Augustinus
(354-430)
Bekenntnisse
(Confessiones)
Erstes
Buch
1. Diese Lobpreisung Gottes ist auf seine eigene
Veranlassung zurückzuführen.
"Gross bist du, o
Herr, und überaus preiswürdig; gross ist deine Stärke, und deiner Weisheit ist
kein Ziel gesetzt". Und dich will loben ein Mensch, ein winziger Teil
deiner Schöpfung, ein Mensch, der schwer trägt an der Bürde seiner
Sterblichkeit, schwer trägt auch am Zeugnis seiner Sünde und am Zeugnis, dass
"du den Stolzen widerstehest". Und dennoch will dich loben der
Mensch, selbst ein Teil deiner Schöpfung. Du selbst veranlasst ihn, in deinem
Preis eine Wonne zu suchen, denn geschaffen hast du uns im Hinblick auf dich,
und unruhig ist unser Herz, bis es ruhet in dir. Verleihe mir, o Herr, die
rechte Erkenntnis und Einsicht, ob man dich erst anrufen oder preisen, erst
dich erkennen oder anrufen muss! Aber wer ruft dich an, ohne dich zu kennen?
Könnte er doch leicht in seiner Unwissenheit einen anderen für dich anrufen!
Oder wirst du etwa angerufen, um erkannt werden? "Wie aber soll man den
anrufen, an den nicht geglaubt? Wie aber wird man glauben ohne Prediger?"
„Loben werden den Herrn, die ihn suchen" Denn wer sucht, der findet ihn,
und wer ihn findet, wird ihn preisen. So will ich dich denn suchen, o Herr,
indem ich dich anrufe, und dich anrufen, da ich an dich glaube; denn du bist
uns verkündet worden. Dich, o Herr, ruft an mein Glaube, den du mir gegeben,
den du mir eingehaucht hast durch die Menschwerdung deines Sohnes, durch das
Amt deines Predigers.
Doch wie soll ich meinen Gott
anrufen, meinen Gott und meinen Herrn? Sicherlich werde ich ihn in mich rufen,
wenn ich ihn anrufe. Und wo gibt es eine Stätte in mir, wohin mein Gott zu mir
kommen soll? Wohin Gott kommen soll, Gott, der geschaffen hat Himmel und Erde?
So gibt es denn wirklich, Herr mein Gott, etwas in mir, was dich fassen könnte?
Aber fassen dich denn Himmel und Erde, die du zusammen mit mir geschaffen hast?
Oder muss, weil nichts Bestehendes, ohne dich gedacht werden kann, dieses
notwendigerweise dich fassen? Weil nun auch ich dazu gehöre,. warum bitte ich
dich, zu mir zu kommen, da ich doch nicht bestände, wenn du nicht in mir
wärest? Denn noch bin ich nicht in der Unterwelt, und doch bist du ja auch
dort! "Stiege ich auch hinab zur Unterwelt, so bist du dort". So wäre
ich also nicht, mein Gott, ich wäre überhaupt nicht, wärest du nicht in mir.
Oder richtiger: ich wäre nicht, wäre ich nicht in dir, "aus dem, durch
den, in dem alles ist". Gewiss, auch so, o Herr! Wohin aber soll ich dich
rufen, da ich in dir bin? Oder woher solltest du in mich kommen? Denn wohin
soll ich ausserhalb von Himmel und Erde mich begeben, dass von dort mein Gott
in mich komme, der da gesagt hat: "Himmel und Erde erfülle ich"?
Fassen dich also Himmel und Erde,
da du sie erfüllest? Oder erfüllst du sie, aber nicht ganz, weil sie nicht
fassen? Und wohin strömest du aus, was von dir noch übrig bleibt, nachdem du
Himmel und Erde erfüllt hast? Oder brauchst du, der du alles umfassest nicht
von etwas umschlossen zu werden, da du ja, was du erfüllest, so erfüllest, dass
du es auch umschliessest? Denn nicht geben Gefässe, die von dir erfüllt sind,
dir festen Halt; wenn sie auch brechen, du wirst du nicht ausgegossen. Und wenn
du dich auch über uns ausgiessest, so liegst du doch nicht darnieder, sondern
richtest uns auf; du wirst nicht zerstreut, wohl aber sammelst du uns. Aber
alles was du erfüllst, erfüllst du mit deinem ganzen Wesen. Oder weil die Dinge
dich nicht in deinem ganzen Wesen erfassen könne erfassen sie da einen Teil von
dir und zwar alle zugleich denselben? Oder fasst jedes Ding einen besondern
Teil, das grössere Ding einen grösseren Teil, das kleine einen kleineren? So
ist also ein Teil von dir grösser, ein anderer kleiner? Oder bist du überall
mit deinem ganzen Wesen, und fasst doch kein Ding dich ganz?
Was also ist mein Gott? Was
anderes, frage ich, als Gott der Herr? Denn "wer ist Herr ausser dem
Herrn? Oder wer ist Gott ausser unserem Gott?" Höchster, Bester,
Mächtigster, Allmächtigster, Barmherzigster und Gerechtester, Verborgenster und
Allgegenwärtigster, Schönster und Gewaltigster, du Beständiger und Unfassbarer,
du Unwandelbarer, selbst alles wandelnd, nie neu, nie alt, machst du doch alles
neu "die Hochmütigen aber lässt du alt werden, und sie wissen es
nicht". Immerdar wirkend, bist du doch immerdar in Ruhe; du sammelst ohne
zu bedürfen; du trägst, erfüllest und beschirmst, du schaffst und ernährst,
vollendest, suchest, da dir doch nichts fehlt. Du liebst ohne zu entbrennen,
eiferst, ohne dich zu bekümmern, Reue ohne Schmerz, du zürnst, doch in Ruhe; du
änderst deine Werke, nie deinen Ratschluss. Du nimmst auf, was du findest, ohne
es doch je verloren zu haben; niemals bedürftig, freust du dich des Gewinnes,
niemals habgierig, verlangst du doch Zinsen. Im Übermasse zahlt man dir, um
dich zum Schuldner zu machen; und doch wer besässe etwas, was nicht dir
gehörte? Du bezahlst Schulden, bist aber keinem schuldig; du lässest sie nach,
verlierst aber nichts dadurch. Und was habe ich nun damit gesagt, mein Gott,
mein Leben, meine heilige Süssigkeit; oder was kann ein anderer über dich
reden, wenn er von dir redet? Und dennoch, wehe denen, die von dir schweigen,
da sie reden könnten, aber stumm bleiben!
