Köln, am Fest Epiphanie
Brief an die Priester
Liebe Mitbrüder!
Das Priesterjahr bewegt mich
täglich, weil es ohne Priester keine Eucharistie und ohne Eucharistie letztlich
keine Kirche gibt. Wir Priester sind wichtiger für die Kirche und damit für das
Heil der Welt, als uns meist bewusst ist! Nun hat Gott uns in eine ganz
besondere Situation geführt, die ich mit dem Exodus, mit dem Auszug des
auserwählten Volkes aus Ägypten, vergleichen möchte.
In Ägypten waren die Israeliten
einem großen Arbeitspensum unterworfen, aber sie kannten sich in ihrer Mitwelt
aus, sie hatten genug zu essen und zu trinken, sie waren dort zu Hause. Und nun
erleben sie sich in der Wüste. Sie sind in einer neuen, völlig anderen
Situation, die ihnen fremd, ungewohnt und unüberschaubar erscheint. Das ist
meines Erachtens der Grund, warum sie mehr zurück als nach vom schauen. Sie
weinen den Fleischtöpfen in Ägypten nach. In ihrem Durst erinnern sie sich mit
Traurigkeit an das gesunde Wasser aus den ägyptischen Brunnen. Und in ihrem Hunger
denken sie an die Zwiebeln, an den Lauch und an das frische Gemüse Ägyptens.
Als Positivum haben sie jetzt nur die Gegenwart Gottes in der Wolke am Tag und
in der brennenden Säule bei Nacht über sich. Die täglichen Herausforderungen in
der Wüste verstellen ihnen den Blick für Gottes Führung und seine Gegenwart.
Sie bemerken seine Nähe gar nicht erst. Deswegen murren sie über die Gegenwart
und flüchten in die Vergangenheit.
Geht es uns nicht ein wenig
ähnlich? Wir haben unsere seit Jahrhunderten gewohnte pastorale Mitwelt
aufgeben müssen und sind damit längst noch nicht ans Ende gekommen.
Generationen von Priestern hatten sie positiv geprägt: die Ein-Mann-Pfarrei -
eine Kirche, eine Gemeinde, mit den dazu gehörenden Gremien und mit allen
möglichen wertvollen Aktivitäten in jeder einzelnen Pfarrei. Und jetzt liegt
das alles hinter uns, und wir sind gleichsam wie Israel in der Wüste und müssen
uns neu orientieren: mehrere Pfarreien sind in einem Seelsorgebereich
zusammengeführt, ob in Fusion oder Pfarreiengemeinschaft. Leitende Pfarrer und
Pfarrvikare müssen sich in ihren veränderten Aufgaben neu finden. Hinzu kommen
Veränderungen im administrativen Bereich. Das alles ist herausfordernd und
belastend. Ich kann gut verstehen, dass manche angesichts dessen das Weinen
überkommt, dass sie die Wolke der Gegenwart Gottes über sich, die brennende
Feuersäule vor sich vor lauter Heimweh nach dem, was hinter ihnen liegt,
übersehen oder vergessen.
Liebe Mitbrüder, mir geht das als
Bischof ein wenig auch so! Wie oft denke auch ich an die „gute, alte
Zeit", die ich als Kind und Jugendlicher noch erlebt habe und die mir
eigentlich ein Ideal war, das auch ich selbst verwirklichen wollte, um
ebenfalls als Priester so zu leben und zu arbeiten wie die Priester meiner Kindheit.
Nun ist alles ganz anders geworden. Wir haben uns diese Situation nicht
ausgesucht. Sie ist uns vorgegeben, aber in ihr liegt auch der Ruf Gottes an
uns verborgen. „Gott umarmt uns mit der Wirklichkeit", sagte P. Alfred
Delp einmal. Schauen wir auf die egenwart des Herrn über uns und schauen wir
ganz besonders auf die Gegenwart unserer Mitbrüder neben uns. Wir werden diesen
Wüstenzug wie die Israeliten nur bewältigen und ans Ziel kommen, wenn wir den
fuhrenden Gott nicht aus unseren Augen verlieren. Denn Gott geht weiter! Wenn
wir nicht mitgehen, bleiben wir hoffnungslos zurück und verlieren ihn aus den
Augen.
