Der heilige Pio von Pietrelcina (1887-1968)

 

Gedenktag: 23. September

 

            Pater Pio von Pietrelcina war ein Heiliger, der schon zu Lebzeiten Millionen von Verehrern auf der ganzen Welt hatte. Deshalb ist es schwierig, sich vorzustellen, wie viel Leid mit so einem Schicksal unvermeidlich verbunden gewesen sein mag.

            Ein Leid, das in gleichem Maße von Verehrern und von Nichtgläubigen, von der Kirche und von der Welt ausgelöst wurde. Doch es gab weiteres Leid, das aufgrund einer „höchsten Mission“, die er bewusst angenommen hatte, erforderlich wurde: die Mission, das Abbild Christi sichtbar zu reproduzieren –  für das Heil der Welt gekreuzigt zu sein sowie vom Bösen und von den Sündern verfolgt zu werden.

            Soweit uns bekannt, war Pater Pio der einzige Priester der Geschichte, der die „Stigmata“ trug: fünf blutende Wunden (an der Seite, an den Händen und an den Füßen), ganz den Wunden Jesu gleich, der ans Kreuz genagelt und von der Lanze des römischen Soldaten durchbohrt worden war.

            Wenn bei den anderen Mystikern, die die gleichen Wundmale der Passion  trugen (allein schon bei Franz von Assisi), diese eher das Zeichen glühender ehelicher Liebe waren, die sie Christus ähnlich machten, erschienen sie bei Pater Pio sozusagen als priesterliche Eigenschaft (das Siegel, das Zeichen), welche auf diese Art und Weise so tief in den Körper eingeprägt war, dass sie zum Selbstzeugnis wurde.

            Seine eigene Geschichte stellt dies unter Beweis.

            Ohne Furcht, einer Täuschung zu unterliegen, kann man sagen, dass es gerade diese Wunden waren, welche die Menschenmassen zu seinem Priestertum lockten: Nicht etwa weil von ihnen frisches Blut und manchmal auch ein geheimnisvoller und intensiver Duft ausströmte, sondern weil sie seine ganze Gleichgestaltung mit dem heiligen Priestertum offenbarten.

            Die Stigmata erwiesen ihn als einen ans Kreuz Genagelten, und zwar genau in dem Moment, in dem er die heilige Messe mit ehrfurchtsvoller Liebe zelebrierte. Wer es einmal gesehen hatte, konnte es nicht mehr vergessen.

            Weiterhin schienen die Stigmata jedes Mal wenn Pater Pio – sichtbar erschüttert über die Sünde und mit unermesslichem Sanftmut dem Sünder gegenüber – das Sakrament der Vergebung spendete, physisch darauf hinzuweisen, dass Christus mit seinem Blut den Lösepreis für uns bezahlt hatte.

            Schließlich erinnerten sie Tausende von gläubige Menschen, wenn diese ihre Fürbitten und Wunder erflehten, daran, wie viel diese „Gnaden“, die Gott durch ihn so großzügig verteilte, gekostet hatten.

            Das Wunder der Eucharistie, das Wunder der Vergebung, das Wunder der Auferstehung (erhofft und erwartet von vielen kranken Leibern und Seelen, welche durch eine Geste oder ein Wort von ihm geheilt wurden): Die blutenden Wundmale, die jeder gern hätte sehen und berühren wollen, waren ein Zeichen, das die anderen Wunder zusammenfasste, und zeigten deren geheimnisvolle Quelle auf.

            Sie brachten auch das zum Ausdruck, was den Pilgern eigentlich schon weniger interessant erschien: das Wunder seines kontinuierlichen und harten persönlichen Kampfes gegen Satan, aus dem er jeden Tag abgespannt und siegreich hervorging.

            In Pater Pio bedeuteten die Stigmata all dies: der brennende Ausdruck dessen, was das katholische Priestertum ist.

            Pater Pio hieß Francesco Forgione und wurde in Pietrelcina, einem kleinen Vorort der Stadt Benevent, quasi an der Grenze zur Region Puglia geboren. Im Alter von fünfzehn Jahren trat er bei den Kapuzinern als Novize ein und nahm damit eine der strengsten und anspruchsvollsten Regeln an.

            Sein einfacher und selbstverständlicher, intensiver und leidenschaftlicher Glauben sowie sein absoluter Gehorsam sorgten schon bald für Bewunderung.

            Aber niemand dachte, dass dieser Novize, der gern viele Stunden im Gebet verbrachte (doch meistens weinend, als ob er an den heiligen Geheimnissen eine Art schmerzlichen und bewegten Anteil erfahre), schon lange in familiärem Umgang mit seinem Schutzengel lebte (den er „seinen kleinen Gesellen der Kindheit“ nannte) und häufig mit Visionen von Christus und der Jungfrau beschäftigt war, die ihn scheinbar schon als Kind auf einen anspruchsvollen Dienst vorbereiten wollten.

            Am Abend vor dem Beitritt ins Noviziat hatte er eine Vision gehabt, in der er wie ein kleiner „David“ berufen wurde, um „gegen eine schreckliche Persönlichkeit von maßloser Größe“ zu kämpfen: Dies war symbolträchtig für das Leben, das auf ihn wartete.

            Ansonsten hatten ihn seit seinem fünften Lebensjahr, als er seine kleinen Schafe auf die Weide führte, milde und heilige Visionen von Christus und dessen himmlischer Mutter wie auch quälende Kämpfe mit dem Teufel…

            Davon erzählte der junge Novize niemandem, jedoch nur weil er in seiner Naivität glaubte, dass alle Seelen ähnliche Erleuchtungen und Gnaden erhielten, auch wenn alle verständlicherweise Diskretion darüber wahrten.

            Das war sein Glück, denn hätte er darüber gesprochen, hätten ihn eben diese guten Brüder als geisteskrank bezeichnet – gerade weil seine Gesundheit schon große Sorgen bereitete: Er litt an akuten Schmerzen in der Brust, an kontinuierlicher Appetitlosigkeit und an häufigen Fieberanfällen.

            Wäre er nicht so gutmütig und gehorsam gewesen, hätte er nicht mit so viel Innerlichkeit gebetet, dann hätten sie ihn zu seiner Familie zurückgeschickt. Stattdessen ließen sie ihn mehrmals das Kloster wechseln, um ihm sanftere klimatische Bedingungen anbieten zu können. Aber die Lage schien sich eher zu verschlimmern.

            Darüber hinaus kam es auch äußerlich zur Manifestierung teuflischer Nachstellungen, die seine Mitbrüder in Angst versetzten.

            Die Lage blieb für die ganze Periode der Ausbildung prekär: Immerhin absolvierte er sein Studium, durchlief die verschiedenen Stufen zur Vorbereitung auf das Priestertum – von häufigen und langen Aufenthalten bei der Familie unterbrochen – und erhielt im Voraus die heilige Weihe als Geschenk für seine Güte, weil die Ordensoberen dachten, er hätte nur noch wenige Jahre vor sich.

            In den ersten Jahren verboten sie ihm sogar, die Beichte zu hören – entweder aufgrund seiner zu schwachen, angebrochenen Gesundheit oder weil sie daran zweifelten, ob er zur Spendung des Sakramentes ausreichend ausgebildet sei.

            Er starb nicht, aber die Lage wurde immer seltsamer. Während der ersten fünf Jahre seines Priestertums gelang es Pater Pio nicht, im Kloster zu leben. Kaum war er zurück, erkrankte er wieder und nach ein paar Wochen sah er so aus, als würde er sterben. Jedes Mal mussten sie ihn zu seiner Familie zurückschicken. Nur in Pietrelcina konnte er sich erholen.

            Er lebte in einer „Hütte“ auf einem Hügel, in einem Zimmer, das für die Bewachung der Weinberge gebaut worden war, neben einer Jahrhunderte alten Ulme; dort verbrachte er sein Leben im Gebet und mit Erfahrungen, die er keinem erzählen konnte.

            Man berief ihn mehrmals zum Militärdienst – wir befinden uns im Ersten Weltkrieg – aber jedes Mal war man gezwungen, ihn aufgrund von Krankheiten fast sofort wieder nach Hause zu schicken.

            Auch seine Ordensoberen berufen ihn oft zurück ins Kloster und Pater Pio ist bereit, ihren Anweisungen zu gehorchen, aber es ist allen klar, dass er jedes Mal sein Leben in Gefahr bringt.

            Manchmal konnte er sich nur von der Eucharistie ernähren – und das wochenlang. An manchen Tagen erreichte das Thermometer die Temperatur von 42 Grad.

