XLVII. Nationale Tagung der Rektoren und Mitarbeiter der Italienischen Wallfahrtsorte

Rom, Heiligtum der Gottesmutter von der Göttlichen Liebe; Montag, den 15. Oktober 2012

 

»Die Wallfahrtsorte als Glaubenserfahrung«

 

Vortrag von

Mauro Kardinal Piacenza

Präfekt der Kongregation für den Klerus

 

 

Verehrte, liebe Mitbrüder im Priesteramt, die Ihr Euren Dienst als Rektoren oder Mitarbeiter in den italienischen Wallfahrtsorten verrichtet,

es ist mir eine besondere Freude, Euch zum ersten Mal begegnen zu können in meinem Amt als Präfekt der Kongregation, die für die Wallfahrtsorte und Heiligtümer in aller Welt verantwortlich ist und in ihrem Dienst steht.

Die Vorsehung hat es so gefügt, dass Eure Tagung im Rahmen zweier bedeutender kirchlicher Ereignisse stattfindet, die in den vergangenen Tagen begonnen haben: zum einen die XIII. Ordentliche Vollversammlung der Bischöfe zum Thema „Die neue Evangelisierung zur Weitergabe des christlichen Glaubens“, die am 7. Oktober vom Heiligen Vater eröffnet wurde, und zum anderen das „Jahr des Glaubens“, das am Donnerstag, 11. Oktober, begonnen hat und zum Gedenken an zwei denkwürdige Jahrestage ausgerufen wurde: zur Erinnerung an den 50. Jahrestag des Beginns der Arbeiten des Zweiten Ökumenischen Vatikanischen Konzils und an den 20. Jahrestag der Promulgation des Katechismus der Katholischen Kirche.

Diese beiden Ereignisse bilden gleichsam die „Richtschnur“ und die Methode, die der Herr durch unseren Heiligen Vater Benedikt XVI. der gesamten Kirche mit auf den Weg gibt: die Neuevangelisierung liegt stets als Ziel vor uns, und wir wissen ganz genau, dass die Kirche ihrem Wesen nach „evangelisatorisch“ ist. Der Reichtum, der in den Texten des Zweiten Ökumenischen Vatikanischen Konzils sowie in deren wundervoller Zusammenfassung und Aktualisierung, nämlich dem Katechismus der Katholischen Kirche, enthalten ist, stellt den Weg dar, auf dem wir voranschreiten sollen, um mit dem unabkömmlichen Beistand des Heiligen Geistes unser Ziel zu erreichen. Wir wollen dem Herrn immer wieder von neuem dafür danken, daß er uns – trotz großer Sorgen – Augenblicke der Gnade und der wahren Erneuerung erleben läßt, die ein Quell sicherer Hoffnung sind.

In meinem Referat, das in zwei Teile untergliedert ist, möchte ich das Thema »Die Wallfahrtsorte als Glaubenserfahrung« behandeln, das Ihr für diese Nationale Tagung gewählt habt. Im ersten Teil wollen wir überlegen, inwieweit die Wallfahrtsorte für die Menschen unserer Zeit eine „Erfahrung“ beziehungsweise ein Ort der Erfahrung und des vernünftigen Urteilens über die Existenz, die Wirklichkeit, die Welt und die Geschichte sein können und sein müssen. Im zweiten Teil werden wir aufzeigen, wie diese Erfahrung zur „Glaubenserfahrung“ werden kann, das heißt zu einer Begegnung, die den geistigen Horizont zu erweitern und das Eis in unseren Herzen zu brechen vermag.

 

1. Erfahrung

Was ist eine Erfahrung?

Wann können wir behaupten, eine Erfahrung gemacht zu haben?

Der Großteil unserer Zeitgenossen würde auf diese Frage zur Antwort geben: »Wenn wir etwas ausprobiert haben!« In der Tat stellt man sich im Allgemeinen unter dem Begriff „Erfahrung“ vor, etwas „probiert“ zu haben, und dies mit allen falschen Schlussfolgerungen, die sich in gnoseologischer wie auch moralischer Hinsicht aus diesem Begriffsverständnis ergeben.