Gott ist für unsere Erfahrung
kein unwandelbarer Gott. Er zeigt uns, wie die Kirchengeschichte uns lehrt,
immer wieder ein anderes Gesicht. Und darum meine herzliche Bitte: Erheben Sie
Ihr Angesicht täglich zum Herrn in der Mitte unserer Wüste. Ich denke dabei an
all das, was wir geistliches Leben nennen. Ich habe Ihnen dafür vor drei Jahren
ein „Vademecum" geschickt, das ich ein wenig mit meinem Herzblut
geschrieben habe. Nehmen Sie es sich zur Hand, es kann für unseren Weg in eine
neue Zukunft ein gutes Kursbüchlein sein. Bei allem Gestaltwandel bleibt
unverrückbar der Grundauftrag des Priesters derselbe: Gott für die Menschen in
vielfältigster Weise berührbar werden zu lassen. Zum Zeichen dafür wird der
Heilige Vater im Rahmen des Priesterjahres das Patronat des heiligen Pfarrers
von Ars von den Pfarrern auf alle Priester ausdehnen.
Schauen Sie auf die Mitbrüder
neben sich. Wir sind von dem gleichen Gott gemeinsam berufen in die gleiche
Kirche. Wir dürfen nicht wie Fremde nebeneinander leben! Der eine sorge sich um
den anderen! Sorge ist der Alltagsname für Liebe: „Du sollst deinen Nächsten
lieben wie dich selbst" (Mk 12,31). Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass
die Übernächstenliebe oft leichter fällt als die Nächstenliebe. Unser Nächster
ist unser Mitbruder im gleichen Seelsorgebereich, im gleichen Dekanat. Ich
bitte hier alle Mitbrüder um eine neue Kultur unseres priesterlichen
Gemeinschaftslebens. Hier wünsche ich mir einen neuen Rhythmus unserer
Begegnungen! In einem Monat sollte die Recollectio auch mit unseren Diakonen
und mit unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Seelsorge stattfinden.
Dabei darf es aber nicht nur um Termine und organisatorische Absprachen gehen.
Hier muss auch immer etwas von dem Auftrag, unter dem wir stehen, zu spüren
sein: „Geht hinaus in die ganze Welt und verkündet das Evangelium allen
Geschöpfen" (Mk 16,15). Wenn bei diesen Rekollektionen nicht ein wenig Freude
für unser Tun unsere Herzen erflilit, dann hat etwas nicht gestimmt. Denn ganz
gewiss ist doch der Herr dabei, wenn wir in seinem Namen versammelt sind. Seine
Gegenwart aber macht froh und dankbar.
Und im nächsten Monat sollte dann
das priesterliche Konveniat stattfinden. Parallel dazu könnten sich dann auch
unsere Diakone und Laienmitarbeiter ohne die Priester versammeln und sich im
Glauben stärken. Für uns Priester gehören ja die Mitbrüder in gewissem Sinn zu
unserer Großfamilie. Wir sind ja als Zöli-batäre hineingeweiht in ein
Presbyterium. Das wird sichtbar in einem Konveniat. Und eine Familie zerfällt
von innen her, wenn die ihr Angehörenden ohne Herz und Seele dabei sind oder
wenn sie gar die Gemeinschaft meiden. Es gehört zu den strengen Lebenspflichten
des Priesters, dass er dort nicht fehlt, wo er nötig ist. Und dazu gehört auch
die Pflege der priesterlichen Gemeinschaft. In ihr stellt sich gleichsam der
ohne Naht gewebte Leibrock Jesu dar. Wenn lauter Löcher darin sind, dann wird
daraus ein Sieb, und die Reichtümer Gottes fallen durch das Sieb hindurch und
sind nicht mehr für den Priester selbst und für das Reich Gottes verwendbar.
Unsere priesterliche Berufung ist
weder die eines Einsiedlers noch eines Singles. Wir sind Mit-Brüder Jesu
Christi und daher auch untereinander Mitbrüder. Lassen wir uns gegenseitig
nicht alleine! Sorgen und interessieren wir uns füreinander! Lernen wir wieder
einander zuzuhören, am Leben des anderen teilzunehmen und ihn an meinem
teilhaben zu lassen. Schon Henry Ford als „Kind dieser Welt" sagt:
„Zusammenkommen ist ein Beginn. Zusammenbleiben ist ein Fortschritt.
Zusammenarbeiten ist ein Erfolg". Wie viel mehr gilt das für uns!