Wer wird mir nun geben, dass ich
Ruhe finde in dir? Wer wird mir geben, dass du einziehest in mein Herz und es
berauschest, auf dass ich mein Elend vergesse und dich, mein einzig Gut,
umfasse? Was bist du mir? Erbarme dich meiner, damit ich davon reden kann! Was
bin ich dir aber selbst, dass du von mir geliebt zu werden verlangst und, wenn
ich es unterlasse, mir zürnst und mit unendlichen Qualen drohst? Ist das nicht
allein schon grosse Pein, dich nicht zu lieben? Wehe mir! Sage mir doch bei
deiner Barmherzigkeit, Herr mein Gott, was du mir bist! "Sage meiner Seele:
Ich bin dein Heil!" Sprich vernehmlich zu mir! Siehe, o Herr, die Ohren
meines Herzens sind vor dir; öffne sie und sprich zu meiner Seele: "Dein
Heil bin ich". Nacheilen will ich diesem Wort und so dich erfassen.
Verhülle nicht vor mir dein Angesicht. Sterben will ich, um nicht zu sterben,
sondern es zu schauen.
Zu enge ist das Haus meiner
Seele, dass du drin Einkehr halten könntest; so erweitere du es! Baufällig ist
es; stelle du es wieder her. Manche schadhafte Stellen daran werden deine Augen
beleidigen; ich weiss und gestehe es, Aber wer soll es reinigen? Oder zu wem
ausser dir will ich rufen: "Von meinen verborgenen Sünden reinige mich, o
Herr, und vor den fremden bewahre deinen Knecht", "Ich glaube, und
darum rede ich"? Herr, du weisst es. Habe ich nicht "vor dir meine
Missetaten wider mich bekannt, und hast du mir nicht verziehen meines Herzens
Bosheit"? Ich streite nicht im Gerichte mit dir, der du die Wahrheit bist;
auch will ich mich nicht selbst betrügen, auf dass nicht "meine Ungerechtigkeit
wider sich selbst lüge", Ich streite also nicht im Gerichte mit dir; denn
"wenn du aufmerken solltest auf unsere Missetaten, Herr, Herr, wer könnte
dann bestehen?".
Dennoch aber lass mich reden von
deiner Barmherzigkeit, mich Staub und Asche, lass mich reden. Rede ich doch zu
deiner Barmherzigkeit, nicht zu einem Menschen, der meiner spottet. Vielleicht
spottest auch du noch meiner, aber wende dich zu mir, und du wirst dich meiner
erbarmen. Denn was anders will ich sagen, Herr, als dass ich nicht weiss, woher
ich hierher gekommen bin, in dieses soll ich nun sagen: sterbliche Leben oder
lebendige Sterben? Ich weiss es nicht Es haben sich meiner angenommen die
Tröstungen deiner Erbarmungen, wie ich es von meinen leiblichen Eltern erfahren
habe, durch die du mich in der Zeit gebildet hast - denn ich selbst weiss es
nicht. Es hat sich meiner angenommen die erquickende Muttermilch; doch haben
sich nicht etwa meine Mutter oder meine Ammen die Brüste angefüllt, sondern du,
o Herr, gabst mir durch sie die Nahrung der Säuglinge gemäss deiner Einrichtung
und dem Reichtume, den du bis in den Grund aller Dinge verstreut hast. Du auch
verliehest mir, dass ich nicht mehr wollte, als du gabst, und meinen Ernährerinnen,
dass sie mir gern gaben, was du ihnen gegeben; denn nur aus eingepflanzter
Zuneigung heraus wollten sie von dem Überflusse, den sie durch dich hatten, mir
geben. Zum Gute nämlich wurde ihnen, was mir von ihnen zugute kam, in
Wirklichkeit aber nicht von ihnen stammte, sondern nur durch sie mir gereicht
wurde. Stammt doch von dir alles Gute, mein Gott, und von meinem Gotte all mein
Heil. Später erst habe ich diese Wahrheit erfahren, als du sie mir zuriefst
durch all die Gnaden, die du Leib und Seele erweisest. Damals verstand ich
nämlich nur zu saugen und mich zu beruhigen, wenn es meinem Körper gut ging, zu
weinen aber, wenn er Schmerz empfand, - sonst nichts.
Danach begann ich auch zu
lächeln, zuerst im Schlafe, später auch im Wachen. So hat man mir nämlich von
mir erzählt, und ich glaube es, weil wir es ja an anderen Kindern genau so
sehen; auf mich selbst kann ich mich nicht erinnern. Dann empfand ich
allmählich, wo ich war, und wollte meine Wünsche denen kund tun, die sie
erfüllen konnten; aber ich konnte es nicht, weil meine Wünsche in meiner Seele
waren, jene Personen aber draussen und mit keinem ihrer Sinne in meine Seele
eindringen konnten. So setzte ich meine Glieder und meine Stimme in Tätigkeit,
indem ich Zeichen gab, um meine Wünsche anzudeuten, nur wenige, und so gut es
gerade ging; denn der Wirklichkeit entsprachen sie nicht. Und wenn man mir
nicht zu Willen war, entweder weil man mich nicht verstand oder mir nicht
schaden wollte, dann war ich sehr unwillig, dass die Grossen mir nicht untertan
sein, die Freien mir nicht gehorchen wollten, und ich rächte mich an ihnen
durch Weinen, So waren die Kinder, die ich kennen zu lernen Gelegenheit hatte,
und dass auch ich so gewesen bin, haben sie unbewusst mir besser dargetan als
meine kundigen Erzieher.
Und siehe, schon lange ist meine
Kindheit gestorben, ich aber lebe. Du aber, o Herr, der du immer lebst und in
dem nichts stirbt, da du ja vor dem Anbeginn der Geschlechter und vor jedem nur
denkbaren Uranfange der Zeit existierst und Gott bist und der Herr von allem,
was du erschaffen hast, da in dir die Ursachen all der unbeständigen Dinge
bestehen, in dir aller wandelbaren Dinge unwandelbare Urgründe ruhen, in aller
vernunftlosen und zeitlichen Dinge ewige Idee: - so sage mir auf meine kniefälligen
Bitten, mein Gott, sage, Erbarmer, deinem Knecht: ist meine Kindheit erst einem
anderen entschwundenen Lebensalter gefolgt? Ist es etwa jenes, das ich im Leibe
meiner Mutter zugebracht habe? Denn auch davon ist mir einiges mitgeteilt
worden, wie ich ja auch selbst schwangere Frauen gesehen habe. Was aber war vor
diesem Lebensabschnitte, meine Süssigkeit und mein Gott? War ich damals schon
irgendwo und irgendwer? Denn niemanden habe ich, der mich darüber belehren
könnte; nicht Vater und Mutter konnten es noch die Erfahrung anderer noch meine
Erinnerung. Oder lächelst du über mich, wenn ich solche Fragen stelle, und
heissest mich vielmehr, Grund der Dinge, die ich weiss, dich zu loben und zu
bekennen?
