Sollicitudo rei socialis 30


30 Der Begriff der Entwicklung ist also nach der Heiligen Schrift nicht rein "weltlich" oder "profan", sondern erscheint auch, obgleich mit einem sozio-ökonomischen Schwerpunkt, als der moderne Ausdruck einer wesentlichen Dimension der Berufung des Menschen.

Der Mensch ist ja nicht gleichsam unbeweglich und statisch geschaffen. Die erste Beschreibung, die die Bibel von ihm gibt, zeigt ihn gewiß als Geschöpf und Abbild das in seiner inneren Wirklichkeit von seinem Ursprung und der den Menschen begründenden Ähnlichkeit bestimmt ist. Dies alles aber senkt in das menschliche Sein, in Mann und Frau, den Keim und die Anforderung einer grundlegenden Aufgabe, die es zu erfüllen gilt, sei es von jedem einzeln oder als Paar. Die Aufgabe besteht darin, "über die anderen Geschöpfe zu herrschen", "den Garten zu bestellen"; eine Aufgabe, die im Rahmen des Gehorsams gegenüber dem göttlichen Gesetz und somit in der Achtung vor dem empfangenen Abbild zu verwirklichen ist, dem offensichtlichen Fundament jener Herrschermacht, die ihm für seine Vervollkommnung zuerkannt ist (vgl.
Gn 1,26-30 Gn 2,15 ff.; Sg 9,2-3). Wenn der Mensch Gott gegenüber ungehorsam ist und es ablehnt, sich seiner Macht zu unterwerfen, dann lehnt sich die Natur gegen ihn auf und erkennt ihn nicht mehr als ihren "Herrn" an, weil er das göttliche Abbild in sich verdunkelt hat. Der Aufruf zum Besitzen und Gebrauchen der geschaffenen Mittel bleibt immer gültig; aber nach dem Sündenfall wird der Vollzug schwierig und leidvoll (vgl. Gn 3,17-19).

Das folgende Kapitel der Genesis zeigt uns nämlich die Nachkommenschaft von Kam, die "eine Stadt" erbaut, den Hirtenberuf ausübt und sich mit den Künsten (der Musik) und der Technik (der Metallurgie) beschäftigt, während man zugleich beginnt, "den Namen des Herrn anzurufen" (vgl. Gn 4,17-26).

Die Geschichte des Menschengeschlechts, wie sie von der Heiligen Schrift beschrieben wird, ist auch nach dem Sündenfall eine Geschichte ständiger konkreter Taten, die sich - durch die Sünde immer in Frage gestellt und gefährdet - wiederholen, sich vervollkommnen und ausbreiten als Antwort auf die göttliche Berufung, die von Anfang an dem Mann und der Frau zuerkannt (vgl. Gn 1,26-28) und dem von ihnen empfangenen göttlichen Abbild eingeprägt ist.

Es ist wenigstens für diejenigen, die an das Wort Gottes glauben, naheliegend, daraus zu folgern, daß die "Entwicklung" von heute als ein Moment der Geschichte gesehen werden muß, die mit der Schöpfung begonnen hat und wegen der Untreue gegenüber dem Willen des Schöpfers ständig gefährdet ist, vor allem durch die Versuchung zum Götzendienst, die aber doch grundsätzlich dem Gesetz ihres Anfangs entspricht. Wer den schwierigen, aber auch beglückenden Auftrag zurückweisen wollte, das Los des ganzen Menschen und aller Menschen zu verbessern, und dies unter dem Vorwand der Last des Kampfes und der ständigen Anstrengung zur Überwindung der Schwierigkeiten oder sogar wegen der Erfahrung des Mißerfolges und des Rückfalls auf den Ausgangspunkt, der würde dem Willen des Schöpfers untreu. Unter dieser Hinsicht habe ich in der Enzyklika Laborem exercens auf die Berufung des Menschen zur Arbeit hingewiesen, um zu unterstreichen, daß immer der Mensch die Hauptperson der Entwicklung ist.54

Jesus Christus selbst hebt im Gleichnis von den Talenten die strenge Behandlung dessen hervor, der die empfangene Begabung zu verbergen wagte: "Du bist ein schlechter und fauler Diener! Du hast doch gewußt, daß ich ernte, wo ich nicht gesät habe, und sammle, wo ich nicht ausgestreut habe... Darum nehmt ihm das Talent weg und gebt es dem, der die zehn Talente hat" (Mt 25,26-28). Uns, die wir die Gaben Gottes empfangen, um sie Frucht bringen zu lassen, kommt es zu, zu "säen" und zu "sammeln". Wenn wir es nicht tun, wird uns auch das genommen, was wir haben.

