Vorstellung der Enzyklika Veritatis splendor

Einführung

Die Enzyklika Veritatis splendor vom 6. August 1993 beabsichtigt, einige „Grundfragen der moralischen Lehre der Kirche" zu präzisieren, indem sie die Kontroverse zwischen Ethikern und Moraltheologen durchleuchtet (5).

Sie befaßt sich deshalb nicht mit der gesamten christlichen Morallehre, sondern mit einer beschränkten Zahl von Fragen. Das Dokument sollte daher im Zusammenhang des viel umfassenderen Katechismus der Katholischen Kirche studiert werden, und wird von den Enzykliken Evangelium vitae (1995) und Fides et ratio (1998) sinnvoll ergänzt.

Die Erneuerung der Moraltheologie, zu welcher das II. Vatikanische Konzil aufrief, hat zu bisher sehr guten Ergebnissen geführt. Einige Theologen haben allerdings aufgrund noch nicht ausgereifter anthropologischer und ethischer Theorien das moralische Erbe der Kirche systematisch in Frage gestellt.

Dadurch wurde die moralische Kompetenz des katholischen Lehramts in Frage gestellt und eine wahrhaftige Krise hervorgerufen. Einer solchen Herausforderung galt es nun entgegenzutreten.

Die Krise der Theologie ergibt sich aus dem kulturellen Zusammenprall verschiedener Denkrichtungen bzw. von Freiheit einerseits und Wahrheit andererseits. In diesem Zusammenhang wird die Freiheit als einzige Grundlage moralischer Werte angesehen. Kein Theologe vertritt zwar eine solche extreme Sichtweise. Manche haben allerdings die Bedeutung sogenannter „überweltlicher" Verhaltensweisen und der Vernunft betont, welche dazu fähig wäre, sich unabhängig von der Offenbarung und der Lehre moralische Regel zuzulegen und damit das „menschliche Wohl" zu fördern.

Die Krise der intrinsischen Bindung zwischen Glauben einerseits und Moral andererseits betrifft die Theologie unmittelbar und bringt offenkundig auch seelsorgerische Konsequenzen mit sich. Freiheit wird hier fehlerhaft aufgefaßt, denn mit dem Glauben geht eine konsequente und alltägliche Verpflichtung einher, sich gemäß den zehn Geboten zu verhalten.

Die sequela Christi

Das erste Kapitel der Enzyklika enthält einige Gedanken über die Heilige Schrift. Der Junge, der auf Jesus zugeht un ihn fragt, welche gute Tat er vollziehen soll, um das ewige Leben zu erlangen (Mt 19, 16-22), stellt jeden Menschen dar. An Christus nämlich müssen wir unsere moralischen Fragen richten.

Im dem Gespräch zwischen dem Jungen und Jesus sieht die Enzyklika den Kern der Offenbarung des Alten und des Neuen Testaments hinsichtlich der Moral: Der Mensch und seine Handlungen unterliegen Gott, welcher „einzig gut ist"; das Verhältnis zwischen dem moralischen Guten, den menschlichen Handlungen und dem ewigen Leben; die Notwendigkeit, die göttlichen Gebote einzuhalten, welche durch Christus vollzogen wurden; die sequela Christi, welche den Menschen den Zugang zur perfekten Liebe ermöglicht; und schließlich die Gabe des Heiligen Geistes, Quelle und Ressource des moralischen Lebens des „neuen Geschöpfes" (vgl. Nr. 28). Das ist die Antwort auf die tiefe Sehnsucht des menschlichen Herzens nach Leben und Glück.

Die sequela Cristi bedeutet zwar ohne Zweifel, daß dem Vorbild Christi gefolgt werden muß, aber zugleich auch, daß der Mensch an seinem Leben teilnehmen muß – einem Leben in der Freiheit des Gehorsams als Zeichen der Liebe gegenüber dem Vater, bis zur Selbsthingabe am Kreuz (vgl. Nr. 19-21). Aus diesem Grund ist die christliche Moral neu und originell, denn sie vereinbart Glauben mit Moral: Der Glaube als sequela Christi ist zugleich auch Moral. „Es handelt sich hier nicht allein darum, auf eine Lehre zu hören und ein Gebot im Gehorsam anzunehmen. Es geht ganz radikal darum, der Person Jesu selbst anzuhängen, sein Leben und sein Schicksal zu teilen durch Teilnahme an seinem freien und liebenden Gehorsam gegenüber dem Vater." (Nr. 19).

