisabet ausgesprochen worden war: »Selig ist, die geglaubt hat«.


18 Diese Seligpreisung erreicht ihre volle Bedeutung, als Maria unter dem Kreuze ihres Sohnes steht (vgl. Jn 19,25). Das Konzil betont, daß das »nicht ohne göttliche Absicht« geschah: Dadurch daß Maria »heftig mit ihrem Eingeborenen litt und sich mit seinem Opfer in mütterlichem Geist verband, indem sie der Darbringung des Opfers, das sie geboren hatte, liebevoll zustimmte«, bewahrte sie «ihre Verbundenheit mit dem Sohn in Treue bis zum Kreuz«:38 die Verbundenheit durch den Glauben, denselben Glauben, mit dem es ihr möglich geworden war, im Augenblick der Verkündigung die Offenbarung des Engels anzunehmen. Sie hatte damals auch die Worte vernommen: »Er wird groß sein... Der Herr wird ihm den Thron seines Vaters David geben. Er wird über das Haus Jakob in Ewigkeit herrschen, und seine Herrschaft wird kein Ende haben« (Lc 1,32-33).

Und nun, zu Füßen des Kreuzes, ist Maria, menschlich gesprochen, Zeuge einer völligen Verneinung dieser Worte. Ihr Sohn stirbt an jenem Holze wie ein Ausgestoßener. »Er wurde verachtet und von den Menschen gemieden, ein Mann voller Schmerzen ...; er war verachtet, und man schätzte ihn nicht«: fast völlig vernichtet (vgl. Is 53,3-5). Wie groß, wie heroisch ist somit »der Gehorsam des Glaubens«, den Maria angesichts dieser »unergründlichen Entscheidungen« Gottes zeigt. Wie hat sie sich ohne Vorbehalt »Gott überantwortet«, indem sie sich demjenigen »mit Verstand und Willen voll unterwirft«,39 dessen »Wege unerforschlich sind« (vgl. Rm 11,33)! Und wie mächtig ist zugleich das Wirken der Gnade in ihrer Seele, wie durchdringend der Einfluß des Heiligen Geistes, seines Lichtes und seiner Kraft.

Durch diesen Glauben ist Maria vollkommen mit Christus in seiner Entäußerung verbunden. Denn obwohl Jesus Christus »Gott gleich war, hielt er nicht daran fest ..., sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich«: Gerade hier auf Golgota »erniedrigte er sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz« (vgl. Ph 2,8). Und am Fuß des Kreuzes nahm Maria durch den Glauben teil an dem erschütternden Geheimnis dieser Entäußerung. Dies ist vielleicht die tiefste »kenosis« (Entäußerung)des Glaubens in der Geschichte des Menschen: Durch den Glauben nimmt Maria teil am Tod des Sohnes - an seinem Erlösertod. Im Gegensatz zum Glauben der Jünger, die flohen, besaß sie aber einen erleuchteteren Glauben. Durch das Kreuz hat Jesus auf Golgota endgültig bestätigt, daß er das »Zeichen ist, dem widersprochen wird«, wie Simeon vorhergesagt hatte. Gleichzeitig haben sich dort auch jene Worte erfüllt, die dieser an Maria gerichtet hatte: »Dir selbst aber wird ein Schwert durch die Seele dringen«.40


19 In der Tat, wahrhaft »selig ist, die geglaubt hat«! Diese erhabenen Worte, die Elisabet nach der Verkündigung gesprochen hat, scheinen hier, zu Füßen des Kreuzes, in ihrer dichtesten Bedeutung widerzuhallen, und die in ihnen enthaltene Kraft wird überwältigend. Vom Kreuz, sozusagen von der Herzmitte des Geheimnisses der Erlösung, geht ein Lichtstrahl aus und erweitert den Horizont jener Seligpreisung des Glaubens. Sie reicht »bis zum Anfang« zurück und wird in gewissem Sinn das Gegengewicht zum Ungehorsam und Unglauben, die in der Sünde der Stammeltern enthalten sind. So lehren die Kirchenväter und vor allem Irenäus, der von der Konstitution »Lumen gentium« zitiert wird: »Der Knoten des Ungehorsams der Eva ist gelöst worden durch den Gehorsam Marias; was die Jungfrau Eva durch den Unglauben gebunden hat, das hat die Jungfrau Maria durch den Glauben gelöst«.41 Im Licht dieses Vergleiches mit Eva nennen die Väter - wie das Konzil weiter sagt - Maria »die Mutter der Lebendigen« und betonen oft: »Der Tod kam durch Eva, das Leben durch Maria«.42