Das tiefere Verständnis dieser strengen Worte kann uns veranlassen, mit mehr Entschlossenheit die heute für alte dringliche Verpflichtung auf uns zu nehmen, an der vollen Entwicklung der anderen mitzuwirken: an der "Entwicklung des ganzen Menschen und aller Menschen".55


31 Während der Glaube an Christus, den Erlöser, das Wesen der Entwicklung von innen her erhellt, weist er uns auch den Weg bei der Aufgabe der Zusammenarbeit. Im Brief des heiligen Paulus an die Kolosser lesen wir, daß Christus der "Erstgeborene der ganzen Schöpfung" ist und "alles durch ihn und auf ihn hin geschaffen ist" (1,15-16). Denn jedes Ding "hat in ihm Bestand", weil "Gott mit seiner ganzen Fülle in ihm wohnen sollte, um durch ihn alles zu versöhnen (1, 20).

In diesen göttlichen Plan, der von Ewigkeit her in Christus, dem vollkommenen "Ebenbild" des Vaters, beginnt und in ihm als dem "Erstgeborenen der Toten" (
Col 1,15 Col 1,8) seinen Höhepunkt findet, fügt sich unsere Geschichte ein, die von unserem persönlichen wie gemeinschaftlichen Bemühen gekennzeichnet ist, die menschliche Lage zu bessern und die auf unserem Weg immer wieder entstehenden Widerstände zu überwinden, indem wir uns so auf die Teilnahme an jener Fülle vorbereiten, die "in ihm wohnt" und die er "seinem Leib, der die Kirche ist", mitgeteilt hat (ebd. 1,18; vgl. Ep 1,22-23), während die Sünde, die uns stets bedrängt und unsere menschlichen Unternehmungen beeinträchtigt, durch die von Christus gewirkte "Versöhnung" besiegt und entgolten worden ist (vgl. Col 1,20).

Hier weitet sich der Blick. Der Traum von einem unbegrenzten "Fortschritt" kehrt wieder, doch radikal verwandelt durch eine neue Sicht, die der christliche Glaube eröffnet hat, indem er uns versichert, daß ein solcher Fortschritt nur möglich ist, weil Gott Vater von Anfang an beschlossen hat, den Menschen an seiner Herrlichkeit teilhaben zu lassen im auferstandenen Herrn Jesus Christus, in dem wir "durch sein Blut die Erlösung, die Vergebung der Sünden haben" (Ep 1,7). In ihm hat er die Sünde besiegen und für unser höheres Wohl dienstbar machen wollen,56 das unendlich übersteigt, was immer der Fortschritt verwirklichen könnte.

Während wir uns inmitten der Dunkelheiten und Mängel der Unterentwicklung und der Überentwicklung abmühen, können wir also sagen, daß eines Tages "dieses Vergängliche sich mit Unvergänglichkeit und dieses Sterbliche mit Unsterblichkeit bekleidet" (1Co 15,54), wenn der Herr "seine Herrschaft Gott, dem Vater, übergibt" (ebd. 24) und alle Werke und Handlungen, die des Menschen würdig sind, eingelöst werden.

Diese Sicht des Glaubens zeigt ferner gut die Gründe auf, die die Kirche veranlassen, sich mit der Problematik der Entwicklung zu befassen, sie als eine Verpflichtung ihres pastoralen Dienstes zu betrachten und alle dazu anzuregen, über die Natur und die Merkmale der wahren menschlichen Entwicklung nachzudenken. Mit ihrem Einsatz möchte sie sieh einerseits in den Dienst des göttlichen Planes stellen, der darauf abzielt, alle Dinge auf die Fülle hinzuordnen, die "in Christus wohnt" (vgl. Col 1,19) und die er seinem Leib mitgeteilt hat; andererseits möchte sie dadurch ihrer grundlegenden Berufung entsprechen, "Sakrament" oder "Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit" zu sein.57

Einige Kirchenväter haben sich durch diese Sicht inspirieren lassen, um ihrerseits eine eigene Auffassung vom Sinn der Geschichte und der menschlichen Arbeit darzulegen, die auf ein Ziel ausgerichtet ist, das sie übersteigt, und stets durch ihre Beziehung zum Werk Christi bestimmt ist. Mit anderen Worten, man kann in der patristischen Lehre eine optimistische Sicht von der Geschichte und der Arbeit finden oder vom bleibenden Wert der echten menschlichen Werke, insofern sie von Christus erlöst und für das verheißene Reich bestimmt sind.58

So gehört zur ältesten Lehre und Praxis der Kirche die Überzeugung, daß sie selbst, ihre Amtsträger und jedes ihrer Glieder durch ihre Berufung dazu angehalten sind, das Elend der Leidenden, ob nah oder fern, nicht nur aus dem "Überfluß", sondern auch aus dem "Notwendigen" zu lindern. Angesichts von Notfällen kann man nicht einen Überfluß an Kirchenschmuck und kostbare Geräte für die Liturgie vorziehen; im Gegenteil, es könnte verpflichtend sein, solche Güter zu veräußern, um den Bedürftigen dafür Speise und Trank, Kleidung und Wohnung zu geben.59 Wie schon bemerkt wurde, wird uns hier - im Rahmen des Rechts auf Eigentum - eine "Rangfolge der Werte " zwischen "Haben" und "Sein" angegeben, besonders wenn sich das "Haben" einiger zum Schaden des "Seins" von so vielen anderen auswirken kann.

