Das Hirtenamt nicht in einem autoritären Stil ausüben

Ansprache bei der Generalaudienz am 7. Juli 1993

 

1. In den vorausgegangenen Katechesen über die Priester haben wir schon mehrmals auf die Bedeutung hingewiesen, welche die Nächstenliebe in ihrem Leben hat. Wir wollen jetzt eingehender darüber sprechen, indem wir von der Wurzel der Nächstenliebe im Leben des Priesters selbst ausgehen. Die Wurzel gründet in seiner Identität als „Mann Gottes". Der erste Johannesbrief lehrt uns: „Gott ist die Liebe (4,8). Weil er „Mann Gottes" ist, muß er ein Mann voll Liebe sein. In ihm wäre keine wahre Gottesliebe - und nicht einmal eine wahre Frömmigkeit, ein wahrer apostolischer Eifer - ohne die Liebe zum Nächsten.

Jesus selbst hat uns auf die Verbindung zwischen der Liebe zu Gott und der Liebe zum Nächsten hingewiesen, so daß „den Herrn deinen Gott lieben aus ganzem Herzen" nicht zu trennen ist von „deinen Nächsten lieben" (vgl. Mt 22,36-40). Deshalb fordert der Autor des genannten Briefes: „Dieses Gebot haben wir von ihm: Wer Gott liebt, soll auch seinen Bruder lieben" (1 Joh 4,21).

 

2. Wenn er von sich spricht, beschreibt Jesus diese Liebe als die eines „guten Hirten", der nicht seine Interessen, seinen Vorteil wie der bezahlte Knecht verfolgt. Der Gute Hirt - sagt er - liebt seine Schafe so sehr, daß er für sie sein Leben hingibt (vgl. Joh 10,11.15). Es ist also eine Liebe, die bis zum Heroismus führt.

Wir wissen, mit wieviel Realismus all das im Leben und Sterben Jesu Ausdruck gefunden hat. Diejenigen, die von Christus durch die Priesterweihe den Hirtenauftrag erhalten, sind berufen, in ihrem Leben die heroische Liebe des guten Hirten zu üben und sie ihn ihrem Handeln zu bezeugen.

 

3. Gut sichtbar sind im Leben Jesu die wesentlichen Merkmale der „Hirtenliebe", die er zu seinen „Mitmenschen" hegt und die er seine Mitbrüder, die „Hirten" bittet nachzuahmen. Seine Liebe ist vor allem demütig: „Ich bin gütig und von Herzen demütig" (Mt 11,29). Bezeichnenderweise empfiehlt er seinen Aposteln, auf persönlichen Ehrgeiz und Herrschaftsanspruch zu verzichten, um das Beispiel des „Menschensohnes" nachzuahmen, der „nicht gekommen (ist), um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele" (Mk 1045 Mt 20 28 vgl. Pastores dabo vobis Nr. 21 22).

Daraus folgt daß die Hirtenmission nicht mit einer Haltung der Überlegenheit oder in autoritärem Stil ausgeübt werden darf (vgl. 1 Petr 5,3), der die Gläubigen verunsichern und vielleicht von der Herde entfernen würde. Auf den Spuren Christi, des guten Hirten muß man sich zu einem Geist demütigen Dienens heranbilden (vgl. Katechismus der Katholischen Kirche Nr 876)

Jesus gibt uns außerdem das Beispiel einer mitleidsvollen Liebe, das heißt voll aufrichtiger und tätiger Teilnahme an den Leiden und Schwierigkeiten der Mitmenschen. Er hat Mitleid mit den Scharen ohne Hirten (Mt 9,36), deshalb ist er besorgt, sie durch seine Worte des Lebens zu führen und „lehrt sie lange" (Mk 6,34). Durch dieses Mitleid heilt er viele Kranke (Mt 14,14) und gibt ihnen ein Zeichen der geistlichen Genesung; er vermehrt das Brot für die Hungernden (Mt 15,32; Mk 8,2), deutliches Symbol der Eucharistie; er empfindet Mitleid für die menschlichen Nöte (Mt 20,34; Mk 1,41), und will Hilfe bringen; er nimmt teil am Schmerz derer, die den Verlust eines lieben Angehörigen beweinen (Lk 7,13; Joh 11,33-35); auch mit den Sündern hat er Erbarmen (vgl. Lk 15,1-2), gemeinsam mit dem Vater, der voll des Mitleids für den verlorenen Sohn ist (vgl. Lk 15,20) und Barmherzigkeit, nicht Opfer will (vgl. Mt 9,10-13). Es fehlt auch nicht an Fällen, in denen er seine Gegner tadelt, weil sie sein Mitleid nicht verstehen (Mt 12,7).