So lobpreise ich dich, o Herr des
Himmels und der Erde, und lobsinge dir für meinen Lebensanfang und meine mir
unbewusste Kinderzeit; hast du doch den Menschen gegeben, von anderen aus
Schlüsse auf sich selbst zu ziehen und sogar dem Zeugnisse schwacher Weiber
vieles, soweit es ihn angeht, zu glauben. Denn auch in jener Zeit schon war ich
und lebte ich, und schon am Ende des Säuglingsalters suchte ich nach Zeichen,
durch welche ich anderen meine Empfindung geben wollte. Woher kam nun solch ein
Lebewesen, wenn nicht von dir, o Herr? Oder kann jemand der Künstler und
Bildner seines eigenen Lebens sein? Oder entspringt auch nur eine einzige Ader,
durch die Sein und Leben uns zuströmt, anderswoher als von dir o Herr, der du
uns schaffst, dem Sein und Leben nicht verschiedene Begriffe sind, weil für ihn
höchstes Sein und höchstes Leben gleichbedeutend ist? Du bist ja der höchste
und veränderst dich nicht; für dich geht nicht der heutige Tag vorüber, und
doch vergeht er in dir, weil in dir alle Dinge ihr Ziel haben. Diese können
nicht ihre Bahnen vorüberziehen, wenn du sie nicht umfasstest, und weil
"deiner Jahre kein Ende ist", so sind deine Jahre ein einziges Heute.
Wie viele von unsren und unsrer Vater Tagen haben schon dein Heute durchlaufen
und von ihm ihr Mass und ihre jeweilige Eigenart empfangen! So werden noch
viele andere es durchlaufen und Mass und Eigenart von ihm empfangen. Du aber
bist immer derselbe und wirst alles Morgige und darüber hinaus und alles
Gestrige und weiter zurück heute tun, ja hast es bereits getan. Was kann ich
dafür, wenn jemand das nicht einsieht? Doch freuen soll sich auch der, der
spricht: "Was ist das?" Freue er sich auch so, und möge er lieber
alles verlieren und dich finden als alles gewinnen und dich nicht finden.
Erhöre mich, o Gott! Wehe über
die Sünden der Menschen! Und so spricht ein Mensch, dessen du dich erbarmst, da
du ihn zwar, nicht aber die Sünde in ihm geschaffen hast. Wer erinnert mich an
die Sünden meiner Kindheit? Ist doch niemand vor dir frei von Sünde, nicht einmal
das Kind, das erst einen Tag auf der Erde lebt. Wer ruft sie mir zurück? Doch
wohl jedes kleine Menschenkind, an dem ich sehe, wessen ich mich von mir nicht
erinnern kann. Worin bestand also damals meine Sünde? Etwa weil ich unter
Tränen so heftig nach der Mutterbrust begehrte? Und in der Tat - wenn ich es
nun täte und zwar nicht nach den Brüsten, wohl aber nach einer für mein
fortgeschrittenes Alter passenden Speise heftig verlangte, man würde mich mit
vollem Rechte auslachen und tadeln. Damals also tat ich Tadelnswertes; aber
weil ich noch nicht auf die Stimme eines Tadlers merken konnte, durfte ich
weder nach Brauch noch nach Vernunft getadelt werden. Denn mit den Jahren
rotten wir schliesslich selbst solche Unarten aus und legen sie ab. Und noch
keinen habe ich gesehen, der mit Bewusstsein Gutes wegwürfe, wenn er etwas
reinigen wollte. Oder war das auch gut in Anbetracht des Alters, weinend nach
etwas zu begehren, was doch nur zum Schaden hätte gegeben werden können, sich
heftig zu entrüsten über freie und erwachsene Menschen, wenn sie nicht zu
Willen sein wollten, den Eltern und vielen anderen klügeren Leuten, wenn sie
nicht auf einen blossen Wink hin zu Willen waren, nach Möglichkeit schaden zu
wollen, weil man eben einem Befehle, dessen Ausführung nur Verderben gebracht
hätte, nicht gehorcht? Wenn nun auch die Schwäche der kindlichen Glieder keinen
Schaden zufügen kann, so ist ihr Herz doch nicht von Schuld freizusprechen. Ich
selbst habe einmal so ein neidisches Kind gesehen; es konnte noch nicht sprechen
und sah doch schon blass vor Neid mit bitterbösem Blick nach seinem
Milchbruder. Wer kennt das nicht? Nun sagen freilich Mütter und Ammen, sie
könnten es durch weiss Gott was für Mittel später wieder gutmachen. Jedenfalls
kann doch von Unschuld gar keine Rede sein, wenn man, während der Strom der
Muttermilch überreichlich fliesst, den von der Teilnahme ausschliesst, der
ihrer im höchsten Masse bedarf und allein mit dieser Nahrung sein Leben fristen
kann. Aber man lässt derlei nachsichtig hingehen, nicht als ob es gar nichts
bedeutete oder geringfügig wäre, sondern weil es sich mit den Jahren von selbst
verliert. Der Beweis dafür ist einfach: man lässt sich dergleichen nicht mehr
ruhig gefallen, wenn man älter ist.
Du also, mein Gott und Herr, der
du dem Kinde das Leben gabest und den Leib, den du, wie wir sehen mit
vernünftigen Sinnen ausgerüstet, durch Glieder wohl zusammengefügt, mit einem
schönen Äusseren geschmückt und für dessen Erhaltung in seiner Gesamtheit und
Unversehrtheit du alles, was der Leben spendende Geist unternimmt, bestimmt
hast, du heissest mich, dessentwegen dich loben, "dich bekennen und deinem
Namen lobsingen, Allerhöchster". Denn du bist der allmächtige und gütige
Gott, auch wenn du nur dieses allein getan hättest, was kein anderer tun kann
denn du, Einziger, der jegliches Mass bestimmt, Schönster, der du alles schön
gestaltest und alles nach deinem Gesetze ordnest. Diesen Abschnitt also meines
Lebens, Herr, in dem gelebt zu haben ich selbst mich nicht erinnern kann,
hinsichtlich dessen ich den Worten anderer Glauben schenken muss, den ich
vermutlich wie viele andere Kinder verbracht habe - wiewohl das ein sehr
zuverlässiger Schluss ist - diesen Abschnitt also möchte ich meinem Leben in
dieser Zeitlichkeit nicht gern hinzuzählen. Denn die gleiche Finsternis
völligen Vergessens umhüllt es wie das andere, das ich im Mutterleibe
zugebracht habe. Wenn nun das Wort des Psalmisten gilt, "in
Ungerechtigkeit bin ich empfangen, und in Sünden hat meine Mutter mich in ihrem
Schosse genährt", wo, ich flehe dich an, mein Gott, wo, o Herr, bin ich,
dein Sklave, wo oder wann bin ich ohne Schuld gewesen? Doch ich sehe von jener
Zeit ab: was kümmert sie mich schliesslich auch noch, wenn sogar jede Spur von
ihr verwischt ist?