In seiner Enzyklika steht Papst Paul VI. auf der Linie dieser Lehre, wobei er sich von der Pastoralkonstitution Gaudium et Spes anregen läßt.60 Meinerseits möchte ich ihre schwerwiegende Bedeutung und Dringlichkeit noch besonders unterstreichen. Vom Herrn erbitte ich für alle Christen die Kraft, diese Lehre treu in die Praxis übertragen zu können.


32 Die Verpflichtung, sich für die Entwicklung der Völker einzusetzen, ist nicht nur von individueller und noch weniger von individualistischer Art, als ob es möglich wäre, sie mit den isolierten Anstrengungen der einzelnen zu erreichen. Es ist eine Pflicht für alle und jeden, für Mann und Frau, für Gesellschaften und Nationen, im besonderen aber für die katholische Kirche und für die anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften mit denen wir zur Zusammenarbeit auf diesem Gebiet voll bereit sind. Wie wir Katholiken die christlichen Brüder einladen sich an unseren Initiativen zu beteiligen, so erklären wir uns in diesem Sinne auch bereit, an den ihrigen mitzuarbeiten, indem wir die an uns gerichteten Einladungen annehmen. Bei diesem Bemühen um die ganzheitliche Entwicklung des Menschen können wir vieles auch zusammen mit den Gläubigen der anderen Religionen tun, wie es übrigens auch an vielen Orten geschieht.

Die Zusammenarbeit für die Entwicklung des ganzen Menschen und jedes Menschen ist ja eine Pflicht aller gegenüber allen und muß zugleich den vier Teilen der Welt, Ost und West, Nord und Süd, oder, um den heute üblichen Ausdruck zu verwenden, den verschiedenen "Welten" gemeinsam sein. Wenn man sie dagegen nur in einem Teil oder nur in einer "Welt" zu verwirklichen sucht, dann geschieht dies auf Kosten der anderen; und dort, wo Entwicklung beginnt, nimmt sie gerade deswegen, weil die anderen ignoriert werden, übertriebene Ausmaße an und entartet.

Auch die Völker oder Nationen selbst haben ein Recht auf ihre eigene volle Entwicklung, die natürlich, wie gesagt, die wirtschaftlichen und sozialen Aspekte beinhaltet, aber auch die entsprechende kulturelle Identität und die Öffnung zum Transzendenten hin umfassen muß. Nicht einmal die Notwendigkeit der Entwicklung darf als Vorwand genommen werden, um anderen den eigenen Lebensstil oder den eigenen religiösen Glauben aufzuzwingen.



33 Ebenfalls wäre ein Entwicklungstyp nicht wirklich des Menschen würdig, der nicht auch die persönlichen und gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Menschenrechte, die Rechte der Nationen und Völker eingeschlossen, achten und fördern würde.

Heute erkennt man vielleicht mehr als früher und mit größerer Klarheit den inneren Widerspruch einer Entwicklung, die allein auf die wirtschaftliche Seite beschränkt bleibt. Eine solche ordnet die menschliche Person und ihre tieferen Bedürfnisse allzu leicht den Erfordernissen der wirtschaftlichen Planung oder des alleinigen Profits unter.

Die innere Verbindung zwischen wahrer Entwicklung und Achtung der Menschenrechte offenbart noch einmal deren moralischen Charakter. Die wahre Förderung des Menschen, die im Einklang mit der wesentlichen und geschichtlichen Berufung jedes einzelnen steht, erreicht man nicht, indem man nur ein Übermaß an Gütern und Dienstleistungen nutzt oder über perfekte Infrastrukturen verfügt.

Wenn Einzelmenschen und Gemeinschaften nicht die moralischen, kulturellen und geistigen Erfordernisse gewissenhaft respektiert sehen, die auf der Würde der Person und auf der eigenen Identität einer jeden Gemeinschaft, angefangen bei der Familie und den religiösen Gesellschaften, gründen, dann wird sich alles übrige - Verfügbarkeit von Gütern, Überfluß an technischen Hilfsmitteln für das tägliche Leben, ein gewisses Niveau materiellen Wohlstandes - als ungenügend und langfristig als verachtenswert erweisen. Das bestätigt der Herr eindeutig im Evangelium, wo er die Aufmerksamkeit aller auf die wahre Rangfolge der Werte lenkt: "Was nützt es einem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, dabei aber seine Seele verliert?" (
Mt 16,26).

Echte Entwicklung nach den eigenen Erfordernissen des menschlichen Wesens, ob Mann oder Frau, Kind, Erwachsener oder Betagter, schließt, in erster Linie bei allen, die sich an diesem Prozeß aktiv beteiligen und dafür verantwortlich sind, ein lebendiges Bewußtsein ein vom Wert der Rechte al1er und eines jeden sowie von der Notwendigkeit, das Recht eines jeden auf den vollen Gebrauch der Hilfen, die von Wissenschaft und Technik angeboten werden, zu achten.

