(De Officiis) - VI. Kapitel

VI. Kapitel

Fort mit Preistreiberei und Lebensmittelhinterziehung in der Zeit der Teuerung! Zurückweisung von Einwendungen und Beschönigungen (37—41). Wie straft sie der Patriarch Joseph durch sein Verhalten (42), Christus durch seine Parabel (43), Salomo durch sein Urteil Lügen (44)!

  Nicht soll das Nützliche über das Sittlichgute, sondern das Sittlichgute über das Nützliche den Sieg davontragen. Ich meine unter dem Nützlichen das, was nach der gewöhnlichen Auffassung darunter verstanden wird. Habsucht soll ertötet werden, Begehrlichkeit ersterben. Ein Heiliger bekennt, sich deshalb nicht mit Handel befaßt zu haben, weil die höheren Preise, die man erstrebt, nicht die Frucht der Ehrlichkeit, sondern der Geriebenheit sind (Vgl. Ps. Ps 71,14 Ps. Ps 71, Cic. I. c. CIC 12, 50—57. ). Und ein anderer spricht: „Wer nach Getreidepreisen Jagd macht, ist beim Volke verflucht“ (Pr 11,26).

  Der Sinn steht fest. Er läßt für Wortstreit keinen Raum. Eine solche Art Wortgezänk pflegen die Sprüche zu sein, die der eine macht: der Ackerbau gelte doch bei allen für löblich; die Früchte der Erde wüchsen sonder Falsch; je mehr Mühe einer auf die Aussaat verwende, um so mehr Lob verdiene er; der fleißigeren Bewirtschaftung mangle es nicht an reichlicheren Erträgnissen; man pflege doch mehr die Nachlässigkeit und Sorglosigkeit, mit der man ein Land unbebaut lasse, zu tadeln.

  Ich habe, macht man geltend, mit besonderem Fleiß gepflügt, mit besonderem Eifer angebaut und guten Ertrag geerntet, mit besonderer Sorgfalt ihn in die Scheuer gebracht, treu aufbewahrt, umsichtig behütet. Jetzt zur Zeit der Hungersnot verkaufe ich ihn, komme den Hungernden zu Hilfe; verkaufe nicht fremdes, sondern mein Getreide, nicht teurer als die übrigen, sondern sogar billiger. Wie kann da von Trug die Rede sein, da doch viele in Gefahr kommen könnten, wenn sie nichts zu kaufen hätten? Will man eifriges Wirtschaften zum Verbrechen stempeln? Will man die Rührigkeit tadeln? Will man die Fürsorglichkeit schelten? Vielleicht mag er einwenden: Auch Joseph sammelte Getreide in Fülle, verkaufte es in der Zeit der Teuerung. Will man einen zu noch teuererem Einkauf zwingen? Will man gegen den Käufer Gewalt anwenden? Jedem wird Gelegenheit zum Kaufe geboten, keinem geschieht Unrecht.

  Gegen diese Ausführungen nun, wie sie jeder nach seiner Art vorbringt, erhebt sich ein anderer und spricht: Ja, gut ist der Ackerbau, der allen seine Früchte darbietet; der mit redlichem Fleiß die Fruchtbarkeit der Gefilde mehrt, ohne Trügerisches, ohne Falsches darein zu säen. Unstatthaftes irgendwelcher Art würde denn auch mehr Nachteil stiften. Denn nur wer die Saat gut bestellt, wird eine bessere Ernte erzielen; und wenn er lauteres Weizenkorn sät, wird er auch reinere, lautere Frucht einheimsen. Nur ein fruchtbarer Boden gibt vielfältig zurück, was er aufgenommen hat; nur ein tüchtiger Acker pflegt seine Erzeugnisse mit Zinseszins heimzuzahlen.

  Du darfst nun vom Ertrag der ergiebigen Scholle deiner Mühe Lohn erwarten, von der Fruchtbarkeit des fetten Bodens die gebührenden Einkünfte erhoffen. Warum willst du das rege Schaffen der Natur in Trug kehren? Warum ihre Erzeugnisse, die für alle da sind, neidisch dem menschlichen Gebrauch entziehen? Warum deren Fülle dem Volk verringern? Warum heuchlerisch Mangel vorschützen? Warum bewirken, daß die Armen sich lieber Unfruchtbarkeit wünschten? Denn wenn sie wegen deiner Preistreiberei, wegen deiner Getreidehinterziehung vom Segen der Fruchtbarkeit nichts spüren, wünschen sie sich lieber keine Erzeugnisse als die Geschäfte, die du mit der allgemeinen Teuerung machst. Dir kommt die Getreidenot und der Lebensmittelmangel erwünscht, du bedauerst reichliche Bodenerzeugnisse, klagst über allgemeine Fruchtbarkeit, trauerst über volle Getreideschuppen, hältst dich auf der Lauer, so oft ein dürftigerer Ertrag, ein spärlicheres Wachstum einfällt. Freudig begrüßt du den Fluch, der deinen Wünschen lächelte, daß niemand die geringsten Erzeugnisse erzielte. Da ist deine Ernte gekommen, dir zur Wonne; da raffst du dir aus dem allgemeinen Elend deine Schätze zusammen. Und das heißt du wirtschaften, das nennst du Rührigkeit, was nur geriebene Schlauheit, listige Gaunerei ist! Und das nennst du Hilfeleistung, was nur nichtsnutzige Berechnung ist! Soll ich das Raub oder Wucher nennen? Wie beim Raub werden nur die günstigen Augenblicke erspäht, um als hartherziger, hinterhältiger Mensch in den ureigenen Besitz der Leute einzudringen. Man treibt den Wucherpreis hinauf und gefährdet dadurch in noch höherem Grade das Leben. Dir aber erwächst hundertfacher Ertrag aus der heimlich hinterzogenen Erntefrucht. Du hältst wie ein Wucherer das Getreide zurück und schraubst als Verkäufer dessen Preis in die Höhe. Wozu gegen jedermann die schlimm gemeinte Versicherung, die Hungersnot werde künftig noch größer, weil es angeblich keine Früchte mehr gebe; weil ein noch größeres Mißjahr folge? Dein Gewinst geht zu Schaden der Allgemeinheit.