Die Tendenz zur Säkularisierung der Moral führt daher in die Irre: Die Antwort Jesu auf die Frage des Jungen zeigt, daß die moralische Frage an sich eine religiöse Frage ist (vgl. Nr. 9). Die Enzyklika betont außerdem die ekklesiale Dimension der christlichen Moral und die Mission des kirchlichen Lehramts (vgl. Nr. 25-26).

Freiheit und Wahrheit

Das zweite Kapitel stellt einige Grundlagen auf, die uns bei der Auswertung einiger gegenwärtigen theologischen Theorien helfen sollten, welche der „wahren Lehre" entgegengesetzt sind. Diese neuen Theorien werden nicht in ihrer Gesamtheit zurückgewiesen, sondern kritisch bewertet. Dabei werden ihre Unklarheiten, Gefahren und Fehleinstellungen identifiziert und zugleich ihre legitimen und bereichernden Aussagen anerkannt (vgl. Nr. 34). Die Enzyklika will die Gelehrten an einige wichtige moralische Grundlagen der katholischen Theologie erinnern.

Die Hauptfrage ist hierbei das Verhältnis zwischen menschlicher Freiheit und Wahrheit. Unsere Kultur vermindert oder vernichtet gar die gegenseitige Abhängigkeit von Freiheit und Wahrheit (ibid).

Die moralische Frage ist eine anthropologische Frage. Die Anthropologie hängt wiederum vom Mysterium des menschgewordenen Wortes ab, und zwar ganz im Sinne der Lehre von Gaudium et Spes, Nr. 22. Denn nur das menschgewordene Wort erschließt uns das Konzept des Abbilds Gottes. Die Moral und ihre Anforderungen sind nur auf Grund der Annahme verständlich, daß der Mensch das Abbild Gottes ist.

Die Auffassung des Verhältnisses zwischen Freiheit und Wahrheit wirkt sich natürlich schwerwiegend auf die Auffassung des Verhältnisses zwischen Freiheit und Gesetz aus.

Manche haben sogar behauptet, die Freiheit sei absolut selbständig: Die moralische Selbständigkeit käme demnach einer vollkommenen Souveränität gleich. Die Freiheit sei Quelle der Wahrheit und der moralischen Werte (vgl. Nr. 35). In einigen Autoren steht diese Souveränität der menschlichen Vernunft zu. Solche Auffassungen haben auch auf die katholische Moral Einfluß genommen: Demnach soll der Mensch selbständig in der Lage sein, sich selbst Moralgesetze zu geben und sein Leben auf dieser Welt korrekt zu ordnen (vgl. Nr. 36). Dabei wird zwischen ethischer Ordnung und Heilsordnung unterschieden: Erstere ist ein menschliches Produkt, während Letzteres nur die inneren Absichten und Verhaltensweisen gegenüber Gott und den Mitmenschen betrifft (vgl. Nr. 37).

Wichtig ist in diesem Zusammenhang der eigentliche Sinn der moralischen Selbständigkeit des Menschen. Diese kann auch als teilnehmende Theonomie bezeichnet werden. Der Mensch wurde frei geschaffen und nimmt an der göttlichen Herrlichkeit insofern teil, daß er sich selbst disziplinieren soll. Seine moralische Selbständigkeit ist also eine teilnehmende Selbständigkeit

Die Lehre des Naturgesetzes macht dieses Konzept deutlich: Das Naturgesetz bedeutet, daß man am Sinn des ewigen Gesetzes teilnimmt, wobei die menschliche Vernunft und die menschlichen Gesetze der Weisheit Gottes und seinen Gesezen unterliegen (vgl. Nr. 44).

Die Enzyklika räumt auch mit allen Mißverständnissen des Begriffs Naturgesetz auf: Dieses Wort bedeutet, daß die Vernunft ein Produkt der menschlichen Natur ist, und daß die Vernunft die endgültige Berufung des Menschen durch Gott durchschaut und dadurch den Willen steuert. Dieser Begriff hat also nichts mit dem Physizismus oder mit Naturalismus zu tun (vgl. Nr. 47-48).