            Einige Mitbrüder verlieren die Geduld und empfehlen mit Nachdruck seinen Ausschluss aus dem Orden. Zum Glück zog es der Heilige Stuhl vor, diesem seltsamen Mönch die Sondererlaubnis zu erteilen, außerhalb der Gemeinschaft in seinem Heimatdorf zu leben.

            Etwas Geheimnisvolles geschah in jenen Jahren.

            Später wird Pater Pio aussagen, dass es ihm nicht möglich sei, den Grund und die Bedeutung jener Ereignisse zu erklären. Aber seinem Beichtvater vertraute er Folgendes an: „Das größte aller Opfer, die ich dem Herrn dargebracht habe, war die Tatsache, dass ich nicht im Kloster leben durfte.“ (B. 8. September 1911)

            Nur der Beichtvater weiß, dass er sein Leben Tag und Nacht im Gebet verbringt, wobei er einschneidenden, mystischen Erfahrungen unterworfen ist (er spürte schon den Schmerz der fünf Wundmale, aber er hatte den Herrn angefleht, seine Wunden nicht sichtbar werden zu lassen), wobei er fast jede Nacht ermüdende Schlachten gegen den bösen Geist führen musste, die ihn erschöpft und zerstört zurückließen.

            In dieser Hütte fanden lange himmlische Ekstasen und Liebesgespräche statt, in denen es um die Erlösung der Sünder ging, wie auch schreckliche Quälereien, in denen Pater Pio Schuld sühnte, nicht die eigene: paradiesische Tage und höllische Nächte.

            Pater Pio fühlte sich zwischen dem guten Jesus, der ihn von allen Seiten her mit Liebe erfüllte, und Satan, der ihn von überall her mit furchtbaren Visionen und physischen Schlägen (mit Stöcken und Ketten) bedrängte, hin und her gerissen. Mit Schrecken schrieb er am 10. Januar 1911 folgende Notiz auf: „Der Dämon will mich für sich um jeden Preis“.

            In regelmäßigen Abständen erlebte er in seinem Fleisch die Passion Christi wieder: Wie er seinem Beichtvater 1915 in Gehorsamkeit offenbart hat, „leidet diese Seele seit mehreren Jahren (die Krönung mit der Dornenkrone und die Geißelung) – und dies fast wöchentlich.“

            Aber es handelt sich um eine unglaubliche Liebesgeschichte.

            In einem Brief vom 21. März 1912 schrieb er: „Jesus bittet mich fast ständig um Liebe. Mein Herz, vielmehr als mein Mund antwortete ihm: Oh mein Jesus, ich möchte… aber ich kann nicht mehr weiter. Aber schließlich rufe ich ihm doch zu: Jesus, ich liebe Dich; in jenem Augenblick scheint es mir dann, dass ich Dich liebe und spüre auch das Bedürfnis, Dich noch mehr zu lieben; aber Jesus, in meinem Herzen habe ich keine Liebe mehr; Du weißt, dass ich sie Dir ganz gegeben habe; wenn Du mehr Liebe willst, nimm mein Herz und fülle es mit Deiner Liebe; dann werde ich auch dann, wenn Du es mir befiehlst, Dich zu lieben, es nicht ablehnen; mehr noch, ich bitte Dich, so zu handeln; ich wünsche es mir so. Vom Donnerstagabend bis zum Samstag wie auch am Dienstag mache ich eine schmerzliche Tragödie durch. Das Herz, die Hände und die Füße scheinen mir von Schwertern durchbohrt zu sein – so groß ist der Schmerz, den ich empfinde. Gleichzeitig hört der Dämon nie auf, mir mit den schrecklichsten Fratzen zu erscheinen und mich in einer furchtbaren Art und Weise zu prügeln. Aber die Liebe Jesu ist so lebendig, dass allein seine Besuche alles kompensieren.“

            Die glühendsten Ausdrücke mystischer Literatur finden sich in seiner Feder wieder. Manchmal schrieb er ganze Sätze, die sich in dieser Form beim heiligen Johannes vom Kreuz, bei der heiligen Teresa von Ávila und sogar bei der heiligen Thérèse von Lisieux finden: Aber er entnahm sie seinem eigenen Herzen und nicht den Büchern (die er nicht einmal hätte lesen können).

            „Das Herz Jesu und das Meine, wenn Sie mir diesen Ausdruck gestatten, verschmolzen miteinander. Es waren nicht mehr zwei Herzen, die schlugen, sondern nur noch eines. Mein Herz verschwand wie ein Tropfen Wasser, der im Meer verlief“, schrieb er am 18. April 1912.

            „Liebstes Väterchen“, schrieb er seinem geistlichen Vater am 26. August desselben Jahres, „erfahren Sie, was mir am vorigen Freitag passiert ist! Ich befand mich in der Kirche und sprach Gott für die Messe meinen Dank aus, als ich mein Herz auf einmal von einem so starken und brennenden Feuerstachel verwundet empfand, dass ich dachte, ich würde sterben.“

            Folgende Erklärung könnte die Fortsetzung der Ereignisse rechtfertigen: Es ist so, als ob Pater Pio, bevor er den Zeitpunkt seiner „vollen“ Inanspruchnahme für die Mission erreichte, all das hätte wieder erleben müssen, was die alten Eremiten durchgemacht hatten: äußerst harte Kämpfe; es ging um die intensiven Erfahrungen der ersten Mönche, die glühenden Sehnsüchte der ersten Apostel und Missionare, die Leiden der Verfolgten und Märtyrer, die Liebesabenteuer der leidenschaftlichsten Mystiker… Was ihm widerfuhr, war tatsächlich so erschütternd, dass es einer kleinen religiösen Gemeinschaft nicht gelingen konnte, dies alles zu ertragen: Pater Pio war so sehr ins Herz der Kirche eingetaucht (wo erlösungsbedürftige Sünder, hilfsbedürftige Bekehrte, Pfarrer und Kranke sowie Seelen um ihre Heiligung litten…) und vom Kreis der Gemeinschaft der Heiligen angelockt, dass dies anfänglich Einsamkeit erforderte.

            Danach – sobald die Mission Pater Pios öffentlich wird – bleibt es für circa fünfzig Jahre seinen Kapuziner-Mitbrüdern anvertraut, selbst mitzuerleben, was es bedeutet, als Gemeinschaft völlig überwältigt damit beauftragt zu werden, die Ausführung der Mission ihres Vaters und Bruders beschützend zu ermöglichen. Viele werden bekennen, es „nicht mehr aushalten zu können“.

            Deshalb war es in dieser ersten Zeit der Wille Gottes, dass er in Einsamkeit lebe – auf die Gefahr hin, die ehrbaren Gepflogenheiten zu stören.

            Viele Jahre später wird Pater Pio mit einer ergreifenden Zuneigung sagen: „In Pietrelcina war Jesus zugegen, alles geschah dort…“.

            Heute wird dieses Dorf „das Assisi Süditaliens“ genannt.

            Er trat dem Kloster im Jahre 1916 bei, zuerst in Foggia, dann in San Giovanni Rotondo, einem verlorenen Dorf inmitten der Felsen des Gargano, völlig abgelegen, ohne Wasser und Strom. Im Sommer 1916 kam er zufälligerweise dorthin, verließ es dann aber für einige Zeit wegen der Militärpflicht, bis man ihn wieder nach Hause schickte, um in Frieden zu sterben, da er in einem so schlechten gesundheitlichen Zustand gekommen war.

            Er trat diesem Gebirgskloster im März 1918 bei, als San Giovanni Rotondo vom Krieg und von der seuchenähnlichen „spanischen Grippe“ zerstört wurde; beide Plagen hatten innerhalb von nur zwei Monaten zweihundert Opfer gefordert. Er wird dort nun ohne Unterbrechungen mehr als fünfzig Jahre bleiben.

            Und schon fing der Pilgerstrom an, der bis nach dort oben ging, vom Ruf dieses heiligen Beichtvaters angelockt. Aber die entscheidende Wende kam, als Gott entschied, diese geheimnisvollen Wundmale, die ihn Christus ähnlich machten, sichtbar werden zu lassen.

            Wir brauchen nichts zu rekonstruieren, da wir im Besitz der Berichte sind, die Pater Pio im Gehorsam gemäß den Anweisungen seines Beichtvaters zur Verfügung gestellt hat.