Liebe Mitbrüder, wir sind keine
Privatleute, sondern von Gott berufen und mit dem königlichen Priestertum Jesu
Christi beschenkt. Wenn mir das bewusst ist, dann wird es mir nicht an der
eigenen Wertschätzung fehlen. Dann wird davon meine priesterliche Lebenskultur
positiv geprägt sein: was Lebensstil, Wohnkultur und alles Übrige mit
einschließt. Aus einem solchen priesterlich kultivierten Zusammenleben und
Zusammenarbeiten erwächst dann unsere Identifikationsfähigkeit mit dem Volke
Gottes in unserer Diözese und darüber hinaus. Gott bewahre uns davor, dass sich
einer von uns gleichsam als Fremdarbeiter fühlt oder sein Priesteramt in der
Weise praktiziert: „Ich tue, was mir aufgetragen ist, aber nach mir die
Sintflut!" Dann hätten wir die Hirtensorge Christi, die uns in der Weihe eingeprägt worden ist,
verleugnet. Die Solidarität mit den uns anvertrauten Menschen, die nach Gott
hungern und dürsten - ob wir es glauben oder nicht -, haben ein Recht,
priesterliche Identität in Wort und Tat zu erfahren. Sie wollen mehr als einen
„Priester zum Anfassen", sie möchten in ihrem priesterlichen Seelsorger
mit dem Herrn in Berührung kommen.
Als Bischof kommt mir bei unserem
gegenwärtigen Exodus wohl ein wenig die Rolle des Mose zu. Lassen Sie mich dies
hier sagen: Ich kenne die Situation des Mose, in der er zu Gott geht, ihn
bedrängt und manchmal angstvoll und unter Tränen die innere und äußere Not
vorträgt, die ihm seine Berufung, dem Volk voranzugehen, auferlegt. Unsere
Mitbrüder in der Verwaltung des Erzbistums und viele Fachleute helfen mir,
Ihnen allen vor Ort nach Kräften Hilfe zur Selbsthilfe zu geben.
Sie sind als Priester in einer
ähnlichen Situation wie der Bischof. In seinem Auftrag dienen Sie den Gemeinden
vor Ort wie auch in den Krankenhäusern, der Jugend- oder Schulseelsorge usf.
Auch unseren Gläubigen geht es beim Exodus nicht anders als uns Priestern beim
Auszug aus dem lieb gewordenen und vertrauten Pfarrleben. Auch sie weinen und
trauern den guten und bewährten Formen unseres Pfarrlebens nach. Das ist ganz
verständlich. Aber helfen Sie bitte mit, dass unsere Gemeindemitglieder die
Umstellungen und Neuorientierungen mit der Zeit verstehen und annehmen. Hier
gilt das Wort des Propheten: „Tröstet, tröstet mein Volk!" (Jes 40,1).
Weisen wir sie daraufhin, dass wir als Kirche immer dieselbe sind und bleiben,
dass sich aber ihre Pilgergestalt ändern kann. Wir stecken mitten in einer
solchen Änderung. Aber der Herr bleibt wie beim alttestamentlichen Gottesvolk
auf dem Wüstenzug dabei und führt uns sicher zum Ziel.
An dieser Stelle möchte ich
Ihnen, liebe Mitbrüder, herzlich danken, dass Sie mit mir durch Dick und Dünn
gegangen sind. Ich habe mich immer auf Sie verlassen können. Sie haben Ihren
Bischof nicht im Regen stehen lassen. Unsere Lasten, die wir zu tragen haben,
sind die Lasten des Herrn. Wir tragen sie gemeinsam für die uns anvertrauten
Schwestern und Brüder. Daraus erwächst Segen.
Lassen Sie mich noch auf ein
anderes wichtiges Thema hinweisen: „Die Kirche ist das Ursakrament", d.h.
Christus selbst ist in der Gestalt der Kirche berührbar gegenwärtig. Darum ist
die Kirche eine Kirche von oben. Der Herr sagt: „Nicht ihr habt mich erwählt,
sondern ich habe euch erwählt" (Joh 15,16), und „Niemand kann zu mir
kommen, wenn nicht der Vater, der mich gesandt hat, ihn zu mir führt" (Joh
6,44). Die Kirche ist nicht „machbar", sondern sie wird uns als Geschenk
anvertraut, und in dieser Weise müssen wir sie annehmen. Ich erinnere daran,
dass das viel strapazierte Wort „Konzept" in seiner lateinischen
Urbedeutung „Geschenk" bedeutet. Auch der Priester ist nicht
„machbar", sonst hätten wir ja jetzt keinen Priestermangel. Der Priester
wird vielmehr von Gott berufen. Er ist also nur zu erbitten und zu empfangen.