Das Naturgesetz zu verstehen bedeutet, seine Universalität und Unveränderlichkeit zu begreifen, welche manche ableugnen und der Freiheit und der Natur, bzw. der Historizität und Kultur entgegensetzen. „Diese Universalität sieht nicht von der Einzigartigkeit der Menschen ab, noch widerspricht sie der Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit jeder einzelnen menschlichen Person: sie umfaßt im Gegenteil grundlegend jede ihrer freien Handlungen, welche die Universalität des wahren Guten bezeugen müssen. Indem sie sich dem gemeinsamen Gesetz unterwerfen, bauen unsere Handlungen die wahre Gemeinschaft der Personen auf…" (Nr. 51). Die Enzyklika betont, daß der Begriff „Historizität" von permanenten strukturellen Elementen ausgeht. Das wird dadurch belegt, daß sich Jesus auf das „Prinzip" beruft. Der Mensch ist immer in einer bestimmten Kultur eingebunden, aber er ist selbst mehr als diese Kultur. Im Übrigen beweist der kulturelle Forschritt, daß im Menschen etwas ist, das über die Kultur hinausgeht. Dieses etwas ist ganz genau die menschliche Natur, welche die Kultur bestimmt und die Menschenwürde durchsetzt (vgl. Nr. 53).

Das moralische Gewissen

In enger Verbindung mit dem Verhältnis zwischen Freiheit und Wahrheit stehen auch die Theorien über das moralische Gewissen, welche sich der katholischen Tradition entgegensetzen und dieses Gewissen „kreativ" auslegen (vgl. Nr. 54 ff.).

Solche Theorien stellen eine Reaktion auf die Auslegung der Textbücher vor dem Konzil dar, welche das Gewissen lediglich als die Durchführung allgemeiner Moralgesetze ansehen. Diese Gesetze seien demnach nicht imstande, auf die Spezifizität und Einzigartigkeit der menschlichen Handlungen einzugehen. Das Gesetz könne nicht stellvertretend für die Person Entscheidungen treffen. Das Gesetz würde sogar der persönlichen Entscheidung entgegenwirken. Deshalb wird das Gewissen nicht mehr als beurteilend, sondern als entscheidend angesehen. Dadurch würde das Gewissen selbst zum Gesetz.

Die Entscheidung müsse auf sinnvollen Gründen beruhen. Nach dem Lehramt sind solche Gründe selbst nur durch ihre Begründungen sinnvoll.

Das Gewissen sollte Entscheidungen treffen, die nicht verbindlich, sondern nur für das persönliche und soziale Leben des Menschen richtungsweisend sind. Erst auf Grund der Überzeugung, daß diese Entscheidungen gültig sind, sollten dann weitere Handlungen vollzogen werden. Die kategorischen Ansichten des Lehramts werden deshalb als hinderlich für den menschlichen Reifeprozeß angesehen.

Gemäß anderen Theologen sind die Aussagen des Lehramts nur spekulativer Natur. In der Praxis sollte man konkreter vorgehen und Ausnahmen in Kauf nehmen. Dabei denkt man an Entscheidungen, die mit guten Absichten getroffen werden. Eine Entscheidung, die zwar theoretisch als „schlecht" gilt, könnte in der Praxis durchaus legitim sein. Das Gewissen ist also die Instanz, die einzig und allein über Gut und Böse entscheiden soll. Daraus entsteht ein gefährliches Spannungsverhältnis zwischen Vorschrift und Entscheidung, für welches „pastorale" Lösungen zulässig sind (vgl. Nr. 55-56).

Die Enzyklika erinnert uns an die Grundzüge der christlichen Lehre über das Gewissen: Es ist Zeuge der Treue oder Untreue des Menschen gegenüber den Moralgesetzen und der einzige Zeuge des innigen Dialogs des Menschen mit sich selbst sowie des Menschen mit Gott. Es ist ein praktisches Urteilsvermögen, welches dem Menschen empfiehlt, was zu tun oder nicht zu tun ist, bzw. seine Handlungen beurteilt.