            Im Monat August des Jahres 1918 wiederholte sich die Durchbohrung mit der Lanze (das mystische Wundmal am Herzen) mit beeindruckender Realität: „Seit diesem Tag“, schrieb er, „bin ich tödlich verletzt“. Und wenige Tage darauf: „Allein diese Wunde, die immer mehr blutet und sich öffnet, … würde mir ausreichen, um mich mehr als tausend Tode sterben zu lassen. Oh mein Gott, aber warum sterbe ich nicht?“

            Am 20. September – in den Franziskaner-Klöstern hatte man kaum das Fest der Wundmale des Franz von Assisi gefeiert – widerfuhr Pater Pio das Gleiche, etwas, was er deutlich als „meine Kreuzigung“ bezeichnete.

            Es war morgens, gerade nachdem er die heilige Messe zelebriert hatte und in der Danksagung tief versunken war. Er erzählt: „Du kamst überraschend aus der Stille und wie ein süßer Traum… Ich sah mich selbst vor einer geheimnisvollen Gestalt, die die Hände, die Füße und die Seite der Brust mit strömendem Blut bedeckt hatte. Der Anblick erschrak mich; ich weiß nicht, wie ich beschreiben sollte, was ich in diesem Augenblick fühlte. Ich fühlte mich als würde ich sterben und wäre auch gestorben, wenn der Herr nicht eingesprungen wäre, um mein Herz, das ich wie in meiner Brust erschüttert verspürte, zu stützen. Der Anblick der Gestalt verschwand und ich fand mich mit durchbohrten Händen, Füßen und durchbohrter, blutströmender  Seite vor. Stellt Euch die Marter vor, die ich von nun ab erfuhr und kontinuierlich erfahren werde – fast jeden Tag. Aus der Brustwunde kommt ständig Blut heraus.“

            Bevor wird darauf eingehen, was im Kloster geschah, als es Pater Pio nicht mehr gelang, all dieses Blut zu verbergen, als die Oberen physisch ihren Finger in die Wunde legen konnten, als die Ärzte zur Visite gebeten wurden, als die Zeitungen sich dieser Nachricht annahmen, als ein Strom von Neugierigen und Frommen anfing, nach dort oben zu pilgern… und bevor wir die Passion Pater Pios nacherzählen, müssen wir kurz erklären, welche Gnade die Wundmale für ihn bedeuteten.

            Spontan fällt uns bestimmt ein, wie verwirrt er darüber war, sein Domine, non sum dignus (Herr, ich bin nicht würdig), das er wiederholt aussprechen musste, die physischen Leiden, die er hat durchmachen müssen, seine Abscheu vor der Neugier der anderen, die Qual verursacht durch die Zweifel derjeniger, die um ihn herum argwöhnten und ihn verleumdeten.

            Man hätte sich vorstellen können, dass er eine gewisse edle und sehr reine Freude darüber empfand, so vieler Privilegien gewürdigt zu werden.

            Pater Pio brachte hierüber aber ganz im Gegenteil Entsetzen und Schrecken zum Ausdruck.

            Schon in den voran gegangenen Monaten hatte er geschrieben: „Ich spüre, wie die Hand des Herrn auf mir schwerer lastet, ich spüre, wie der Herr seine Macht, mich zu strafen, deutlich macht und wie er mich, einem verwehten Blatt gleich, zurückweist und verfolgt… Weh mir, ich kann nicht mehr… Mein Gott, ich bin verloren und habe Dich verloren, aber werde ich Dich wieder finden? … Jede mögliche Vorstellung von Gott dem Herrn als Herrscher, Schöpfer, Liebe und Leben ist verblasst… Ich spüre Verlassenheit und Leere in mir, es ist grauenerregend, sich daran zu erinnern, wenn man sich darin befindet… Mein Gott, Du mein Gott… Dir etwas anderes sagen, kann ich nicht mehr: Warum hast Du mich verlassen? … Ich kenne nichts anderes als nur diese Verlassenheit, ich kenne nichts weiter, mir ist das Leben selbst unbekannt und ich weiß nicht, was Leben heißt…“ (B. 4. Juni 1918).

            Diese Litanei wiederholt er dann kontinuierlich und stimmt immer tragischere Töne an.

Als die Wundmale erschienen, hieß das nicht, dass sich damit die Qual der Gottverlassenheit verringerte: Sie griff ganz im Gegenteil maßlos um sich, und zwar so sehr, dass Pater Pio sich verdammt fühlte. Er spricht von seiner „grauenerregenden Lage…“: „Ich erscheine mir selbst als ein ekelhaftes Ungeheuer… Ich bin soweit, so scheint es mir, dass ich an mir selbst verzweifle, die Verzweiflung ist schon ein Teil von mir… Mit der Seele voller Traurigkeit und mit Augen, die durch die vielen Tränen matt geworden sind, muss ich gegen meinen Willen Zuschauer dieser ganzen Qual, dieser vollkommenen Verwüstung werden… Allein nur „Credo“ zu sagen, verursacht mir ein grauenhaftes Martyrium…“ (B. 13. November 1918).

            Es kommt so weit, dass er Gott sagen wird, dass er sich als „Nichts, Geizhals und nur Deiner Verachtung wert“ einschätzt (B. 20. Dezember 1918).

            Auch wenn alles unsere Vorstellung übersteigt, ist es doch möglich zu verstehen. Eines Tages antwortete Pater Pio einem, der ihn naiv fragte, ob die Wundmale ihn schmerzten: „Denkst Du, dass Jesus sie mir als Schmuck gegeben hat?“ Die Stelle ist erhellend: Christus gab Pater Pio seine eigenen Wunden, um ihn zum Träger seiner eigenen Ängste zu machen. Es ist, als ob wir wüssten, dass unser göttlicher Meister sich am Kreuz „mit all unserer Schuld belastet“ fühlte und so zu sagen selbst „Sünde geworden“ wäre, „von Gott verflucht“, „vom Vater verlassen“; so können wir auch verstehen, wie Pater Pio sich gefühlt haben muss, als er vorfand, dass er „gekreuzigt“ war; auch er fühlte sich wie ein Ausgestoßener, von Gott und von den Menschen verstoßen.

            Am Kreuz wurde Jesus nicht von Hochmut und Feigheit versucht, sondern von Verzweiflung und einem Gefühl des Verfluchtseins. Und das sind die Gefühle, welche die Gabe der Stigmata in Pater Pio verursachte.

            An dieser Stelle fällt es uns auch nicht schwer zu verstehen, was der arme Kapuziner durchmachen musste, wenn er von taktlosen Frommen, die die Wunden sehen, berühren und küssen wollten, umgeben war.

            Diese Wundmale haben ihn sogar beängstigt, nicht weil sie die Liebe Christi zu ihm und für die Welt ausdrückten (manchmal stieg in ihm auch ein Gefühl der unsagbaren Freude auf und er weinte voller Milde), sondern weil sie die Christus zugefügten Wunden, Sein Leid, Seine Verlassenheit ausdrückten und die Last der Sünden der Welt noch schwerer für Ihn machten.

            Im Laufe der Zeit – wenn die Sünder Pater Pio physisch erdrückten, um ihn darum zu bitten, ihre eigene Last zu tragen – dann wird durch die Stigmata diese Qual ausgedrückt.

            Er wird sagen, dass er sich „müde und von extremer Bitterkeit überkommen fühlt, in einer verzweifelteren Leere, in einer tieferen Angst...“, allein durch den Gedanken, dass es ihm nicht gelang, „alle seine Brüder für Gott zu gewinnen“ (B. 6 November 1919).

            „Ich befinde mich in einer extremen Leere. Ich muss allein die Last der anderen tragen und... allein der Gedanke, so viele Seelen zu sehen, die sich ins Böse stürzen und das rechtfertigen, trotz des Höchsten Gutes, betrübt mich, foltert mich, quält mich, ermüdet mein Gehirn und zerreißt mein Herz.“ (B. 8. Oktober 1920)

            „Ich bin auf schwindelerregende Weise dazu hingerissen, für die Brüder zu leben und als Folge davon, mich mit Schmerzen zu betrinken.“ (B. 1. Januar 1921)

            Sicher ist das ganze beschriebene Leid dem Leid Christi ähnlich; deshalb existieren neben der Verlassenheit und der Angst auf eine unsagbare Art und Weise Momente glühender und heiligender Liebe sowie intimer Umarmung:

            Er schrieb – wie immer, um von seinem geistlichen Vater erleuchtet zu werden – „Wie soll ich es anstellen, das Unendliche in meinem kleinen Herzen zu tragen?“ (B. 12. Januar 1919)

            „Mein Vater, ich fühle, dass ich auf der unermesslich hohen See der Liebe meines Geliebten ertrunken bin... Das kleine Herz fühlt sich unfähig, die unermessliche Liebe zu umfassen.“ (B. 29. Januar 1919)

            „Das Ganze ist so zusammenzufassen: Die Liebe zu Gott und die Liebe zum Nächsten verschlingen mich. Gott ist für mich immer im Geist verankert und im Herzen versiegelt. Niemals verliere ich Ihn aus den Augen: Es rührt mich, Seine Schönheit zu verehren, Sein Lächeln, Seine Momente der Erregung, Seine Erbarmungen, Seine Vergeltung, oder besser: die Unnachgiebigkeiten Seiner Gerechtigkeit.“ (B. 20. November 1921)

            Dieses gnadenvolle Gemenge aus Liebe und Leid, das die Stigmata verursacht und offenbart, hat gleichzeitig seine Parallele in den äußeren Ereignissen, die das Leben von Pater Pio prägten und in der Art und Weise, in der er nun sein Priestertum leben musste.

