Redemptoris Mater 24

2. TEIL - DIE GOTTESMUTTER INMITTEN DER PILGERNDEN KIRCHE


1. Die Kirche, das Volk Gottes, in allen Völkern der Erde verwurzelt


25 »Die Kirche "schreitet zwischen den Verfolgungen der Welt und den Tröstungen Gottes auf ihrem Pilgerweg dahin" 52 und verkündet das Kreuz und den Tod des Herrn, bis er wiederkommt (vgl. 1Co 11,26)«.53 »Wie aber schon das Israel dem Fleische nach auf seiner Wüstenwanderung Kirche Gottes genannt wird (Ne 13,1; vgl. Nb 20,4 Dt 23,1 ff.), so wird auch das neue Israel... Kirche Christi genannt (vgl. Mt 16,18). Er selbst hat sie ja mit seinem Blut erworben (vgl. Ac 20,28), mit seinem Geist erfüllt und mit geeigneten Mitteln sichtbarer und gesellschaftlicher Einheit ausgerüstet. Gott hat die Versammlung derer, die zu Christus als dem Urheber des Heils und dem Ursprung der Einheit und des Friedens gläubig aufschauen, zusammengerufen und als seine Kirche gestiftet, damit sie allen und jedem das sichtbare Sakrament dieser heilbringenden Einheit sei«.54

Das II. Vatikanische Konzil spricht von der Kirche auf dem Wege, wobei es eine Analogie mit dem Volk Israel des Alten Bundes auf seinem Weg durch die Wüste herstellt. Ein solcher Weg zeigt sich auch nach außen und wird sichtbar in der Zeit und dem Raum, wo er sich geschichtlich verwirklicht. »Bestimmt zur Verbreitung über alle Länder, tritt sie (die Kirche) in die menschliche Geschichte ein und übersteigt doch zugleich Zeiten und Grenzen der Völker«.55 Der wesentliche Charakter ihres Pilgerweges ist jedoch innerlich. Es handelt sich um eine Pilgerschaft im Glauben, in der »Kraft des auferstandenen Herrn«,56 um eine Pilgerschaft im Heiligen Geist, der der Kirche als unsichtbarer Beistand (Parákletos)gegeben ist (vgl. Jn 14,26 Jn 15,26 Jn 16,7): »Auf ihrem Weg durch Prüfungen und Bedrängnis wird die Kirche durch die Kraft der ihr vom Herrn verheißenen Gnade Gottes gestärkt, damit sie... unter der Wirksamkeit des Heiligen Geistes nicht aufhöre, sich selbst zu erneuern, bis sie durch das Kreuz zum Licht gelangt, das keinen Untergang kennt«.57

Auf diesem kirchlichen Pilgerweg durch Raum und Zeit und noch mehr in der Geschichte der Seelen ist Maria zugegen als diejenige, die »selig ist, weil sie geglaubt hat«, als diejenige, die »den Pilgerweg des Glaubens« geht, indem sie wie kein anderer Mensch am Geheimnis Christi teilnimmt. Weiter sagt das Konzil, daß »Maria ..., da sie zuinnerst in die Heilsgeschichte eingegangen ist, gewissermaßen die größten Glaubensgeheimnisse in sich vereinigt und widerstrahlt«.58 Vor allen Gläubigen ist sie wie ein »Spiegel«, in dem sich »die Großtaten Gottes« (Ac 2,11) in tiefster und reinster Weise widerspiegeln.


26 Die Kirche, von Christus auf den Aposteln erbaut, ist sich dieser Großtaten Gottes am Pfingsttag voll bewußt geworden, als die im Abendmahlssaal Versammelten »mit dem Heiligen Geist erfüllt wurden und begannen, in fremden Sprachen zu reden, wie es der Geist ihnen eingab« (Ac 2,4). In diesem Augenblick beginnt auch jener Weg des Glaubens, die Pilgerschaft der Kirche durch die Geschichte der Menschen und der Völker. Man weiß, daß am Beginn dieses Weges Maria gegenwärtig ist, die wir mitten unter den Aposteln im Abendmahlssaal »mit ihren Gebeten die Gabe des Geistes erflehen« sehen.59

Ihr Glaubensweg ist in einem gewissen Sinne länger. Der Heilige Geist ist bereits auf sie herabgekommen, die bei der Verkündigung seine treue Braut geworden ist, indem sie das ewige Wort des wahren Gottes aufnahm und sich dem offenbarenden Gott mit Verstand und Willen voll unterwarf und seiner Offenbarung willig zustimmte, ja, sich im »Gehorsam des Glaubens« ganz und gar Gott überließ60 und darum dem Engel antwortete: »Ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe, wie du es gesagt hast«. Der Glaubensweg Marias, die wir betend im Abendmahlssaal sehen, ist also länger als der Weg der dort Versammelten: Maria geht ihnen »voraus« und auch »voran«.61 Der Pfingsttag in Jerusalem ist, außer durch das Kreuz, auch durch den Augenblick der Verkündigung in Nazaret vorbereitet worden. Im Abendmahlssaal trifft sich der Weg Marias mit dem Glaubensweg der Kirche. In welcher Weise?