Es muß notwendigerweise anerkannt werden, daß wir dazu berufen sind, in einem besonderen Zeitalter zu leben und zu wirken, das in gewisser Hinsicht radikal neu ist und in dem der Mensch sich gleichsam entfremdet fühlt von der sogenannten „kosmischen Anstrengung“, das heißt von der eifrigen Teilhabe und zugleich notwendigen Abhängigkeit von Gesetzen und Rhythmen, die Gott in das Wesen der Dinge, in die Schöpfung und – wie wir heute eher sagen würden – in die Natur eingeschrieben hat.

Nachdem der Mensch die kreatürlichen Abhängigkeiten vom Kosmos, die sich untergliedern lassen in die grundlegenden Abhängigkeiten von Zeit und Raum, das heißt vom Licht, von der Erdhärte und den Entfernungen, scheinbar beseitigt hat, läuft er Gefahr, jene letzte Abhängigkeit zu vergessen, in der alle anderen Abhängigkeiten enthalten sind: die wesensmäßige Abhängigkeit von Gott.

Der von Gott „unabhängige“ Mensch macht allerdings nicht die Erfahrung frei zu sein, sondern er wird ganz unversehens und in dramatischer Weise feststellen, daß er allein ist. Er bezieht sich immer mehr auf sich selbst, und es scheint, als wäre er vom positivistischen Wahn des 19. und der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts zur „techno-szientistischen“ Diktatur unserer Tage übergegangen, wobei er jene Ernüchterung durchlebt hat, die von den tragischen geschichtlichen Ereignissen des 20. Jahrhunderts mit all seinem todbringenden Erbe hervorgerufen wurde. Wie groß muß da die Enttäuschung sein gegenüber dem Anspruch, „das Maß aller Dinge“ zu sein! Und doch ist die techno-szientistische Diktatur mehr als eine bloße Idee.

Der zeitgenössische Mensch ist daher wie „betäubt“ im Bezug auf seine wesensmäßigen Abhängigkeiten und orientierungslos gegenüber dem vorbeigehenden Leben und dem Sinn seiner Existenz. Man hat den Eindruck, als hätte das aktuelle kulturelle Klima das an und für sich schon nicht unproblematische kartesianische Axiom »cogito ergo sum« noch weiter verkürzt auf ein besorgniserregendes »sentio, ergo sum«, »ich nehme Empfindungen wahr, also bin ich«! Was ist das doch für eine grobe Verkürzung der menschlichen Würde! Und welch große Lüge ist es, den Menschen auf seine sensitive Seele zu reduzieren, die gewiß wichtig, aber nicht das entscheidende Merkmal dafür ist, das er nach dem Bild und Gleichnis Gottes geschaffen ist.

Aus all diesen Gründen bedarf der Begriff „Erfahrung“ heute einer neuen, angemessenen Bedeutungsbestimmung, er muss wieder mit seinem wahren Inhalt versehen werden. Ansonsten würde er unmittelbar auf etwas Subjektives verweisen, das vom Instinkt und dem individuellen Empfinden beherrscht wird und losgelöst ist von jeglicher Form des objektiven Erkennens, das allgemein anerkannt und mitgeteilt werden kann.

Der Begriff „Erfahrung“ darf nicht in diesem Sinne verstanden werden, und die Wallfahrtsorte und Heiligtümer dürfen daher auch nicht in diesem falschen Sinn zum Ort einer „Glaubenserfahrung“ werden.

