Vortrag beim Internationalen Priestertreffen
zum Abschluss des Priesterjahres in der Basilika St. Paul vor den
Mauern in Rom am 9. Juni 2010
„Conversione e missione“ – „Umkehr
und Mission“
Liebe Mitbrüder!
Ich werde mit Ihnen jetzt nicht eine neue Buß-
und Missionstheologie zu entfalten suchen. Aber ich möchte mich zusammen mit Ihnen
vom Evangelium selbst zur Umkehr führen lassen, um dann, vom Heiligen Geist
gesendet, den Menschen die Botschaft Christi zu überbringen.
Auf diesem Weg möchte ich jetzt zusammen mit
Ihnen 15 gedankliche Schritte vorangehen.
1. Wir müssen wieder – wie mein
Vorgänger als Erzbischof von Köln, Joseph Kardinal Höffner, zu sagen pflegte –
eine „Geh-hin-Kirche werden. Das geht nicht auf Befehl. Dazu bewegt uns der
Heilige Geist. Einer der tragischsten Verluste, den unsere Kirche in der
zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erlitten hat, ist der Verlust des Heiligen
Geistes im Bußsakrament. Für uns
Priester hatte das einen ungeheuren inneren Profilverlust zur Folge. Wenn mich
gläubige Christen fragen: „Wie können wir unseren Priestern helfen?“, dann
antworte ich ihnen immer: „Gehen Sie zu ihnen beichten!“. Dort, wo der Priester
nicht mehr Beichtvater ist, wird er zum religiösen Sozialarbeiter. Ihm fehlt
dann die Erfahrung großer pastoraler Erfolge, wo er mitwirken darf, dass ein
Sünder auch durch seine Hilfe den Beichtstuhl wieder als Geheiligter verlässt.
Im Beichtstuhl darf der Priester in die Herzen vieler Menschen schauen und bekommt
von daher Impulse, Ermutigungen und Anregungen für die eigene Christusnachfolge.
2. Vor den Toren von Damaskus
stürzt ein kleiner kranker Mann, der heilige Paulus, geblendet zu Boden. Im 2.
Korintherbrief zitiert er selbst den Eindruck seiner Gegner über seine Person,
er sei körperlich matt und rhethorisch schwach (vgl. 2 Kor 10,10). Den Städten
Kleinasiens und Europas aber wird in den nächsten Jahren durch diesen kleinen
kranken Mann das Evangelium verkündet werden. Die Wunder Gottes geschehen nie
im Rampenlicht der Weltgeschichte. Sie ereignen sich immer im Abseits, eben vor
den Toren der Stadt, eben in der Verborgenheit des Beichtstuhles. Das darf für
uns alle ein großer Trost sein, die wir mit großen Aufgaben betraut sind, aber
gleichzeitig um unsere oftmals kleinen Möglichkeiten wissen. Es gehört zur
Strategie Gottes, mit kleinen Ursachen große Wirkungen hervorzurufen. Paulus
vor den Toren von Damaskus geschlagen, wird zum Eroberer der Städte Kleinasiens
und Europas. Seine Sendung ist die Sammlung der Berufenen in die Kirche, in die
Ecclesia Gottes, hinein. Obwohl sie – von außen gesehen – nur ein kleines
bedrängtes Häufchen ist, von innen angefochten, vergleicht Paulus sie mit dem
Leib Christi, ja, er identifiziert sie sogar mit dem Leib Christi, der eben die
Kirche ist. Diese Möglichkeit aus den Händen des Herrn zu empfangen, heißt in
unserer menschlichen Erfahrung „Bekehrung“. Die Kirche ist die „Ecclesia semper
reformanda“, und darin sind der Priester und der Bischof ein „semper
reformandus“, der immer wieder – wie Paulus vor Damaskus – vom hohen Ross
gestoßen werden muss, um in die Arme des barmherzigen Gottes zu fallen, der uns
dann in die Welt hinein sendet.