 

Zunächst zu den äußeren Ereignissen:

            Der erste Arzt, der ihn visitierte, war der Chefchirurg des Krankenhauses von Barletta; es geschah im Mai 1919 und er schrieb darüber:

            „Beim Bewegen des Daumens gegen die Handfläche und des Zeigefingers gegen den Handrücken und bei der Ausübung von Druck, der außergewöhnlich schmerzhaft ist, hatte man den präzisen Eindruck, dass sich zwischen beiden Fingern ein Leere befand…“ Nachdem er die Wunden und deren Entwicklung mehrere Tagen lang untersucht hatte, zog er den Schluss, dass ihre Ursache „sich ohne Furcht, mich zu täuschen, im Bereich des Übernatürlichen befinden muss“. Deshalb beschreibt er in einem privaten Brief Pater Pio als ein „lebendes Wunder“.

            Zwei Monate danach beginnt der Heilige Stuhl zu handeln.

            In einer zeitgenössischen Chronik liest man wörtlich: „Das Sant’Uffizio hat Professor Amerigo Bignami, einen Atheisten der Universität Roms, damit beauftragt, eine gründlichere Untersuchung des Phänomens vorzunehmen.“ In Wahrheit hieß er „Amico Bignami“. Er war verantwortlich für den Bereich der medizinischen Pathologie.

            Die Visite dauerte ein paar Stunden. Er stellte nicht die Ehrlichkeit des Mönches und seine persönliche Aufrichtigkeit in Frage, überprüfte und beschrieb akkurat die Wunden und kam zu dem Schluss, es handele sich um eine „neurotische Nekrose“. Die vollkommene Lokalisierung und Symmetrie musste aber als Suggestionsphänomen erklärt werden, das künstlich aufrecht erhalten werde, weil Pater Pio eine alte Jodtinktur benutzt hätte, um sich zu desinfizieren. Tatsächlich hatte er dies in der Hoffnung getan, geheilt zu werden.

            Der berühmte Mediziner sagte abschließend, es würde reichen, die Wunden zu pflegen, sie zu bandagieren und die Bandagen zu versiegeln, damit niemand illegal die Wunden öffnen könnte; so würden sie innerhalb einer Woche verschwinden.

            So wurde es gemacht: Drei Mönche wurden und unter dem Gebot des Gehorsams und unter Eid damit beauftragt, die fünf Wunden jeden Vormittag zu verbinden, die Bandage mit einem besonderen Siegel zu versehen und überhaupt keinerlei medizinische oder desinfizierende Mittel zu benutzen.

            „Am achten Tag, als die Bandagen endgültig entfernt wurden“, erzählte der Mönch, der mit der Pflege beauftragt war, „floss, während er die Messe zelebrierte, so viel Blut aus den Händen, dass wir gezwungen waren, ihm Taschentücher zu besorgen, damit er sich abwischen konnte.“

            Wie wir wissen, verblieben die Wunden fünfzig Jahre lang stets in frischem und blutigen Zustand.

            Der erste behandelnde Arzt beklagte sich über das Geschehene und schrieb: „Was für ein Taugenichts“ (dieser atheistische Professor aus der Hauptstadt), der versichert hatte, dass die Heilung innerhalb von acht Tagen eintreten würde, „ohne Anstrengungen und Opfer zu scheuen, hätte man ihn dazu verpflichten müssen, die Pflege persönlich zu übernehmen, damit er hinterher keine Möglichkeit hätte zu behaupten, dass die Pflege nicht oder nicht richtig durchgeführt worden sei…“ Korrekterweise hielt er es für wichtig, dass „die Wissenschaft nicht durch die Ideen von Atheisten oder Gläubigen versklavt werden sollte“.

            Einige Monate später wurde ein weiterer Arzt konsultiert, der ihn dann nicht nur einige Stunden, sondern auch einige Tage lang beobachten konnte. Das Ergebnis war ein ganz anderes: Für diese frischen und häufig blutenden Wunden, die niemals irgendeinen Vernarbungsprozess zeigten, gab es keine wissenschaftliche Erklärung.

            Es gab deklariert laizistische Zeitungen, die sich als erste der Neuigkeit habhaft machten: So erschien im Juni 1919 im „Il Mattino“ aus Neapel ein Artikel, der sofort von den anderen nationalen Tageszeitungen übernommen wurde; die Überschrift lautete: Der Mann, der Wunder vollbringt.

            Zivile und kirchliche Autoritäten, Persönlichkeiten aus dem Bereich von Kultur und Öffentlichkeit, besonders Journalisten, setzten sich in Bewegung. Briefe aus aller Welt kamen an und Pilger strömten nach San Giovanni Rotondo. Pater Pio gab am Tag bis zu sechzehn Stunden lang Gelegenheit zur Beichte. Es gab Leute, die mit Scheren bewaffnet kamen und Stoff aus den Messgewändern, aus den Alben, aus den Gurten, aus der Kleidung oder aus dem Mantel des heiligen Mönches schnitten, während er durch die Menge ging. Um ihn zu verteidigen, mussten Polizisten eingreifen.

            Erste laute Debatten wurden geführt, unter ihnen jene um die Person von Anwalt Cesare Festa, dem mit dem König gut bekannten und eng befreundeten Präsidenten der Gerichtshöfe und einem Mitglied der Freimaurer der Region Ligurien.

            Er ging aus bloßer Neugier nach San Giovanni Rotondo. Bevor man ihn Pater Pio vorgestellt hatte, begrüßte ihn dieser mit den folgenden Worten: „Herr, Sie kommen zu uns, aber Sie sind ein Freimaurer.“ „Ja, Pater…“, antwortete er erstaunt, „Und was ist Ihre Aufgabe in der Freimaurerei?“ „Die katholische Kirche auf der politischen Ebene zu bekämpfen.“ Pater Pio nahm ihn am Arm und fing an, ihm das Gleichnis vom verlorenen Sohn zu erzählen. Er brachte ihn zum Weinen und der berühmte Freimaurer, der in umstrittenen Debatten und Diskussionen als unbezwingbar und kämpferisch galt, kniete endlich nieder und legte nach 25 Jahren voller Distanzierung von der Kirche seine Beichte ab. Merkwürdigerweise riet ihm Pater Pio, über den Inhalt ihrer Unterhaltung Diskretion zu bewahren.

            Als sich das Gerücht verbreitete, der Anwalt habe sich für die italienische Pilgerreise nach Lourdes als Krankenpfleger angemeldet, publizierte die sozialistische Zeitung „L’Avanti“ in großen Lettern: „Ein Freimaurer in Lourdes“. Eine große Versammlung verschiedener Logen wird in Genf einberufen, um über ihn das Urteil zu sprechen. Er entschloss sich, persönlich an dieser Sitzung teilzunehmen. Als er auf dem Weg dorthin sein Haus verließ, überbrachte man ihm einen Brief von Pater Pio: „Mein geliebter Bruder und Sohn, lass dich nicht aufhalten… Schäme Dich nicht für Christus und seine Lehre: Es ist nun Zeit, mit ungeschützter Brust zu kämpfen…“

            Das sind nur einige Anspielungen auf äußere Ereignisse, deren Einfluss immer größer wird und welche die Geister scheiden: Ein Lager spricht vom „heiligen Mönch“, ein anderes vom „Betrügermönchen“. Viele betrachten alles als „ein himmlisches Ereignis“, andere als „eine verdächtige Sache“ oder als „schmutziges Geschäft“. Die einen sprechen vom „großen Zulauf frommen Volkes“, die anderen von einem „schändlichen, frevelhaften, unreligiösen und unmoralischen Gewühl“.