Im inneren Bereich einer jeden Nation erhält die Achtung aller Menschenrechte eine große Bedeutung: besonders das Recht auf Leben in jedem Stadium seiner Existenz; die Rechte der Familie, insofern sie die soziale Grundgemeinschaft oder "Zelle der Gesellschaft" ist; die Gerechtigkeit in den Arbeitsverhältnissen; die Rechte, die dem Leben der politischen Gemeinschaft als solcher innewohnen; die Rechte aus der transzendenten Berufung des Menschen, angefangen beim Recht auf Freiheit, den eigenen religiösen Glauben zu bekennen und zu praktizieren.

Auf internationaler Ebene, in den Beziehungen zwischen den Staaten oder - nach dem geläufigen Sprachgebrauch - zwischen den verschiedenen "Welten", muß die Identität eines jeden Volkes mit seinen geschichtlichen und kulturellen Eigenschaften voll geachtet werden. Ebenso unerläßlich ist es, wie schon die Enzyklika Populorum Progressio gewünscht hat, jedem Volk das gleiche Recht zuzugestehen mit am Tisch des gemeinsamen Mahles zu sitzen",61 statt wie Lazarus draußen vor der Tür zu liegen während "die Hunde kommen, um seine Geschwüre zu lecken (vgl. Lc 16 Lc 20 Lc 21). Sowohl die Völker als auch die einzelnen Personen müssen sich der grundsätzlichen Gleichheit erfreuen,62 auf der zum Beispiel die Charta der Organisationen der Vereinten Nationen beruht: eine Gleichheit, die das Fundament des Rechtes aller auf Teilnahme am Prozeß einer vollen Entwicklung ist.

Um von solcher Art zu sein, muß sich die Entwicklung im Rahmen von Solidarität und Freiheit vollziehen, ohne jemals die eine oder die andere, unter welchem Vorwand auch immer zu opfern. Der moralische Charakter der Entwicklung und seine notwendige Förderung werden besonders herausgestellt, wenn alle Erfordernisse, die sich aus der dem menschlichen Geschöpf eigenen Ordnung von Wahr und Gut herleiten, auf das strengste beachtet werden. Der Christ, der dazu angeleitet worden ist, im Menschen das Abbild Gottes zu sehen, das zur Teilnahme an der Wahrheit und am Guten berufen ist, die Gott selbst darstellt, versteht ferner den Einsatz für die Entwicklung und ihre Verwirklichung nicht unabhängig von der Beachtung und dem Respekt vor der einzigartigen Würde dieses "Abbildes". Mit anderen Worten, die wahre Entwicklung muß sich auf die Liebe zu Gott und zum Nächsten gründen und dazu beitragen, die Beziehungen zwischen den einzelnen und der Gesellschaft zu fördern. Das ist die "Zivilisation der Liebe", von der Papst Paul VI. so oft gesprochen hat.


34 Der moralische Charakter der Entwicklung kann auch nicht von der Achtung vor den Geschöpfen absehen, welche die sichtbare Natur bilden, die die Griechen in Anspielung auf die Ordnung, von der sie geprägt ist, "Kosmos" nannten. Auch diese Wirklichkeiten verlangen Achtung, und zwar in einer dreifachen Hinsicht, über die aufmerksam nachzudenken sich lohnt.

Die erste besteht darin, daß es angemessen ist, sich zunehmend dessen bewußt zu werden, daß man nicht ungestraft von den verschiedenen lebenden oder leblosen Geschöpfen - Naturelemente, Pflanzen, Tiere - rein nach eigenem Gutdünken und entsprechend den eigenen wirtschaftlichen Erfordernissen Gebrauch machen kann. Im Gegenteil, man muß der Natur eines jeden Wesens und seiner Wechselbeziehung in einem geordneten System wie dem Kosmos Rechnung tragen.

Die zweite Überlegung gründet sich hingegen auf die noch eindringlichere Feststellung von der Begrenztheit der natürlichen Hilfsquellen, von denen sich einige, wie man sagt, nicht regenerieren. Diese Quellen mit absolutem Verfügungsanspruch zu benutzen, als ob sie unerschöpflich wären, bringt ihr Fortbestehen nicht nur für die gegenwärtige Generation, sondern vor al1cm für die künftigen in ernste Gefahr.

Die dritte Überlegung bezieht sich unmittelbar auf die Folgen, die eine gewisse Art von Entwicklung auf die Lebensqualität in den Industriegebieten hat. Wir wissen alle, daß ein direktes oder indirektes Ergebnis der Industrialisierung immer häufiger die Verschmutzung der Umwelt ist, mit schwerwiegenden Folgen für die Gesundheit der Bevölkerung.