3. Darum genügt es nicht, dass wir
in unserer pastoralen Arbeit nur Korrekturen an den Strukturen unserer Kirche
vornehmen wollen, um sie augenscheinlich attraktiver zu machen. Das reicht
nicht! Was Not tut, ist eine Bekehrung des Herzens, meines Herzens. Nur ein
bekehrter Paulus konnte die Welt verändern, nicht aber ein Ingenieur
kirchlicher Strukturen. Der Priester ist durch die Aufnahme in die Lebensweise
Jesu so von ihm bewohnt, dass Jesus im Priester für andere berührbar wird. Bei
Johannes 14,23 lesen wir: „Wenn jemand mich liebt, wird er an meinem Wort
festhalten; mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und bei
ihm wohnen“ (Joh 14,23). Das ist nicht nur ein schönes Bild! Wenn das Herz des
Priesters Gott liebt und die Gnade hat, so kommt der dreieinige Gott persönlich
und schlägt seine Wohnung im Herzen des Priesters auf.
Gewiss, Gott ist allgegenwärtig.
Gott wohnt überall. Die ganze Welt ist wie eine große Kirche Gottes, aber das
Herz des Priesters ist wie ein Tabernakel in der Kirche. Dort wohnt Gott in
geheimnisvoller und besonderer Weise.
4. Das größte Hindernis, Christus
durch uns berührbar werden zu lassen, ist die Sünde. Sie verhindert die
Gegenwart des Herrn in unserem Dasein, und darum ist nichts notwendiger für uns
als die Bekehrung, und zwar auch um der Mission willen. Es geht dabei – bringen
wir es auf einen Punkt – um das Bußsakrament. Ein Priester, der nicht häufig
auf beiden Seiten des Beichtgitters anzutreffen ist, leidet auf Dauer Schaden
an seiner Seele und an seiner Mission. Hier liegt sicher eine wesentliche
Ursache für die vielfältigen Krisen, in die das Priestertum in den letzten 50
Jahren geraten ist. Das ist ja die besondere Gnade des Priestertums, dass der
Priester auf beiden Seiten des Beichtgitters zu Hause sein kann: als
Bekennender und als Vergebender. Wo sich der Priester vom Beichtstuhl entfernt,
dort gerät er in eine schwerwiegende Identitätskrise. Das Bußsakrament ist der
bevorzugte Ort für die Vertiefung der Identität des Priesters, der dazu berufen
ist, sich selbst und die Gläubigen zurückzubinden an die Fülle Christi.
Im hohepriesterlichen Gebet
spricht Jesus zu seinem und unserem Vater über diese Identität: „Ich bitte
nicht, dass du sie aus der Welt nimmst, sondern dass du sie vor dem Bösen bewahrst.
Sie sind nicht von der Welt, wie ich auch nicht von der Welt bin. Heilige sie
in der Wahrheit; dein Wort ist Wahrheit“ (Joh 17,15-17). Es geht im
Bußsakrament um die Wahrheit in uns. Wie kommt es, dass wir der Wahrheit nicht
gern ins Gesicht schauen?
5. Wir müssen uns daher fragen
lassen: Haben wir denn noch nicht die Freude erfahren, einen Fehler zu
erkennen, ihn einzugestehen und den von uns Beleidigten aufzusuchen? – „Ich
will aufbrechen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe
mich gegen den Himmel und gegen dich versündigt“ (Lk 15,18). – Kennen wir
nicht die Freude, dann zu sehen, wie
der Andere die Arme gleich dem Vater des verlorenen Sohnes ausbreitet: „Der
Vater sah ihn schon von weitem kommen, und er hatte Mitleid mit ihm. Er lief
dem Sohn entgegen, fiel ihm um den Hals und küsste ihn“ (Lk 15,20). Können wir
denn nicht die Freude des Vaters darüber erahnen, dass er uns wiedergefunden
hat: „Und sie begannen, ein fröhliches Fest zu feiern“ (Lk 15,24)? Da dieses
Fest jedes Mal, wenn wir zurückkehren, im Himmel begangen wird, warum kehren
wir dann nicht häufiger zurück? Warum sind wir – ich spreche in Menschenweise –
so geizig gegenüber Gott und den Heiligen des Himmels und lassen ihnen so
selten die Freude, ein Fest zu feiern, weil wir uns vom Herrn, vom Vater, ans
Herz drücken ließen?