Unter denen, die im Abendmahlssaal im Gebet verharrten und sich darauf vorbereiteten, »in die ganze Welt« zu ziehen, nachdem sie den Heiligen Geist empfingen, waren einige nach und nach durch Jesus vom Anfang seiner Sendung in Israel an berufen worden. Elf von ihnen waren als Apostel eingesetzt worden, und ihnen hatte Jesus die Sendung übergeben, die er selbst vom Vater erhalten hatte: »Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch« (Jn 20,21), so hatte er den Aposteln nach der Auferstehung gesagt. Vierzig Tage später, vor seiner Rückkehr zum Vater, hatte er hinzugefügt: Wenn »die Kraft des Heiligen Geistes... auf euch herabkommen wird, ... werdet ihr meine Zeugen sein ... bis an die Grenzen der Erde« (vgl. Ac 1,8). Diese Sendung der Apostel beginnt mit dem Augenblick, da sie den Abendmahlssaal in Jerusalem verlassen. Die Kirche wird geboren und wächst nun durch das Zeugnis, das Petrus und die anderen Apostel von Christus, dem Gekreuzigten und Auferstandenen, ablegen (vgl. Ac 2,31-34 Ac 3,15-18 Ac 4,10-12 Ac 5,30-32).

Maria hat nicht diese apostolische Sendung direkt empfangen. Sie befand sich nicht unter denen, die Jesus, als er ihnen jene Sendung verlieh, in die ganze Welt sandte, um alle Menschen zu seinen Jüngern zu machen (vgl. Mt 28,19). Sie war jedoch im Abendmahlssaal, wo sich die Apostel darauf vorbereiteten, diese Sendung mit dem Kommen des Geistes der Wahrheit zu übernehmen: Dort war sie bei ihnen. In ihrer Mitte war sie »beharrlich im Gebet« als die »Mutter Jesu« (Ac 1,13-14), das heißt als Mutter des gekreuzigten und auferstandenen Christus. Und jener erste Kern derer, die im Glauben »auf Jesus, den Urheber des Heils«62 schauten, war sich bewußt, daß Jesus der Sohn Marias war und sie seine Mutter und daß sie so vom Augenblick der Empfängnis und Geburt an eine besondere Zeugin des Geheimnisses Jesu war, jenes Geheimnisses, das sich vor ihren Augen in Kreuz und Auferstehung ausgeprägt und bestätigt hatte. Die Kirche »schaute« also vom ersten Augenblick an auf Maria von Jesus her, wie sie auf Jesus von Maria her »schaute«. Diese wurde für die Kirche von damals und für immer eine einzigartige Zeugin der Kindheitsjahre Jesu und seines verborgenen Lebens in Nazaret, da sie »alles bewahrte, was geschehen war, und in ihrem Herzen darüber nachdachte« (Lc 2,19 vgl. v. Lc 51).

Aber in der Kirche von damals und immer war und ist Maria vor allem jene, die »selig ist, weil sie geglaubt hat«: Als erste hat sie geglaubt. Vom Augenblick der Verkündigung und der Empfängnis an, seit der Stunde der Geburt im Stall von Betlehem folgte Maria Jesus Schritt für Schritt auf ihrer mütterlichen Pilgerschaft des Glaubens. Sie folgte ihm all die Jahre seines verborgenen Lebens in Nazaret, sie folgte ihm auch in der Zeit der äußeren Trennung, als er inmitten von Israel »zu handeln und zu lehren« begann (vgl. Ac 1,1), sie folgte ihm vor allem in der tragischen Erfahrung von Golgota. Jetzt, da Maria am Beginn der Kirche mit den Aposteln im Abendmahlssaal von Jerusalem weilte, fand ihr Glaube, der aus den Worten der Verkündigung geboren war, seine Bestätigung. Der Engel hatte ihr damals gesagt: »Du wirst ein Kind empfangen, einen Sohn wirst du gebären; dem sollst du den Namen Jesus geben. Er wird groß sein und... über das Haus Jakob in Ewigkeit herrschen, und seine Herrschaft wird kein Ende haben«. Die gerade zurückliegenden Ereignisse von Kalvaria hatten diese Verheißung ins Dunkel gehüllt; und doch ist auch unter dem Kreuz der Glaube Marias nicht erloschen. Sie war dort immer noch jene, die (wie Abraham) »gegen alle Hoffnung voll Hoffnung« geglaubt hat (Rm 4,18). Und siehe, nach der Auferstehung hatte die Hoffnung ihr wahres Antlitz enthüllt, und die Verheißung hatte begonnen, Wirklichkeit zu werden.Tatsächlich hatte Jesus ja, ehe er zum Vater zurückkehrte, den Aposteln gesagt: »Geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen Jüngern.... Seid gewiß! Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt« (vgl. Mt 28,19 Mt 28,20). So hatte derjenige gesprochen, der sich durch seine Auferstehung als Sieger über den Tod erwiesen hatte, als Herrscher des Reiches, das nach der Ankündigung des Engels »kein Ende haben wird«.