Ein weiteres Mal wird dadurch deutlich, daß sich die Entwicklung, der Wille zur Planung, der sie lenkt, der Gebrauch der Hilfsquellen und die Art und Weise, sie zu verwerten, nicht von der Beachtung der moralischen Forderungen lösen dürfen. Eine davon verlangt ohne Zweifel Grenzen für den Gebrauch der sichtbaren Natur Die vom Schöpfer dem Menschen anvertraute Herrschaft ist keine absolute Macht noch kann man von der Freiheit sprechen, sie zu "gebrauchen oder zu mißbrauchen" oder über die Dinge zu verfügen, wie es beliebt. Die Beschränkung, die der Schöpfer selber von Anfang an auferlegt hat, ist symbolisch in dem Verbot enthalten, "von der Frucht des Baumes zu essen" (vgl.
Gn 2,16-17); sie zeigt mit genügender Klarheit, daß wir im Hinblick auf die sichtbare Natur nicht nur biologischen, sondern auch moralischen Gesetzen unterworfen sind, die man nicht ungestraft übertreten darf.

Eine richtige Auffassung von Entwicklung kann nicht von solchen Überlegungen hinsichtlich des Gebrauchs der Naturdinge, der möglichen Erneuerung der Hilfsquellen und der Folgen einer ungeordneten Industrialisierung absehen, die unser Gewissen erneut auf die moralische Dimension der Entwicklung hinlenken.63


V. Eine theologische Analyse der modernen Probleme

35 Im Lichte dieses wesentlichen moralischen Charakters der Entwicklung sind auch die Hindernisse zu betrachten, die sich ihr entgegenstellen. Wenn es während der Jahre seit der Veröffentlichung der Enzyklika Pauls VI. keine Entwicklung gegeben hat - oder sie nur in geringem, unregelmäßigem, wenn nicht geradezu widersprüchlichem Maße stattgefunden hat -, können die Gründe dafür nicht nur wirtschaftlicher Natur sein. Wie bereits angedeutet, sind dabei auch politische Motive im Spiel. Die Entscheidungen, die die Entwicklung der Völker vorantreiben oder hemmen, sind ja gewiß Faktoren von politischem Charakter. Um die oben genannten entarteten Mechanismen zu überwinden und sie durch neue, gerechtere zu ersetzen, die dem Gemeinwohl der Menschheit mehr entsprechen, bedarf es eines wirksamen politischen Willens. Leider muß man aber nach einer Analyse der Situation feststellen, daß dieser bisher unzureichend gewesen ist.

In einem pastoralen Dokument wie dem vorliegenden wäre aber eine Analyse, die sich ausschließlich auf wirtschaftliche und politische Ursachen der Unterentwicklung (und analog auch der sogenannten Überentwicklung) beschränken würde, unvollständig. Es ist deshalb erforderlich, die Ursachen moralischer Natur zu ermitteln, die auf der Ebene des Verhaltens der Menschen als verantwortliche Personen wirken, um den Fortgang der Entwicklung zu hemmen und ihre Vollendung zu verhindern.

Wenn wissenschaftliche und technische Hilfsmittel zur Verfügung stehen, die zusammen mit den notwendigen und konkreten politischen Entscheidungen endlich dazu beitragen sollen, die Völker auf den Weg zu einer echten Entwicklung zu bringen, dann erfolgt die Überwindung der hauptsächlichen Hindernisse ebenfalls nur durch wesentlich moralische Entschlüsse, welche sich für die Glaubenden, besonders für Christen, mit Hilfe der göttlichen Gnade an den Prinzipien des Glaubens orientieren.


36 Deshalb ist zu betonen, daß eine in Blöcke geteilte Welt, die von starren Ideologien gestützt werden und wo statt gegenseitiger solidarischer Abhängigkeit verschiedene Formen von Imperialismus vorherrschen, nur eine Welt sein kann, die "Strukturen der Sünde" unterworfen ist. Die Summe der negativen Faktoren, die sieh in einem Sinne auswirken, der zu einem echten Bewußtsein vom umfassenden Gemeinwohl und von der Aufgabe, diese zu fördern, im Gegensatz steht, macht den Eindruck, in Personen und Institutionen eine Barriere zu schaffen, die nur schwer zu überwinden ist.64

Wenn die heutige Situation Schwierigkeiten unterschiedlicher Natur zuzuschreiben ist, so ist es nicht verfehlt, von "Strukturen der Sünde" zu sprechen, die, wie ich im Apostolischen Schreiben Reconciliato Paenitentia festgestellt habe, in persönlicher Sünde ihre Wurzeln haben und daher immer mit konkreten Taten von Personen zusammenhängen, die solche Strukturen herbeiführen, sie verfestigen und es erschweren, sie abzubauen.65

Und so verstärken und verbreiten sie sich und werden zur Quelle weiterer Sünden, indem sie das Verhalten der Menschen negativ beeinflussen.

"Sünde" und "Strukturen der Sünde" sind Kategorien, die nicht oft auf die Situation der Welt von heute angewandt werden. Man gelangt aber nicht leicht zu einem tieferen Verständnis der Wirklichkeit, wie sie sich unseren Augen darbietet, wenn man der Wurzel der Übel, die uns bedrängen, nicht auch einen Namen gibt.