Auf Grund des Naturgesetzes ist ein hohes moralisches Gut erforderlich, denn das Gewissen betrifft nur den Einzelfall. Für den Menschen ist das Gewissen ein inneres Gebot, das seine Handlungen hic et nunc beurteilt. Es ist die Anerkennung, und nicht die Verneinung des universellen Charakters der Gesetze und der Pflichten. Es ist das unmittelbare Gesetz der persönlichen Moral.

Die Einhaltung der Moralgesetze durch das Gewissen ist nicht mechanisch: Die Gesetze werden nämlich verinnerlicht, sie verleihen der Handlung des Einzelnen das Licht der Universalität.

Das Gewissen ist nicht unfehlbar: Es kann irren. Seine Irrtümer können auch absichtlich sein. Es ist eine Verpflichtung aller, das eigene Gewissen dazu zu erziehen, richtige Entscheidungen zu treffen. Die Kirche und das kirchliche Lehramt leisten dabei eine unschätzbare Hilfe.

Die Grundoption

Wir kommen nun zu den Theorien, die sich auf die „Grundoption" konzentrieren. Das ist die Option, sich dem Glauben zu widmen, der durch die Barmherzigkeit wirkt (vgl. Gal 5, 6), sowie dem Gehorsam gegenüber diesem Glauben (vgl. Röm 16, 26). Diese Option prägt das eigene Moralverhalten und die eigene Freiheit gegenüber Gott. Sie ist ein wichtiges Thema, welches in der Bibel tief verwurzelt ist. Deshalb ist es auch gut, daß die Theologie sich damit befaßt.

Das Studium dieser Grundoption darf allerdings nicht auf einem fehlerhaften Verständnis des Zusammenhangs zwischen dem Menschen und seinen Handlungen basieren, welches Grundoption und Einzelhandlung voneinander trennt. Nach diesen Theorien wäre diese Option nämlich der Ausdruck der fundamentalen Freiheit, durch welche der Mensch sein ganzes Leben bestimmt. Sie wird nicht durchdacht und bewußt getroffen, sondern sie ist vielmehr „tranzendental" und „athematisch".

Was die Einzelentscheidungen – „kategoriale" Entscheidungen – angeht, so sollen sie nur vergebliche und habherzige Versuche sein, diese Entscheidung adäquat zu treffen, sie sind nur „Zeichen" oder „Symptome" der Grundentscheidung. Die bewußten Entscheidungen und die konkreten Ansätze der „kategorialen" Freiheit sollen zur „innerweltlichen" Sphäre gehören.

Damit wird zwischen zwei Entscheidungsfreiheiten unterschieden, die zwei Ebenen der Moral entsprechen. Wird die Unterscheidung zwischen Gut und Böse auf die Grundoption zurückgeführt, so sind die „innerweltlichen" Einzelentscheidungen entweder richtig oder falsch. „Erst infolge einer technischen Abwägung des Verhältnisses zwischen „vorsittlichen" oder „physischen" Gütern und Übeln, auf die sich die Handlung tatsächlich bezieht" (65), werden die Handlungen als sittlich richtig oder falsch beurteilt. Wenn die moralische Wahl des Menschen zur Grundoption gehört, dann können die menschlichen Handlungen zwei verschiedenen Moralebenen zugeordnet werden.

Die Antwort auf die oben erwähnten Theorien ist, daß die Grundoption immer eine bewußte Entscheidung ist. Deshalb gilt sie als aufgehoben, wenn man bewußt Entscheidungen trifft, die schwerwiegend gegen die Moralgesetze verstoßen.

Diese Theorien gehen von einer dualen Anthropologie aus, welche "die wesentliche Integrität oder die persönliche Einheit des Körpers und der Seele des Entscheidungsträgers" nicht mehr respektiert. „Eine Grundoption, verstanden ohne ausdrückliche Berücksichtigung der Möglichkeiten, die sie aktualisiert, und der Konkretisierungen, in denen sie zum Ausdruck kommt, wird der dem Handeln des Menschen und jeder seiner freien Wahlakte innewohnenden rationalen Zielhaftigkeit nicht gerecht". Die Sittlichkeit der Handlungen kann nur an ihrer wahren Absicht gemessen werden. „Jede Handlungswahl schließt immer eine Bezugnahme des freien Willens auf jene Güter und Übel ein, wie sie vom Naturgesetz als zu verfolgendes Gutes und zu meidendes Übel aufgewiesen werden." (Nr. 67). In der Tat entscheidet sich der Mensch für das absolute Gut als sein endgültiges Ziel, indem er sich für Einzeltugende entscheidet, und zwar im Sinne des Willens Gottes.