27 Jetzt, an den Anfängen der Kirche, am Beginn ihres langen Weges im Glauben, der mit dem Pfingstereignis in Jerusalem anfing, war Maria mit allen zusammen, die den Keim des »neuen Israels« bildeten. Sie war mitten unter ihnen als außerordentliche Zeugin des Geheimnisses Christi. Und die Kirche verharrte zusammen mit ihr im Gebet und »betrachtete sie« zugleich »im Licht des ewigen Wortes, das Mensch geworden war«. So sollte es immer sein. Wenn die Kirche stets tiefer »in das erhabene Geheimnis der Menschwerdung eindringt«, denkt sie ja dabei in tiefer Verehrung und Frömmigkeit auch an die Mutter Christi.63 Maria gehört untrennbar zum Geheimnis Christi, und so gehört sie auch zum Geheimnis der Kirche von Anfang an, seit dem Tag von deren Geburt. Zur Grundlage all dessen, was die Kirche von Anfang an ist und was sie von Generation zu Generation inmitten aller Nationen der Erde unaufhörlich werden muß, gehört diejenige, die »geglaubt hat, daß sich erfüllt, was der Herr ihr sagen ließ« (Lc 1,45). Gerade dieser Glaube Marias, der den Beginn des neuen und ewigen Bundes Gottes mit der Menschheit in Jesus Christus anzeigt, dieser heroische Glaube »geht« dem apostolischen Zeugnis der Kirche »voran« und bleibt im Herzen der Kirche zugegen, verborgen als ein besonderes Erbe der Offenbarung Gottes. Alle, die von Generation zu Generation das apostolische Zeugnis der Kirche annehmen, haben an diesem geheimnisvollen Erbe Anteil und nehmen gewissermaßen teil am Glauben Marias.

Auch im Pfingstereignis bleiben die Worte Elisabets »Selig, die geglaubt hat« mit Maria verbunden; sie folgen ihr durch alle Zeiten überall dorthin, wo sich durch das apostolische Zeugnis und den Dienst der Kirche die Kenntnis vom Heilsgeheimnis Christi ausbreitet. Auf diese Weise erfüllt sich die Verheißung des Magnifikats: »Siehe, von nun an preisen mich selig alle Geschlechter.Denn der Mächtige hat Großes an mir getan, und sein Name ist heilig« (Lc 1,48-49). Die Erkenntnis des Geheimnisses Christi führt ja zur Lobpreisung seiner Mutter in der Form einer besonderen Verehrung für die Gottesgebärerin.In dieser Verehrung ist aber immer der Lobpreis ihres Glaubens eingeschlossen, weil die Jungfrau von Nazaret nach den Worten Elisabets vor allem durch diesen Glauben selig geworden ist. Alle, die unter den verschiedenen Völkern und Nationen der Erde die Generationen hindurch das Geheimnis Christi, des menschgewordenen Wortes und Erlösers der Welt, gläubig aufnehmen, wenden sich nicht nur mit Verehrung an Maria und gehen vertrauensvoll zu ihr wie zu einer Mutter, sondern suchen auch in ihrem Glauben Kraft für den eigenen Glauben.Und gerade diese lebendige Teilnahme am Glauben Marias entscheidet über ihre besondere Gegenwart bei der Pilgerschaft der Kirche als neues Gottesvolk auf der ganzen Erde.


28 Das Konzil sagt hierzu: »Maria... (ist) zuinnerst in die Heilsgeschichte eingegangen ... Daher ruft ihre Verkündigung und Verehrung die Gläubigen hin zu ihrem Sohn und seinem Opfer und zur Liebe des Vaters«.64 Deshalb wird in gewisser Weise der Glaube Marias auf der Grundlage des apostolischen Zeugnisses der Kirche unaufhörlich zum Glauben des Gottesvolkes auf seinem Pilgerweg: zum Glauben der Personen und Gemeinden, der Kreise und Gemeinschaften sowie der verschiedenen Gruppen, die es in der Kirche gibt. Es ist ein Glaube, der mit Verstand und Herz zugleich vermittelt wird; man findet ihn oder erlangt ihn wieder stets durch das Gebet. »Daher blickt die Kirche auch in ihrem apostolischen Wirken mit Recht zu ihr auf, die Christus geboren hat, der dazu vom Heiligen Geist empfangen und von der Jungfrau geboren wurde, daß er durch die Kirche auch in den Herzen der Gläubigen geboren werde und wachse«.65

Heute, da wir uns auf dieser Pilgerschaft des Glaubens dem Ende des zweiten christlichen Jahrtausends nähern, erinnert die Kirche durch die Lehre des II. Vatikanischen Konzils daran, wie sie sich selber sieht, als »dieses eine Gottesvolk«, das »in allen Völkern der Erde wohnt«; sie erinnert an die Wahrheit, nach der alle Gläubigen, auch wenn sie »über den Erdkreis hin verstreut (sind), mit den übrigen im Heiligen Geiste in Gemeinschaft stehen«,66 so daß man sagen kann, daß sich in dieser Einheit das Pfingstgeheimnis ständig verwirklicht. Zugleich bleiben die Apostel und die Jünger des Herrn unter allen Völkern der Erde »beharrlich im Gebet zusammen mit Maria, der Mutter Jesu« (vgl.
Ac 1,14). Indem sie von Generation zu Generation das Zeichen des Reiches bilden, das nicht von dieser Welt ist,67 sind sie sich auch bewußt, daß sie sich inmitten dieser Welt um jenen König sammeln müssen, dem die Völker zum Erbe gegeben sind (Ps 2,8), dem Gott Vater »den Thron seines Vaters David« gegeben hat, so daß er »über das Haus Jakob in Ewigkeit herrschen und seine Herrschaft kein Ende haben wird«.