Mit Recht können wir also in jenem Satz »Selig ist, die geglaubt hat« gleichsam einen Schlüssel suchen, der uns die innerste Wirklichkeit Marias erschließt: derjenigen, die der Engel im Augenblick der Verkündigung als »voll der Gnade« bezeichnet hat. Wenn sie als die »Begnadete« seit Ewigkeit im Geheimnis Christi gegenwärtig gewesen ist, so erhält sie durch den Glauben in vollem Umfang Anteil an seinem irdischen Lebensweg: Sie schritt voran auf dem »Pilgerweg des Glaubens«. Zugleich macht sie auf diskrete, aber unmittelbare und wirksame Weise dieses Geheimnis Christi für die Menschen gegenwärtig. Und sie tut dies noch immer und ist durch das Geheimnis Christi auch selbst unter den Menschen zugegen.

3. Siehe, deine Mutter


20 Das Lukasevangelium berichtet von der Begebenheit, da »eine Frau aus der Menge Jesus zurief: Selig die Frau, deren Leib dich getragen und deren Brust dich genährt hat!« (Lc 11,27). Diese Worte sind ein Lob für Maria als leibliche Mutter Jesu. Die Mutter Jesu war dieser Frau vielleicht nicht persönlich bekannt; als Jesus nämlich seine messianische Tätigkeit begann, hat ihn Maria nicht begleitet, sondern blieb weiterhin in Nazaret. Man könnte sagen, daß die Worte jener unbekannten Frau sie in gewisser Weise aus ihrer Verborgenheit haben heraustreten lassen.

Durch jene Worte ist in der Menge, wenigstens für einen Augenblick, das Evangelium von der Kindheit Jesu aufgeleuchtet. Es ist das Evangelium, in dem Maria gegenwärtig ist als die Mutter, die Jesus in ihrem Schoß empfängt, ihn zur Welt bringt und mütterlich stillt: die stillende Mutter, auf die jene Frau aus der Menge anspielt. Durch diese Mutterschaft ist Jesus - der Sohn des Höchsten (vgl. Lc 1,32) - ein wahrer Menschensohn. Er ist »Fleisch« wie jeder Mensch: »Das Wort ist Fleisch geworden« (vgl. Jn 1,14). Er ist Fleisch und Blut Marias!43

Auf die Seligpreisung, die jene Frau gegenüber seiner leiblichen Mutter ausspricht, antwortet Jesus jedoch auf bezeichnende Weise: »Selig sind vielmehr die, die das Wort Gottes hören und es befolgen« (Lc 11,28). Er will die Aufmerksamkeit von der als leibliche Bindung verstandenen Mutterschaft ablenken, um auf jene geheimnisvollen geistigen Bande hinzuweisen, die sich im Hören und Befolgen des Wortes Gottes bilden.

Derselbe Verweis auf den Bereich der geistigen Werte zeigt sich noch deutlicher in einer anderen Antwort Jesu, die von allen Synoptikern berichtet wird. Als Jesus gemeldet wird, daß seine »Mutter und seine Brüder draußen stehen und ihn sprechen möchten«, antwortet er: »Meine Mutter und meine Brüder sind die, die das Wort Gottes hören und danach handeln« (vgl. Lc 8,20-21). Das sagte er, indem er »auf die Menschen blickte, die im Kreis um ihn herumsaßen« wie wir bei Markus lesen (3, 34), nach Matthäus (12, 49), indem »er die Hand über seine Jünger ausstreckte«.

