Gottes Wort aufnehmen und bewahren

Ansprache bei der Generalaudienz am 4. Juli 1990

1. Ein Zeugnis von der Gnade und Weisheit des jungen Jesus haben wir in der Episode des Gesprächs Jesu mit den Lehrern im Tempel, die Lukas unter die beiden Texte über das Heranwachsen Jesu „vor Gott und den Menschen" einfügt. Auch an dieser Stelle wird der Heilige Geist nicht erwähnt, aber das, was bei jener Gelegenheit geschieht, läßt sein Handeln durchblicken. Denn der Evangelist berichtet, daß „alle, die ihn hörten, erstaunt waren über sein Verständnis und über seine Antworten" (Lk 2,47). Es ist das Staunen über die Weisheit, die — wie man fühlt — von oben kommt (vgl. Jak 3,15; Joh 3,34), das heißt vom Heiligen Geist.

2. Bedeutsam ist auch die Frage der Eltern, die ihn nach dreitägiger Suche im Tempel unter den Schriftgelehrten fanden: „Kind, wie konntest du uns das antun? Dein Vater und ich haben dich voll Angst gesucht." Jesus antwortet gelassen mit einer anderen Frage: „Warum habt ihr mich gesucht? Wußtet ihr nicht, daß ich in dem sein muß, was meinem Vater gehört?" (Lk 2,48-49). In dem „Wußtet ihr nicht?" kann man vielleicht einen Hinweis auf das sehen, was Simeon zu Maria bei der Darstellung des Jesuskindes im Tempel gesagt hatte und was die Erklärung war für jenen Vorgeschmack der kommenden Trennung, des ersten „Schwertschlages" für ein Mutterherz. Man kann sagen, daß die vom Heiligen Geist eingegebenen Worte des greisen Simeon in jenem Augenblick über der Gruppe im Tempel widerhallten, wo sie vor zwölf Jahren gesprochen worden waren.

Aber in der Antwort Jesu offenbarte sich auch das Bewußtsein, der „Sohn Gottes" zu sein (vgl. Lk 1,35) und deshalb „im Haus seines Vaters", im Tempel, sein zu müssen, um „sich um das zu sorgen, was seinem Vater gehört" (nach einer anderen möglichen Übersetzung der Worte des Evangeliums). So erklärte Jesus vielleicht zum ersten Mal öffentlich seine Messianität und seine göttliche Identität. Dies geschah durch die Einsicht und Weisheit, die sich unter dem Einfluß des Heiligen Geistes in seine mit dem Wort Gottes vereinten Seele ergossen hatte. In jenem Augenblick sprach er, weil er „vom Heiligen Geist erfüllt war".

3. Lukas weist darauf hin, daß Maria und Josef „nicht verstanden, was er [Jesus] damit sagen wollte" (Lk 2,50). Das Staunen über das, was sie gesehen und gehört hatten, war ein Teil jenes Zustandes der Ungewißheit, in dem die Eltern blieben. Aber noch mehr ist zu berücksichtigen, daß sie — auch Maria — vor dem Geheimnis der Menschwerdung und der Erlösung standen, das, obwohl es sie mit einbezog, für sie deshalb nicht leichter zu verstehen war. Auch sie befanden sich im Helldunkel des Glaubens. Maria war die erste auf dem Pilgerweg des Glaubens (vgl. Redemptoris Mater, Nr. 12-19), die erleuchtetste, aber auch diejenige, die der härtesten Prüfung in der Annahme des Geheimnisses unterzogen wurde. Ihr oblag es, dem göttlichen Plan zuzustimmen, den sie in der Stille ihres Herzens bewunderte und erwog. In der Tat fügt Lukas hinzu: „Seine Mutter bewahrte alles, was geschehen war, in ihrem Herzen" (Lk 2,51). So bekräftigt er das, was er bereits in bezug auf die Worte der Hirten nach der Geburt Jesu geschrieben hatte: „Und alle ... staunten über die Worte der Hirten. Maria aber bewahrte alles, was geschehen war, in ihrem Herzen und dachte darüber nach" (Lk 2,18-19). Hier hört man das Echo der vertraulichen Mitteilungen Mamas, ja wir können sagen: ihrer „Offenbarung" an Lukas und die Urkirche, von der uns die „Kindheitsgeschichte" überliefert wurde, die Maria in ihrem Gedächtnis bewahrt hatte und die sie zu verstehen suchte, die sie aber vor allem in ihrem Herzen geglaubt und erwogen hatte. Die Teilhabe am Geheimnis bestand für Maria nicht nur in einem passiven Annehmen und Bewahren. Es kostete sie persönliche Anstrengung: „sie dachte darüber nach", ein Ausdruck, der im griechischen Original (symbàllein) buchstäblich ,zusammenfügen, gegenüberstellen" heißt. Maria versuchte, die Zusammenhänge der Ereignisse und der Worte zu begreifen, um so weit wie möglich deren Sinn zu erfassen.