            Und dabei handelt es sich nicht, wie es auf den ersten Blick erscheinen könnte, um eine Streiterei zwischen Leichtgläubigen und denjenigen, die ihren Pfarrer gefressen haben: Die härtesten Äußerungen stammen vom Diözesanbischof, der seine eigenen Gründe hat, um gegen den Stigmatisierten einen immer vehementeren Groll aufzubauen.  

 

Viel interessanter sind jedoch die inneren Ereignisse.

 

            Wichtiger noch als die Wundertaten, von denen man erzählt, und die Verleumdungen, die man verbreitet, sind die Wunder, auf welche die Wundmale hinweisen und die wir schon erwähnt haben: das Wunder von Pater Pios Messe, die das Ereignis auf dem Kalvarienberg lebendig neu darzustellen schien, wie auch das Wunder der Beichten, in denen die göttliche Barmherzigkeit den Menschen sichtbar wieder in Ihre Arme nimmt.

            Über den Zeitabschnitt von fünfzig Jahren stehen uns mehr als dreitausend verschiedene Zeugnisse hinsichtlich der Messe zur Verfügung. Das eindringlichste davon, wenn auch nüchtern, scheint uns das von Dominik Mondrone zu sein, einem literarischen Kritiker der „Civiltà Cattolica“, der San Giovanni Rotondo gegen Ende der vierziger Jahre besucht hat:

            „Ich hatte die Absicht, viel von Pater Pios Messe zu erzählen, und ich leugne nicht, dass ich zur Teilnahme etwas von jener Erwartungshaltung in mir trug, die manchmal gefährlich sein kann. Aber kaum war er am Fuß des Altars angelangt und hatte den heiligen Ritus begonnen, wurde ich spürbar zu einer inneren Teilnahme gerufen, die ich nie bei irgendeiner anderen Messe gespürt habe. Er schien von einer Last bedrückt zu werden, die er nicht tragen konnte. Er stützte sich und bewegte seine Füße mit sichtbarer Mühe, was sich fast auf die Beistehenden übertrug. Seine Augen konzentrierten sich auf etwas oder auf jemanden, der ihm untolerierbar erschien, aber es fiel ihm schwer, sich von diesem Anblick abzuwenden. Zum Offertorium, vor allem beim Erheben der Hostie auf der Patene, verblieb er acht oder zehn Minuten lang unbeweglich stehen und wie von einer beängstigenden Vision berauscht, die sich in kleinen Bewegungen im Gesicht widerspiegelte, bald herrlich ekstatisch, bald schmerzlich, während Schweißtropfen von seiner Stirn über seine Wangen flossen und auf den Tisch des Altars tropften. Da seinen kleinen Fingern, mit denen er sich bemühte, die Ärmel der Albe festzuhalten, um die Handrücken, die während der Messe nie von fingerlosen Handschuhen geschützt waren, zu verstecken, die Albe entgangen war, war ich in der Lage, die Wundmale zu sehen; unter dem geronnenen Blut, das nun flüssig zu werden schien, waren sie gewiss wund. In bestimmten Augenblicken weiteten sich seine Augen und wurden strahlend: Es war ein Strahlen, das einmal flammenden Schmerz und ein andermal flammendes Entsetzen zum Ausdruck brachte. Ich sagte mir: Dieser Mann lebt gerade in seiner Seele und in seinem Leib das Drama der Kreuzigung…“

            Es gibt ausdrucksstarke Fotografien, die es ermöglichen, etwas von dem wahrzunehmen, das gerade beschrieben wurde – auch von demjenigen, der nie die Chance gehabt hat, an so einer heiligen Messe teilzunehmen, die Jahrein Jahraus täglich um fünf Uhr früh zelebriert wurde. All das fand unter Teilnahme einer lärmenden Menge von Leuten statt, die unbeweglich wurde und ihren Atem anhielt, sobald der Stigmatisierte seinen langen Gottesdienst anfing.

            Im Augenblick des Erhebens waren dann natürlich die Wundmale für alle sichtbar und es war der einzige Moment, in dem alle sie beobachten konnten, denn hier hatte die Beobachtung der liturgischen Normen, die die Nutzung von Handschuhen nicht erlaubten, Vorrang vor der Diskretion. Die Wundmale offenbarten dann das Geheimnis dieser weißen Hostie und dieses goldenen Kelches.

            Dann folgten zahlreiche Stunden im Beichtstuhl: Die Pilger, die bis zu zehn, fünfzehn Tage darauf warteten, an die Reihe zu kommen, waren in den ersten Jahren gezwungen, im Freien oder im Stall zu übernachten, weil das Dorf kein Unterkünfte anbot.

            „Ich habe keine einzige freie Minute für mich“, schrieb er schon 1919, „die ganze Zeit beschäftige ich mich mit der Befreiung der Brüder von Satans Ketten.“

            So erlebte er sein Priestertum als einen Kampf gegen den Fürst des Bösen, und dies erklärt viele Haltungen, die für Überraschung gesorgt haben und zum Gegenstand der Kritik geworden sind.

            Infolgedessen zeigte sich Pater Pio unverträglich und brüsk, sobald er merkte, dass gewisse Beichtkinder aus Neugierde kamen. Er wies sie zurück, zeigte sich hart und anspruchsvoll, solange er Seelen vor sich hatte, die auf ihrer Bösartigkeit beharrten und sich hinter Rechtfertigungen verschanzten. Er wurde mild und zärtlich, sobald er ein Zeichen wahrer Reue bemerkte.

            Er war fähig, mehrmals die Vergebung zu verweigern, was nicht leicht zu verheimlichen war. Der Beichtstuhl der Frauen befand sich immer unter den Augen der Menge, die jedes Zeichen insgeheim beobachtete; der Beichtstuhl der Männer befand sich in der Sakristei; aber in beiden Fällen sprach das Antlitz derjenigen, die aus ihrer knienden Stellung aufstanden, ganze Bände: es war entweder von Frieden erfüllt oder von Missbilligung geprägt.

            Manchmal erzählten die Beichtkinder dem, der zuhören wollte, selbst was geschehen war: Pater Pio hatte ihre Sünden selbst aufgelistet; er hatte ihnen Schuld, die ihrem Gedächtnis entfallen war, offenbart; er hatte die Vergebung verweigert; er war zornig geworden („Du Unglücksrabe!“ war ein Ausruf, der oft aus dem Beichtstuhl schallte); er war sehr barmherzig gewesen…

            Pater Pio aber litt ständig und auf unaussprechliche Art und Weise.

            Einerseits hatte man den Eindruck, dass alle Sünden, die er hörte, unerträglich auf ihm lasteten. Beim Bericht der Sünden litt er mit, so als ob er ein weiteres Mal an der Kreuzigung Jesu teilnähme. Er sagte: Wie ist es möglich, Gott aufgrund des Bösen bekümmert zu sehen, und selbst nicht ebenso traurig zu werden…? (B. 20. November 1921)

            Andererseits krümmte er sich innerlich vor Schmerz wegen seiner eigenen Unwürde und Unfähigkeit: „Wenn sie wüssten“, sagte er zu einem anderen Priester, „wie erschreckend es ist, im Gerichtshof der Beichte Recht zu sprechen. Wir spenden das Blut Christi. Habt Acht, es nicht leichtfertig und sorglos zu verschütten…“.

            Er war zweifellos streng. Einem Mann, der mit einer Frau fremdging, aber beichtete, in einer spirituellen Krise zu sein, antwortete er: „Aber was für eine spirituelle Krise. Du bist ein Schwein und Gott ist zornig über Dich. Geh weg!“

            Doch etwas Einzigartiges geschah dabei: Diejenigen, die abgelehnt wurden, gingen nicht weg. Es schien, als ob Pater Pio sie mit eifersüchtiger Liebe verfolgte. Er zwang sie, wegzugehen aber in ihnen wuchs eine Zuneigung. Sie kehrten mehrmals zu ihm zurück, bis sie die Vergebung erhielten, nicht weil Pater Pio seine Meinung, sondern weil sie ihre eigene geändert hatten und zu Söhnen geworden waren. Die Reue, die am Anfang fehlte, wurde durch dieses geheimnisvolle Spiel der Ablehnung und Zuneigung erweckt.