Mit diesem Glauben, der sie besonders vom Augenblick der Verkündigung an selig gemacht hat, ist Maria in dieser Zeit der Erwartung zugegen in der Sendung der Kirche, zugegen im Wirken der Kirche, die das Reich ihres Sohnes in die Welt einführt.68 Diese Gegenwart Marias findet heute wie in der ganzen Geschichte der Kirche vielfältige Ausdrucksweisen. Sie hat auch einen vielseitigen Wirkungsbereich: durch den Glauben und die Frömmigkeit der einzelnen Gläubigen, durch die Traditionen der christlichen Familien oder der »Hauskirchen«, der Pfarr- und Missionsgemeinden, der Ordensgemeinschaften, der Diözesen, durch die werbende und ausstrahlende Kraft der großen Heiligtümer, in denen nicht nur einzelne oder örtliche Gruppen, sondern bisweilen ganze Nationen und Kontinente die Begegnung mit der Mutter des Herrn suchen, mit derjenigen, die selig ist, weil sie geglaubt hat, die die erste unter den Gläubigen ist und darum Mutter des Immanuel geworden ist. Das ist der Ruf der Erde Palästinas, der geistigen Heimat aller Christen, weil es die Heimat des Erlösers der Welt und seiner Mutter ist. Das ist der Ruf so vieler Kirchen, die der christliche Glaube in Rom und über die ganze Welt hin die Jahrhunderte hindurch errichtet hat. Das ist auch die Botschaft der Orte wie Guadalupe, Lourdes, Fatima und der anderen in den verschiedenen Ländern, unter denen auch, wie könnte ich nicht daran denken, jener Ort meiner Heimat ist, Jasna Góra. Man könnte von einer eigenen »Geographie« des Glaubens und der marianischen Frömmigkeit sprechen, die alle diese Orte einer besonderen Pilgerschaft des Gottesvolkes umfaßt, das die Begegnung mit der Muttergottes sucht, um im Bereich der mütterlichen Gegenwart »derjenigen, die geglaubt hat«, den eigenen Glauben bestärkt zu finden. Im Glauben Marias hat sich ja schon bei der Verkündigung und dann endgültig unter dem Kreuz von seiten des Menschen jener innere Raum wieder geöffnet, in welchem der ewige Vater uns »mit allem geistlichen Segen« erfüllen kann: der Raum »des neuen und ewigen Bundes«.69 Dieser Raum bleibt in der Kirche bestehen, die in Christus »gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit« ist.70

Im Glauben, den Maria bei der Verkündigung als »Magd des Herrn« bekannte und mit dem sie dem Gottesvolk auf seinem Pilgerweg ständig »vorangeht«, strebt die Kirche »unablässig danach, die ganze Menschheit... unter dem einen Haupt Christus zusammenzufassen in der Einheit seines Geistes«.71

2. Der Weg der Kirche und die Einheit aller Christen


29 »Der Geist erweckt in allen Jüngern Christi Sehnsucht und Taten, daß sich alle in der von Christus festgesetzten Weise in der einen Herde unter dem einen Hirten in Frieden vereinen«.72

Der Weg der Kirche ist vor allem in unserer Epoche vom Ökumenismus gekennzeichnet; die Christen suchen nach Wegen, um jene Einheit wieder herzustellen, die Christus am Tag vor seinem Leiden für seine Jünger vom Vater erbeten hat: »Alle sollen eins sein: Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaubt, daß du mich gesandt hast« (
Jn 17,21). Die Einheit der Jünger Christi ist also ein großes Zeichen, um den Glauben der Welt zu wecken, während ihre Spaltung ein Ärgernis darstellt.73

Die ökumenische Bewegung als klareres und weitverbreitetes Bewußtsein, daß es die Einheit aller Christen dringlich zu verwirklichen gilt, hat auf seiten der katholischen Kirche ihren höchsten Ausdruck im Werk des II. Vatikanischen Konzils gefunden: Die Christen sollen in sich selbst und in jeder ihrer Gemeinschaften jenen »Glaubensgehorsam« vertiefen, für den Maria das erste und leuchtendste Beispiel ist. Und weil sie »dem pilgernden Gottesvolk als Zeichen der sicheren Hoffnung und des Trostes voranleuchtet«, »bereitet es dieser Heiligen Synode große Freude und Trost, daß auch unter den getrennten Brüdern solche nicht fehlen, die der Mutter des Herrn und Erlösers die gebührende Ehre erweisen, und dies besonders bei den Orientalen«.74


