Die überaus vielfältigen Aufgaben des Priesters und Hirten der Gemeinschaft

Ansprache bei der Generalaudienz am 19. Mai 1993

1. In den vorhergegangenen Katechesen haben wir die Aufgabe der Priester als Mitarbeiter der Bischöfe im Bereich des Lehramtes (Unterweisung) und des sakramentalen Dienstes (Heiligung) dargelegt. Heute sprechen wir über ihre Mitwirkung an der pastoralen Leitung der Gemeinschaft. Für die Priester wie für die Bischöfe ist es die Teilhabe am dritten Aspekt des dreifachen „munus" Christi (dem Lehramt, Priesteramt und Hirtenamt): ein Widerschein des höchsten Priestertums Christi, des einzigen Mittlers zwischen den Menschen und Gott, des einzigen Lehrers und einzigen Hirten. In kirchlicher Hinsicht besteht die pastorale Aufgabe hauptsächlich im Dienst an der Einheit, das heißt darin, die Einheit aller im Leib Christi, der die Kirche ist, sicherzustellen (vgl. Pastores dabo vobis, Nr. 16).

2. Dazu sagt das Konzil: „Die Priester üben entsprechend ihrem Anteil an der Vollmacht das Amt Christi, des Hauptes und Hirten, aus. Sie versammeln im Namen des Bischofs die Familie Gottes, die als Gemeinschaft von Brüdern nach Einheit verlangt, und führen sie durch Christus im Geist zu Gott dem Vater" (Presbyterorum ordinis, Nr. 6). Das ist das wesentliche Ziel ihres Wirkens als Hirten und der Vollmacht, die ihnen verliehen wird, damit sie diese ihrer Verantwortungsstufe entsprechend ausüben: die ihnen anvertraute Gemeinde zur vollen Entfaltung des geistlichen und kirchlichen Lebens zu führen. Der Priester und Hirt muß diese Vollmacht ausüben, indem er sich dem Vorbild Christi, des guten Hirten, gleichmacht, der sie nicht durch äußeren Zwang auferlegen wollte, sondern dadurch, daß er die Gemeinschaft durch das innere Wirken seines Geistes formt. Er hat versucht, der Gruppe seiner Jünger und allen, die seine Botschaft annahmen, seine brennende Liebe mitzuteilen, um eine „Gemeinschaft der Liebe" ins Leben zu rufen, die er im richtigen Augenblick auch sichtbar als Kirche errichtet hat. Als Mitarbeiter der Bischöfe und Nachfolger der Apostel erfüllen auch die Priester ihre Sendung in der sichtbaren Gemeinschaft, indem sie diese zur Liebe anspornen, damit sie im Geist Christi lebt.

3. Es ist eine mit dem Hirtenauftrag verbundene Forderung, daß der Ansporn nicht von persönlichen Wünschen und Meinungen des Priesters, sondern von der Lehre des Evangeliums getragen wird, wie das Konzil sagt: „Die Priester ... sollen sich ihnen (den Menschen) gegenüber nicht nach Menschengefallen verhalten, sondern so, wie es die Lehre und das christliche Leben erheischt" (Presbyterorum ordinis, Nr. 6). Der Priester trägt die Verantwortung für die geordnete Arbeit der Gemeinschaft, eine Aufgabe, die zu erfüllen ihm der Bischof die notwendige Vollmacht verliehen hat. Ihm obliegt es, den harmonischen Ablauf der verschiedenen Dienste zu gewährleisten, die für das Wohl aller erforderlich sind; die notwendige Mitarbeit für die Liturgie, die Katechese und die geistliche Führung der Eheleute zu finden; die Entwicklung der verschiedenen geistlichen und apostolischen Vereinigungen oder Bewegungen in harmonischer Zusammenarbeit zu fördern; die karitative Hilfe für die Notleidenden, die Kranken und Einwanderer zu organisieren. Der Priester muß zugleich die Einheit der Gemeinschaft mit dem Bischof und dem Papst sichern und fördern.