            Wenn irgendein Mitbruder zu ihm ging, um ihm zu sagen, dass ein bestimmtes Beichtkind voll Kummer darüber war, leer ausgegangen zu sein, weil er nicht einmal gehört worden war (manchmal dauerten die Beichten nicht länger als das Aufsagen von ein Paar Merksätzen), antwortete Pater Pio: „Ich würde nicht so handeln, wenn ich nicht wüsste, dass derjenige zurückkommt.“

            Wieder einem anderen Mitbruder, der versuchte, ihn nachzuahmen, indem er streng einige Vergebungen ablehnte, erwiderte er ebenso streng: „Du darfst es nicht so wie ich machen!“

            Einem anderen, der ihn aufgrund der Härte, mit der er jemanden behandelt hatte, bestürzt ansah, erklärte er mit einem Lächeln: „Wenn Du wüsstest,… ich hätte ihn ans Herz wollen drücken…!“

            Das war die Gabe von Pater Pio: eine Vergebung voller Zärtlichkeit, eine fast gesparte Beichte (manchmal sagte er selbst alles und listete alles bis hin zur Anzahl und zu unterschiedlichen Umständen längst vergangener und vom Beichtenden selbst vergessener Sünden auf) oder eben eine heftige Ablehnung: Alles war jedoch eine einzige Umarmung, verschiedene Arten und Weisen, alle armen Sünder aufzunehmen.

            Eines Tages ersparte er eine Seele, die sich in besonderen Schwierigkeiten befand, die Mühe sich selbst anzuklagen. Er offenbarte ihr im Voraus alles, was sie begangen hatte, dann schwieg er… Die Frau war unruhig: Dieser Mönch hatte ihr praktisch alles offenbart, nicht aber die schwerste und verborgenste Schuld, diejenige, die ihre Seele seit langem quälte und die nun fast schon in ihrem Gewissen beerdigt war. Sie schwankte. Die Versuchung zu schweigen, war für sie groß. Dann kam der Sieg: „Es gibt noch etwas, Pater…“ Das habe ich von Dir erwartet, meine Tochter!“, rief der Kapuziner glücklich aus. Und die Wasser der Vergebung konnten frei fließen – so wie die Tränen.

            Einem, der sagte: „Pater, ich habe zuviel gesündigt…, erwiderte Pater Pio: „Mein Sohn, Du hast ihm zu viel gekostet, als dass er Dich verlassen könnte!“

            „Was macht Pater Pio?“, fragte Pius XII. 1947 den Bischof von Manfredonia. Er bekam die vielsagende Antwort: „Eure Heiligkeit, er nimmt hinweg die Sünde der Welt.“

            Es gibt eine Unmenge von Episoden, die man erzählen, Tatsachen, über die schlichte und unbekannte Menschen berichten könnten, aber auch sehr berühmt gewordene Bekehrungen.

            Erinnern wir uns aus der Menge all dieser an die vom Bildhauer Francesco Messina, der sagte: „Ich bin am 11. April 1949 geboren worden“, womit er sich auf den Tag bezog, an dem er Pater Pio begegnet war. Er dankte Gott im Gebet dafür, dass Er ihm „einen Vater gegeben hatte, der mich Dich erkennen ließ, einen Vater, der mich gehen lehrte.“

            Viele Bekehrungsberichte gehen dann in einen Bericht verschiedener Wundertaten über: die Herzenserkenntnis, die Gabe der Bilokation (an zwei verschiedenen und von einander weit entfernten Orten gleichzeitig sein, manchmal sogar auf zwei unterschiedlichen Kontinenten), wo und wann man seine dringende Hilfe anruft und braucht, spontane und unerklärbare Heilungen, die Fähigkeit, Ausländern, die nur ihre eigene Muttersprache kannten (und die Pater Pio nicht kennen konnte), gelassen die Beichte abzunehmen, die Fähigkeit, gelassen und wiederholt, tagsüber oder nachts, den eigenen Schutzengel oder den Schutzengel der anderen als Boten zu benutzen, um mit Personen zu kommunizieren, mit denen er anders nicht in Kontakt treten konnte.

            Wie kann man all dies wiedergeben und dabei die Tatsachen, die sicher und unumstritten sind, von denen unterscheiden, die die völkische Frömmigkeit hernach aufgebläht hat?

            Sicher ist der Bericht von General Cadorna beeindruckend, der, nachdem er nach der Niederlage von Caporetto entlassen worden war, darüber nachdachte, Selbstmord zu begehen, aber einen intensiven Duft wahrnahm und einen Mönch mit blutenden Händen sah, der in sein Zimmer trat und ihn davon abbrachte. Jahre später dachte er, sein Gesicht auf einem Bildnis Pater Pios von Pietrelcina wiederzuerkennen; er ging nach San Giovanni Rotondo und hörte, noch bevor er ein Wort sagen konnte, wie er von Pater Pio mit dem folgenden Grußwort aufgenommen wurde: „General, wir sind gerade noch knapp davongekommen in dieser Nacht!“

            Was den Duft betrifft (der dem Blut der Wunden entströmte), gibt es zahlreiche Zeugnisse über dieses Zeichen, das die Gegenwart Pater Pios erahnen lässt, sei es, wenn er in der Nähe ist, sei es aus der Ferne, wenn man von ihm spricht oder ihn anruft.

            Oder was sollen wir von den Dutzenden von Zeugnissen von Piloten aus verschiedenen Ländern und unterschiedlicher Konfession denken (Amerikaner, Engländer, Israeliten, Muslime, Protestanten, Katholiken), die berichtet haben, dass sie nie das Gebiet von Gargona haben bombardieren können, weil das Bild eines Mönches mit ausgestreckten Armen und blutenden Händen sie zwang, ihren Kurs zu ändern?

            Wir können an das Zeugnis des bekannten gotteslästerlichen Schriftstellers Pitigrilli erinnern, der sich inkognito in der Kirche von San Giovanni Rotondo vorstellte und erstaunt sah, wie Pater Pio seine Augen ihm zuwandte und der Menschenmenge mit lauter Stimme verkündete: „Heute befindet sich ein großer Sünder unter Euch.“ Dazu bemerkte Pitigrilli, dass Pater Pio „ihn wie einen Handschuh umgekremplet hat.“ „Ich bin froh, in diesem Jahrhundert gelebt zu haben, denn so habe ich Pater Pio kennen lernen können.“

            Oder eindeutiger noch das Ereignis von Attilio Crepas, einem Journalisten der Zeitung „Stampa Sera“, der eines Tages im Bad der Menge untergetaucht versuchte, alles zu beobachten und in Gedanken dabei war, den Artikel zu erstellen, den er in seiner Zeitung publizieren wollte, als er auf einmal hörte, wie er von Pater Pio angesprochen wurde: „Mein Sohn, ist es nun etwa an der Zeit, an Dein Notizbuch und Deine Aufzeichnungen zu denken? Ihr richtet sehr viel Schaden an, indem Ihr so viel Aufhebens um einen Priester macht, der betet.“

            Orio Vergani, im Auftrag der Zeitung „Corriere della Sera“ geschickt, hörte, wie Pater Pio sagte: „Diese ganze Reiserei von Mailand aus, nur um mich zu sehen? Hatten Sie kein Gebetsbuch zuhause? Es wäre nützlicher gewesen, ein Ave Maria zu beten.“

            Manchmal war der Pater sehr zärtlich. Unter seinen „bekehrten Söhnen“ war der berühmte Komiker Carlo Campanini, der ihn eines Tages voll jenes Schmerzes, dessen nur die Clowns fähig sind, fragte: „Wie kann ich Dein Sohn sein, wenn ich abends den Clown auf der Bühne spielen muss?“ Pater Pio antwortete mit einem etwas schmerzhaften Lächeln: „Mein Sohn, auf dieser Welt spielt jeder an der Stelle, wo Gott ihn hingestellt hat, so gut wie möglich den Clown.“

            Was die Heilungen anbetrifft, hat man die Qual der Wahl unter Tausenden von Zeugnissen, die dokumentiert sind und von denen berichtet worden ist. Vielleicht ist es am sympathischsten zu erzählen, welches Wunder Pater Pio für sich selbst erhielt. Er war schwer an einer Lungenfellentzündung erkrankt – man hatte einen Tumor an der Pleura diagnostisiert –, als die „Pilgermadonna“, die Statue der Madonna von Fatima, die im Jahre 1959 alle Hauptstädte der Provinz durchkreuzte, nach San Giovanni Rotondo kam. Sie sollte auch nach San Giovanni Rotondo gebracht werden und Pater Pio predigte am Mikrofon von seinem Krankenbett aus eine Vorbereitungsnovene. Die Novene endete am Abend des 5. Augustes, als der Kranke voller Emotion ankündigte: „In wenigen Minuten wird unsere Mutter in unserem Haus sein… Machen wir unsere Herzen weit!“ Am 6. August brachten sie ihm die Statue in die Kirche und er stieg herab, um sie zu küssen. Am Nachmittag flog der Hubschrauber, der das heilige Bild wegbrachte, von der Terrasse des Hauses „Sollievo della Soferenza“ (Linderung des Leidens) aus ab: „Meine Madonna“, sagte Pater Pio, als er sie wegfliegen sah, „Als Du in Italien eingetroffen warst, bin ich krank geworden. Nun gehst Du weg und lässt mich krank zurück.“ Dann erzählte er: „In demselben Augenblick fühlte ich, wie ein Schüttelfrost mich bis ins Mark durchzog und ich plötzlich gesund war.“ Er fügte hinzu, dass er sich noch nie vorher in seinem Leben so gesund und stark gefühlt hatte.