Bin ich nicht aus der Kindheit
herauf fortschreitend zum Knabenalter gelangt? Oder vielmehr: ist nicht dieses
selbst an mich herangelangt und hat die Kinderzeit abgelöst? Und doch ist diese
nicht verschwunden; wohin wäre sie denn gegangen? Dennoch war sie nun nicht
mehr; denn ich war nicht mehr ein unmündiges Kind, sondern ein mit Sprache
begabter Knabe. Dessen erinnere ich mich; wie ich aber sprechen lernte, habe
ich erst später erfahren. Meine Lehrer waren nämlich nicht Erwachsene, die mir
nach einer bestimmten Methode die Worte darboten wie etwas später die
Buchstaben; ich selbst war es vermöge des Verstandes, den du mir gegeben hast,
mein Gott, wenn ich durch Seufzen, durch mannigfache Laute und verschiedene
Bewegungen der Glieder die Gefühle meines Herzens kundzutun suchte, damit man
mir meinen Willen erfüllte, ich aber dies weder in allein, was ich wollte, noch
bei allen, bei denen ich es wollte, vermochte. Ich erwog in meinem
Gedächtnisse: wenn Erwachsene irgendeinen Gegenstand nannten und im Anschlusse
daran ihren Körper zu etwas hinbewegten, so sah und begriff ich, dass sie mit
diesen Lauten mir den Gegenstand nannten, den sie mir zeigen wollten. Dass sie
dies aber beabsichtigten, ging aus den Bewegungen ihres Körpers hervor, jener
natürlichen Sprache aller Völker, die sich aus Mienenspiel, Winken mit den
Augen, den Gebärden der übrigen Glieder und dem Ton der Stimme zusammensetzt,
der die einzelnen Empfindungen der Seele anzeigt, wenn sie etwas erstrebt,
festhält, verschmäht oder flieht. So lernte ich denn nach und nach verstehen,
welche Dinge die einzelnen Worte bedeuteten, die ich in verschiedenen Sätzen in
verschiedenem Zusammenhang häufig hörte; mein Mund gewöhnte sich an jene
Zeichen, und ich konnte meine Wünsche durch sie ausdrücken. So tauschte ich mit
meiner Umgebung die Bezeichnungen für die gegenseitigen Wünsche aus und trat in
innigere Beziehung zur menschlichen Gemeinschaft, allerdings noch abhängig von
dem Willen der Eltern und der Anweisung der Erwachsenen.
Gott, mein Gott, was für Jammer
musste ich da erleben, welche Täuschungen wurden mir zuteil, da man dem Knaben
als Lebensregel vorzeichnete, denen zu gehorchen, die mich zum Gehorsam
ermahnten, damit ich auf dieser Erde glänzte und mich in wortreichen Künsten
auszeichnete, die nur dazu dienen, Ehre bei den Menschen und trügerische
Reichtümer zu gewinnen, Dann gab man mich in die Schule, um die Buchstaben zu
lernen, eine Kunst, deren Nutzen ich Ärmster nicht begriff. Zeigte ich mich
aber lässig im Unterrichte, so bekam ich Schläge. Die Erwachsenen priesen
diesen Entwicklungsgang, und viele, die vor uns gelebt auf dieser Welt, hatten
leidvolle Wege angelegt, die wir durchlaufen mussten - doppelt mühevoll und
schmerzlich für uns arme Adamssöhne. Wir fanden aber auch o Herr, Menschen, die
zu dir riefen, und wir lernten von ihnen, indem wir soviel von dir begriffen
wie uns möglich war: du müsstest etwas Grosses sein und könntest uns,
wenngleich unsern Sinnen nicht wahrnehmbar, erhören und uns zu Hilfe kommen. So
begann ich denn schon als Knabe zu dir zu rufen, zu dir, "meine Hilfe und
Zuflucht", und dich anzurufen, sprengte ich die Bande meiner Zunge, und so
klein ich war, flehte ich doch mit nicht kleiner Inbrunst zu dir, dass ich
nicht mehr in der Schule Schläge bekäme. Und da du mich nicht erhörtest,
"was mir zum Heile gereichte", so lachten die Erwachsenen, darunter
sogar meine Eltern, die doch sicherlich mir kein Übel wünschten, über Schläge,
die ich wenigstens damals als ein grosses und schweres Übel empfand.
Gibt es wohl, o Herr, einen so
hochgemuten, mit überaus grosser Inbrunst dir anhängenden Sinn, gibt es einen
solchen, sage ich (denn manchmal ist auch eine gewisse Stumpfheit die
Ursache!), also gibt es einen Menschen, frage ich, der mit so frommem Sinne dir
anhinge und hochherzig gesinnt wäre, dass er Foltern, Krallen und all die
anderen Marterwerkzeuge, vor denen gnädig sie zu bewahren alle Welt dich in
grossen Ängsten anfleht, ebenso so geringfügig erachtet, obwohl die, welche sie
aufs äusserste fürchten, seinem Herzen nahe stehen, wie unsere Eltern über die
Strafen lachten, welche die Lehrer über uns verhängten? Denn fürwahr, wir
fürchteten sie gerade so sehr und beteten ebenso sehr um ihre Abwendung,
sündigten aber trotzdem, indem wir weniger schrieben oder lasen oder an die
Studien dachten, als wir sollten. Denn es mangelte uns nicht, o Herr, an
Gedächtnis oder Verstand, die du uns in einem für jenes Alter hinreichenden
Masse gegeben, allein das Spiel erfreute uns, und uns straften solche, die
genau dasselbe trieben. Indessen die Possen bei den Erwachsenen heissen
Geschäfte; tun aber Knaben Ähnliches, so werden sie von ihnen bestraft, und
keiner empfindet Mitleid mit den Knaben oder mit jenen oder mit beiden. Sollte
wirklich ein gerechter Richter die Schläge, die ich als Knabe für mein
Ballspiel erhielt, ganz in der Ordnung finden, weil ich durch dieses Spiel
gehindert wurde, mir schneller die Kenntnisse anzueignen, mit denen ich später
ein weit hässlicheres Spiel treiben sollte? Oder tat etwa eben der, von dem ich
Schläge erhielt, etwas anderes, wenn ein gelehrter Kollege über ihn in einer
öffentlichen Disputation triumphierte und er dann heftiger von Galle und Neid verzehrt
wurde als ich, wenn ich im Wettstreite mit dem Balle meinem Spielgenossen
unterlag?