Die Enzyklika betont auch, daß „der Mensch auf Grund seiner Entscheidung für ein barmherziges Leben moralisch gut bleiben könnte, die Gnade Gottes anstreben und das eigene Heil erreichen, selbst wenn einige seiner konkreten Verhaltensweisen bewußt und schwerwiegend gegen die von der Kirche verkündete Gebote Gottes verstoßen".

Nach der Lehre des Konzils von Trient (vgl. DS 1544, 1469), „kann die Gnade der Rechtfertigung – wenn man sie einmal erhalten hat – wieder verloren werden, und zwar nicht nur wegen Untreue, sondern auch wegen jeder anderen Todsünde" (vgl. Nr. 68).

Eine Todsünde liegt in der Tat vor, wenn Gott und seine Liebe bewußt abgelehnt werden. Wie die postsynodale apostolische Ermahnung Reconciliatio e paenitentia betont: „Eine Todsünde begeht der Mensch auch, wenn er aus irgendeinem Grund bewußt und willentlich etwas schwerwiegend Falsches entscheidet. Eine solche Wahl bedeutet schon an sich die Gleichgültigkeit gegenüber der göttlichen Vorschrift sowie die Ablehnung der Liebe Gottes für die Menschheit und die gesamte Schöpfung: Der Mensch entfernt sich dann von Gott und verliert seine Barmherzigkeit. Die Grundentscheidung kann also von Einzelhandlungen radikal gewandelt werden" (Nr. 70).

Die Moralität der menschlichen Handlungen

„Hier geht es im Endeffekt um die Natur der menschlichen bzw. moralischen Handlungen, die „die Aufschluß über die Güte oder die Bösartigkeit des handelnden Menschen gibt" (Nr. 70). Man kann treffend behaupten, daß die Enzyklika diese Frage personalistisch auslegt, denn sie betont die körperliche und die seelische Einheit des Entscheidungsträgers. Was die Moral angeht, so stellt diese die Ausrichtung des Menschen nach seinem endgültigen Zweck dar, d.h. Gott, das einzig wahre Gut des Menschen. Diese bewußte Grundausrichtung der menschlichen Handlungen nach Gott bedingt auch, daß das Moralgesetz einen teleologischen Charakter besitzt.

In diesem Zusammenhang stellen einige Theologen den tieferen Sinn der Moral in Frage, indem sie die subjektive Absicht und die Umstände – bzw. die Konsequenzen – der moralischen Handlung in den Vordergrund stellen. Die ethischen Theorien teleologischer Art (Proportionalismus, Konsequentialismus) unterwerfen den Handelnden einer doppelten Pflicht: Sie unterscheiden nämlich zwischen moralischer Ordnung, welche die wahren moralischen Werte betrifft – etwa die Liebe Gottes, das Mitleid mit den Mitmenschen, die Gerechtigkeit – und einer prämoralischen Ordnung, welche die Vor- und Nachteile einschätzt, die sich für andere Menschen aus den Handlungen des Entscheidungsträgers ergeben. Mit anderen Worten: „Über die sittliche Artbestimmtheit der Handlungen, d.h. über ihre Güte oder Schlechtigkeit, würde allein die Treue der Person zu den höchsten Werten der Liebe und Klugkeit entscheiden, ohne daß solche Treue notwendigerweise mit Entscheidungen unvereinbar wäre, die bestimmten sittlichen Einzelverboten widersprechen." (Nr. 75) . Das „sittliche Gutsein" seiner Handlungen könnte auch " aufgrund der sich auf sittliche Güter beziehenden Absicht des Subjektes, ihre „Richtigkeit" aufgrund ihrer vorhersehbaren Wirkungen oder Folgen und deren Verhältnis zueinander" beurteilt werden (ibid). Nach dieser Auffassung, welche der dualistischen Anthropologie entlehnt ist, könnte der Handelnde entgegen einer negativen Universalnorm handeln.