            Wenn auch alle diese Episoden den Eindruck eines tief spirituellen Klimas hinterlassen, dürfen wir uns keinen Illusionen hingeben.

            Berichte über banale und unnütze Wundertaten, über umstrittene Episoden und verfälschte Aussagen gehören mit dazu, genauso wie die Unehrlichkeit, derer die diese Dinge absichtlich suchten, um daraus Profit zu schlagen.

            Unter der Menschenmenge kam es manchmal zu geschmacklosen Szenen und es wurde nicht selten um „Reliquien“ und „Platzreservierungen“ gehandelt.

            Es gab Verhaltensweisen, die der Götzenanbetung sehr nahe kamen und Ablehnung erregen mussten.

            Ein gewisser Ruf der Härte bei Pater Pio hing gerade von seiner Reaktion auf solche Verhaltensweisen ab: „Sieh, was sie tun!“, sagte er und zeigte einem seiner Mitbrüder den abgeschnittenen Strick seines Ordenskleids und die Löcher, die man mit Scheren in den Stoff eingeschnitten hatte. „Das ist Heidentum! Wie die Hyänen werfen sie sich auf mich: Sie drücken meine Hände wie ein Schraubstock, sie ziehen meine Arme nach allen Seiten, um mich berühren zu können… und ich fühle mich verloren und muss mich als der Harte zeigen. Das gefällt mir auch nicht, aber wenn ich mich nicht so benehme, dann bringen sie mich um!“

            „Das ist Heidentum.“ so nannte es Pater Pio selbst; das heißt, es ist nicht überraschend, dass seine Feinde es so nannten; verwunderlich ist es auch nicht, dass Rom hiervor Angst hatte.

            Was soll man andererseits von den gewalttätigen Reaktionen halten, die auftraten, als man anfangs aus Vorsicht in Erwägung zog, den Mönch von San Giovanni Rotondo wegzubringen, um diese unbotmäßige Frömmigkeitsform zu unterbinden: Vor dem Kloster positionierten sich mit Sensen, Äxten und Stöcken bewaffnete Bauern, die zu allem bereit waren – bereit, jeden zu töten, der es gewagt hätte, ihren Mönch wegzubringen. Der ein oder andere psychisch Labile zeigte sich sogar bereit, Pater Pio selbst umzubringen, wenn dadurch nur das Dorf nicht „seines Heiligen“ beraubt werde.

            Was sollen wir davon halten, dass die zivilen Autoritäten, welche, da sie um die öffentliche Ordnung bangten, sich gezwungen sahen, zu einem gewissen Ungehorsam gegenüber dem Vatikan aufzufordern, indem sie Pater Pio darum baten sich unter die Gläubigen zu begeben, damit kein Aufstand riskiert würde?

            Was den Mönch von Pietrelcina betraf, erklärte 1923 das Sant’Uffizio, dass aufgrund der durchgeführten Untersuchungen „der übernatürliche Charakter der Ereignisse, von denen berichtet wurde, nicht feststand“.

            Der Provinzobere musste Pater Pio auferlegen, die heilige Messe privat in einer Kapelle innerhalb des Klosters zu zelebrieren und die Beziehungen zu den Gläubigen abzubrechen. Außerdem sollte der Pater so bald wie möglich versetzt werden.

            Der Provinzobere, dem die Verantwortung für die Ordnung oblag, wusste nicht für welche Seite er sich entscheiden sollte: Einerseits kam Druck von Rom, damit die dortigen Entscheidungen umgesetzt würden, während der Präfekt von Foggia ihn beschwor, den Vollzug dieser Entscheidungen auszusetzen, weil eine Menge von dreitausend Menschen das Kloster umstellt hatte und um jeden Preis die Feier der heiligen Messe zu erwirken. Es gab auch Unruhestifter, die vor dem Kloster Tag und Nacht eine Wache aufstellten.

            Im darauffolgenden Jahr schloss sich eine weitere Maßnahme des Sant’Uffizio an: Aufgrund von „weiteren Informationen, die aus vielfältigen und sicheren Quellen stammen“, wurden die Gläubigen „erneut  und in ernsthafterer Weise gebeten, den oben genannten Pater nicht zu besuchen und keine Beziehungen zu ihm zu pflegen, auch nicht durch Briefaustausch“. 1926 kam noch eine andere „Ermahnung“: „Die Gläubigen mögen sich ihrer Pflicht bewusst sein, darauf zu verzichten, ihn zu besuchen.“

            Gleichzeitig kamen Bücher über Pater Pio und seine Wunderwerke heraus – manchmal echt unbedarfte –, die in den Index der verbotenen Bücher aufgenommen wurden, sobald sie erschienen waren. Jedes Mal schien es, als ob das Verbot auf ihn zurückfiel.

            Die Versetzung wurde mehrmals versucht, aber die Oberen mussten jedes Mal aus Furcht vor den möglichen Folgen darauf verzichten. Pater Pio beobachtete gleichzeitig die Menge, die zu ihm strömte und tobte, und meinte: „Arme Leute, wenn sie wüssten, welch ein Sünder ich bin...!“

            Und nach einem mehrere Jahre andauernden Kreuzweg kam am 23. Mai 1931 die schlimmste Verurteilung in Form der Entziehung all seiner Befugnisse, auch die, des Beichthörens. Er durfte nur noch die heilige Messe feiern, aber dies in einer privaten Kapelle des Klosters.

            Das Dekret wurde ihm am Abend des 10. Juni bekannt gegeben. Er entgegnete nur: „Der Wille Gottes geschehe…“

            Der Tag danach war das Fronleichnamsfest: Die erste Messe, die der Pater in völliger Einsamkeit zelebriert hat, dauerte mehr als drei Stunden.

            Das Verbot, das ihn ganz isoliert hat, blieb circa zwei Jahre in Kraft. Im Jahre 1933 durfte er am Gedenktag der Madonna vom Karmel die Messe erstmals wieder vor der Bevölkerung zelebrieren. Dies geschah inmitten des Jubiläumsjahres der Erlösung. Am Fest der Verkündigung des darauffolgenden Jahres wurde ihm auch die Beichtbefugnis wiedergegeben.

            Zwischenzeitlich fühlte sich Pater Pio dazu angespornt, das umfassende Heil seiner Söhne zu suchen: Es reichte ihm nicht, die Wunden ihrer Seelen zu heilen, nicht, sie geistlich zu ernähren, indem er sie das Beten lehrte; er kümmerte sich auch um ihren Leib. Schon 1925 hatte er seine Gläubigen dazu ermutigt, ein altes Kloster als kommunales Krankenhaus neu einzurichten, aber es hatte nur unzureichende Kapazität.