  Der heilige Joseph öffnete jedermann die Scheune, verschloß sie nicht. Es war ihm auch nicht um wucherische Getreidepreise zu tun, sondern um die Erschließung einer nachhaltigen Hilfsquelle. Für sich erwarb er nichts, sondern traf in fürsorglicher Anordnung Vorkehrung, wie sich auch für künftig die Hungersnot überwinden ließe (Gn 41, 56f.; 47, 13 ff.).

  Ihr habt gelesen, wie der Herr Jesus im Evangelium einen solchen Getreidepreiswucherer bloßstellt. Sein Besitz trug ihm reiche Früchte ein, und gleichwohl sprach er, als wäre er in Nöten: „Was soll ich tun? Ich habe keinen Raum mehr, um etwas unterzubringen. Ich will meine Scheunen abbrechen und größere bauen“ (Lc 12,17 f.). Und doch konnte er nicht wissen, ob nicht seine Seele schon in der folgenden Nacht von ihm abverlangt würde. Er wußte nicht, was er tun solle; er schwebte in der ungewissen Angst, es möchten ihm die Lebensmittel ausgehen; die Scheunen faßten das Getreide nicht — und er glaubte darben zu müssen.

  Mit Recht nun urteilt Salomo: „Wer das Getreide zusammenhält, wird es (fremden) Völkern hinterlassen“ (Sprich w. 11, 26.), nicht den Erben, weil der Ertrag der Habsucht nicht in den Rechtsbesitz von Nachfolgern übergeht. Was nicht rechtmäßig erworben wird, wird wie vom Winde unter fremde Besitzer zerstreut, die es an sich reißen. Und er fügte bei: „Wer wucherisch das Getreide aufkauft, ist verflucht beim Volke; der Segen desselben aber ruht auf dem Haupte dessen, der es verteilt“ (Pr 11,26). Es schickt sich wohl, wie du siehst, den Getreideverteiler, nicht den Preisjäger zu machen. Es ist das kein Nutzen, bei dem das Sittlichgute mehr Einbuße als das Nützliche Zuwachs erhält.


VII. Kapitel

Die Fremden sollen zur Zeit einer Hungersnot nicht aus der Stadt verwiesen werden (45). Richtiger handelte auf den Rat eines alten Stadtbeamten (46—47) in dieser Beziehung Mailand (48) als Rom, das durch solche Ausweisung ebensoviel Unrecht wie Schaden stiftete (49—51). Nur das Gute ist zugleich nützlich (52).

  Aber auch denen darf man keineswegs beipflichten, welche den Fremden den Aufenthalt in der Stadt verbieten wollen[218], sie in dem Augenblick, da sie ihnen helfen sollten, fortjagen, ihnen den Anteil an der gemeinsamen Mutter (Erde) versagen, deren Erzeugnisse, die für alle hervorgebracht sind, verweigern, die bereits eingegangene Lebensgemeinschaft mit ihnen abbrechen, in der Zeit der Not mit ihnen den Unterhalt nicht teilen wollen, nachdem sie im gemeinschaftlichen Rechtsverkehr mit ihnen gestanden. Die wilden Tiere stoßen ihresgleichen nicht aus: und der Mensch will den Menschen ausstoßen! Tiere und Bestien betrachten die Nahrung, welche die Erde darbietet, als allen gemeinsam; sie sind auch hilfreich gegen ihresgleichen: der Mensch will feindselig sein, dem nichts Menschliches fremd sein sollte!