Eine solche Auffassung ist nicht mit der kirchlichen Lehre vereinbar, denn sie rechtfertigt alle bewußten und den göttlichen Geboten zuwiderlaufenden Entscheidungen. „Wenn der Apostel Paulus die Erfüllung des Gesetzes in dem Gebot zusammenfaßt, den Nächsten zu lieben wie sich selbst (vgl. Röm 13, 8-10), schwächt er damit nicht die Gebote ab, sondern er bestätigt sie vielmehr, da er deren Forderungen und Gewicht offenlegt." (Nr.76).

In der Moraltheologie ist der Entscheidungsgegenstand zugleich auch die Grenze des freien Willens. Vor dem Willen stellt die Vernunft einige Entscheidungsgegenstände als moralisch und andere als unmoralisch dar. Die Moralgesetze bestimmen, ob der Entscheidungsgegenstand mit der Liebe Gottes vereinbar oder nicht vereinbar ist. Wenn der Mensch nun begreift, daß er nur in der Union zwischen dem eigenen Willen und der Liebe Gottes vollkommen ist, dann wird die Entscheidungsfreiheit zur Pflicht für den Menschen. Anhand der Moralgesetze sieht die Vernunft, welche Entscheidung oder Handlung mit der Liebe Gottes vereinbar ist und teilt dies dem Willen mit: „Der sittliche Charakter der menschlichen Handlung ist von dem durch den freien Willen vernunftgemäß gewählten Gegenstand abhängig". Indem behauptet wird, daß die menschliche Handlung vom Menschen abhängig ist, wird auch die Frage aufgeworfen, „ob dieser Gegenstand Gott bzw. dem, der „allein der Gute ist", zugeordnet werden kann oder nicht und so die Vollkommenheit der menschlichen Person bewirkt" (vgl. Nr. 78). Die Moral kann deshalb als eine dem Menschen innewohnende Realität angesehen werden. Es ist nicht möglich, dem Entscheidungsgegenstand eine moralische und eine von der moralischen getrennte „physische" Natur zuschreiben, denn daraus würde sich ein Dualismus ergeben, welche der wahren Natur der Dinge zuwiderliefe. Der Entscheidungsgegenstand entsteht von der Vernunft und ist damit zugleich Ursache der Güte des Willens.

Die Enzyklika vermindert deshalb die Rolle des Willens und seiner Konsequenzen nicht. Sie betont nur, daß der Wille keinen Vorrang vor dem Gegenstand hat.

Deshalb spricht man auch von intrinsisch bösen Handlungen. Solche sind die Handlungen, welche Gott nicht zugeordnet werden konnen, weil sie der Güte des Menschen widersprechen. Der Wille kann sie nicht gut machen. Wenn eine gute Absicht oder besondere Umstände sie noch weniger falsch machen können, so würden diese Handlungen daraus nicht wirklich gut (vgl. Nr. 81). Die Regeln, die solche falschen Handlungen verbieten, sind unter allen Umständen, semper et pro semper, gültig. „Im Problem der Sittlichkeit des menschlichen Handelns und besonders in der Frage nach der Existenz in sich schlechter Handlungen konzentriert sich, wie man sieht, gewissermaßen die Frage nach dem Menschen selbst, nach seiner Wahrheit und den sich daraus ergebenden sittlichen Konsequenzen." (Nr. 83).

Sollte der Mensch anhand der einer Handlung zugrundeliegenden Absicht entscheiden, ob diese Handlung gut oder schlecht ist, so würde er sich „jenseits von Gut und Böse" stellen, weil er versucht, der Wahrheit seines Zustands zu entgehen. Er würde sich nur anhand seiner subjektiven Absicht und der Einschätzung der Konsequenzen seiner Entscheidung zum Schöpfer von Werten machen.

Seelsorgerische Konsequenzen

Das dritte Kapitel zieht aus den obigen Ausführungen wichtige seelsorgerische Konsequenzen.

Die Bildung eines moralischen Gewissens gehört zum Gesamtprojekt der neuen Evangelisation, welche alle Mitglieder der Kirche – das prophetische Volk – vorantreiben sollte. Selbst die Moraltheologen müssen hier eine eigene Aufgabe erfüllen.

Die moralische Gewissensbildung ist für die Heiligkeit des Menschen wesentlich (vgl. Nr. 88-94), und ist die Vorberdingung eines menschenwürdigen Soziallebens (vgl. Nr. 95-101).