6. Wir lieben diese ausdrückliche
Vergebung oft nicht. Und doch zeigt sich Gott niemals so sehr als Gott, als
wenn er vergibt. Gott ist die Liebe! Er ist Schenken in Person! Er verschenkt
die Gnade der Vergebung. Aber am stärksten ist jene Liebe, die das
Haupthindernis der Liebe überwindet: die Sünde. Die größte Gnade ist die Begnadigung,
und die kostbarste Gabe ist die Vergabung, die Vergebung. Gäbe es keine Sünder,
die der Verzeihung mehr bedürfen als des täglichen Brotes, wir würden
die Tiefe des göttlichen Herzens gar nicht kennen. Der Herr betont es ausdrücklich:
„Ich sage euch: Ebenso wird auch im Himmel mehr Freude herrschen über einen
einzigen Sünder, der umkehrt, als über neunundneunzig Gerechte die es nicht
nötig haben umzukehren“ (Lk 15,7). Wie kommt es – fragen wir nochmals –, dass
ein Sakrament, das so große Freude im Himmel hervorruft, so viel Abneigung auf
Erden weckt? Das liegt an unserem Stolz, der ständigen Neigung unseres Herzens
sich zu verschanzen, sich selbst zu genügen, sich zu isolieren, sich auf sich
selbst zurückzuziehen. Was ziehen wir eigentlich vor, Sünder zu sein, denen
Gott verzeiht, oder scheinbar ohne Sünde zu sein, d.h. in der Illusion der
Selbstgerechtigkeit zu leben – ohne die Offenbarung der Liebe Gottes? Reicht es
wirklich, zufrieden zu sein mit sich selbst? Was sind wir denn ohne Gott? Nur
eine kindliche Demut, wie sie die Heiligen haben, lässt uns fröhlich den
Vergleich zwischen unserer Unwürdigkeit und der Herrlichkeit Gottes ertragen.
7. Es ist nicht der Sinn der
Beichte, dass wir im Vergessen unserer Sünden nicht mehr an Gott denken. Die
Beichte schenkt uns vielmehr Zugang in ein Leben, wo man an nichts anderes mehr
denken kann als an Gott. Gott sagt in uns: „Du hast doch nur gesündigt, weil du
nicht glauben kannst, dass ich dich genug liebe, dass mir genug an dir liegt,
dass in mir genug Zärtlichkeit für dich ist, dass ich mich genug freue über die
geringste Geste, die mir deine Zustimmung bezeugt, um dir alles zu verzeihen,
was du in die Beichte hineinbringst. Wissen wir um eine solche Verzeihung, um eine
solche Liebe, dann werden wir geradezu überflutet sein von Freude und
Dankbarkeit, sodass uns dann auch allmählich die Lust zum Sündigen vergeht und
die Beichte zu einem regelmäßigen Ereignis der Freude in unserem Leben wird.
Beichten gehen heißt, hingehen und die Liebe zu Gott ein wenig herzlicher zu
gestalten, sich erneut sagen zu lassen und wirksam zu erfahren – denn Beichte
ist ja nicht nur Zuspruch von außen –, dass Gott uns liebt; beichten
heißt, wieder anfangen, daran zu glauben und zugleich entdecken, dass wir
bisher niemals tief genug daran geglaubt haben, und dass man hierfür um Verzeihung
bitten muß. Vor Jesus fühlt man sich als Sünder, man entdeckt sich als Sünder,
der nicht seinen Erwartungen entspricht. Beichten heißt, sich vom Herrn auf
sein göttliches Niveau heben zu lassen.
8. Der verlorene Sohn verlässt das
väterliche Haus, weil er ungläubig geworden ist. Er hat keinen Glauben mehr an
die Liebe des Vaters, die ihm genügen würde, und daher verlangt er sein
Erbteil, um seine Angelegenheit ganz allein zu ordnen. Als er sich entschließt,
zurückzukehren und um Verzeihung zu bitten, ist sein Herz noch tot. Er glaubt,
er werde nicht mehr geliebt, er sei nicht mehr Sohn. Nur, um nicht Hungers zu
sterben, kommt er zurück. Das nennen wir unvollkommene Reue! Aber der Vater
erwartet ihn seit langem. Seit langem erfreut ihn nichts mehr als der Gedanke,
der Sohn könnte eines Tages heimkommen. Sobald er ihn entdeckt, eilt er ihm
entgegen, umarmt ihn, lässt ihm nicht einmal die Zeit, sein Geständnis zu
beenden und ruft die Diener herbei, damit sie ihn kleiden, nähren und pflegen.