Diese Aussagen scheinen auf der Linie dessen zu liegen, was der zwölfjährige Jesus zu Maria und Josef gesagt hat, als sie ihn nach drei Tagen im Tempel von Jerusalem fanden.

Nun, da Jesus Nazaret verließ und sein öffentliches Leben in ganz Palästina begann, war er bereits vollkommen und ausschließlich mit dem beschäftigt, »was seinem Vater gehört« (vgl. Lc 2,49). Er verkündete das Reich Gottes: »Reich Gottes« und »Dinge des Vaters« sind auch eine neue Dimension und eine neue Sinngebung für all das, was menschlich ist, und somit auch für jede menschliche Bindung hinsichtlich der Ziele und Aufgaben, die jedem Menschen gestellt sind. In dieser neuen Dimension bedeutet auch eine Bindung wie jene der »Brüderlichkeit« etwas anderes als das »Brudersein nach dem Fleisch«, das durch die gemeinsame Abstammung von denselben Eltern bestimmt wird. Und sogar die »Mutterschaft« erhält in der Dimension des Reiches Gottes, im Licht der Vaterschaft Gottes selbst, einen anderen Sinn. Mit den von Lukas berichteten Worten lehrt Jesus genau diesen neuen Sinn der Mutterschaft.

Entfernt er sich damit von derjenigen, die seine Mutter, seine leibliche Mutter, ist? Will er sie etwa im Schatten der Verborgenheit lassen, die sie selber gewählt hat? Wenn es auch nach dem Klang der Worte so scheinen könnte, so muß man doch feststellen, daß die neue und andere Mutterschaft, von der Jesus zu den Jüngern spricht, in einer ganz besonderen Weise gerade auf Maria zutrifft. Ist nicht gerade Maria die erste unter denen, »die das Wort Gottes hören und danach handeln«? Und bezieht sich nicht vor allem auf sie jene Seligpreisung, die von Jesus als Antwort auf die Worte der »Frau aus der Menge« ausgesprochen wird? Ohne Zweifel ist Maria dieser Seligpreisung würdig schon aufgrund der Tatsache, daß sie für Jesus die Mutter nach dem Fleisch geworden ist (»Selig die Frau, deren Leib dich getragen und deren Brust dich genährt hat«), aber auch und vor allem deswegen, weil sie schon im Augenblick der Verkündigung das Wort Gottes angenommen hat, weil sie ihm geglaubt hat, weil sie Gott gegenüber gehorsam war, weil sie das Wort »bewahrte« und »es in ihrem Herzen erwog« (vgl. Lc 1,38 Lc 1,45 Lc 2,19 Lc 2,51) und es mit ihrem ganzen Leben verwirklichte. Wir können deshalb sagen, daß die von Jesus ausgesprochene Seligpreisung trotz des Anscheins nicht im Gegensatz zu jener Seligpreisung steht, die von der »Frau aus der Menge« ausgerufen worden ist, sondern daß sich beide in der Person jener Mutter und Jungfrau begegnen, die allein sich als »Magd des Herrn« bezeichnet hat (Lc 1,38). Wenn es wahr ist, daß »alle Geschlechter sie seligpreisen« (vgl. Lc 1,48), kann man sagen, daß jene unbekannte »Frau aus der Menge« die erste gewesen ist, die ohne ihr Wissen jenen prophetischen Vers von Marias Magnifikat bestätigt und selbst das Magnifikat der Jahrhunderte eröffnet hat.