Die Erfahrung kann in allen ihren historischen Ausdrucksformen mit Sicherheit einen Moment beobachten, den wir als „empirisch“ oder auch „emotional“ bezeichnen können, aber sie erschöpft sich nicht darin. Damit sie zu einer wirklichen Erfahrung wird, benötigt sie eine „Urteilsbildung“. Es ist daher nötig, daß der Mensch den Sachverhalten, mit denen er konfrontiert ist, einen Namen gibt. Wann aber kann man davon sprechen, daß das Ich wirklich eine Erfahrung gemacht hat? Nicht dann, wenn es gefühlsmäßig etwas „verspürt“, sondern wenn es das Verspürte „beurteilt“ und es an seinem Bedürfnis nach Sinn, Fülle und Erfüllung mißt. Und dies gilt für jedes Lebensalter, für jedes kulturelle Niveau und für jede Thematisierungs- und Verbalisierungsfähigkeit usw. Unterschiedslos jeder macht dann eine Erfahrung, wenn er das beurteilt, was er erlebt hat.

Das soeben Gesagte trifft in gewisser Weise auch auf die erste Begegnung zwischen Jesus und Nathanael zu. Als dieser bei einem tiefgehenden Gespräch mit dem Herrn ein Zeichen Seiner Allwissenheit empfangen hat – »Schon bevor dich Philippus rief, habe ich dich unter dem Feigenbaum gesehen« (Joh 1,48), rief er aus: »Rabbi, du bist der Sohn Gottes, du bist der König von Israel« (Joh 1,49). Dies ist eine echte Erfahrung!

Nathanael ist nicht beim Staunen über die Worte des Herrn stehengeblieben, und er hat sich auch nicht darauf beschränkt, gegenüber den Umstehenden über die außergewöhnlichen Gesten des Herrn reden – obgleich diese ihn zutiefst beeindruckt haben –, sondern er hat dem, was ihm soeben widerfahren war, einen Namen gegeben und ist bis zum Grund jener Worte und seines Staunens vorgedrungen: »Du bist der Sohn Gottes!«

Es steht also fest, dass die Erfahrung den Menschen in seiner Subjektivität und in seiner Freiheit berührt, dies erfolgt jedoch nach Kriterien, die der Mensch nicht selbst wählt, sondern die er von einem Anderen empfängt.

Die Erfahrung besteht darin, alles, was man erlebt, an seiner eigenen Grundstruktur zu messen, die im Wesentlichen ein „Bedürfnis“ an Liebe, Schönheit, Wahrheit, Gerechtigkeit, Glück usw. ist. In diesem Sinne ist es also nicht der Mensch, der sich dafür entscheidet, diese Bedürfnisse zu haben, sondern sie sind ihm sozusagen „mit in die Wiege gelegt“ und gehören somit zu seinem innersten Ich, und dies auch und gerade im Zeitalter der Diktatur des gnoseologischen Relativismus und der empirischen Technowissenschaften.

Ist es also notwendig, die Wallfahrtsorte in philosophische Lehrstühle umzuwandeln? Ganz und gar nicht! Gott bewahre uns davor!

Die Wallfahrtsorte müssen vielmehr imstande sein, die Gläubigen – alle Gläubigen, angefangen bei den einfachen Menschen bis hin zu den Intellektuellen – zu einer Erfahrung hinzuführen, zur Erfahrung einer Begegnung mit etwas und Jemandem, der „neu“, „schön“ und „groß“ ist, und dem sie anderswo normalerweise nicht begegnen können.

In anthropologischer Hinsicht ist der Gläubige, der sich auf den Weg zu einem Wallfahrtsort macht, bereits auf der Suche nach irgendetwas. Er hat sich schon, mehr oder weniger bewußt, dafür entschieden, seine Angelegenheiten und seine eigene „kleine Welt“ hinter sich zu lassen und sich auf den Weg zu machen zu einem Ziel, von dem er sich angezogen und fasziniert fühlt, und bei dem er spürt, das es etwas Wahres und Positives enthält.