 

4. Dabei ist es bedeutsam, daß der Brief an die Hebräer im Hinblick auf das Leben und den Tod Jesu die Solidarität und das Mitleid als wesentliche Züge des authentischen Priestertums darstellt. Der Brief bekräftigt, daß der Hohepriester „aus den Menschen ausgewählt und für die Menschen eingesetzt (wird) ... Er ist fähig, für die Unwissenden und Irrenden Verständnis aufzubringen" (Hebr 5,1-2). Deshalb mußte auch der ewige Sohn Gottes „in allem seinen Brüdern gleich sein, um ein barmherziger und treuer Hoherpriester vor Gott zu sein und die Sünden des Volkes zu sühnen" (ebd., 2,17). Darum ist es für uns Christen ein großer Trost zu wissen, daß wir „ja nicht einen Hohen Priester (haben), der nicht mitfühlen könnte mit unserer Schwäche, sondern einen, der in allem wie wir in Versuchung geführt worden ist, aber nicht gesündigt hat" (ebd., 4,15).

Der Priester findet deshalb in Christus das Vorbild einer wahren Liebe zu den Leidenden, den Armen, den Bedrängten und vor allem zu den Sündern, denn Jesus ist den Menschen nahe durch ein ähnliches Leben wie dem unsern; er hat Prüfungen und Bedrängnisse wie wir erlebt; er ist deshalb voll des Mitleids für uns und „ist fähig, für die Unwissenden und Irrenden Verständnis aufzubringen" (Hebr 5,2). Und schließlich hilft er wirksam den Menschen in Versuchung, „denn da er selbst in Versuchung geführt wurde und gelitten hat, kann er denen helfen, die in Versuchung geführt werden" (ebd., 2,18).

 

5. Im Hinblick auf die göttliche Liebe stellt das H. Vatikanische Konzil die Priesterweihe als Quelle der Hirtenliebe vor: „Die Priester des Neuen Testamentes werden zwar aufgrund ihrer Berufung und Weihe innerhalb der Gemeinde des Gottesvolkes in bestimmter Hinsicht abgesondert, aber nicht um von dieser, auch nicht von irgendeinem Menschen, getrennt zu werden, sondern zur gänzlichen Weihe an das Werk, zu dem sie Gott erwählt hat. Sie könnten nicht Christi Diener sein, wenn sie nicht Zeugen und Ausspender eines anderen als des irdischen Lebens wären; sie vermöchten aber auch nicht den Menschen zu dienen, wenn diese und ihre Lebensverhältnisse ihnen fremd blieben" (Presbyterorum ordinis, Nr. 3). Es handelt sich um zwei Erfordernisse, die zwei Aspekte des priesterlichen Verhaltens begründen:

„Ihr Dienst verlangt in ganz besonderer Weise, daß sie sich dieser Welt nicht gleichförmig machen; er erfordert aber zugleich, daß sie in dieser Welt mitten unter den Menschen leben, daß sie wie gute Hirten ihre Herde kennen und auch die heimzuholen suchen, die außerhalb stehen, damit sie Christi Stimme hören und eine Herde und ein Hirt sei" (Presbyterorum ordinis, Nr. 3). In diesem Sinn erklärt sich die intensive Tätigkeit des Paulus bei der Spendensammlung für die ärmeren Gemeinden (vgl. 1 Kor 16,1-4) und die Empfehlung, die der Autor des Briefes an die Hebräer gibt, einander zu unterstützen und die Güter mit den anderen zu teilen (koinonía) wie währe Jünger Christi (vgl. Hebr 13,16).

 

6. Der Weisung des Konzils entsprechend soll der Priester, der sich nach dem guten Hirten formen und in sich selbst seine Liebe zu den Menschenbrüdern erzeugen will, sich um einige heute mehr denn je wichtige Dinge bemühen: die eigene Herde zu können (Presbyterorum ordinis, Nr. 3), besonders durch Kontaktnahme, Hausbesuche, freundschaftliche Beziehungen, geplante oder zufällige Begegnungen usw. und immer mit dem Ziel und im Geist des guten Hirten; für die Menschen, die sich an ihn wenden, soll der Priester so wie Jesus eine freundliche Haltung einnehmen, immer bereit und imstande zuzuhören, darauf bedacht, zu verstehen, offen, ehrlich und voll Güte; der Priester soll sich in den Hilfswerken und Initiativen für die Armen und Behinderten einsetzen; er soll vor allem jene Eigenschaften pflegen und entfalten, „die zu Recht in der menschlichen Gesellschaft sehr geschätzt sind: Herzensgüte, Aufrichtigkeit, Charakterfestigkeit und Ausdauer, unbestechlicher Gerechtigkeitssinn, gute Umgangsformen" (Presbyterorum ordinis, Nr. 3); außerdem Geduld, die Bereitschaft, rasch und hochherzig zu verzeihen, Freundlichkeit, Geselligkeit, die Fähigkeit, verfügbar und dienstbereit zu sein, ohne den Wohltäter spielen zu wollen. Es ist eine Reihe von menschlichen und seelsorglichen Eigenschaften, die die Liebe Christi im Verhalten des Priesters zum Ausdruck bringen muß (vgl. Pastores dabo vobis, Nr. 23).