Wenn Maria durch den Glauben die leibliche Mutter des ewigen Sohnes geworden ist, der ihr in der Kraft des Heiligen Geistes vom Vater gegeben worden ist, wobei sie ihre Jungfräulichkeit unversehrt bewahrte, so hat sie in demselben Glauben die andere Dimension der Mutterschaft entdeckt und angenommen, die von Jesus während seiner messianischen Sendung offenbart worden ist. Man kann sagen, daß diese Dimension der Mutterschaft schon von Anfang an, das heißt vom Augenblick der Empfängnis und Geburt ihres Sohnes an, Maria zu eigen war. Von da an war sie diejenige, »die geglaubt hat«. Als sich aber allmählich vor ihren Augen und in ihrem Geiste die messianische Sendung des Sohnes klärte, öffnete sie selbst sich als Mutter immer mehr jener »Neuheit« der Mutterschaft, welche ihren »Anteil« an der Seite des Sohnes darstellen sollte. Hatte sie nicht von Anfang an gesagt: »Ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe, wie du es gesagt hast« (Lc 1,38)? Im Glauben fuhr sie fort, jenes Wort zu hören und zu bedenken, in dem ihr in einer Weise, »die alle Erkenntnis übersteigt« (Ep 3,19), die Selbstoffenbarung des lebendigen Gottes immer offenkundiger wurde. Maria, die Mutter, wurde so in gewissem Sinn die erste »Jüngerin« ihres Sohnes, die erste, der er zu sagen schien: »Folge mir nach«, noch bevor er diesen Ruf an die Apostel oder an jemand anderen richtete (vgl. Jn 1,43).


21 Besonders beredt ist unter diesem Gesichtspunkt der Text des Johannesevangeliums, der uns Maria bei der Hochzeit zu Kana zeigt. Maria erscheint hier als Mutter Jesu am Beginn seines öffentlichen Lebens: »Es fand eine Hochzeit in Kana in Galiläa statt, und die Mutter Jesu war dabei. Auch Jesus und seine Jünger waren zur Hochzeit eingeladen« (Jn 2,1-2). Aus dem Text könnte man schließen, daß Jesus und seine Jünger zusammen mit Maria eingeladen waren, gleichsam wegen ihrer Anwesenheit bei diesem Fest: Der Sohn scheint wegen der Mutter eingeladen zu sein. Die Folge der mit dieser Einladung verbundenen Ereignisse ist bekannt, jener »Anfang der Zeichen« Jesu - die Verwandlung des Wassers in Wein -, der den Evangelist sagen läßt: Jesus »offenbarte seine Herrlichkeit, und seine Jünger glaubten an ihn« (Jn 2,11).

Maria ist zu Kana in Galiläa als Mutter Jesu anwesend und trägt in bezeichnender Weise zu jenem »Anfang der Zeichen« bei, die die messianische Kraft ihres Sohnes offenbaren: »Als der Wein ausging, sagte die Mutter Jesu zu ihm: Sie haben keinen Wein mehr. Jesus erwiderte ihr: Was willst du von mir, Frau? Meine Stunde ist noch nicht gekommen« (Jn 2,3-4). Im Johannesevangelium bezeichnet jene »Stunde« den vom Vater bestimmten Augenblick, in welchem der Sohn sein Werk erfüllt und verherrlicht werden soll (vgl. Jn 7,30 Jn 8,20 Jn 12,23 Jn 12,27 Jn 13,1 Jn 17,1 Jn 19,27). Obwohl die Antwort Jesu an seine Mutter scheinbar wie eine Zurückweisung klingt (vor allem, wenn man weniger seine Frage als vielmehr die entschiedene Feststellung beachtet: »Meine Stunde ist noch nicht gekommen«), wendet sich Maria dennoch an die Diener und sagt zu ihnen: »Was er euch sagt, das tut« (Jn 2,5). Darauf befiehlt Jesus den Dienern, die Krüge mit Wasser zu füllen, und das Wasser wird zu Wein, besser als jener, der zuerst den Gästen des Hochzeitsmahles serviert worden ist.