Als Rektoren und Priester, die ihren Dienst in Wallfahrtsorten und Heiligtümern leisten, seid Ihr dazu berufen, stets mit Staunen auf die Pilgerströme zu schauen, die in aller Freiheit zu euch kommen. Auch wenn zumeist über all dies nicht explizit gesprochen wird, so könnt Ihr als liebevolle Väter nicht ungerührt zuschauen oder teilnahmslos bleiben angesichts so vieler persönlicher Freiheiten, die sich in Bewegung setzen und zum Mysterium hin auf den Weg machen.

Damit sich diese Begegnung ereignen und eine authentische Erfahrung aus ihr erwachsen kann, ist es notwendig, zunächst über die Tatsache zu staunen, daß die Pilger da sind, bevor man in soziologischer Hinsicht analysiert, wonach sie in Wallfahrtorten eigentlich suchen, denn ihre Präsenz stellt ja bereits in sich selbst eine Bitte dar.

Eine Bitte ist immer etwas Positives, und als solches muß sie gehört werden. Yves Congar sagte: „Wir dürfen nicht die Probleme verurteilen, sondern nur die falschen Antworten auf diese Probleme!“

Mitunter verschwenden wir unsere Energien dafür, darüber zu diskutieren – und vielleicht auch uns darüber zu beklagen –, dass das zum Ausdruck gebrachte religiöse Bedürfnis nicht dem Angebot entspricht, das wir zur Verfügung stellen, da wir in ideologischer Weise Gefahr laufen, ein „vorgefertigtes“ Produkt anzubieten, anstatt zuerst auf die wahre Bitte zu hören.

All dies steht der rechten Anthropologie entgegen und verhindert zuweilen in schwerwiegender Weise jene authentischen Erfahrungen des Hörens und der Begegnung, die die Grundlage jeder Erfahrung und insbesondere der religiösen Erfahrung bilden.

Ich möchte Euch anvertrauen, daß ich mich beim Beten in kleinen und großen Wallfahrtsorten mehrmals dabei überraschte, wie ich – manchmal zu Tränen gerührt – die Schönheit des Volkes betrachtete, das, mit der Schlichtheit des Glaubens, betend, flehend, opfernd und weinend vor das göttliche Geheimnis tritt.

Wem die Gnade zuteil wird, seinen Dienst in einem Wallfahrtsort zu verrichten, der kann nicht umhin, seinen übernatürlichen Blick auf den Strom der Pilger zu richten, die wirklich das pilgernde Volk Gottes sind, aus dem der Leib der Kirche gebildet wird, wie es uns die Konzilskonstitution Lumen gentium mit maßgebenden Worten in Erinnerung ruft (vgl. LG 7-99).

Wenn also, wie ich bereits oben angeführt habe, eine Erfahrung im wesentlichen aus dem Urteil über eine Gegenwart besteht, dann folgt daraus unmittelbar, daß die Erfahrung als solche nicht in unseren Händen liegt, sondern dem einzelnen Pilger gehört, dessen Freiheit und Intelligenz dazu bestimmt sind, ein Urteil abzugeben. In unseren Händen liegt hingegen die Möglichkeit, die Gegenwart des göttlichen Geheimnisses in seiner ganzen Schönheit erstrahlen zu lassen, damit sie wirklich zu einer Gegenwart wird, die fasziniert und die Freiheit erfaßt, und die sich von den anderen Arten von Gegenwart unterscheidet, mit denen die Pilger konfrontiert sind.

Paradoxerweise kann sich der Pilger in einer vorteilhafteren Situation befinden als der gewöhnliche Gläubige, denn der Ausgangspunkt seines Weges ist die vielleicht unbewußte und nicht ausdrücklich formulierte, aber dennoch reale Bitte, eine „andere“ Art von Erfahrung zu machen, die sich von der unterscheidet, die normalerweise angeboten wird. Er möchte endlich in Kontakt mit dem göttlichen Mysterium treten und zwar an Orten, an denen es sich, auf verschiedenen Erfahrungsebenen, in besonderer Weise zu erkennen gegeben hat. Auf dem Weg zu diesen „Stätten des Mysteriums“ machen die Pilger ihr Herz empfänglich für die Erwartung dessen, der stets neu ist und der allein den ursprünglichen Bedürfnissen des eigenen Ich entspricht.