Man kann gewiß von "Egoismus" und von "Kurzsichtigkeit" sprechen; man kann auf "falsche politische Einschätzungen", auf "unkluge wirtschaftliche Entscheidungen" hinweisen. In jeder dieser Wertungen bemerkt man jedoch ein Echo ethisch-moralischer Natur. Die Lage des Menschen ist derartig, daß eine tiefere Analyse von Taten und Unterlassungen der Personen erschwert wird, wenn man nicht in der einen oder anderen Weise Urteile oder Bezüge ethischer Natur miteinschließt.

Diese Wertung ist an sich positiv zu sehen, vor allem wenn sie daraus sämtliche Folgen zieht und sich auf den Glauben an Gott und auf sein Gesetz gründet, das das Gute vorschreibt und das Böse verbietet.

Darin besteht der Unterschied zwischen der Art von sozialpolitischer Analyse und dem ausdrücklichen Hinweis auf die "Sünde" und auf "Strukturen der Sünde". Bei dieser letzteren Sichtweise kommen der Wille des dreimal heiligen Gottes, sein Plan mit den Menschen, seine Gerechtigkeit und sein Erbarmen mit ins Spiel. Gott, der reich ist an Erbarmen, der Erlöser der Menschen, der Herr und Geber des Lebens, fordert von den Menschen bestimmte Verhaltensweisen, die sich auch in Handlungen oder Unterlassungen gegenüber dem Nächsten ausdrücken. Hierin liegt ein Bezug auf die "zweite Tafel" der Zehn Gebote (vgl.
Ex 20,12-17 Dt 5,16-21); durch deren Nichtbeachtung beleidigt man Gott und schadet dem Nächsten, wobei man Abhängigkeiten und Hindernisse in die Welt einführt, die viel weiter reichen als die Taten selbst und die kurze Lebensspanne des einzelnen Menschen. Sie wirken sich auch auf den Prozeß der Entwicklung der Völker aus, dessen Verzögerung oder zu langsames Voranschreiten auch in diesem Licht zu beurteilen.


37 An diese allgemeine Analyse religiöser Natur können sich nun einige mehr ins einzelne gehende Überlegungen anschließen, um zu bemerken, daß die bezeichnendsten Handlungen und Verhaltensweisen, die im Gegensatz zum Willen Gottes und zum Wohl des Nächsten stehen, sowie die "Strukturen", die sie herbeiführen, heute vor allem zwei zu sein scheinen: auf der einen Seite die ausschließliche Gier nach Profit und auf der anderen Seite das Verlangen nach Macht mit dem Vorsatz, anderen den eigenen Willen aufzuzwingen. Jeder dieser Verhaltensweisen kann man, um sie noch treffender zu kennzeichnen, die Qualifizierung hinzufügen: "um jeden Preis". Mit anderen Worten, wir stehen vor einer Absolutsetzung menschlicher Verhaltensweisen mit allen ihren möglichen Folgen.

Auch wenn beide Haltungen an sich voneinander getrennt werden können, weil die eine ja ohne die andere zu existieren vermag, finden sie sich doch in dem Bild, das sich unseren Augen darbietet, unauflöslich verbunden, mag auch die eine oder die andere vorherrschen.

Dieser doppelten sündhaften Haltung verfallen offensichtlich nicht nur Einzelpersonen, sondern auch Nationen und Blöcke. Das begünstigt noch mehr das Entstehen von "Strukturen der Sünde", von denen ich gesprochen habe. Wenn man gewisse Formen eines modernen "Imperialismus" im Licht dieser moralischen Kriterien betrachten würde, könnte man entdecken, daß sich hinter bestimmten Entscheidungen, die scheinbar nur von Wirtschaft oder Politik getragen sind, wahrhafte Formen von Götzendienst verbergen: gegenüber Geld, Ideologie, Klasse oder Technologie.

Mit dieser Analyse wollte ich vor allem die wahre Natur des Bösen aufzeigen, mit der wir es bei der Frage der Entwicklung der Völker zu tun haben: Es handelt sich um ein moralisches Übel, die Frucht vieler Sünden, die zu "Strukturen der Sünde" führen. Das Böse so zu erkennen bedeutet, auf der Ebene menschlichen Verhaltens den Weg genau anzugeben, den man gehen muß, um es zu überwinden.



38 Es ist ein langer und umständlicher Weg, weil er zudem noch unter ständiger Bedrohung steht, sei es durch die innere Zerbrechlichkeit menschlicher Vorsätze und Taten, sei es durch die Wandelbarkeit der äußeren, oft nicht vorhersehbaren Umstände. Auf jeden Fall muß man den Mut haben, diesen Weg aufzunehmen und, wenn einige Schritte getan sind oder ein Teil der Wegstrecke durchschritten ist, ihn bis zum Ende zu gehen.

Im Rahmen solcher Überlegungen enthält die Entscheidung, sich auf den Weg zu machen oder den Weg fortzusetzen, vor allem einen moralischen Wert, den gläubige Männer und Frauen als von Gottes Willen gefordert anerkennen, dem einzigen wahren Fundament einer Ethik mit absoluter Verpflichtung.