Welch tiefes Einverständnis gab es zwischen Jesus und seiner Mutter? Wie soll man das Geheimnis ihrer inneren geistigen Einheit erforschen? Das Geschehen selbst aber ist deutlich. Es ist gewiß, daß sich in jenem Ereignis schon recht klar die neue Dimension, der neue Sinn der Mutterschaft Marias abzeichnet. Sie hat eine Bedeutung, die nicht ausschließlich in den Worten Jesu und in den verschiedenen Ereignissen enthalten ist, wie sie die Synoptiker berichten (Lc 11,27-28 Lc 8,19-21 Mt 12,46-50 Mc 3,31-35). In diesen Texten will Jesus vor allem die Mutterschaft, die sich aus der Geburt selbst ergibt, dem gegenüberstellen, was jene »Mutterschaft« (wie die »Bruderschaft«) in der Dimension des Gottesreiches, im Heilsbereich der Vaterschaft Gottes sein soll. Im johanneischen Text hingegen zeichnet sich in der Darstellung des Ereignisses von Kana ab, was sich konkret als neue Mutterschaft nach dem Geist und nicht nur aus dem Fleisch erweist, nämlich die Sorge Marias für die Menschen, ihre Hinwendung zu ihnen in der ganzen Breite ihrer Bedürfnisse und Nöte. Zu Kana in Galiläa wird nur ein konkreter Aspekt der menschlichen Bedürftigkeit gezeigt, scheinbar nur klein und von geringer Bedeutung (»Sie haben keinen Wein mehr«). Aber er hat symbolischen Wert: Jene Hinwendung zu den Bedürfnissen der Menschen bedeutet zugleich, sie in den Bereich der messianischen Sendung und erlösenden Macht Christi zu führen. Es liegt also eine Vermittlung vor: Maria stellt sich zwischen ihren Sohn und die Menschen in der Situation ihrer Entbehrungen, Bedürfnisse und Leiden. Sie stellt sich »dazwischen«, das heißt, sie macht die Mittlerin, nicht wie eine Fremde, sondern in ihrer Stellung als Mutter, und ist sich bewußt, daß sie als solche dem Sohn die Nöte der Menschen vortragen kann, ja sogar das »Recht« dazu hat. Ihre Vermittlung hat also den Charakter einer Fürsprache: Maria »spricht für« die Menschen. Nicht nur das: Als Mutter möchte sie auch, daß sich die messianische Macht des Sohnes offenbart, nämlich seine erlösende Kraft, die darauf gerichtet ist, dem Menschen im Unglück zur Hilfe zu eilen, ihn vom Bösen zu befreien, das in verschiedenen Formen und Maßen auf seinem Leben lastet. Ganz wie es der Prophet Jesaja in dem berühmten Text, auf den sich Jesus vor seinen Landsleuten in Nazaret berufen hat, vom Messias angekündet hatte: »... den Armen eine gute Nachricht bringen, den Gefangenen die Entlassung verkünden und den Blinden das Augenlicht...« (vgl. Lc 4,18).

Ein anderes wesentliches Element dieser mütterlichen Aufgabe Marias kommt in den Worten an die Diener zum Ausdruck: »Was er euch sagt, das tut«. Die Mutter Christi zeigt sich vor den Menschen als Sprecherin für den Willen des Sohnes, als Wegweiserin zu jenen Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit sich die erlösende Macht des Messias offenbaren kann. Wegen der Fürsprache Marias und dem Gehorsam der Diener läßt Jesus in Kana »seine Stunde« beginnen. In Kana zeigt Maria ihren Glauben an Jesus: Ihr Glaube führt zum ersten »Zeichen« und trägt dazu bei, den Glauben der Jünger zu wecken.


22 Wir können also sagen, daß wir in diesem Abschnitt des Johannesevangeliums gleichsam ein erstes Aufleuchten der Wahrheit von der mütterlichen Sorge Marias finden. Diese Wahrheit hat auch in der Lehre des letzten Konzils ihren Ausdruck gefunden. Es ist wichtig festzustellen, wie dort die mütterliche Aufgabe Marias in ihrer Beziehung zur Mittlerschaft Christi dargestellt wird. Wir lesen dort nämlich: »Marias mütterliche Aufgabe gegenüber den Menschen aber verdunkelt oder mindert diese einzige Mittlerschaft Christi in keiner Weise, sondern zeigt ihre Wirkkraft«; denn »einer (ist) Mittler zwischen Gott und den Menschen: der Mensch Christus Jesus« (1Tm 2,5). Diese mütterliche Aufgabe fließt nach dem Wohlgefallen Gottes »aus dem Überfluß der Verdienste Christi, stützt sich auf seine Mittlerschaft, hängt von ihr vollständig ab und schöpft aus ihr seine ganze Wirkkraft«.44 Genau in diesem Sinne bietet uns das Geschehen zu Kana in Galiläa gleichsam ein erstes Aufleuchten der Mittlerschaft Marias, die ganz auf Christus bezogen und auf die Offenbarung seiner Heilsmacht ausgerichtet ist.