 

7. Von der Liebe getragen kann der Priester in seinem Dienst dem Beispiel Christi folgen dessen Speise es war den Willen des Vaters zu tun In der liebevollen Zustimmung zu diesem Willen wird der Priester den Ursprung und die Quelle der Einheit seines Lebens finden. Das Konzil bekräftigt: „Die Priester werden ... sich mit Christus vereinigen im Erkennen des väterlichen Willens ... Wenn sie so die Rolle des guten Hirten übernehmen, werden sie gerade in der Betätigung der Hirtenliebe das Band der priesterlichen Vollkommenheit finden, das ihr Leben und ihr Wirken zur Einheit verknüpft" (Presbyterorwn ordinis, Nr. 14). Die Quelle, aus der solche Liebe zu schöpfen ist, bleibt immer die Eucharistie, die „daher Mitte und Wurzel des ganzen priesterlichen Lebens (ist), so daß! der Priester in seinem Herzen auf sich beziehen muß, was auf dem Opferaltar geschieht" (Presbyterorum ordinis, Nr. 14). Die Gnade und die Liebe verbreitet sich so vom Altar zum Ambo, zum Beichtstuhl, zum Pfarramt, zur Schule, zum Pfarrzentrum, in die Häuser und Straßen; in die Krankenhäuser, die Verkehrsmittel und in die Medien, überall dort, wo der Priester die Möglichkeit hat,. seinen Hirtenauftrag zu erfüllen: In jedem Fall ist es seine Messe, die sich ausdehnt, seine geistliche Verbundenheit mit Christus, dem Priester und Opfer, die ihn dahin führt, zum Wohl der Mitmenschen „Weizenkorn Gottes zu sein, um als reines!! Brot Christi befunden zu werden" wie der heilige Ignatius von Antiochien sagt (vgl. Epist. ad Romanos, IV, 1).

 

In deutscher Sprache sagte der Papst:

 

In unserer heutigen Katechese, die wiederum den Priestern und ihrem Dienst gewidmet ist, wollen wir uns der Bedeutung der Nächstenliebe im priesterlichen Leben zuwenden. Die Wurzel dieser Liebe zu den Brüdern und Schwestern liegt in der Identität des Priesters als Mann Gottes begründet. Da Gott selbst Liebe ist (1 Joh 4,8),. muß sich auch der Priester durch wahre Liebe zu Gott, durch tiefe Frömmigkeit, echten apostolischen Eifer und aufrichtige Liebe zum Nächsten auszeichnen.

Jesus selbst beschreibt diese Liebe als diejenige eines guten Hirten der nicht sei nen eigenen Vorteil sucht. Der gute Hirte liebt seine Schafe und ist bereit, für sie sein Leben hinzugeben. Im Leben und Sterben Christi hat diese Haltung in besonderer Weise ihre Verwirklichung erfahren. So sind auch diejenigen, die durch die Priesterweihe Anteil an der Hirtensendung haben, aufgerufen, durch ihr Lebensbeispiel die unüberbietbare Liebe des guten Hirten zu bezeugen. Der Dienst als Hirte darf also keinesfalls aus einer Haltung der Überlegenheit und in autoritärem Stil ausgeübt werden, wodurch die Gläubigen nur abgestoßen und von der Herde entfernt würden. Auf den Spuren Christi, des guten Hirten, werden die Priester ihren Dienst in bescheidener Gesinnung ausüben.

All ihr pastorales Tun soll also geprägt sein vom Geist des guten Hirten: die seelsorglichen Kontakte und Gespräche, die Besuche und die zahlreichen tagtäglichen Begegnungen. Mitte und Wurzel des ganzen priesterlichen Lebens ist dabei stets die heilige Eucharistie, wobei der Priester sich im Gebet immer inniger in das Geheimnis Christi zu vertiefen sucht (Presbyterorum ordinis, Nr. 14).

Mit dieser kurzen Betrachtung grüße ich Euch. liebe Schwestern und Brüder aus den deutschsprachigen Ländern, sehr herzlich, ich wünsche Euch erholsame Ferien, in denen Ihr auch Zeit finden möget, Euren Glauben neu zu beleben und zu festigen. Dazu erteile ich Euch und Euren lieben Angehörigen in der Heimat von Herzen meinen Apostolischen Segen.