Und dennoch sündigte ich, Herr
mein Gott, der du die ganze Natur schaffst und lenkst, die Sünde aber nur
lenkst, Herr mein Gott, ich sündigte, indem ich gegen die Vorschriften meiner
Eltern und Lehrer handelte, Denn ich hätte ja später einen guten Gebrauch von
den Wissenschaften machen können, die ich erlernen sollte - unabhängig von der
Absicht derer, die es verlangten. Und ich war nicht etwa ungehorsam, weil ich
etwas Besseres erwählt hatte, sondern aus Hang zum Spielen, aus Begierde,
stolze Siege davon zu tragen und meine Ohren durch lügenhafte Erzählungen
kitzeln zu lassen, damit sie umso brennender juckten, während die gleiche
Neugierde mehr und mehr aus meinen Augen nach den Schauspielen und dem
Zeitvertreib der Erwachsenen hinfunkelte. Doch diejenigen, die sie
veranstalteten, stehen in solchem Ansehen, dass wohl alle für ihre Kinder ein
Gleiches wünschen; und gleichwohl haben diese Eltern nichts gegen die
Züchtigung ihrer Kinder einzuwenden, wenn sie sich durch ähnliche Spiele von
den Studien abhalten lassen, durch welche sie die Befähigung zur Veranstaltung
jener Schauspiele erlangen sollen! Sieh, o Herr, voll Erbarmen auf diese
Zustände herab und befreie uns, die wir dich anrufen, befreie auch jene, die
dich noch nicht anrufen, damit sie dich anrufen und du sie befreiest!
Schon als Knabe hatte ich vom
ewigen Leben vernommen, das uns versprochen worden ist durch die Erniedrigung
des Herrn unseres Gottes, der zu unserer Hoffart herabstieg; und bereits vom
Schosse meiner Mutter, deren ganzes Hoffen auf dich gerichtet war, wurde ich
mit dem Zeichen des Kreuzes bezeichnet und mit seinem Salze gewürzt". Du
sahest, o Herr, als ich noch im Knabenalter stand und eines Tages infolge
heftiger Magenschmerzen plötzlich in ein tödliches Fieber verfiel, du sahest
also, mein Gott, der du schon damals mein Hüter warst, mit welch innerer
Erschütterung und mit welchem Glauben ich von der Frömmigkeit meiner Mutter und
unser aller Mutter, deiner Kirche, die Taufe deines Gesalbten, meines Herrn und
Gottes, verlangte. Wohl hätte meine betrübte leibliche Mutter, die noch mit
viel grösserer Liebe mein ewiges Heil keuschen Herzens in deinem Glauben
geboren hätte, eilig dafür gesorgt, dass ich in die heilbringenden Sakramente
eingeweiht und im Bekenntnisse des Glaubens an dich, Herr Jesus, abgewaschen
würde zur Vergebung der Sünden, wäre ich nicht plötzlich wieder gesund
geworden. Meine Abwaschung wurde daher aufgeschoben; denn sie meinten, dass ich
bei längerem Leben notwendigerweise mit mehr Sünden befleckt würde und ein
sündenbeflecktes Leben nach dem Empfang jenes Bades (der Wiedergeburt) nur noch
grössere und gefahrvollere Verschuldung verursacht hätte. So war ich denn
bereits zum Glauben gelangt, wie meine Mutter und das ganze Haus mit Ausnahme
des Vaters allein; doch liess dieser sein Interesse an mir nicht Oberhand
gewinnen über die Frömmigkeit der Mutter, dass er etwa, selbst ungläubig, auch
mich nun verhindert hatte, an Christus zu glauben. Denn das war ihr heisses Bemühen,
dass du, mein Gott, eher mein Vater seiest als er; und du standest ihr hierin
bei, so dass sie über den Gatten den Sieg gewann, dem sie, obgleich die
bessere, dienstbar war, weil sie auch hierin dir diente, deinem Befehle gemäss.
Ich frage dich, mein Gott. - ich
möchte es nämlich wissen, wenn es auch dein Wille ist -, weshalb damals meine
Taufe verschoben wurde. Wurden mir zum Heile gleichsam die Zügel der Sünde
gelockert, oder wären sie besser nicht gelockert worden? Weshalb tönt es uns
auch jetzt noch immer wieder in den Ohren: "Lass ihn tun; er ist ja noch
nicht getauft"? Und doch sagen wir nicht, wenn es sich um die Gesundheit
des Körpers handelt: "Lass ihn nur noch mehr verwundet werden; er ist ja
noch nicht geheilt". Wieviel besser wäre es für mich gewesen, ich wäre
schnell geheilt worden, und mein und der Meinen Eifer hätten darauf ihr
Augenmerk gerichtet, dass das Heil meiner Seele, das du mir verliehen, nun
unter deinem Schutze sicher war. Besser fürwahr! Aber meine Mutter wusste, wie
grosse und wie viele Stürme der Versuchungen nach Ablauf des Knabenalters noch
über mich brausen würden, und wollte lieber den Stoff preisgeben, aus dem ich
später neu geformt werden konnte, als das Bildnis selbst.
Gerade im Knabenalter jedoch, das
man nicht so sehr für mich wie die Jünglingszeit fürchtete, liebte ich die
Wissenschaften nicht und hasste den Zwang des Unterrichts. Dennoch wurde ich
dazu angehalten, und der Zwang tat mir gut, aber ich tat nicht gut. Denn ich
hätte nicht gelernt, wenn man mich nicht dazu gezwungen hätte. Niemand aber
handelt gut wider seinen Willen, mag auch gut sein, was er tut. So handelten
auch nicht die gut, die mich zwangen, aber das Gute kam mir von dir, mein Gott.
Denn als jene mich zu lernen zwangen, hatten sie kein anderes Ziel für mich im
Auge als die Sättigung unersättlicher Gier nach reicher Armut und schimpflichem
Ruhme. Du aber, "bei dem unsere Haare gezählt sind", wandtest den
Irrtum aller derer, die mich zum Lernen anhielten, zu meinem Nutzen, meinen
Irrtum aber, nicht lernen zu wollen, zu meiner Strafe; ich verdiente sie wohl,
ein so kleiner Knabe und schon ein so grosser Sünder! So tatest du mir Gutes durch
Jene, die nicht Gutes taten, und durch meine eigenen Sünden vergaltest du mir
gerecht. Denn so hast du es befohlen, und es ist so, dass jeder ungeordnete
Geist sich selbst zur Strafe wird.
Weshalb ich aber die griechische
Sprache hasste, in der ich bereits als ganz kleiner Knabe unterwiesen wurde,
ist mir auch heute noch nicht völlig klar. Denn ich hatte doch Freude am
lateinischen Unterricht, zwar nicht an dem der Elementarlehrer, wohl aber an
dem der Grammatiker. Denn der Elementarunterricht, Lesen, Schreiben und
Rechnen, war mir genau so lästig und peinlich wie der gesamte griechische.