Weil man ihm so große Liebe erzeigt, beginnt der Sohn in diesem Augenblick, sie
auch zu verspüren, von ihr erfüllt zu werden. Eine ungeahnte Reue überkommt
ihn. Das ist die vollkommene Reue. Erst als ihn der Vater umarmt, ermisst er
seine Undankbarkeit, seine Unverschämtheit und seine Ungerechtigkeit. Dann erst
kommt er wirklich zurück, wird er wieder Sohn, dem Vater gegenüber offen und
vertrauend, wird er wieder lebendig: „Dein Bruder war tot und lebt wieder“ (Lk 15,32),
sagt der Vater daher dem zu Hause gebliebenen Sohn.
9. Der ältere Sohn, der Gerechte,
hat eine ähnliche Wandlung erfahren – so möchten wir das Gleichnis
hoffnungsvoll weiterdenken. Der Fall dieses Sohnes ist aber sehr viel schwieriger. Man darf nicht sagen, dass Gott
die Sünder mehr liebt als die Gerechten! Eine Mutter liebt das kranke Kind, dem
sie ihre besondere Sorge zuwendet, nicht mehr als die gesunden Kinder, die sie
allein spielen lässt, denen sie ihre – nicht weniger tiefe - Liebe aber auf
andere Weise bekundet. Soweit die Menschen sich weigern, ihre Sünden
anzuerkennen und zu bekennen, soweit sie stolze Sünder sind, zieht Gott ihnen
die demütigen Sünder vor. Mit allen hat er Geduld.
Auch mit dem daheimgebliebenen Sohn hat der Vater Geduld. Er
bittet ihn, und er redet ihm gut zu: „Mein Kind, du bist immer bei mir, und alles,
was mein ist, ist auch dein. Aber jetzt müssen wir uns doch freuen und ein Fest
feiern“ (Lk 15,31). Die Verzeihung der Hartherzigkeit des Älteren wird dabei
noch nicht einmal ausgesprochen, sondern ist impliziert. Wie groß muss die
Beschämung des älteren Sohnes vor solcher Milde sein. Alles hatte er
vorhergesehen, nur nicht diese demütige Zärtlichkeit des Vaters. Plötzlich
findet er sich entwaffnet, verwirrt, teilnehmend an der allgemeinen Freude. Und
er fragt sich, wie er nur daran denken konnte, absichtlich fern zu bleiben, wie
er es nur einen Augenblick lang habe vorziehen können, ganz allein unglücklich
zu sein, während alle einander liebten und einander verziehen. Glücklicherweise
ist der Vater da und erwischt ihn rechtzeitig. Zum Glück ist der Vater nicht
wie er! Zum Glück ist der Vater viel besser als sie alle zusammen! Gott allein
kann die Sünden vergeben. Er allein vermag diese Geste der Gnade, der Freude
und des Überflusses der Liebe zu vollziehen. Darum ist das Bußsakrament die
Quelle permanenter Erneuerung und Revitalisierung unseres priesterlichen Seins.
10. Für mich wird darum die
geistliche Reife für den Empfang des Weihesakramentes eines Priesteramtskandidaten
darin deutlich, dass er regelmäßig, und zwar mindestens im Rhythmus von einem
Monat, das Bußsakrament empfängt. Denn im Bußsakrament begegne ich dem
barmherzigen Vater mit den kostbarsten Gaben, die er zu vergeben hat, nämlich
die Vergabung, die Vergebung und die Begnadigung. Wenn aber einer durch seine
mangelnde Beichtpraxis dem Vater sagt: „Behalte deine kostbaren Gaben für dich!
Ich brauche dich und deine Gaben nicht!“, dann hört er auf, Sohn zu sein, indem
er ihm sein Vatersein aufkündigt, weil er ihm seine kostbarsten Gaben nicht
mehr abnimmt. Und wenn man nicht mehr Sohn des himmlischen Vaters ist, kann man
nicht Priester werden, denn der Priester ist durch die Taufe zunächst einmal
Sohn des Vaters, und dann ist er durch die Priesterweihe mit Christus Sohn mit
dem Sohn. Dann erst kann er den Menschen wirklich Bruder sein.