30 Die Christen wissen, daß sie ihre Einheit nur dann wahrhaft wiederfinden, wenn sie diese auf die Einheit ihres Glaubens gründen. Sie haben dabei keine geringen Unterschiede in der Lehre vom Geheimnis und vom Dienstamt der Kirche sowie manchmal auch von der Aufgabe Marias im Heilswerk zu überwinden.75 Die verschiedenen Dialoge, die von der katholischen Kirche mit den Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften im Abendland76 begonnen worden sind, konzentrieren sich immer mehr auf diese beiden untrennbar miteinander verbundenen Aspekte des einen Heilsgeheimnisses. Wenn das Geheimnis des menschgewordenen göttlichen Wortes uns auch das Geheimnis der göttlichen Mutterschaft erkennen läßt und die Betrachtung der Gottesmutter uns ihrerseits zu einem tieferen Verständnis des Geheimnisses der Inkarnation führt, so muß man dasselbe vom Geheimnis der Kirche und von der Aufgabe Marias im Heilswerk sagen. Indem die Christen ein tieferes Verständnis des einen wie des anderen suchen und das eine durch das andere erhellen, werden sie, die darauf bedacht sind zu tun - wie ihre Mutter ihnen rät -, was Jesus ihnen sagt (vgl. Jn 2,5), gemeinsame Fortschritte machen können auf dieser »Pilgerschaft des Glaubens«, für die Maria selbst das bleibende Beispiel ist: Sie soll sie zur Einheit führen, wie sie von dem einen, allen gemeinsamen Herrn gewollt ist und von denjenigen heiß ersehnt wird, die aufmerksam auf das hören, »was der Geist heute den Kirchen sagt« (vgl. Ap 2,7 Ap 2,11 Ap 2,17).

Indessen ist es ein gutes Vorzeichen, daß diese Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften in grundlegenden Punkten des christlichen Glaubens, auch was die Jungfrau Maria betrifft, mit der katholischen Kirche übereinstimmen. Sie erkennen sie ja als Mutter des Herrn an und sind davon überzeugt, daß dies zu unserem Glauben an Christus, den wahren Gott und wahren Menschen, gehört. Sie schauen auf sie, die zu Füßen des Kreuzes den Lieblingsjünger als ihren Sohn empfängt, der wiederum sie als Mutter erhält.

Warum also nicht alle zusammen auf sie als unsere gemeinsame Mutter schauen, die für die Einheit der Gottesfamilie betet und die allen »vorangeht« an der Spitze des langen Zuges von Zeugen für den Glauben an den einen Herrn, der Sohn Gottes ist und durch den Heiligen Geist in ihrem jungfräulichen Schoß empfangen wurde?


31 Andererseits möchte ich unterstreichen, wie tief sich die katholische Kirche, die orthodoxe Kirche und die altorientalischen Kirchen in der Liebe und Verehrung für die Theotokos, die Gottesgebärerin, verbunden wissen. Nicht nur sind »die grundlegenden Dogmen des christlichen Glaubens von der Dreifaltigkeit und des aus der Jungfrau Maria menschgewordenen Wortes Gottes auf ökumenischen Konzilien, die im Orient stattfanden, definiert worden«,77 sondern auch in ihrer Liturgie »preisen die Orientalen in herrlichen Hymnen Maria als die allzeit jungfräuliche ... und heilige Gottesmutter«.78

Die Brüder dieser Kirchen haben schwierige Epochen durchlebt; aber immer war ihre Geschichte von einem lebendigen Verlangen nach christlichem Einsatz und apostolischer Ausstrahlung durchdrungen, auch wenn oft sogar unter blutigen Verfolgungen. Es ist eine Geschichte der Treue zum Herrn, eine wahrhafte »Pilgerschaft im Glauben« durch Orte und Zeiten, während denen die orientalischen Christen immer mit grenzenlosem Vertrauen auf die Mutter des Herrn geschaut, sie mit Gesängen gefeiert und mit Gebeten unaufhörlich angerufen haben. In den schwierigen Augenblicken ihrer mühevollen christlichen Existenz »haben sie sich unter ihren Schutz geflüchtet«,79 weil sie sich bewußt waren, in ihr eine mächtige Helferin zu haben. Die Kirchen, die sich zur Glaubenslehre von Ephesus bekennen, nennen die Jungfrau »wahre Mutter Gottes«; denn »unser Herr Jesus Christus, vom Vater vor aller Zeit in seiner Göttlichkeit geboren, ist als derselbe in den letzten Tagen für uns und zu unserem Heil von der Jungfrau Maria und Mutter Gottes in seiner Menschheit geboren worden«.80 Indem die griechischen Väter und die byzantinische Tradition die Jungfrau im Licht des menschgewordenen Wortes betrachteten, haben sie die Tiefe jenes geistigen Bandes zu durchdringen gesucht, das Maria als Muttergottes mit Christus und mit der Kirche verbindet: Die Jungfrau bleibt im gesamten Bereich des Heilsgeheimnisses stets gegenwärtig.

Die koptischen und äthiopischen Traditionen sind durch den hl. Cyrill von Alexandrien in diese Betrachtungsweise des Geheimnisses Marias eingeführt worden und haben sie ihrerseits in reichen poetischen Werken gefeiert.81 Die dichterische Kunst des hl. Ephräm des Syrers, der »Zither des Heiligen Geistes« genannt worden ist, hat unermüdlich Maria besungen und in der Tradition der syrischen Kirche eine noch heute vorhandene Spur hinterlassen.82 In seinem Lobgesang an die Theotokos vertieft der hl. Gregor von Narek, eine der berühmtesten Gestalten Armeniens, mit machtvoller poetischer Begabung die verschiedenen Aspekte des Geheimnisses der Inkarnation, und jeder von ihnen ist ihm eine Gelegenheit, die außergewöhnliche Würde und herrliche Schönheit der Jungfrau Maria, der Mutter des menschgewordenen Wortes, zu besingen und zu preisen.83

Es verwundert darum nicht, daß Maria in der Liturgie der altorientalischen Kirchen mit einer unvergleichlichen Fülle von Festen und Hymnen einen bevorzugten Platz einnimmt.