Uns ist somit das Privileg gewährt, die Schönheit und Wahrheit so vieler Freiheiten unter den Pilgern zu betrachten und unser Herz stets mit jener radikalen Erwartung zu vereinigen, wobei wir dafür beten wollen, daß sich die Erfahrung der „Begegnung“ in jedem Pilger ereignen und auch in einem jeden von uns erneuern möge.

Wie bereits erwähnt, sind wir dazu berufen, darauf hinzuwirken, daß die Gegenwart des Mysteriums in ihrer unverbrüchlichen Schönheit erstrahle und daß im Heiligtum alles von Ihm, der dessen einzige und wahre Hauptperson ist, Zeugnis gebe. Er hat diesen Ort gewollt als privilegierte Stätte der Begegnung zwischen den Menschen und Ihm. Die große biblische Tradition lehrt uns, daß ein Heiligtum für Gott nie allein von „Menschenhand“ gebaut wird, sondern es ist der Herr, der dort Wohnstatt nimmt, wo er will, und gemäß eben dieser Logik sind durch die Geschichte hindurch Heiligtümer und Wallfahrtsorte an den Orten entstanden, an denen Gott dies will.

 

2. Die „Glaubenserfahrung“

Wir kommen nun zum zweiten Teil dieses Vortrags. Wie es aus dem für Eure Generalversammlung gewählten Thema ersichtlich wird, muß „der Glaube“ das Objekt der Erfahrung sein, die die Pilger bei ihrem Besuch an den Wallfahrtsstätten zu erleben gerufen sind.

Zu Beginn wollen wir uns die Frage stellen: Wodurch wird in einem Wallfahrtsort die Gegenwart des göttlichen Geheimnisses bewahrt und bezeugt?

Wodurch spüren die Menschen, die die Schwelle eines Heiligtums überschreiten, dass sie sich in Gegenwart eines Anderen befinden, der sie alle übersteigt und auf sie wartet?

Das, was in den Menschen in erster Linie die „Wahrnehmung“ des Mysteriums begünstigt, ist der „Sinn für das Heilige“. Unter „Sinn für das Heilige“ verstehen wir nicht einen vagen Spiritualismus, der nichts mit dem wirklichen Leben der Menschen zu tun hätte. Beim „Sinn für das Heilige“ handelt es sich eher um jenes ursprüngliche Staunen, das den Menschen ergreift, während er anerkennt, sich an einem Ort zu befinden, der sich den bloßen Koordinaten von Raum und Zeit entzieht, an einem Ort also, der nicht den Menschen gehört, sondern „heilig“ ist, weil er Gott „geweiht“ ist. Er ist Sein Eigentum und Seine Wohnstatt, wie es die Inschriften bezeugen, mit denen die Gläubigen empfangen werden: »Hic Domus mea, inde Gloria mea – Hier ist mein Haus, von hier geht meine Ehre aus«.

Joseph Ratzinger hat in dem bekannten Buch „Ohne Wurzeln“ aus dem Jahr 2004 gerade den Verlust des Sinnes für das Heilige als ein Phänomen identifiziert, das sich in unserer westlichen Gesellschaft immer mehr ausbreitet, und er sieht es auch als Ursache dafür an, daß wir so große Schwierigkeiten haben, mit anderen religiösen Kulturen und Traditionen, in denen dieser Sinn für das Heilige stark ausgeprägt ist, einen Dialog zu führen. Die Wiedererlangung des Sinnes für das Heilige ist somit im Denken Joseph Ratzingers der „Weg des Dialogs“ und das unabdingbare Terrain für den Gedankenaustausch. Und dies nicht so sehr wegen der künstlichen Wiederherstellung äußerer Formen, die von den Menschen im Westen scheinbar nicht mehr als bedeutungsvolle Zeichen wahrgenommen werden, sondern aufgrund des schlichten und pflichtschuldigen Gehorsams gegenüber der anthropologischen Beschaffenheit des Menschen, der ein ununterdrückbares religiöses Bedürfnis hat, das in einer sakralen Sprache zum Ausdruck kommt.