Woher stammte also meine Abneigung gegen ihn wenn nicht aus meiner
Sündhaftigkeit und Eitelkeit? "Fleisch war ich und ein Hauch, der dahinfährt
und nicht wiederkehrt". Denn jene Elementarfächer waren praktischer und
entschieden auch besser; durch sie nämlich war es mir möglich, und ihnen
verdanke ich es jetzt noch, dass ich alles Geschriebene, was mir in die Hände
fällt, lesen und alles, was ich will, schreiben kann. Besser sicherlich als
jener Unterricht, der mich zwang, Bescheid zu wissen über die Irrfahrten eines
Äneas und darüber meine Irrtümer zu vergessen, den Tod einer Dido zu beweinen,
die sich selbst getötet, während ich Elender selbst trockenen Auges es ertrug,
dass ich dabei dir, mein Gott und mein Leben, abstarb. Was ist erbärmlicher als
ein Armer, der sich seiner selbst nicht erbarmt und den Tod der Dido, die Folge
übergrosser Liebe zu Äneas, beweint, aber nicht beweint seinen eigenen Tod, die
Folge mangelnder Liebe zu dir, Gott, du Licht meines Herzens, du Brot meiner
Seele, du Kraft, die meinen Geist und meine innersten Gedanken befruchtet? Ich
liebte dich nicht und "buhlte abgewandt von dir", und von allen
Seiten erscholl es dabei: "recht so, recht so". Denn die Freundschaft
dieser Welt ist gottentfremdete Buhlerei, und "recht so, recht so"
ruft man dazu, damit es für Schande gelte, wenn jemand nicht so ist. Und
hierüber weinte ich nicht, wohl aber weinte ich über Dido, dass sie "geschieden,
vom eigenen Stahle gefallen"; ja, ich verliess dich und suchte dafür die
letzten deiner Geschöpfe auf, Staub, der zum Staube zurückkehrt. Und hinderte
man mich am Lesen, so war ich betrübt, weil ich nicht lesen sollte, was mich
betrübte. Solchen Wahnsinn hält man für ehrenvoller und nützlicher als den
Elementarunterricht, in dem ich lesen und schreiben lernte.
Aber nun rufe in meiner Seele,
mein Gott, und deine Wahrheit sage mir: so ist es nicht, so ist es nicht;
wahrhaftig, jener erste Unterricht ist viel besser. Denn siehe, viel lieber
will ich die Irrfahrten des Äneas und alles andere der Art vergessen als
Schreiben und Lesen. Wohl decken Vorhänge die Eingänge der gelehrten Schulen,
doch versinnbilden sie nicht den Wert der dahinter gelehrten Geheimnisse,
sondern sind nur eine Verhüllung des Irrtums. Mögen nicht mehr gegen mich
schreien, die ich nicht mehr fürchte, da ich dir, mein Gott, bekenne, was meine
Seele begehrt, und Ruhe finde in der Verurteilung meiner bösen Wege, damit ich
deine guten Wege lieben kann. Mögen nicht ihre Stimme gegen mich erheben Käufer
und Verkäufer von Grammatiken; denn wenn ich ihnen die Frage vorlege, ob die
Angabe des Dichters, Äneas sei einst nach Karthago gekommen, wahr sei, werden
die Ungelehrten gestehen müssen, sie wüssten es nicht, die Gelehrten aber, es
sei nicht wahr. Wenn ich dagegen frage, wie das Wort Äneas geschrieben wird, so
werden alle, die das gelernt haben, die richtige Antwort geben entsprechend dem
Übereinkommen oder dem Beschlusse, durch welchen die Menschen diese Zeichen
untereinander festgesetzt haben. Ebenso wenn ich frage, was wohl ein grösserer
Verlust für dieses Leben sei, Lesen und Schreiben zu vergessen oder jene
Dichterfabeln, wer würde sich lange auf die richtige Antwort besinnen, wofern
er noch nicht ganz auf sich vergessen hat? Also sündigte ich als Knabe, wenn
ich jene Nichtigkeiten diesen nützlichen Wissenschaften vorzog oder richtiger
sie hasste, jene aber liebte. Denn ein verhasstes Geleier war mir "eins
und eins ist zwei; zwei und zwei ist vier", ein überaus süsses, nichtiges
Schauspiel aber das hölzerne Ross, mit Bewaffneten angefüllt, der Brand Troias
und "der eigene Schatten der Kreusa.
Warum also hasste ich die
griechische Grammatik, wenn sie uns Ähnliches vortrug? Denn auch Homer versteht
es, solche Fabeln zusammenzuweben, und stellt in gar anmutiger Weise Torheiten
dar; und doch konnte ich als Knabe ihn nicht leiden. Vermutlich ergeht es
griechischen Knaben mit Vergil genau so, wenn sie gezwungen werden, ihn so
verstehen zu lernen wie ich den Homer. Die Schwierigkeit nämlich, eine fremde
Sprache von Grund aus zu erlernen, diese Schwierigkeit vergällte mir jeden
Genuss der schönen Literatur in griechischer Sprache. Ich kannte ja noch kein
einziges Wort jener Sprache, und heftig setzte man mir mit Drohungen und
Strafen zu, sie doch zu lernen. Zwar waren auch die lateinischen Wörter mir
einmal völlig unbekannt, und doch lernte ich sie durch genaues Aufmerken ohne
Angst und Qual unter den Liebkosungen der Ammen, unter Scherzen und Lachen und
fröhlichem Spiel. So lernte ich sie ohne jeden strafenden Druck von irgendeiner
Seite; nur mein eigenes Herz trieb mich, das, was es dachte, zu offenbaren. Und
auch das hätte ich nicht vermocht, wenn ich nicht einige Worte gelernt hätte,
nicht von Leuten, die mich lehren wollten, sondern von solchen, die sie einfach
gebrauchten; diesen wollte nun auch ich meine Empfindungen kundtun. Das beweist
genügend, dass die Wissbegierde in ihrer Freiheit grösseren Einfluss auf die
Erlernung dieser Dinge ausübt als der Zwang mit seiner Furcht. Doch wird der
Strom der Wissbegierde durch Zwang in das Bett deiner Gesetze, o Gott, gebannt,
deiner Gesetze von den Zuchtruten der Lehrer angefangen bis zu den Prüfungen
der Märtyrer; sie vermögen heilsame Bitterkeit beizumischen, die uns zurückruft
von der verderblichen Lust, welche uns von dir getrennt hat.
Erhöre, o Herr, mein Gebet, dass
meine Seele nicht erliege unter deiner Zucht und nicht ermatte im Bekenntnisse
deiner Erbarmungen, durch die du mich von all meinen schlechten Wegen errettet
hast, auf dass du mir süsser seiest als alle Verlockungen, denen ich folgte,
ich dich inbrünstig liebe, deine Hand mit aller Kraft meines Herzens erfasse
und du mich von aller Versuchung bis ans Ende errettest. Denn siehe du, o Herr,
"mein König und mein Gott", deinem Dienste sei geweiht, was ich als
Knabe Nützliches gelernt; dienen soll dir, was ich rede und schreibe, lese und
rechne. Denn als ich Nichtiges lernte, nahmst du mich in deine Zucht und hast
mir verziehen, da ich an diesem Tande sündhaftes Wohlgefallen empfand. Wenn ich
auch dabeiviel nützliche Worte gelernt habe, so hätte ich sie doch auch bei
minder Eitlem lernen können; diesen sicherenWeg sollten die Knaben wandeln.