32 In der byzantinischen Liturgie ist in allen Horen des Stundengebetes mit dem Lobpreis des Sohnes und mit dem Lobpreis, der durch den Sohn im Heiligen Geist zum Vater aufsteigt, auch der Lobpreis der Mutter verbunden. In der Anaphora, dem eucharistischen Hochgebet, des heiligen Johannes Chrysostomus besingt die versammelte Gemeinde gleich nach der Epiklese die Muttergottes mit folgenden Worten: »Wahrhaft recht ist es, dich, o Gottesgebärerin, seligzupreisen, der du die seligste und reinste Mutter unseres Gottes bist. Wir lobpreisen dich, der du an Ehre die Kerubim übertriffst, an Herrlichkeit die Serafim bei weitem überragst. Der du, ohne deine Jungfräulichkeit zu verlieren, das Wort Gottes zur Welt gebracht hast; der du wahrhaft Mutter Gottes bist«.

Diese Lobpreisungen, die sich in jeder Feier der eucharistischen Liturgie zu Maria erheben, haben den Glauben, die Frömmigkeit und das Gebetsleben der Gläubigen geformt. Im Laufe der Jahrhunderte haben sie ihre ganze geistliche Einstellung durchdrungen und in ihnen eine tiefe Verehrung für die »Hochheilige Mutter Gottes« hervorgerufen.


33 In diesem Jahr werden es 1200 Jahre seit dem II. Ökumenischen Konzil Nizäa (787), auf dem zur Beendigung der bekannten Auseinandersetzung über die Verehrung von religiösen Bildern definiert wurde, daß man nach der Lehre der Väter und der allgemeinen Tradition der Kirche zusammen mit dem heiligen Kreuz auch die Bilder der Muttergottes, der Engel und der Heiligen in den Kirchen sowie in den Häusern und an den Straßen den Gläubigen zur Verehrung anbieten dürfe.84 Dieser Brauch hat sich im ganzen Osten und auch im Westen erhalten: Die Bilder der Jungfrau Maria haben in den Kirchen und Häusern einen Ehrenplatz. Maria ist dort dargestellt als Thron Gottes, der den Herrn trägt und ihn den Menschen schenkt (Theotokos), oder als Weg, der zu Christus führt und auf ihn hinweist (Odigitria) oder als Betende in fürbittender Haltung und als Zeichen der Gegenwart Gottes auf dem Pilgerweg der Gläubigen bis zum Tag des Herrn (Deisis) oder als Schirmherrin, die ihren Mantel über die Völker breitet (Prokov) oder als barmherzige und mitfühlende Jungfrau (Eleousa). Gewöhnlich ist sie zusammen mit ihrem Sohn dargestellt, mit dem Jesuskind auf dem Arm: Die Beziehung zum Sohn verherrlicht ja die Mutter. Zuweilen umarmt sie ihn liebevoll (Glykofilousa); manchmal scheint sie ernst und erhaben der Betrachtung dessen hingegeben, der der Herr der Geschichte ist (vgl. Ap 5,9-14).85

Es ist angebracht, auch an die Ikone der Madonna von Wladimir zu erinnern, die den Glaubensweg der Völker des alten Rus' stets begleitet hat. Es nähert sich die Tausendjahrfeier der Bekehrung zum Christentum jener bedeutenden Gegenden: Land einfacher Leute, von Denkern und Heiligen. Die Ikonen werden noch heute unter verschiedenen Titeln in der Ukraine, in Weißrußland und in Rußland verehrt: Es sind Bilder, die den Glauben und den Gebetsgeist des einfachen Volkes bezeugen, das ein Gespür für die beschützende Gegenwart der Muttergottes hat. In ihnen leuchtet die Jungfrau auf als Abbild der göttlichen Schönheit, als Sitz der ewigen Weisheit, als Vorbild des betenden Menschen, als Urbild der Kontemplation, als Bild der Herrlichkeit: diejenige, die seit ihrem irdischen Leben ein geistliches Wissen besaß, das menschlichem Denken unzugänglich ist, und die durch den Glauben eine noch tiefere Erkenntnis erlangt hat. Ferner erinnere ich an die Ikone von der Jungfrau im Abendmahlssaal, mit den Aposteln im Gebet versammelt in Erwartung des Heiligen Geistes: Könnte sie nicht gleichsam das Zeichen der Hoffnung für all diejenigen werden, die in brüderlichem Dialog ihren Glaubensgehorsam vertiefen möchten?


34 Ein solcher Reichtum an Lobpreis, wie er von den verschiedenen Formen der großen Tradition der Kirche angesammelt worden ist, könnte uns dazu verhelfen, daß diese wieder ganz mit zwei Lungen atmet: mit Orient und Okzident. Wie ich schon mehrmals betont habe, ist dies heute mehr denn je notwendig. Dies wäre eine echte Hilfe, um den Dialog, der zwischen der katholischen Kirche und den Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften des Abendlandes im Gange ist, voranzubringen.86 Es wäre für die pilgernde Kirche auch der Weg, ihr Magnifikat vollkommener zu singen und zu leben.