Bei genauerem Hinschauen erkennt man, daß es in theologischer Hinsicht nicht nur die Beschaffenheit des Menschen ist, die den Sinn für das Heilige erfordert, sondern die göttliche Offenbarung selbst zeigt mit unleugbarer Klarheit auf, wie die Inkarnation des Sohnes Gottes das Heilige nicht hinwegnimmt, sondern vielmehr neu definiert und bekräftigt.

In seiner Predigt am Fronleichnamsfest im vergangenen Juni sagte der Heilige Vater: »Die christliche Neuheit hinsichtlich des Kultes wurde von einer gewissen säkularistischen Mentalität der 60er und 70er Jahres des vergangenen Jahrhunderts beeinflußt. Es ist wahr und gilt immer, daß der Mittelpunkt des Kultes nicht mehr in den alten Riten und Opfern liegt, sondern in Christus selbst, in Seiner Person, in Seinem Leben, in Seinem Paschageheimnis. Und dennoch darf aus dieser Neuheit nicht geschlossen werden, daß es das Heilige nicht mehr gebe, sondern daß es seine Erfüllung in Jesus Christus gefunden hat, der menschgewordenen göttlichen Liebe. […] Er hat das Heilige nicht abgeschafft, sondern es zur Vollendung gebracht und einen neuen Kult eröffnet, der zwar gänzlich geistig ist, sich jedoch solange wir in dieser Zeit unterwegs sind, noch der Zeichen und Riten bedient, die nur am Ende vergehen werden, im himmlischen Jerusalem, wo es keinen Tempel mehr geben wird« (vgl. Offb 21,22), und somit auch keine Wallfahrtsorte und Heiligtümer mehr!

Die vorrangige Aufgabe der Rektoren und Priester, die ihren Dienst in den Wallfahrtsorten und Heiligtümern leisten, besteht somit im liebevollen Schutz und der Bewahrung des sakralen Charakters eines Ortes, an dem Gott in besonderer Weise Wohnstatt nehmen wollte. Das Geheimnis der Menschwerdung ist, genauer betrachtet, weit davon entfernt die Idee des Heiligtums zu entkräften. Es rechtfertigt und stärkt sie vielmehr, denn »das Wort ist sichtbar, greifbar und hörbar geworden« (vgl. 1 Joh 1-2), und insbesondere im Wallfahrtsort wird eine authentische Erfahrung der Begegnung möglich, die in inklusiver Weise die von der Inkarnation geforderten – auch methodologischen – Koordinaten respektiert.

Wir wissen, daß der Sinn für das Heilige vor allem durch die Stille zum Ausdruck gebracht und gewahrt wird, die in der Tat, im Gegensatz zur chaotischen Normalität des alltäglichen Lebens, eine „andere Dimension“ darstellt. Zu ihr gehören die sakrale Musik, die sakrale Kunst und die Möglichkeit zur inneren Sammlung, die dabei helfen, jene „via pulchritudinis“ zu erahnen, die nicht selten im Ich selbst liegt und die auf wirkungsvolle Weise zur Schwelle des Geheimnisses führt und eine wirkliche Begegnung mit ihm ermöglicht.