            Pater Pio träumte von einem großen Klinikum, „einem Haus für die Linderung des Leids“, und um es zu errichten, scheute er sich nicht davor, Berge zu versetzen. Im Januar 1940 fand dies statt und als der Bauausschuss gegründet wurde, sagte Pater Pio: „Heute Abend hat Er (Gott) mein irdisches Werk begonnen.“

            Mit den Unterbrechungen und Verzögerungen, die der Zweite Weltkrieg forderte sowie dank der Mithilfe frommer Engländer und Amerikaner hat es fünfzehn Jahre gedauert, um dieses Unternehmen zum Abschluss zu bringen. Als man ihm am Ende mit etwas kritischen Ton sagte, dass das Haus „zu luxuriös“ wäre, erwiderte Pater Pio: „Wenn ich könnte, würde ich es aus Gold bauen…, denn der Kranke ist Jesus selbst; man kann nie genug für den Herrn tun.“ Zur Eröffnung fand im Krankenhaus ein internationales Symposium über Koronarentzündungen statt. Pater Pio wandte sich, wie folgt, an die renommierten Mediziner, die aus aller Welt herbeigekommen waren: „Wie ich, sind auch Sie auf die Welt gekommen, um eine Mission zu erfüllen. Hören Sie gut zu: Ich rede von Verpflichtungen in einer Zeit, in der alle von Rechten reden… Sie haben die Aufgabe, Kranke zu heilen, aber wenn Sie den Kranken keine Liebe bringen, scheint es mir, dass die Medikamente wenig helfen werden… Bringen Sie dem Kranken Gott; das wird wertvoller sein als jede andere Pflege…“

            Über Ärzte machte er übrigens oft und gern seine Späße: „Warum willst Du, dass die Ärzte informiert werden?“, fragte er einen Mitbruder, der ihn anflehte, sich ins Krankenhaus einweisen zu lassen. „Aber Pater“, erwiderte der Bruder etwas erstaunt, „Sie haben gerade ein Krankenhaus gegründet!“ „Ja, aber für die Kranken… doch etwa nicht für die Ärzte!“

            Zur Unterstützung des Hauses, in dem die Kranken kostenlos aufgenommen werden sollten (es war die „Kathedrale der Schmerzen“), hatte Pater Pio nicht nur Veranlassung getroffen, dass Menschen aus allen Teilen der Welt einen Spendenstrom fließen ließen, sondern auch und mehr noch dadurch gesorgt, dass er „Gebetsgruppen“ gründete, die sich ebenfalls auf der ganzen Welt zerstreut befanden (das war die „Kathedrale des Gebets“). Das Ganze war dem umfassenden Heil der Menschheit gewidmet.

            Die Gruppen vereinigten schon fünfhunderttausend Mitglieder; Papst Paul VI. hat sie als „kleine Zellen kirchlichen Lebens“ definiert, die fähig sind, den ganzen mystischen Leib Christi mit Sauerstoff zu versorgen.

            Doch auch die Verfolgungen und Verleumdungen, selbst die gröbsten, hörten nie auf.

            Einige gläubige Frauen des Dorfes hatten versucht, den Pater praktisch völlig in Beschlag zu nehmen und den Zugang zu seinem Beichtstuhl zu bestimmen –  vor allem den Zugang aller Frauen  die als Pilgerreisende kamen und alles unternahmen, um sich gute Posten zu schaffen. Und als die Mönche versuchten, dieses System, das viel mit illegalem Handel, manchmal auch mit Diebstahl zu tun hatte, zu blockieren, ergoss sich über sie ein Meer der Verleumdung, das sogar Pater Pio selbst nicht aussparte.

            Aber selbst abgesehen von diesen übertriebenen Verhaltensweisen war es praktisch unmöglich, alle zufrieden zu stellen. Tag für Tag gab es Enttäuschte, die ihre Unzufriedenheit auf das Unordnung der Mönche zurückführte.

Noch im Jahre 1960 (der Pater war schon 73 Jahre alt) erhielt er wegen gewisser Verleumdungen die demütigende Auflage, „darauf zu verzichten, aus welchem Grund auch immer Frauen in privater Audienz zu empfangen“.

 

Dann kam die Frage der Korrespondenz.

 

            In den fünfziger Jahren kamen im Durchschnitt alle zwei Monate dreißigtausend Briefe in San Giovanni Rotondo an. In den sechziger Jahren waren es circa sechzigtausend. Die Korrespondenz landete unvermeidlich in den Händen zu vieler Mitarbeiter: Es ging um Geld und man fragte sich, wo viele Spenden, die in die Briefumschläge ankamen, endeten; aber es gab noch heiklere Fragen: Viele vertrauten Pater Pio geistliche Probleme und vertrauliche Informationen an, die doch vor fremden Augen landeten…

            Das Sant’Uffizio stellte weiterhin Untersuchungen an und immer neue Prälaten wurden damit beauftragt, in San Giovanni Rotondo Nachforschungen anzustellen. Manchmal baten Pater Pios Obere selbst um Untersuchungen vonseiten des Heiligen Stuhls, weil sie nicht mehr wussten, wie sie diese immer komplexeren Probleme lösen sollten.

            Dann schien es auch, als ob der Teufel es darauf anlegen würde, diese verzwickte Lage über die Jahre hinaus noch zu verkomplizieren.

            Weitere Anweisungen, die die Freiheit Pater Pios begrenzten, wurden gegeben. Dieser trug weiter sein Kreuz. Das Leid erreichte seinen Höhepunkt, als er bemerkte, dass jemand in dem Zimmer, in dem er sich zusammen mit seinen geistlichen Söhnen zu unterhalten pflegte, Mikrofone installiert hatte. „So weit ist es schon gekommen?!“, meinte er mit einem Gefühl nie da gewesener Erniedrigung erfüllt. Er hatte den Eindruck, dass viele ihn verrieten und dass seine liebsten Freunde absichtlich von ihm ferngehalten würden.

            Dann kamen Ärgernisse hinzu, die die Buchhaltung hinsichtlich der Einkommensquellen und Kredite für das neue Krankenhaus betrafen.

            Manchmal gab es Menschen, denen sich Pater Pio anvertraute – und das schien ihn als Schuldigen zu überführen –, die dann für Getöse um Pater Pio und Lärm in der Presse sorgten.

            Sofern all dies uns schockiert sollte, müssen wir an die Mission denken, die der Herr ihm hat anvertrauen wollen, nämlich die Passion Christi selbst neu durchzumachen: Wie im Falle Jesu war es nötig, dass Pater Pio nicht nur aufgrund seiner Feinde, sondern auch und vor allem aufgrund von Missverständnissen litt, die mit seinen eigenen Brüdern und Vätern im Glauben auftraten.

            Einige fanden ihr Glück darin, ihn als einen Menschen darzustellen, der von der Kirche verfolgt wird. Das nahm solche Ausmaße an, dass Pater Pio selbst 1964 voll Tapferkeit vor der Presse eine Erklärung abgab, in der es hieß: „Vor Gott, um der Wahrheit und Gerechtigkeit willen, um Missverständnisse zu vermeiden, die den Seelen und der Kirche Schaden verursachen und meinen Geist betrüben könnten...“ schrieb er: „Ich genieße volle Freiheit in meinem priesterlichen Dienst und kenne weder Feinde noch Verfolger… Ich treffe in meinen Ordensoberen und in der kirchlichen Obrigkeit auf Verständnis, moralische Unterstützung und Schutz und ich brauche keine weiteren Verteidiger außer Gott und dessen legitime Vertreter.“

            Am 14. Juni 1967 verwirklichte der Bildhauer Francesco Messina einen gewaltigen Kreuzweg am Hang des Heiligtums: An der fünften Station ist Simon von Zyrene, der das Kreuz für Christus trägt, als Pater Pio mit seiner bescheidenen Mönchskutte dargestellt.

            Es dauerte noch einige Jahre, aber 1972 beschrieb ihn Paul VI. schließlich auf folgende Weise: „Pater Pio war ein durch die Merkmale der Passion gezeichneter Stellvertreter des Herrn. Er war ein Mensch des Gebets und des Leids.“

            In der Nacht vom 22. zum 23. September 1968 (er hatte kaum das 50-jährige Jubiläum des Tages, an dem er die Wundmale bekommen hatte, gefeiert) verstarb er. – Nachdem er zur Beichte gegangen war und sein Glaubensbekenntnis erneuert hatte, sank er erschöpft, mit seiner gesegneten Mönchskutte bekleidet in seinem Sessel zusammen, den Rosenkranz zwischen seinen Fingern und „Jesus,… Maria!“ flüsternd.

            Als die Mitbrüder seinen Leichnam in den Sarg legten, bemerkten sie, dass die fünf Wunden – die fünfzig Jahre lang bluteten und in den letzten Tagen angefangen hatten sich zu schließen – nicht mehr zu sehen waren: Das neue Wunder besteht nicht in ihrer Abwesenheit, sondern darin, dass es eben an den Stellen der Wunden nicht einmal Spuren einer Vernarbung gibt: Das Fleisch ist intakt und zart. Es scheint sozusagen auferstanden zu sein.

            „Pater“, hatten sie ihn gefragt, „was sollen wir tun, wenn Sie nicht mehr unter uns weilen?“ Er hatte geantwortet: „Geht vor den Tabernakel. In Jesus werdet ihr auch mich finden“.

            Unter den zahlreichen Aussagen Pater Pios, die uns hinterlassen worden sind, hat vielleicht jene Antwort die größte Berühmtheit erlangt, die er einem auf die Aussage „Pater, ich glaube nicht an Gott.“ erwidert hatte, indem er ihm mit unendlicher Milde ins Ohr flüsterte: „Aber mein Sohn, Gott glaubt an Dich.“ – fast ein Souvenir für uns alle.