„Es ist nun dringend notwendig, daß die Christen die Eigenständigkeit ihres Glaubens und ihre Urteilskraft gegenüber der herrschenden, ja sich aufdrängenden Kultur wiederentdecken" (Nr. 88): Der Glaube hat ein moralisches Gehalt und verpflichtet zur Einhaltung der göttlichen Gebote. Im Moralleben wird der Glaube zur „Konfession" und zum „Zeugnis" (vgl. Nr. 89). Die Enzyklika beruft sich auch auf das christliche Martyrium, welches allein beweist, wie unakzeptabel diese ethischen Theorien sind, welche die Existenz vorbestimmter und allgemeingültiger moralischer Gesetze ablehnen (vgl. Nr. 90): Es gibt doch Wahrheiten und Werte, für die man bereit ist, das eigene Leben zu opfern (vgl. Nr. 94). Und die Christen sind nicht die einzigen, die das wissen.

„Die Festigkeit der Kirche bei der Verteidigung der universalen und unveränderlichen sittlichen Normen hat nichts Unterdrückendes an sich." (Nr. 96). Vor den Moralgesetzen sind alle Menschen gleich. Diese Gesetze garantieren die menschliche Würde sowie ein gerechtes soziales Zusammenleben, und zwar sowohl auf ökonomischem als auch auf politischem Gebiet.

Der Sinn der moralischen Erziehung ergibt sich aus der göttlichen Barmherzigkeit.

Dank der Gottesgnade und des heilenden Mysteriums der Erlösung ist es immer möglich, Zugang zum Gesetz Gottes zu haben. Das Verständnis für die menschliche Schwäche darf nicht zur Verlust des Maßes des Guten und des Bösen führen (Nr. 104). Ganz im Gegenteil, es sollte uns verstehen lassen, wie ungleich das Gesetz und unsere Fähigkeit sind, die Gnade in uns aufzunehmen (vgl. Nr. 105). Wenn die Kirche das Moralgesetz verkündet, um die Würde und die wahre Freiheit des Menschen zu wahren, so richtet sie ihren Blick auf Christus am Kreuz. Sie nimmt dadurch an seiner Mission teil und weiß, daß die wahre Freiheit in dem Geschenk der Liebe liegt.

Das Vorbild der barmherzigen Mutter Maria, das am Schluß erwähnt wird, erinnert uns an die außerordentliche Einfachheit des christlichen Lebens. Dieses besteht darin, „Jesus Christus zu folgen, sich ihm zu überlassen, sich von seiner Gnade verwandeln und von seiner Barmherzigkeit erneuern zu lassen, die uns durch das Leben in der Gemeinschaft seiner Kirche erreichen." (Nr. 119)

Schlußfolgerungen

Um das moralische Handeln zu verstehen, ist es notwendig, die wahre Natur des Menschen zu betrachten. Sie wird in der Lehre des „Abbilds Gottes" beschrieben: „Die wahre Freiheit ist ein erhabenes Kennzeichen des Bildes Gottes im Menschen: Gott wollte nämlich den Menschen „in der Hand seines Entschlusses lassen" (vgl. Sir 15,14), so daß er seinen Schöpfer aus eigenem Entscheid suche und frei zur vollen und seligen Vollendung in Einheit mit Gott gelange." (Gaudium et spes, Nr. 17).

Das Selbstbewußtsein als Abbild Gottes ist die Grundlage allen moralischen Untescheidungsvermögens.

Wir gehen auf dem Weg zu Gott, unserem Endziel. Diesen Weg ebnen wir, indem wir Handlungen vollziehen, die potentiell zur Liebe Gottes zugeordnet werden können. Einige Handlungen sind allerding intrinsisch falsch, weil sie per se der Liebe Gottes zuwiderlaufen. Veritatis splendor, kann daher in Nr. 83 behaupten: „Im Problem der Sittlichkeit des menschlichen Handelns und besonders in der Frage nach der Existenz in sich schlechter Handlungen konzentriert sich, wie man sieht, gewissermaßen die Frage nach dem Menschen selbst, nach seiner Wahrheit und den sich daraus ergebenden sittlichen Konsequenzen."

P. Georges Cottier, O.P.