Aber wehe über dich, du Strom
menschlicher Gewohnheit! Wer widersteht dir, oder wann wirst du endlich
versiegen? Wie lange noch wirst du die Evaskinder in jenes schreckliche Meer
mit dir reissen, über das doch kaum die sicher gelangen, welche das Schifflein
der Kirche bestiegen? Warst du nicht schuld, dass ich vom Donnerer Jupiter, der
zugleich auch ein Ehebrecher war, las? Er könnte nun zwar unmöglich beides
sein, aber man hat es so auf der Bühne dargestellt, damit der wahre Ehebruch
mit vollerem Gewichte zur Nachahmung auffordere, wenn ein falscher Donnergott
selbst dazu verkuppelt. Doch wer von jenen Lehrern im Rednermantel hört mit
verständigem Ohr auf jenen Mann, aus dem gleichen Staube geboren, wenn er sagt:
"So erdichtete es Homer, der damit Menschliches auf die Götter übertrug; o
hätte er doch lieber Göttliches auf uns übertragen"? Mit mehr Wahrheit
jedoch könnte man sagen: wohl erdichtete jener derlei, aber so, dass er
lasterhaften Menschen göttliche Eigenschaften beilegte, damit Schande nicht
mehr als Schande gelte und der Ehebrecher nicht verlorene Menschen, sondern die
ewigen Götter nachzuahmen scheine. Und doch, du höllischer Strom, wirft man in
dich die Menschenkinder hinein und Honorar dazu, damit sie derlei lernen; und
etwas Grosses ist es, wenn dies sogar öffentlich auf dem Forum vor sich geht,
angesichts der Gesetze, die ausser dem Honorar noch ein festes Gehalt
zubilligen. Dann magst du freilich an den Felsen anschlagen und den Ruf ertönen
lassen: "Hier lernt man Worte, hier erwirbt man Beredsamkeit, die überaus
wichtig ist zur Führung von Prozessen und zur Entwicklung der Gedanken".
Also würden wir sonst diese Worte nicht kennen, Goldregen, Schoss, Betrug,
Himmelsgewölbe und andere Worte, die ebendort vorkommen, wenn uns nicht Terenz
in jenem Stücke einen nichtsnutzigen Jüngling vorführte, der sich durch die
Betrachtung eines Wandgemäldes, welches darstellte, wie Jupiter dem Mythus
zufolge einen goldenen Regen in Danaes Schoss gesandt und diese dadurch berückt
habe, den Donnergott selbst zum Vorbild in seinem unzüchtigen Tun nimmt' Und
man höre, wie er sich gleichsam durch eine Stimme vom Himmel zur Wollust
aufstacheln lässt: "Und welch ein Gott ist das! Er, der mit gewaltigem Donner
das hohe Himmelsgewölbe erschüttert! Und ich Menschlein sollte das nicht tun?
Doch - ich habe es getan und gern". In keinem Falle nun lernt man durch
jene Schändlichkeiten diese Worte bequemer, wohl aber verleiten uns solche
Worte, solche Schändlichkeiten zuversichtlicher zu begehen. Doch klage ich
nicht die Worte an; es sind erlesene, kostbare Gefässe; wohl aber den Wein des
Irrtums, der uns darin von trunkenen Lehrern kredenzt wurde. Tranken wir den
nicht, so erhielten wir Schläge, ohne dass es eine Berufung an einen nüchternen
Richter gab. Und doch, mein Gott, vor dessen Angesicht ich jetzt dieser Dinge
in Frieden gedenke, ich habe gern diese Worte gelernt, ich Armer hatte meine
Freude daran und hiess deshalb ein Knabe, der zu den besten Hoffnungen berechtigte.
Lass mich, mein Gott, nunmehr
auch etwas über meine Anlagen, dein Geschenk, sagen, wie ich sie in meinem
Wahnwitze missbraucht habe. Es wurde mir nämlich die Aufgabe gestellt, die mich
wegen der damit verbundenen ehrenden Belohnung oder aber wegen der Schande und
des Spottes nicht wenig beunruhigte: ich sollte in einer Rede Junos Zorn und
Schmerz, dass sie nicht könne "von Italia fernhalten den teukrischen
König" zum Ausdruck bringen; dabei hatte ich die Juno niemals Derartiges
sagen hören. Aber wir mussten den Spuren dichterischer Einbildungen nachirren
und die Verse der Dichter dem Sinne nach in ungebundener Rede ausführen. Und
dessen Rede erntete das grösste Lob, der dem Charakter der dargestellten Person
gemäss die Affekte des Zornes und Schmerzes, wobei er die Gedanken in die
entsprechenden Worte kleidete, am treffendsten hervortreten liess. Was nützte
mir nun dieses, o wahres Leben, o mein Gott? Wozu der meiner Rede im Beisein
vieler Mitschüler und Altersgenossen gezollte Beifall? Ist das nicht alles
Rauch und Nebel? Gab es denn wirklich nichts anderes, meinen Geist und meine
Sprache auszubilden? Dein Lob, o Herr, dein Lob in deinen heiligen Schriften
hätte die Jugendtriebe meines Herzens aufrichten sollen; dann wären sie nicht
nichtigen Albernheiten zum Raube gefallen, eine leichte Beute der Vögel. Denn
gefallene Engel heischen mehr als ein Opfer.
Kein Wunder aber, dass ich mich
so zu Eitelkeiten fortreissen liess und von dir, mein Gott, mich abwandte.
Sollte ich doch in Menschen mein Vorbild erblicken, welche, wenn ihnen bei der
Erzählung ihrer guten Handlungen ein Barbarismus oder Solöcismus unterlief,
infolge des sie treffenden Tadels in höchste Bestürzung gerieten, dagegen sich
rühmten und auch von anderen gepriesen wurden, wenn sie von ihren Wollüsten in
tadelloser, wohlgeordneter Sprache mit rednerischer Fülle und in schöner
Disposition berichteten. Dies siehst du, o Herr, und schweigst, da du
"langmütig und von grosser Barmherzigkeit und Wahrheit bist". Wirst
du etwa immer schweigen? Schon jetzt entreisst du diesem so entsetzlichen
Abgrunde die Seele, die dich sucht und nach deinen Wonnen dürstet, und den, der
in seinem Herzen zu dir spricht: "Dein Antlitz habe ich gesucht; dein
Antlitz, o Herr, will ich suchen". Denn von deinem Antlitz fern sein
heisst in dunklen Leidenschaften sein. Denn nicht mit den Füssen und nach
räumlichen Abständen entfernt man sich von dir oder kehrt zu dir zurück. So hat
auch nicht der verlorene Sohn im Evangelium sich nach Pferden oder Wagen oder
Schiffen umgetan; auch ist er nicht mit sichtbarer Schwinge davongeflogen oder
hat mit gebogenem Knie den Weg zurückgelegt, um in fremdem Lande zu vergeuden,
was du ihm bei seiner Abreise gegeben hattest, liebevoller Vater, der du ihm
noch grössere Liebe erwiesest, da er in Armut zurückkehrte. Wollüstiges
Begehren also ist finsteres Begehren, und das heisst fern von deinem Antlitze
wandeln.