Es ist zu wünschen, daß auch die Männer und Frauen, die keinen ausdrücklichen Glauben haben, davon überzeugt sind, daß die Hindernisse, die einer vollen Entwicklung entgegenstehen, nicht nur wirtschaftlicher Natur sind, sondern von Grundhaltungen abhängen, die sich für den Menschen als absolute Werte darstellen. Deshalb ist zu hoffen, daß alle, die im einen oder anderen Maße für ein "menschlicheres Leben" gegenüber ihren Mitmenschen verantwortlich sind, seien sie von einem religiösen Glauben inspiriert oder nicht, sich vollkommen Rechenschaft geben über die dringende Notwendigkeit einer Änderung der geistigen Haltungen, welche die Beziehungen eines jeden Menschen mit sich selbst, mit dem Nächsten, mit den menschlichen Gemeinschaften, auch den entferntesten, sowie mit der Natur bestimmen, und zwar aus der Kraft höherer Werte wie des Gemeinwohls oder, um den glücklichen Ausdruck der Enzyklika Populorum Progressio aufzugreifen, der vollen Entwicklung "des ganzen Menschen und aller Menschen".66

Für die Christen wie für alle, die die genaue theologische Bedeutung des Wortes "Sünde" anerkennen, heißt die Änderung des Verhaltens oder der Mentalität oder der Lebensweise in biblischer Sprache "Umkehr" (vgl.
Mc 1,15 Lc 13,3 Lc 13,5 Is 30,15). Diese Umkehr betrifft im einzelnen die Beziehung zu Gott, zur zugezogenen Schuld, zu ihren Folgen und darum auch zum Nächsten als Individuum oder in Gemeinschaft. Gott, in "dessen Händen die Herzen der Mächtigen sind"67 und aller anderen, ist es, der die "Herzen aus Stein" nach seiner eigenen Verheißung und durch das Wirken seines Geistes "in Herzen aus Fleisch" umzuwandeln vermag (vgl. Ez 36,26)

Auf dem Wege zur ersehnten Umkehr und zur Überwindung der moralischen Hindernisse für die Entwicklung kann man bereits das wachsende Bewußtsein der gegenseitigen Abhängigkeit zwischen den Menschen und den Nationen als positiven und moralischen Wert hervorheben. Daß Männer und Frauen in verschiedenen Teilen der Welt Ungerechtigkeiten und Verletzungen der Menschenrechte, begangen in fernen Ländern, die sie vielleicht niemals besuchen werden, als ihnen selbst zugefügt empfinden, ist ein weiteres Zeichen einer Wirklichkeit, die sich in Gewissen verwandelt hat und so eine moralische Qualität erhält.

Vor allem die Tatsache der gegenseitigen Abhängigkeit wird als entscheidendes System von Beziehungen in der heutigen Welt mit seinen wirtschaftlichen, kulturellen, politischen und religiösen Faktoren verstanden und als moralische Kategorie angenommen. Wenn die gegenseitige Abhängigkeit in diesem Sinne anerkannt wird, ist die ihr entsprechende Antwort als moralisches und soziales Verhalten, als "Tugend" also, die Solidarität Diese ist nicht ein Gefühl vagen Mitleids oder oberflächlicher Rührung wegen der Leiden so vieler Menschen nah oder fern. Im Gegenteil, sie ist die feste und beständige Entschlossenheit, sich für das "Gemeinwohl" einzusetzen, das heißt, für das Wohl aller und eines jeden, weil wir alle für alle verantwortlich sind. Eine solche Entschlossenheit gründet in der festen Überzeugung, daß gerade jene Gier nach Profit und jener Durst nach Macht, von denen bereits gesprochen wurde, es sind, die den Weg zur vollen Entwicklung aufhalten. Diese Haltungen und "Strukturen der Sünde" überwindet man nur - neben der notwendigen Hilfe der göttlichen Gnade mit einer völlig entgegengesetzten Haltung mit dem Einsatz für das Wohl des Nächsten zusammen mit der Bereitschaft, sich im Sinne des Evangeliums für den anderen zu "verlieren", anstatt ihn auszubeuten, und ihm zu "dienen", anstatt ihn um des eigenen Vorteils willen zu unterdrücken (vgl. Mt 10,40-42 Mt 20,25 Mc 10,42-45 Lc 22,25-27).


39 Die Übung von Solidarität im Innern einer jeden Gesellschaft hat ihren Wert, wenn sich ihre verschiedenen Mitglieder gegenseitig als Personen anerkennen. Diejenigen, die am meisten Einfluß haben weil sie über eine (größere Anzahl von Gütern und Dienstleistungen verfügen sollen sich verantwortlich für die Schwächsten fühlen und bereit sein, Anteil an ihrem Besitz zu geben. Auf derselben Linie von Solidarität sollten die Schwächsten ihrerseits keine rein passive oder gesellschaftsfeindliche Haltung einnehmen, sondern selbst tun, was ihnen zukommt wobei sie durchaus auch ihre legitimen Rechte einfordern. Die Gruppen der Mittelschicht ihrerseits sollten nicht in egoistischer Weise auf ihrem Eigenvorteil bestehen, sondern auch die Interessen der anderen beachten.