Er ist das Zeichen Gottes für den Geschenkcharakter der Kirche. Wie die Kirche
nicht zu machen ist, so sind es auch die Priesterberufungen nicht. Beides muss
uns geschenkt werden. Der Priester verschenkt in der Eucharistie den Leib des
Herrn, den er nicht gemacht hat, sondern den er empfangen hat und weitergibt.
Das Gleiche gilt besonders auch im Bußsakrament. Hier verschenken wir
Vergebung. Das ist keine Eigenleistung, sondern wir geben nur die Vergebungstat
Gottes an den Pönitenten weiter.
Christus hat seine Anwesenheit in
der Kirche an das Sein und Wirken des Priesters gebunden. Darum sind seine
zentralen Erfahrungsorte der Altar und der Beichtstuhl. Wenn wir wieder verstärkt
Beichtväter sein könnten und sein würden, dann würden wir auch wieder mehr
Priester sein. Wir würden uns der Heilsnotwendigkeit unseres Dienstes wieder
stärker bewusst, nicht weil wir es gewollt haben, sondern weil Christus seine
Kirche so gewollt hat. Er macht sich in seiner Liebe zu den Menschen von uns
Priestern, ja von seiner Kirche abhängig. Lassen wir ihn darum nicht hängen!
Der Priester ist das sakramentale Zeichen Gottes für den Geschenkcharakter der
Kirche.
Bis heute bewegt mich folgendes Erlebnis:
Nach unserer dramatischen Flucht aus meiner Heimatstadt Breslau im Januar 1945
erreichten wir nach acht Wochen entbehrungsreichem Exodus schließlich das
kleine thüringische Dorf Körner, in dem wir die ersten Katholiken seit der
Reformation waren. Als wir auf dem Bahnhof ausstiegeil, war da ein Mann, den
wir in der Dunkelheit kaum erkannten. Er sagte, er sei der zuständige
katholische Priester für alle katholischen Christen, die in diesen Dörfern
leben. Darauf bemerkte meine Großmutter: „Hier werden wir leben können! Hier
gibt es einen Priester!" Werden das auch in Zukunft noch heimatlos
gewordene Menschen sagen können: „Hier werden wir leben können! Hier gibt es
einen Priester"? Das hängt auch von uns allen ab. Übrigens war dieser
Priester, der damals wie ein guter Engel in unserer Not erschien, ein Priester
der Erzdiözese Köln, Msgr. Herbert Böttcher, der aus Erpel stammte und dann als
Pfarrer von St. Suitbertus in Remscheid gestorben ist.
Liebe Mitbrüder, Gott zieht mit
uns durch die Wüste dieser Welt. Wohin? Damals in das gelobte Land! Und heute?
Nicht ins Leere, nicht aus der Welt. Er fuhrt uns in seine Nähe. Wie sie
konkret aussehen wird, das weiß ich auch nicht. Aber sie wird von der Gegenwart
des Herrn so geprägt sein wie damals auf dem Berg Tabor, wo Petrus sagte:
„Meister, es ist gut, dass wir hier sind. Wir wollen drei Hütten bauen."
(Lk 9,33). Lernen wir vom alttestamentlichen Gottesvolk!
Schauen wir nicht wehmütig zurück
in die so genannte „gute alte Zeit", sondern schauen wir über uns, auf den
gegenwärtigen Kyrios, der bei seinem Volke bleibt! Zu ihm erheben wir unser
Angesicht, wenn wir die Lesehore, die Laudes, eine der kleinen Hören, die
Vesper und die Komplet beten. Dieser Blick macht uns gewiss, dass Gott mit uns
ist. Und wenn er mit uns ist, wer sollte dann gegen uns sein? Und schauen wir
auf die Mitbrüder neben uns! Es darf keiner zurückbleiben! Kümmern wir uns um
die Erlahmenden und die müde Gewordenen. Ein altes Sprichwort sagt: „Du kommst
nur in den Himmel, wenn du dein ganzes Dorf mitbringst." Das gilt auch von
uns: Du kommst nur als Priester der Erzdiözese Köln in den Himmel, wenn du das
ganze Presbyterium mitbringst!
Dazu segne euch alle der
allmächtige Gott, der Vater und der Sohn und der Heilige Geist.
Ihr
+ Joachim Kardinal Meisner
Erzbischof von Köln