In einem Wallfahrtsort den Sinn für das Heilige zu bewahren bedeutet, aufmerksam zu sein für Details, mit der bezeichnenden Aufmerksamkeit für die wahre Liebe, die alles tut, um dem Geliebten zu gefallen, der in erster Linie der Herr selbst ist, und der auch in den Pilgern gegenwärtig ist. Die Aufmerksamkeit für Details bedeutet eine Aufmerksamkeit für alle Details: von der Schönheit der liturgischen Ausstattung und der liturgischen Geräte bis hin zur Sorgfalt in der Musik und im Gesang, durch die Gebet und Liturgie begleitet werden; von der – gestattet mir diese Worte – Sauberkeit des Ortes bis hin zum Glanz der Gottesdienste. All dies muß zu einer „ersten Begegnung“ der Menschen mit dem göttlichen Geheimnis, mit der Person Christi führen, der lebt und wirkt. Mit ihm, der den grundlegenden Erwartungen des Menschen entspricht und sie zugleich übersteigt, »indem er dem Leben einen neuen Horizont und damit eine neue Ausrichtung verleiht« (DCE, 1).

In dem Schreiben an die Rektoren der Wallfahrtsorte, dessen theologisch-pastorale Inhalte morgen im Rahmen einer eigenen Konferenz vorgestellt werden, heißt es, daß »das Heiligtum jener Ort ist, an dem mit besonderer Kraft das Wort Gottes erklingt; […] das „Haus, in dem das Wort Gottes aufgenommen, betrachtet, verkündet und gefeiert wird«.

Wir wissen, daß der Glaube aus dem Hören hervorgeht, einem Hören, das nicht nur ein schlichtes „Hinhören“ auf die Verkündigung der Heiligen Schrift ist, sondern einem Hören, das „zur Begegnung mit dem Gotteswort“ werden soll, das heißt zu einer in Fleisch und Blut übergehenden Erfahrung mit dem heilbringenden Wort: mit Jesus, dem Herrn.

Und die menschliche Antwort auf diese fruchtbringende Verkündigung des Wortes Gottes ist das Gebet. Die Wallfahrtsorte müssen in erster Linie Stätten des Gebets sein. In einem gesellschaftlichen und mitunter sogar kirchlichen Kontext, in dem der Primat des persönlichen und gemeinschaftlichen Gebets verkannt zu werden scheint, stellt das Gebet bereits ein Bekenntnis des eigenen Glaubens dar sowie eine Bekräftigung, daß Gott existiert und in der Geschichte und in unserem Leben lebt und wirkt.

Meiner Ansicht nach muß auch die Antwort, die wir als Kirche dem Herrn im derzeitigen Jahr des Glaubens zu geben berufen sind, notwendigerweise in diese Richtung gehen: in die Richtung des Gebets.

In all seinen rechtmäßigen Ausdrucksformen, die das Gebet im Laufe der Kirchengeschichte erfahren hat und auch weiterhin erfährt – vom großartigen liturgischen Gebet bis hin zur Volksfrömmigkeit –, hallt in fruchtbringender Weise die Antwort des Glaubens wider, die das Volk zu seinem Herrn erhebt. Es hat sich nunmehr in aller Klarheit als eklatanter pastoraler Fehler herausgestellt, daß man seit der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts die Volksfrömmigkeit vernachlässigt (und bisweilen sogar zerstört) hat. Sie stellt nicht selten die einzige Sprache dar, die von nicht wenigen Gläubigen verstanden und verwendet wird, und sie hilft allen dabei, die Gefahr eines allzu „verkopften“ und intellektualistischen, abstrakten und blutlosen Glaubens abzuwenden. Diese Gefahr ist vielleicht noch schwerwiegender und schädlicher für den Glauben als das Fortbestehen einiger stets zu reinigender folkloristischer Elemente in der Volksfrömmigkeit.