Aus dem johanneischen Text geht hervor, daß es sich um eine mütterliche Vermittlung handelt. Entsprechend verkündet das Konzil: Maria »ist... uns in der Ordnung der Gnade Mutter«. Diese Mutterschaft in der Ordnung der Gnade ist aus ihrer göttlichen Mutterschaft selbst hervorgegangen. Weil sie nach dem Willen der göttlichen Vorsehung Mutter und Ernährerin des Erlösers war, ist sie auch »in einzigartiger Weise vor den anderen hochherzige Gefährtin und demütige Magd des Herrn« geworden und hat »beim Werk der Erlösung... in Gehorsam, Glaube, Hoffnung und brennender Liebe mitgewirkt zur Wiederherstellung des übernatürlichen Lebens der Seelen«.45 »Diese Mutterschaft Marias in der Gnadenordnung dauert unaufhörlich fort ... bis zur ewigen Vollendung aller Auserwählten«.46


23 Wenn der Abschnitt des Johannesevangeliums über das Geschehen in Kana die Muttersorge Marias zu Beginn des messianischen Wirkens Christi darstellt, bestätigt eine andere Stelle desselben Evangeliums diese Mutterschaft in der Heilsordnung der Gnade an ihrem Höhepunkt, das heißt, als sich das Kreuzesopfer Christi, sein österliches Geheimnis, vollendet. Die Darstellung des Johannes ist kurz und knapp: »Bei dem Kreuz Jesu standen seine Mutter und die Schwester seiner Mutter, Maria, die Frau des Klopas, und Maria von Magdala. Als Jesus seine Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er liebte, sagte er zu seiner Mutter: Frau, siehe, dein Sohn! Dann sagte er zu dem Jünger: Siehe, deine Mutter! Und von jener Stunde an nahm sie der Jünger zu sich« (Jn 19,25-27).

Zweifellos ist in diesem Vorgang ein Ausdruck der besonderen Sorge des Sohnes für die Mutter zu sehen, die er in einem so tiefen Schmerz zurückläßt. Über den Sinn dieser Fürsorge sagt das »Kreuzestestament« Christi jedoch noch mehr aus. Jesus macht ein neues Band zwischen Mutter und Sohn deutlich, dessen ganze Wahrheit und Wirklichkeit er feierlich bestätigt. Wenn die Mutterschaft Marias gegenüber den Menschen bereits früher angedeutet worden ist, wird sie nun - so kann man sagen - klar gefaßt und festgelegt: Sie geht aus der endgültigen Vollendung des österlichen Geheimnisses des Erlösers hervor. Die Mutter Christi, die in der unmittelbaren Reichweite dieses Geheimnisses steht, das den Menschen - jeden einzelnen und alle - umfaßt, wird diesem - jedem einzelnen und allen - als Mutter gegeben. Dieser Mensch zu Füßen des Kreuzes ist Johannes, »der Jünger, den er liebte«.47 Aber nicht er allein. In Anlehnung an die Tradition zögert das Konzil nicht, Maria »Mutter Christi und Mutter der Menschen« zu nennen. In der Tat »findet sie sich mit allen... Menschen in der Nachkommenschaft Adams verbunden...; ja, "sie ist wahrhaft Mutter der Glieder (Christi), ... denn sie hat in Liebe mitgewirkt, daß die Gläubigen in der Kirche geboren würden"«.48

Diese »neue Mutterschaft Marias«, aus dem Glauben gezeugt, ist also eine Frucht der »neuen« Liebe, die in ihr unter dem Kreuz, durch ihre Teilnahme an der erlösenden Liebe des Sohnes, zur vollen Reife gekommen ist.