Positive Zeichen in der heutigen Welt sind das wachsende Bewußtsein für die Solidarität der Armen untereinander, ihre Initiativen gegenseitiger Hilfe, die öffentlichen Kundgebungen im gesellschaftlichen Leben, wobei sie nicht zu Gewalt greifen, sondern die eigenen Bedürfnisse und ihre Rechte angesichts von Unwirksamkeit oder Korruption staatlicher Stellen deutlich machen. Kraft ihres Auftrages aus dem Evangelium fühlt sich die Kirche an die Seite der Armen gerufen. um die und zu deren Erfüllung beizutragen, ohne den Blick für das Wohl der einzelnen Gruppen im Rahmen des Gemeinwohls aller zu verlieren.

Derselbe Maßstab wird analogerweise auf die internationalen Beziehungen angewandt. Die wechselseitige Abhängigkeit muß sich in eine Solidarität verwandeln, die auf dem Prinzip gründet, daß die Güter der Schöpfung für alle bestimmt sind: Was menschlicher Fleiß durch Verarbeitung von Rohstoffen und Arbeitsleistung hervorbringt, muß dem Wohl aller in gleicher Weise dienen.

Indem die stärkeren und reicheren Nationen jeglichen Imperialismus und alle Absichten, die eigene Hegemonie zu bewahren, überwinden, müssen sie sich für die anderen moralisch verantwortlich fühlen, bis ein wirklich internationales System geschaffen ist, das sich auf die Grundlage der Gleichheit aller Völker und auf die notwendige Achtung ihrer legitimen Unterschiede stützt. Die wirtschaftlich schwächeren Länder oder jene, deren Menschen gerade noch überleben können, müssen mit Hilfe der anderen Völker und der internationalen Gemeinschaft in den Stand versetzt werden, mit ihren Schätzen an Menschlichkeit und Kultur; die sonst für immer verloren gehen würden, auch selbst einen Beitrag zum Gemeinwohl zu leisten.

Die Solidarität hilft uns, den "anderen" - Person, Volk oder Nation - nicht als irgendein Mittel zu sehen, dessen Arbeitsfähigkeit und Körperkraft man zu niedrigen Kosten ausbeutet und den man, wenn er nicht mehr dient, zurückläßt, sondern als ein uns "gleiches" Wesen, eine "Hilfe" für uns (vgl.
Gn 2,18 Gn 2,20), als einen Mitmenschen also, der genauso wie wir am Festmahl des Lebens teilnehmen soll, zu dem alle Menschen von Gott in gleicher Weise eingeladen sind. Hieraus folgt, wie wichtig es ist, das religiöse Gewissen der Menschen und Völker zu wecken.

So sind Ausbeutung, Unterdrückung und Vernichtung der anderen ausgeschlossen. Bei der gegenwärtigen Teilung der Welt in einander entgegengesetzte Blöcke ballen sich solche Tendenzen in der Gefahr von Krieg und der übertriebenen Sorge um die eigene Sicherheit zusammen, oft auf Kosten der Autonomie, der freien Entscheidung und sogar der territorialen Integrität der schwächeren Nationen, die in die sogenannten "Einflußzonen" oder "Sicherheitsgürtel" einbezogen sind.

Die "Strukturen der Sünde" und die Sünden, die dort einmünden, widersetzen sich mit gleicher Rationalität dem Frieden wie der Entwicklung, weil Entwicklung nach dem bekannten Ausdruck der Enzyklika Papst Paul VI. "der neue Name für den Frieden" ist.68

Auf solche Weise wird Solidarität, wie wir sie vorschlagen, der Weg zum Frieden und zugleich zur Entwicklung. Der Weltfriede ist in der Tat nicht denkbar ohne die Anerkennung von seiten der Verantwortlichen, daß die wechselseitige Abhängigkeit schon von sich aus die Überwindung der Politik der Blöcke, den Verzicht auf jede Form von wirtschaftlichem, militärischem oder politischem Imperialismus und die Verwandlung des gegenseitigen Mißtrauens in Zusammenarbeit fordert. Und diese ist gerade der ureigene Akt der Solidarität zwischen Einzelpersonen und Nationen.

Der Wahlspruch des Pontifikats meines verehrten Vorgängers Papst Pius XII. lautete: Opus iustitiae pax - der Friede, die Frucht der Gerechtigkeit. Heute könnte man mit derselben Genauigkeit und der gleichen Kraft biblischer Inspiration (vgl. Is 32,17 Jc 3,18) sagen: Opus solidarietatis pax - Friede, die Frucht der Solidarität.

Das von allen so sehr ersehnte Ziel des Friedens wird gewiß mit der Verwirklichung der sozialen und internationalen Gerechtigkeit erreicht werden, aber auch mit der Übung jener Tugenden, die das Zusammenleben fördern und das Leben in Einheit lehren, um gemeinsam, im Geben und Nehmen, eine neue Gesellschaft und eine bessere Welt zu schaffen.


Sollicitudo rei socialis 30