Die Wallfahrtsorte machen in dem Maße wahre Glaubenserfahrungen möglich, in dem sie den Pilgern ausgiebig Raum für das Sakrament der Versöhnung bieten, und dies in einer Zeit, in der es äußerst schwierig geworden ist, einen Beichtvater zu finden. Daher ist besondere Sorge zu tragen für die theologische, moralische und juristische Ausbildung der Beichtväter, die überall, vor allem aber in den Wallfahrtsorten, in keinster Weise von der wahren katholischen Lehre und den Weisungen des Lehramtes abweichen dürfen. Es würde sonst eine gewaltige Orientierungslosigkeit entstehen und die „Glaubenserfahrung“ selbst würde dadurch beeinträchtigt. Große Heilige wie der Pfarrer von Ars und der heilige Giuseppe Cafasso zeigen uns die Größe und Überzeugungskraft, die aus dem Sakrament der Versöhnung erwächst: das durch die Sünde verletzte und somit geöffnete Herz des Pönitenten kann das heilbringende Wort des Herrn empfangen und annehmen.

In ganz besonderer Weise sind die Wallfahrtsorte ferner Orte der Glaubenserfahrung durch die Feier der Gottesdienste und die Eucharistische Anbetung, die untrennbar miteinander verbunden sind. Wir wissen ja, daß es »in Wirklichkeit falsch ist, die Feier und die Anbetung entgegenzusetzen, als stünden sie zueinander in Konkurrenz. Genau das Gegenteil ist der Fall: die Verehrung des Allerheiligsten Sakraments bildet gleichsam die geistliche Umwelt, in der die Gemeinschaft gut und wahrhaftig die Eucharistie feiern kann. […] Im Augenblick der Anbetung sind wir alle auf derselben Ebene, auf Knien vor dem Sakrament der Liebe. Das allgemeine Priestertum und das Amtspriestertum finden sich im eucharistischen Kult vereint« (Benedikt XVI., Predigt zum Fronleichnamsfest 2012).

Welch große Gnade wäre es, wenn es in allen Wallfahrtsorten Italiens und der Welt eine Kapelle gäbe, in der die Ewige Anbetung gepflegt wird, vor allem mit der Intention, für Berufungen zum priesterlichen Dienst und für die Treue der Priester zu ihrer Identität zu beten!

Im Nachsynodalen Apostolischen Schreiben Sacramentum Caritatis heißt es, daß »die beste Katechese über die Eucharistie die gut zelebrierte Eucharistie selbst« ist (SC, Nr. 64). Ihr entspringt eine übernatürliche und stets neue Dynamik der Evangelisierung, die in unserer Zeit so dringend nötig ist.

Wir könnten sagen, daß »die Leere […] sich ausgebreitet hat. Doch gerade von der Erfahrung der Wüste her, von dieser Leere her können wir erneut die Freude entdecken, die im Glauben liegt […] In der Wüste entdeckt man wieder den Wert dessen, was zum Leben wesentlich ist; so gibt es in der Welt unzählige, oft implizit oder negativ ausgedrückte Zeichen des Durstes nach Gott, nach dem letzten Sinn des Lebens« (Benedikt XVI., Predigt bei der Eröffnung des Jahres des Glaubens).

Und während nicht wenige Kirchen immer leerer werden, wächst der Pilgerstrom zu den Wallfahrtsorten oft in schwindelerregender Weise an. Wir wollen also die „Zeichen der Zeit“ – von heute und nicht von gestern – erkennen und uns kritisch auseinandersetzen mit dem pastoralen Wirken der vergangenen Jahrzehnte. Wir wollen dies tun mit dem Mut jener, die eigene Fehler und Unterlassungen eingestehen und sich demütig um Abhilfe bemühen, oder zumindest nicht im Irrtum verharren wollen.

Mein Wunsch ist also, daß auch dank der neuen Statuten der Nationalen Vereinigung der Wallfahrtsorte, die von der Kongregation für den Klerus approbiert worden sind, dieser fruchtbare Dialog weitergeführt und jeder Wallfahrtsort immer und für alle zu einem Ort werde, an dem durch evangelisierte Menschen die Kraft der Evangelisierung ausgehe. Jeder Wallfahrtsort möge also zum Ort einer erneuerten Glaubenserfahrung werden.