1. „Denn auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut. . . Er stürzt
die. Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen.“(1) Mit diesen Worten preist
Maria die göttliche Weisheit, die Gefallen findet an den Demütigen und die zu
Fall bringt, die sich ausschließlich auf ihre eigene Sicherheit verlassen.
Die Armut ist eine Tugend, die von der Spiritualität des Alten Testaments
erst allmählich begriffen wurde. In der Folge der Babylonischen Gefangenschaft
gewinnt dieser Begriff eine immer stärker verinnerlichte Bedeutung. Das heißt,
„arm“ ist derjenige, der mit ganzem Herzen dem Herrn anhängt, indem er seinem
Willen gehorcht, der im Gesetz des Mose seinen konkreten Ausdruck findet (2).
Die so verstandene Armut beschrankte sich aber nicht auf eine hohle
Innerlichkeit, die sich nicht um die Verpflichtung zur sozialen Gerechtigkeit
zu kümmern brauchte. Im Gegenteil, die Beobachtung des mosaischen Gesetzes
brachte sichtbare Wirkungen der Brüderlichkeit hervor. Denn es forderte
dringend die Unterstützung der Bedürftigen, der Witwen, der Waisen, der Sklaven
und der Fremden; außerdem sah es anläßlich des Sabbat- und Jubeljahres den
Schuldennachlaß vor.
2. Maria, schreibt das Zweite Vatikanische Konzil, „ragt unter den
Demütigen und Armen des Herrn hervor, die das Heil mit Vertrauen von ihm
erhoffen und empfangen.“(3)
In der Armut Mariens erreicht die Armut, wie sie von vielen Gerechten des
Alten Testaments gelebt wurde, ihren Höhepunkt. Die Verkündigung weist die
Jungfrau als Geschöpf aus, das „arm im Geist“ ist, die sich aber mit ihrem „mir
geschehe, wie du es gesagt hast“ in vollkommener Fügsamkeit dem Willen Gottes
öffnet (4).
Bis zu ihrem Eingehen in die himmlische Herrlichkeit sollte die Armut Mariens
in der hochherzigen Hingabe an die Person und das Werk ihres Sohnes bestehen
Und immer im Helldunkel des Glaubens.“ (5)
3. Auch für uns als Jünger des Herrn bedeutet die Armut im Geiste soviel
wie den bedingungslosen Gehorsam gegenüber seinem Evangelium. Das ist eine
Herzenserziehung, zu der Paulus mit folgenden Worten mahnt:
„Seid untereinander so gesinnt, wie es dem Leben in Christus Jesus
entspricht.“ (6)
Gerade auch das soziale Problem, verstanden als gerechte Verteilung der
materiellen und ethischen Güter, hängt mehr denn je von einem ähnlichen
Armutsstil ab. Die aufrichtige Zustimmung zum Wort Christi erträgt die Schande
der Ungerechtigkeit und Unterdrückung nicht. Die Urgemeinde in Jerusalem, zu
der Maria gehörte (7), war eifrig darauf bedacht, „festzuhalten an der Lehre
der Apostel und an der Gemeinschaft, am Brechen des Brotes und an den Gebeten“
(8), und als Folge dieses Eifers für das Evangelium hatten sie alles gemeinsam,
und keiner von ihnen litt Not (9). Möge Christus in euch die Armut Mariens
wecken! Dann wird die Macht seines Geistes euch freien Zugang zu der „großen
Sache“ der Erlösung schenken. Dann werden wir selig sein, denn uns gehört das
Himmelreich (10).
Nach dem Angelus-Gebet sagte der Papst:
Ich möchte den Kirchenchören des Italienischen Cäcilienverbandes noch
einmal meinen Beifall und mein Wohlgefallen ausdrücken; sie haben heute an der
festlichen Liturgiefeier teilgenommen und diese durch die vollkommene
Ausführung der liturgischen Gesänge noch intensiver und eindrucksvoller gemacht.
Meinen Gruß und meine Ermutigung auch allen Mitgliedern der verdienten
Vereinigung in allen Regionen Italiens.
Dann begrüßte Papst verschiedene Pilgergruppen und sagte u. a. auf deutsch:
Liebe Brüder und Schwestern!
Maria, die Mutter Jesu, gehörte zu jenen Menschen, welche die Heilige
Schrift im geistlichen Sinne „die Armen“ nennt.
Sie war arm, weil Gott allein die Grundlage ihres Lebens, ihrer Hoffnung,
ihrer Zukunft war.
Sie war arm, weil ihr ganzes Streben dahinging, den Willen Gottes zu erkennen
und anzunehmen.
Sie war arm, weil sie sich dem Erlösungswerk ihres Sohnes bis unter das
Kreuz zur Verfügung stellte.
Sie war arm, weil sie mit den Aposteln das lebendige Herz der Gemeinschaft
der jungen Kirche in Jerusalem bildete.
Auf ihre Fürsprache hin erbitte ich euch und euren Familien Gesundheit und
Frieden, Hoffnung und Zuversicht für euren weiteren Lebensweg.
Anmerkungen
(1) Lk 1,48 a.52.
(2) vgl. Weish3, 12—13;Jes
66,2; Jdt9, 11.14.
(3) Lumen gentium, Nr. 55.
(4) Lk 1, 49 a. 52.54.
(5) Vgl. Lk 2, 34.35.48—50; Apg
1, 14; 4, 23—30; 8, 1 b—3; 12, 1; 28, 22.
(6) Phil 2, 5; vgl. Mt 11,
28—29; Jak 1, 21.
(7) Apg 1, 14.
(8) Apg2,42.
(9) Apg 2,44—45; 4,32.34—35;
vgl. Dtn 15,4; 2 Kor8, 13.
(10) Vgl. Mt 5, 3.