4. Diese Betrachtung und innere Vertiefung geschah unter dem Einfluß des Heiligen Geistes. Maria war die erste, die unter dem Licht stand, das Jesus eines Tages den Jüngern verheißen sollte: „Der Beistand aber, der Heilige Geist, den der Vater in meinem Namen senden wird, der wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe" (Joh 14,26). Der Heilige Geist, der den Glaubenden und der Kirche den Sinn und Wert der Worte Christi verstehen läßt, wirkte schon in Maria, die als Mutter des fleischgewordenen Wortes der „Sitz der Weisheit", die Braut des Heiligen Geistes, die Trägerin und erste Vermittlerin des Evangeliums über die Herkunft Jesu war.

5. Auch in den folgenden Jahren in Nazaret dachte Maria über all das nach, was die Person und das Schicksal ihres Sohnes betraf; sie erwog es in der Stille ihres Herzens. Vielleicht konnte sie mit niemandem darüber sprechen; vielleicht war es ihr möglich, nur in wenigen Augenblicken den Sinn bestimmter Worte, gewisser Blicke ihres Sohnes zu erfassen. Aber der Heilige Geist hörte nicht auf, sie in der Tiefe ihrer Seele „an das, was sie gesehen und gehört hatte, zu erinnern". Die Erinnerung Marias war von dem Licht erhellt, das von oben kam. Dieses Licht steht am Ursprung der Erzählung des Lukas, wie er uns scheinbar zu verstehen geben will, wenn er auf der Tatsache besteht, daß Maria alles erwog und bewahrte: Sie konnte unter dem Wirken des Heiligen Geistes den höheren Sinn der Worte und Ereignisse durch ein Nachdenken begreifen, das sich bemühte, „alles zusammenzufügen".

6. Deshalb erscheint Maria vor uns als das Modell derer, die sich vom Heiligen Geist leiten lassen und in ihrem Herzen die Worte der Offenbarung als Samen auf gutem Boden (vgl. Mt 13,23) aufnehmen und bewahren, indem sie sich bemühen, sie so weit wie möglich zu verstehen, um noch tiefer in das Geheimnis Christi einzudringen.

In deutscher Sprache sagte der Papst:

Liebe Schwestern und Brüder!

In der Geschichte des Gesprächs Jesu mit den Lehrern im Tempel, die Lukas zwischen zwei Texten über das Heranwachsen Jesu „vor Gott und den Menschen" einfügt, erkennen wir die Gnade und die Weisheit Jesu. Der Heilige Geist wird an dieser Stelle nicht erwähnt, aber sein Handeln scheint durch bei dem, was bei jener Gelegenheit geschieht.

Der Evangelist berichtet nämlich, das „alle, die ihn hörten, erstaunt waren über sein Verständnis und über seine Antworten" (Lk 2,47). Es ist das Staunen vor der Weisheit, die von oben kommt (vgl. Jak 3,15; Joh 3,34), das heißt vom Heiligen Geist.

Man kann sagen, daß die prophetischen Worte des greisen Simeon über die göttliche Sendung Jesu, die vom Heiligen Geist eingegeben waren, in jenem Augenblick bei der im Tempel versammelten Gruppe ihren Widerhall finden, wo sie zwölf Jahre vorher ausgesprochen worden waren.

In der Antwort Jesu an seine Eltern „Warum habt ihr mich gesucht? Wußtet ihr nicht, daß ich in dem sein muß, was meinem Vater gehört?" (Lk 2,49), drückt sich auch das Bewußtsein aus, „der Sohn Gottes" zu sein (Lk 1,35). Damit erklärte er vielleicht zum ersten Mal seine Messianität und seine göttliche Identität.

Maria bewahrte alles, was geschehen war, im Gedächtnis: sie suchte zu verstehen, vor allem aber hat sie geglaubt und in ihrem Herzen erwogen. Sie versuchte, die Zusammenhänge der Ereignisse und der Worte herzustellen, um ihre Bedeutung zu begreifen. Dies geschah unter dem Einfluß des Heiligen Geistes. Deswegen ist Maria für uns das Modell derer, die sich vom Heiligen Geist leiten lassen, die die Worte der Offenbarung aufnehmen und in ihrem Herzen bewahren, um noch tiefer in das Geheimnis Christi einzudringen.

Mit dieser kurzen Betrachtung grüße ich alle Pilger und Besucher deutscher Sprache sehr herzlich. Mein besonderer Gruß gilt den zahlreichen Schüler- und Ministrantengruppen aus der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Osterreich. Ich wünsche euch auch eine innere Bereicherung aus eurer Romreise und jetzt bereits erholsame und angenehme Ferien. Euch und euren lieben Angehörigen in der Heimat sowie den mit uns über Radio Vatikan verbundenen Hörerinnen und Hörern erteile ich von Herzen meinen Apostolischen Segen.