11. Der Umstieg von der Umkehr in
die Mission kann sich zunächst darin zeigen, dass ich von der einen Seite des
Beichtgitters auf die andere wechsele, von der Seite des Pönitenten auf die
Seite des Beichtvaters. Der Verlust des Bußsakramentes ist die Wurzel vieler
Übel im Leben der Kirche und im Leben des Priesters. Und die so genannte Krise
des Bußsakramentes liegt nicht nur darin begründet, dass die Leute nicht mehr
zum Beichten kommen, sondern dass wir Priester nicht mehr im Beichtstuhl
präsent sind. Ein besetzter Beichtstuhl in einer leeren Kirche ist das
ergreifendste Symbol für die wartende Geduld Gottes. So ist Gott. Er wartet auf
uns lebenslang. Ich kenne aus meiner 35-jährigen bischöflichen Tätigkeit
ergreifende Beispiele, wo Priester täglich im Beichtstuhl präsent waren, ohne
dass ein Pönitent gekommen ist, – bis dann aber der Erste oder die Erste nach
Monaten oder Jahren des Wartens kam. Damit war, wie man so sagt, der Knoten
geplatzt. Dann wurde der Beichtstuhl reichlich frequentiert. Hier wird der
Priester angefordert, aus aller äußeren Planungsarbeit der Seelsorge mit
Gruppen umzusteigen in die persönliche Not eines Menschen. Und hier hat er
zunächst nicht zu reden, sondern zu hören. Eine eiternde Wunde am Körper kann
nur heilen, wenn sie sich ausbluten kann. Ein verwundetes Herz des Menschen
kann nur geheilt werden, wenn es sich ausbluten, d.h. aussprechen kann. Und es
kann sich nur aussprechen, wenn jemand zuhört, und zwar in dieser absoluten
Diskretion des Bußsakramentes. Für den Beichtvater gilt zunächst einmal, nicht
zu reden, sondern zu hören. Wie viel innere Anregung für seine eigene
Christusnachfolge erfährt und erhält der Beichtvater gerade in seiner Tätigkeit
bei der Spendung des Bußsakramentes, wenn er spürt und erfährt, wie weit ihm
einfache katholische Männer, Frauen und Kinder in der Christusnachfolge voraus
sind.
12. Wenn uns dieser wesentliche
Bereich des priesterlichen Dienstes weitgehend verloren geht, sinken wir
Priester leicht auf eine Beamtenmentalität
oder auf das Niveau einer reinen Pastoraltechnik herab. Unsere Verortung diesseits und jenseits des Beichtgitters bringt
uns durch unser Zeugnis dazu, Christus für die Menschen berührbar werden zu
lassen. Um es zunächst an einem Negativbeispiel deutlich zu machen: Wer mit
radioaktiver Materie in Berührung kommt, wird selbst radioaktiv verseucht. Wenn
ein solcher nun einen anderen berührt, dann wird er ebenfalls von seiner
Radioaktivität negativ angesteckt. Nun aber das Beispiel positiv: Wer mit
Christus in Berührung kommt, der wird christoaktiv. Und wenn der Priester dann
als ein solcher Christoaktiver mit anderen Menschen in Berührung kommt, dann
werden sie selbstverständlich von seiner Christoaktivität angesteckt. Das ist
Mission, wie sie von Anfang an im Christentum präsent war. Die Menschen
drängten sich um die Person Jesu herum, um ihn zu berühren, und wenn es nur der
Saum seines Gewandes war. Und selbst, wenn es dieser nur von hinten war, dann wurden
sie gesund: „Denn es ging eine Kraft von ihm aus, die alle heilte“ (Lk 6,19).
13. Uns laufen die Menschen oft
davon, sie drängen sich nicht mehr um uns, um mit uns in Berührung zu kommen.
Im Gegenteil, sie laufen uns davon. Damit das nicht geschieht, müssen wir uns
konkret fragen: Was berühren die Menschen denn, wenn sie mit mir in Berührung
kommen? – Jesus Christus in seiner unermesslichen Liebe zu den Menschen, oder
irgendwelche theologischen Privatmeinungen oder Gejammer über die Zustände in
der Kirche und der Welt? Berühren sie
bei uns Jesus Christus? Wenn das der Fall ist, dann kommen die Menschen. Sie
sprechen untereinander von einem solchen Priester. Sie bringen es in solche
Ausdrücke wie „Mit dem kann man reden. Der versteht mich. Der kann einem wirklich
helfen“. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass die Menschen nach solchen
Priestern Sehnsucht haben, in denen sie authentisch Christus begegnen, der sie
frei macht von allen Verstrickungen und sie an seine Person bindet.