4. Der gemeinschaftliche Aspekt der Hirtensorge darf jedoch die Bedürfnisse der einzelnen Gläubigen nicht vernachlässigen. Wir lesen im Konzilstext: „Darum ob.. liegt es den Priestern als Erziehern im. Glauben, selbst oder durch andere dafür zu sorgen, daß jeder Gläubige im Heiligen Geist angeleitet wird zur Entfaltung seiner persönlichen Berufung nach den Grundsätzen des Evangeliums, zu aufrichtiger und tätiger Liebe und zur Freiheit, zu der Christus uns befreit hat" (Presbyterorum ordinis, Nr. 6).

Das Konzil unterstreicht die Notwendigkeit, jedem Gläubigen zu helfen, damit er seine besondere Berufung entdeckt, als eigene und kennzeichnende Aufgabe des Hirten, der die Persönlichkeit des einzelnen achten und fördern will. Man kann sagen, daß Jesus selbst, der gute Hirt, der „die Schafe, die ihm gehören, einzeln beim Namen ruft" mit seiner Stimme, die sie kennen (vgl. Joh 10,3-4), durch sein Beispiel den ersten durch sein Beispiel die erste Regel der Einzelseelsorge festgelegt hat: die Bekanntschaft und Freundschaftsbeziehung mit den Menschen. Dem Priester obliegt es, jedem zu helfen, daß er seine Gaben gut nützt und auch die aus der Erlösung Christi erwachsene Freiheit richtig ausübt, wie der hl. Paulus empfiehlt (vgl. Gal 4,3; 5,1.13; vgl. auch Joh 8,36).

Alles muß auf das Üben von „aufrichtiger und tätiger Liebe" ausgerichtet sein. Das heißt, daß die Priester „die Christen auch anleiten (müssen), nicht nur sich selbst zu leben, sondern entsprechend den Forderungen des neuen Liebesgebotes mit der Gnadengabe, die jeder empfangen hat, einander zu dienen; so sollen alle ihre Aufgaben in der Gemeinschaft der Menschen christlich erfüllen" (Presbyterorum ordinis, Nr. 6). Deshalb gehört es zur Aufgabe des Priesters, die Pflichten der Liebe in Erinnerung zu rufen; die Anwendung der Liebe im sozialen Leben zu zeigen; eine Atmosphäre der Einheit unter Achtung der Unterschiede zu fördern; Initiativen und Liebeswerke anzuregen, in denen sich für alle Gläubigen große Möglichkeiten eröffnen, besonders durch den neuen Aufschwung im Freiwilligendienst, der als gute Freizeitbeschäftigung und vielfach als Lebensaufgabe bewußt ausgeübt wird.

5. Der Priester ist auch persönlich gerufen, sich in den Liebeswerken zu engagieren, manchmal auch in außerordentlicher Form, wie es früher geschehen ist und auch heute üblich ist. Hier drängt es mich, vor allem die einfache, gewohnte, fast unbemerkte, aber ständige und hochherzige Liebe hervorzuheben, die sich nicht so sehr in sichtbaren Werken zeigt - zu denen nicht alle das. Talent und die Berufung haben -‚ sondern in der täglichen Übung der Güte, die hilft, stützt, tröstet in dem Maß, das jedem möglich ist. Es ist klar,, daß das Hauptaugenmerk, man kann sagen: die Vorliebe den „Armen und Geringen" gelten soll; denn „ihre Evangelisation ist zum Zeichen messianischen Wirkens gesetzt" (Presbyterorum ordinis, Nr. 6); ferner den „Kranken und Sterbenden", um die der Priester „am meisten besorgt sein und die er besuchen und im Herrn aufrichten soll" (vgl. Presbyterorum ordinis, Nr. 6). Der Priester. soll sich „mit besonderem Eifer ... auch der Jugend annehmen, ebenso der Eheleute und Eltern" (Presbyterorum ordinis, Nr. 6). Er soll besonders den Jugendlichen,. die die Hoffnung der Gemeinschaft sind, seine Zeit, seine Kraft und seine Fähigkeiten widmen, um eine christliche Erziehung und das Heranreifen in der Grundsatztreue dem Evangelium gegenüber zu fördern.