3. Das Magnifikat der Kirche auf ihrem Pilgerweg


35 In der gegenwärtigen Phase ihres Pilgerweges sucht die Kirche die Einheit derer wiederzufinden, die sich in ihrem Glauben zu Christus bekennen, jene Einheit, die im Laufe der Jahrhunderte verlorengegangen ist, um sich so ihrem Herrn gegenüber gehorsam zu erweisen, der vor seinem Leiden für diese Einheit gebetet hat. Indessen »schreitet die Kirche... auf ihrem Pilgerweg voran und verkündet das Kreuz und den Tod des Herrn, bis er wiederkommt«.87 »Auf ihrem Weg durch Prüfungen und Trübsal wird die Kirche durch die Kraft der ihr vom Herrn verheißenen Gnade Gottes gestärkt, damit sie in der Schwachheit des Fleisches nicht abfalle von der vollkommenen Treue, sondern die würdige Braut ihres Herrn verbleibe und unter der Wirksamkeit des Heiligen Geistes nicht aufhöre, sich selbst zu erneuern, bis sie durch das Kreuz zum Lichte gelangt, das keinen Untergang kennt«.88

Die Jungfrau und Mutter ist auf diesem Weg des Volkes Gottes im Glauben zum Licht stets gegenwärtig. Das zeigt in einer besonderen Weise der Lobgesang des Magnifikat, der, aus der Tiefe des Glaubens Marias auf ihrem Besuch bei Elisabet entsprungen, unaufhörlich im Herzen der Kirche die Jahrhunderte hindurch widerhallt. Das beweist seine tägliche Wiederholung in der Vesperliturgie und in so vielen anderen Momenten persönlicher wie gemeinschaftlicher Frömmigkeit.

»Meine Seele preist die Größe des Herrn,
und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter.
Denn auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut.
Siehe, von nun an preisen mich selig alle Geschlechter.
Dennder Mächtige hat Großes an mir getan, und sein Name ist heilig.
Er erbarmt sich von Geschlecht zu Geschlecht über alle, die ihn fürchten.
Er vollbringt mit seinem Arm machtvolle Taten:
Er zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind;
er stürzt die Mächtigen vom Thron
und erhöht die Niedrigen.
Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben
und läßt die Reichen leer ausgehen.
Er nimmt sich seines Knechtes Israel an
und denkt an sein Erbarmen,
das er unsern Vätern verheißen hat,
Abraham und seinen Nachkommen auf ewig«
(
Lc 1,46-55).


36 Als Elisabet ihre junge Verwandte begrüßte, die von Nazaret zu ihr kam, antwortete Maria mit dem Magnifikat. In ihrer Begrüßung hatte Elisabet zuvor Maria seliggepriesen: wegen der »Frucht ihres Leibes« und dann wegen ihres Glaubens (vgl. Lc 1,42 Lc 1,45). Diese zwei Seligpreisungen bezogen sich unmittelbar auf den Augenblick der Verkündigung. Jetzt, bei diesem Besuch, als der Gruß Elisabets auf diesen allesüberragenden Augenblick hinweist, wird sich Maria ihres Glaubens in einer neuen Weise bewußt und gibt ihm einen neuen Ausdruck. Was bei der Verkündigung in der Tiefe des »Gehorsams des Glaubens« verborgen blieb, bricht jetzt gleichsam hervor wie eine helle, belebende Flamme des Geistes. Die Worte, die Maria an der Schwelle zum Haus Elisabets benutzt, stellen ein geistgewirktes Bekenntnis dieses ihres Glaubens dar, bei dem sich ihre Antwort auf die vernommene Offenbarung in einer frommen und poetischen Erhebung ihres ganzen Seins zu Gott ausdrückt. Ihre erlesenen Worte, die so einfach und zugleich ganz durch die heiligen Texte Israels inspiriert sind,89 zeigen die tiefe persönliche Erfahrung Marias, den Jubel ihres Herzens. In ihnen leuchtet ein Strahl des Geheimnisses Gottes auf, der Glanz seiner unsagbaren Heiligkeit, seine ewige Liebe, die als ein unwiderrufliches Geschenk in die Geschichte des Menschen eintritt.

Maria ist die erste, die an dieser neuen göttlichen Offenbarung und der darin liegenden neuen »Selbstmitteilung« Gottes teilhat. Darum ruft sie aus: »Großes hat der Mächtige an mir getan, und heilig ist sein Name«. Ihre Worte geben die Freude ihres Geistes wieder, die nur schwer auszudrücken ist: »Mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter«. Denn »die Tiefe der durch diese Offenbarung über Gott und über das Heil des Menschen erschlossenen Wahrheit leuchtet uns auf in Christus, der zugleich der Mittler und die Fülle der ganzen Offenbarung ist«.90 Im Jubel ihres Herzens bekennt Maria, Einlaß gefunden zu haben in die innerste Mitte dieser Fülle Christi. Sie ist sich bewußt, daß sich an ihr die Verheißung erfüllt, die an die Väter und vor allem an »Abraham und seine Nachkommen auf ewig« ergangen ist; daß also auf sie als die Mutter Christi der gesamte Heilsplan hingeordnet ist, in dem sich »von Geschlecht zu Geschlecht« derjenige offenbart, der als Gott des Bundes »an sein Erbarmen denkt«.