14. Damit wir recht verzeihen
können, brauchen wir viel Liebe. Die einzige Verzeihung, die wir recht gewähren
könnten, ist jene, die wir von Gott empfangen haben. Nur wenn man den
barmherzigen Vater erfahren hat, wird man barmherziger Bruder der Menschen. Wer
nicht verzeiht, der liebt nicht. Wer wenig verzeiht, der liebt auch wenig. Wer
viel verzeiht, der liebt viel. Wenn man den Beichtstuhl als Ausgangspunkt
unserer Mission verlässt, von welcher Seite des Beichtstuhls auch immer, aber besonders
von der Seite des Pönitenten, dann möchte man am liebsten alle umarmen, sie um
Verzeihung bitten. Ich selbst habe so beglückend Gottes verzeihende Liebe
erfahren, dass ich nur dringend bitten kann: „Nimm auch du seine Verzeihung an!
Nimm einen Teil der Verzeihung, an der ich nun Überfluss habe. Vergib mir, dass
ich sie dir so schlecht anbiete!“. Man geht mit der gleichen Bewegung wieder in
die Liebe Gottes und in die Bruderliebe hinein, in die Vereinigung mit Gott und
mit der Kirche, von der man sich durch die Sünde ausgeschlossen hatte. Wir können und müssen alle Menschen
lieben, wenn Gott uns aufs Neue zu
lieben gelehrt hat. Wäre es nicht so, dann wäre es ein Zeichen dafür, dass wir
falsch gebeichtet haben und daher nochmals beichten müssten.
Der wohl größte Beichtvater
unserer Kirche ist der heilige Pfarrer von Ars. Ihm verdanken wir das
Priesterjahr und damit unsere jetzige Zusammenkunft als Priester und Bischöfe
mit dem Heiligen Vater hier in Rom. Mit diesem heiligen Pfarrer habe ich über
das Geheimnis der heiligen Beichte nachgedacht. Denn sein täglicher Dienst der
Versöhnung im Beichtstuhl in Ars ließ ihn zum großen Weltmissionar werden. Man
sagt, er habe als Beichtvater die Französische Revolution geistlich überwunden.
Was mir im geistlichen Dialog mit Jean-Marie Vianney aufgegangen ist, das habe
ich hier verkündet. Dabei hat er mich noch an etwas ganz Wichtiges erinnert:
15. Wir lieben alle, wir
verzeihen allen! Hüten wir uns indessen, einen zu vergessen! Ein Wesen
existiert nämlich, das uns enttäuscht und belastet, ein Wesen, mit dem wir
ständig unzufrieden sind. Und das sind wir selbst. Wir haben uns oft so satt.
Wir sind unserer Mittelmäßigkeit überdrüssig und müde unserer eigenen
Monotonie. Wir leben in einem Zustand der Kälte und sogar einer unglaublichen
Gleichgültigkeit gegenüber diesem nächsten Nächsten, den Gott uns anvertraut,
damit wir ihn von seiner Vergebung berühren lassen. Und das sind wir selbst. Es
heißt doch, dass wir unseren Nächsten lieben sollen wie uns selbst (vgl. Lev
19,18). Wir sollen also auch uns lieben, wie wir unseren Nächsten zu lieben
suchen. Dann müssen wir Gott bitten, uns zu lehren, dass wir uns selber verzeihen:
den Ärger unseres Stolzes, die Enttäuschungen unseres Ehrgeizes. Bitten wir
ihn, dass die Güte, die Zärtlichkeit, die Nachsicht und das unerhörte
Vertrauen, womit er uns verzeiht, uns so weit gewinnen, dass wir den Überdruss
an uns selbst los werden, der uns überall hin begleitet und uns oft nicht
einmal beschämt. Wir können die Liebe Gottes zu uns nicht erkennen, ohne die
Meinung im Hinblick auch auf uns selbst zu ändern, ohne Gott selbst zu uns
Recht zu geben, wenn er uns liebt. Die Verzeihung Gottes versöhnt uns mit ihm,
mit uns, mit unseren Menschenbrüdern und -schwestern und mit der ganzen Welt.
Sie macht uns zu authentischen Missionaren. Glaubt ihr das, liebe Brüder? -- Probiert
es aus – heute noch!!
+ Joachim Kardinal Meisner
Erzbischof von Köln