Das Konzil empfiehlt dem Priester auch „die Katechumenen und Neugetauften; sie sind schrittweise zur Erkenntnis und Führung eines christlichen Lebens zu erziehen" (Presbyterorum ordinis, Nr. 6).

6. Schließlich muß man darauf achten, daß es notwendig ist, jede zu enge Sicht der Ortsgemeinschaft, jede parteiliche und, wie man sagt, lokalpatriotische Haltung zu überwinden, hingegen den Gemeinschaftsgeist zu nähren, der sich auf die Horizonte der Gesamtkirche hin öffnet. Wenn auch der Priester seine Zeit und seine Sorge der ihm anvertrauten Ortsgemeinschaft widmen muß - wie es besonders bei den Pfarrern und ihren direkten Mitarbeitern der Fall ist -‚ so soll sein Herz offen bleiben für die „Felder, die reif sind zur Ernte", und über alle Grenzen hinaus, sowohl in der weltumspannenden Dimension des Geistes als auch in der persönlichen Teilhabe an den Missionsaufgaben der Kirche, indem er eifrig die Mitarbeit der eigenen Gemeinschaft bei der erforderlichen geistlichen und materiellen Hilfe fördert (vgl. Redemptoris missio, Nr. 67; Pastores dabo vobis, Nr. 32).

„Kraft des Weihesakramentes - bekräftigt der Katechismus der Katholischen Kirche - haben die Priester an der weltweiten Sendung teil, die Christus den Aposteln anvertraut hat. ‚Die Geistesgabe, die den Priestern in ihrer Weihe verliehen wurde, rüstet sie nicht für irgendeine begrenzte und eingeschränkte Sendung, sondern für die alles umfassende und universale Heilssendung bis an die Grenzen der Erde (Apg 1,8) (Presbyterorum ordinis, Nr. 10) und macht sie ‚stets bereit, das Evangelium überall zu verkünden (Optatam totius, 20)" (Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 1565).

7. In jedem Fall beginnt und endet alles in der Eucharistie hin, die das lebensspendende Prinzip pastoralen Handelns ist. Das Konzil sagt: „Die christliche Gemeinde wird aber nur auferbaut, wenn sie Wurzel und Angelpunkt in der Feier der Eucharistie hat; von ihr muß darum alle Erziehung zum Geist der Gemeinschaft ihren Anfang nehmen" (Presbyterorum ordinis, Nr. 6).

Die Eucharistie ist die Quelle der Einheit und der vollkommenste Ausdruck der Einheit aller Glieder der christlichen Gemeinschaft. Aufgabe der Priester ist es, dafür zu sorgen, daß sie es wirklich ist. Leider kommt es vor, daß die Eucharistiefeiern manchmal nicht Ausdruck der Einheit sind. Jeder nimmt für sich selbst daran teil und übersieht die anderen.

Die Priester sollen alle mit großer Hirtenliebe auf die Lehre des hl. Paulus hinweisen: „Ein Brot ist es. Darum sind wir viele ein Leib; denn wir alle haben teil an dem einen Brot", das „Teilhabe am Leib Christi" ist (1 Kor 10,16-17). Das Bewußtsein dieser Einheit im Leib Christi wird zu einem Leben in Liebe und wirksamer Solidarität anregen.

Die Eucharistie ist deshalb das lebenspendende Prinzip der Kirche als Gemeinschaft der Glieder Christi: Aus ihr schöpft alles pastorale Handeln Inspiration, Kraft und Ausmaß.

In deutscher Sprache sagte der Papst:

Ich grüße Euch, liebe Schwestern und Brüder, nochmals sehr herzlich. Mein besonderer Gruß gilt dabei den Lesern der Kirchenzeitung für das Erzbistum Köln sowie den zahlreichen Jugendlichen und Schülergruppen. Euch alle, liebe Schwestern und Brüder, lade ich dazu ein, mit mir für die Priester zu beten, die in Treue ihren oft nicht leichten Dienst zu erfüllen suchen.

Euch allen, Euren lieben Angehörigen in der Heimat sowie all jenen, die uns in diesem Augenblick geistlich verbunden sind, erteile ich von Herzen meinen Apostolischen Segen.