37 Die Kirche, die von Anfang an ihren irdischen Weg ähnlich wie die Mutter Gottes geht, spricht nach ihrem Beispiel immer wieder neu die Worte des Magnifikat. Aus dem tiefen Glauben der Jungfrau bei der Verkündigung des Engels und während des Besuches bei Elisabet schöpft die Kirche die Wahrheit über den Gott des Bundes: über Gott, der allmächtig ist und »Großes« am Menschen tut; denn »heilig ist sein Name«. Im Magnifikat erkennt sie, daß die Sünde, die am Anfang der irdischen Geschichte des Mannes und der Frau steht, die Sünde der Ungläubigkeit, der »Kleingläubigkeit« gegenüber Gott, an der Wurzel besiegt ist. Gegen den Verdacht, den der »Vater der Lüge« im Herzen Evas, der ersten Frau, hat aufkeimen lassen, verkündet Maria, von der Tradition oft »neue Eva«91 und wahre »Mutter der Lebenden«92 genannt, kraftvoll die leuchtende Wahrheit über Gott: über den heiligen und allmächtigen Gott, der von Anfang an die Quelle jeder Gnadengabe ist, der »Großes« getan hat. Allem, was ist, schenkt Gott das Dasein im Schöpfungsakt. Indem er den Menschen erschafft, verleiht er ihm die Würde, sein Bild und Gleichnis zu sein, und dies auf besondere Weise im Vergleich zu allen anderen Kreaturen der Erde. Und trotz der Sünde des Menschen läßt sich Gott in seiner Bereitschaft, zu schenken, nicht aufhalten; er schenkt sich in seinem Sohn: »Gott hat die Welt so sehr geliebt, daß er seinen einzigen Sohn hingab« (Jn 3,16). Maria bezeugt als erste diese wundervolle Wahrheit, die sich voll verwirklichen wird in den Taten und Worten (vgl. Ac 1,1) ihres Sohnes und endgültig in seinem Kreuz und seiner Auferstehung.

Die Kirche, die auch in »Prüfungen und Bedrängnissen« unablässig mit Maria die Worte des Magnifikat wiederholt, wird durch die machtvolle Wahrheit über Gott gestärkt, wie sie damals in einer so außerordentlichen Schlichtheit verkündet worden ist, und möchte zugleich mit dieser Wahrheit über Gott die schwierigen und manchmal verschlungenen Wege der irdischen Existenz der Menschen erhellen. Der Pilgerweg der Kirche gegen Ende des zweiten christlichen Jahrtausends enthält einen neuen Sendungsauftrag. Die Kirche, die demjenigen folgt, der von sich gesagt: »Der Herr... hat mich gesandt, damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe« (vgl. Lc 4,18), hat von Generation zu Generation dieselbe Sendung zu verwirklichen gesucht und tut dies auch heute.

Ihre vorrangige Liebe zu den Armen ist im Magnifikat Marias eindrucksvoll enthalten. Der Gott des Bundes, im Jubel des Herzens der Jungfrau von Nazaret besungen, ist zugleich derjenige, der »die Mächtigen vom Thron stürzt und die Niedrigen erhöht«, der »die Hungernden mit seinen Gaben beschenkt und die Reichen leer ausgehen läßt«, der »die Hochmütigen zerstreut« und »sich über alle erbarmt, die ihn fürchten«. Maria ist tief durchdrungen vom Geist der »Armen Jahwes«, die im Gebet der Psalmen ihr Heil von Gott erwarteten, in den sie ihre Hoffnung setzten (vgl. Ps 25 Ps 31 Ps 35 Ps 55). Sie verkündet ja die Ankunft des Heilsgeheimnisses, das Kommen des »Messias der Armen« (vgl. Is 11,4 Is 61,1). Indem die Kirche aus dem Herzen Marias schöpft, aus ihrem tiefen Glauben, wie er in den Worten des Magnifikat zum Ausdruck kommt, wird sich die Kirche immer wieder neu und besser bewußt, daß man die Wahrheit über Gott, der rettet, über Gott, die Quelle jeglicher Gabe, nicht von der Bekundung seiner vorrangigen Liebe für die Armen und Niedrigen trennen kann, wie sie, bereits im Magnifikat besungen, dann in den Worten und Taten Jesu ihren Ausdruck findet.

Die Kirche ist sich also nicht nur bewußt - und in unserer Zeit verstärkt sich dieses Bewußtsein in einer ganz besonderen Weise -, daß sich diese zwei schon im Magnifikat enthaltenen Elemente nicht voneinander trennen lassen, sondern auch, daß sie die Bedeutung, die die »Armen« und die »Option zugunsten der Armen« im Wort des lebendigen Gottes haben,sorgfältig sicherstellen muß. Es handelt sich hierbei um Themen und Probleme, die eng verbunden sind mit dem christlichen Sinn von Freiheit und Befreiung. »Ganz von Gott abhängig und durch ihren Glauben ganz auf ihn hingeordnet, ist Maria an der Seite ihres Sohnes das vollkommenste Bild der Freiheit und der Befreiung der Menschheit und des Kosmos. Auf Maria muß die Kirche, deren Mutter und Vorbild sie ist, schauen, um den Sinn ihrer eigenen Sendung in vollem Umfang zu verstehen«.93

3. TEIL - MÜTTERLICHE VERMITTLUNG


Redemptoris Mater 24