Siehe, Herr, mein Gott, und sieh
in deiner gewohnten Langmut, wie peinlich die Menschenkinder auf die Satzungen
der Sprache und die Regeln der Buchstaben, die sie von anderen überkommen
haben, achten, aber die von dir empfangenen steten Unterpfänder des ewigen
Heiles vernachlässigen. Wenn also einer von jenen Hütern und Lehrern der
Satzungen der Grammatik das Wort "Mensch" falsch ausspricht, so missfällt
er den Menschen mehr, als wenn er gegen deine Gebote seinen Mitmenschen, obwohl
er sein Bruder ist, hasste. Und doch ist nicht das Bewusstsein, einen Feind zu
haben, so verderblich als der Hass, den man gegen ihn in sich trägt, und
niemand fügt seinem Feinde, den er verfolgt schwereren Schaden zu als durch
diese Feindseligkeit seinem eigenen Herzen. Und doch ist sicher die Kenntnis
der Buchstaben nicht tiefer ins Herz geschrieben als jenes Bewusstsein, dass
wir da einem andern tun, was wir selbst nicht leiden wollen. Wie bist du doch
so geheimnisvoll, du grosser, einziger Gott, der du schweigend in den Höhen
thronst und nach deinem unwandelbaren Gesetz mit Blindheit unerlaubte
Leidenschaften strafst. Wenn ein Mensch, der nach dem Ruhme der Beredsamkeit
strebt, umgeben von einer grossen Menschenmenge vor dem menschlichen Richter
steht und nun gegen seinen Feind mit dem grimmigsten Hass losgeht, so hütet er
sich mit ängstlicher Sorgfalt, etwa durch eine falsche Konstruktion Unkenntnis
der Grammatik zu verraten; aber in der Wut seines Herzens einen Menschen aus
der menschlichen Gesellschaft hinwegzureissen, davor schreckt er nicht zurück.
Auf der Schwelle solcher Sitten
lag nun ich armer Knabe; und dieses Kampfplatzes Ringkunst brachte es mit sich,
dass ich mehr einen Barbarismus fürchtete als den Neid gegenüber denen, die
sich keinen solchen Sprachfehler zuschulden kommen liessen, wenn ich deren
beging. Ich erzähle dies und bekenne dir, mein Gott, was mein Lob ausmachte bei
denen, deren Wohlgefallen mir damals als Beweis meiner ehrenvollen
Lebensführung galt. Denn ich sah nicht den Schlund der Schande, in den
"ich geschleudert war, fern von deinen Augen". Konnten sie etwas
Hässlicheres sehen als mich, da ich sogar meiner Umgebung missfiel, wenn ich
aus Hang zum Spiel, in der Leidenschaft, Schauspiele zu besuchen und in
spielsüchtiger Unruhe nachzuahmen, den Erzieher, meine Lehrer und Eltern durch
unzählige Lügen hinterging? Auch bestahl ich Keller und Tisch der Eltern,
entweder aus persönlicher Naschhaftigkeit oder um mich meinen Spielgenossen
gefällig erweisen zu können und mir dadurch ihre Spielgesellschaft, ihnen
selbst zum Vergnügen, zu erkaufen. Im Spiele aber erschlich ich mir häufig
betrügerische Siege, selbst besiegt von eitler Gier nach Auszeichnung. Nichts
aber konnte ich bei anderen so wenig leiden und tadelte ich heftiger, wenn ich
sie ertappte, als das, was ich anderen tat; wurde ich aber ertappt und
getadelt, so raste ich lieber als dass ich nachgab. Ist das noch kindliche
Unschuld? Nein, o Herr, das nicht, ich flehe dich an, mein Gott. Denn im Wesen
bleibt es doch dasselbe, ob man als Knabe Erzieher und Lehrer um Nüsse, Kugeln
und Sperlinge oder als Mann Präfekten und Könige um Geld, Landgüter und Sklaven
betrügt - nur folgen später der Rufe schwerere Strafen. Der Demut Bild hast du
also, unser König, in der kindlichen Gestalt uns vorgehalten, als du sagtest:
"Ihrer ist das Himmelreich".
Und dennoch Dank dir, o Herr,
dir, dem erhabensten und besten Schöpfer und Lenker des Weltalls, dir, unserm
Gotte Dank, auch wenn ich nach deinem Willen nur das Alter eines Knaben gelebt
hätte. Denn auch damals lebte ich und existierte und empfand und trug Sorge für
die Unversehrtheit meines Herzens, des Nachbildes der geheimnisvollen Einheit,
die mich geschaffen. Mein inneres Empfinden wache über die Gesundheit meiner
Sinne, und selbst bei geringfügigen Ursachen und beim Nachdenken über
Unbedeutendes hatte ich meine Freude an der Wahrheit. Betrug hasste ich, über
ein treffliches Gedächtnis verfügte ich, an Sprachfertigkeit nahm ich zu,
Freundschaft tat mir wohl, Schmerz, wegwerfende Behandlung, Unwissenheit floh
ich. Was ist doch nicht alles an so einem Lebewesen wunderbar und preiswürdig?
Aber das alles sind Geschenke meines Gottes, nicht ich habe sie mir gegeben:
ewige Güter sind es, die mein Ich ausmachen. Gut ist also auch der, der mich
geschaffen; er selbst ist mein Gut, und ihm juble ich zu wegen all der Güter,
die er schon dem Knaben verliehen. Darin bestand ja meine Sünde, dass ich nicht
in ihm selbst, sondern in seinen Geschöpfen mich und was es sonst an Freude,
Grösse und Wahrheit gibt, suchte; so musste ich in Schmerz, Beschämung und
Irrtum verwickelt werden. Dank dir, meine Süssigkeit, meine Ehre und meine
Zuversicht, Dank dir für deine Geschenke, mein Gott; aber erhalte sie mir auch!
Denn so wirst du auch mich erhalten, und deine Güter werden vermehrt und
vervollkommnet werden, und ich selbst werde bei dir sein, da ich ja auch mein
Sein dir verdanke.