24 Wir befinden uns so mitten in der Erfüllung jener Verheißung, die im Protoevangelium enthalten ist: Er (der Nachwuchs der Frau) »wird der Schlange den Kopf zermalmen« (vgl. Gn 3,15). Jesus Christus besiegt ja in der Tat mit seinem Erlösertod das Übel der Sünde und des Todes an der Wurzel selbst. Es ist bezeichnend, daß er, als er sich vom Kreuz herab an die Mutter wendet, sie »Frau« nennt und zu ihr sagt: »Frau, siehe, dein Sohn«. Mit dem gleichen Wort hatte er sie ja auch in Kana angesprochen (vgl. Jn 2,4). Kann man bezweifeln, daß gerade jetzt, auf Golgota, dieser Satz in die Tiefe des Geheimnisses Marias vordringt und die einzigartige Stellung berührt, die sie in der ganzen Heilsordnung einnimmt? So lehrt das Konzil: Mit Maria »als der erhabenen Tochter Zion ist schließlich nach langer Erwartung der Verheißung die Zeit erfüllt und die neue Heilsökonomie begonnen, als der Sohn Gottes die Menschennatur aus ihr annahm, um durch die Mysterien seines Fleisches den Menschen von der Sünde zu befreien«.49

Die Worte, die Jesus vom Kreuz herab spricht, bedeuten, daß die Mutterschaft derer, die ihn geboren hat, sich in der Kirche und durch die Kirche »neu« fortsetzt, die durch Johannes symbolisiert und dargestellt wird. Sie, die als die »Begnadete« in das Geheimnis Christi eingeführt worden ist, um seine Mutter zu werden und so heilige Gottesgebärerin zu sein, bleibt auf diese Weise durch die Kirche in jenem Geheimnis zugegen als »die Frau«, die vom Buch der Genesis (3, 15) am Anfang und von der Offenbarung des Johannes (12, 1) am Ende der Heilsgeschichte genannt wird. Nach dem ewigen Plan der Vorsehung soll sich die göttliche Mutterschaft Marias über die Kirche ausbreiten, wie es Aussagen der Tradition andeuten, wonach die Mutterschaft Marias über die Kirche der Abglanz und die Fortsetzung ihrer Mutterschaft über den Sohn Gottes ist.50

Schon die Stunde selbst, da die Kirche geboren wird und ganz offen vor die Welt tritt, läßt nach dem Konzil diese fortdauernde Mutterschaft Marias erkennen: »Da es aber Gott gefiel, das Sakrament des menschlichen Heils nicht eher feierlich zu verkünden, als bis er den verheißenen Heiligen Geist ausgegossen hatte, sehen wir die Apostel vor dem Pfingsttag "einmütig im Gebet verharren mit den Frauen und Maria, der Mutter Jesu, und seinen Brüdern" (Ac 1,14) und Maria mit ihren Gebeten die Gabe des Geistes erflehen, der sie schon bei der Verkündigung überschattet hatte«.51

Es gibt also in der Gnadenordnung, die sich unter dem Wirken des Heiligen Geistes vollzieht, eine einzigartige Entsprechung zwischen dem Augenblick der Menschwerdung des Wortes und jenem der Geburt der Kirche. Die Person, die beide Momente vereinigt, ist Maria: Maria in Nazaret und Maria im Abendmahlssaal von Jerusalem. In beiden Fällen ist ihre zurückhaltende, aber wesentliche Gegenwart ein Hinweis auf den Weg der »Geburt durch den Heiligen Geist«. Die im Geheimnis Christi als Mutter gegenwärtig ist, wird so - durch den Willen des Sohnes und das Wirken des Heiligen Geistes - auch gegenwärtig im Geheimnis der Kirche. Auch in der Kirche bleibt sie mütterlich zugegen, wie die am Kreuz gesprochenen Worte anzeigen: »Frau, siehe, dein Sohn« - »Siehe, deine Mutter«.



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