  Wieviel richtiger handelte jener Stadtpräfekt! Da er schon bejahrt war und die Bürgerschaft Hungersnot litt und das Volk, wie es unter solchen Umständen zu gehen pflegt, verlangte, es sollten die Fremden aus der Stadt ausgewiesen werden, berief er, da die Stadtverwaltung vor allen anderen gerade seiner Obsorge anvertraut war, die angesehenen und wohlhabenderen Männer zusammen und forderte sie auf, zum allgemeinen Besten Rats zu pflegen. Dabei äußerte er, wie grausam es sei, die Fremden auszuweisen; wie unmenschlich, einem Sterbenden die Nahrung vorzuenthalten. Keinen Hund lassen wir ohne Futter vor unserem Tische, den Menschen stoßen wir hinaus. Wie zwecklos ferner gehen ganze Volksmassen als Opfer der unseligen Hungerpest der Welt verloren! Wie viele gehen der Stadt verloren, die derselben, sei es für die Lebensmittelbeschaffung, sei es für den Handelsmarkt, ihre helfenden Dienste zu leihen pflegten! Niemand ist mit dem Hunger anderer geholfen. Er kann den Tag möglichst lange fristen, der Not nicht steuern. Im Gegenteil, wenn so viele Landbebauer mit Tod abgehen, so viele Ackersleute dahinsterben, werden auch die Getreidemittel für die Zukunft dahinschwinden. Wir weisen daher nur jene aus, die uns den Lebensunterhalt zu beschaffen pflegen. Jene wollen wir in der Stunde der Not nicht nähren, die uns jederzeit mit Nahrung versehen haben? Wieviel wird uns selbst noch in dieser Zeit von ihnen geboten! „Nicht vom Brote allein lebt der Mensch“ (Dt 8,3MT 4,4

  Doch wir fürchten hierdurch die Not zu vermehren. Vor allem findet Barmherzigkeit nimmer leere, sondern hilfreiche Hände. Sodann wollen wir die Getreidemittel, die für dieselben aufzuwenden sind, durch eine Sammlung aufbringen, mit Gold erstehen. Oder müssen wir nicht offenbar, wenn jene Landbebauer verschwinden, andere um Geld dingen? Wieviel billiger kommt es, einen Landbebauer zu ernähren als zu dingen! Wo dann Ersatz hernehmen? Wo den neuen Ackersmann auftreiben? Wenn du ihn auftreibst, nimm hinzu, daß du einen (des Feldbaues) Unkundigen, der eine andere Beschäftigung gewohnt war, wohl der Zahl, nicht der Arbeit nach als Ersatz rechnen kannst.

  Wozu noch mehr? Man sammelte Gold und brachte Getreide zusammen. So griff er den Vorrat der Stadt nicht an und versorgte die Auswärtigen mit Nahrung. Wie sehr empfahl dies den so heiligmäßigen Greis bei Gott! Wieviel Ruhm trug es ihm bei den Menschen ein! Das war ein in Wahrheit bewährter Großer, der wirklich auf die Bevölkerung der ganzen Provinz zeigen und zum Kaiser sprechen konnte: Diese alle habe ich dir erhalten; sie verdanken ihr Leben deinen Ratsherren; deine Behörde hat sie dem Tode entrissen.

  Wie unvergleichlich zweckmäßiger war dies gegenüber dem, was jüngst zu Rom geschah! Leute, die bereits den größten Teil ihres Lebens dortselbst zugebracht hatten, jagte man aus der so weitausgedehnten Stadt. Mit Tränen in den Augen zogen sie mit ihren Kindern fort, deren Verbannung man beweinte, weil sie als Bürger nicht davon hätten betroffen werden sollen. Zwischen so vielen wurden die Bande der Verwandtschaft zerschnitten, die Bande der Schwägerschaft zerrissen. Und doch hatte ein fruchtbares Jahr gelächelt. Die Stadt allein nur bedurfte der Getreideeinfuhr. Es hätte geholfen werden können, wenn man von den Bewohnern Italiens, deren Kinder man vertrieb, Getreide angefordert hätte. Eine größere Schmach kann es nicht geben: einen wie einen Landfremden forttreiben und gleichsam den eigenen Bruder hinausstoßen! Wie darfst du ihn fortjagen, der sich vom Seinigen nährt? Wie darfst du ihn fortjagen, der dich ernährt? Den Sklaven behältst du, den Bruder stößt du fort. Das Getreide nimmst du entgegen, Mitgefühl bringst du nicht entgegen. Den Lebensunterhalt erpreßt du, Gnade läßt du nicht ergehen.

  Wie abscheulich, wie nutzlos ist das! Wie könnte denn auch etwas von Nutzen sein, was sich nicht geziemt? Um wie viele Hilfsmittel ward Rom unlängst betrogen, die ihm von Seiten derer zuzufließen pflegten, die ihm einverleibt waren! Es stand ebenso in seiner Macht, dieselben nicht auszuweisen, wie günstige Winde und die erhoffte Schiffszufuhr abzuwarten und so der Hungersnot zu entgehen.

  Wie gut und nützlich war hingegen das oben erwähnte Vorgehen! Was wäre denn auch so geziemend und gut, als daß den Dürftigen durch die Beiträge der Reichen geholfen, den Hungernden der Lebensbedarf gereicht werde und keinem es an Nahrung fehle? Was wäre so nützlich, als daß dem Felde der Bebauer erhalten bleibe und das Landvolk nicht aussterbe?

  Das Sittlichgute ist sonach nützlich und das Nützliche sittlichgut; und umgekehrt das Schädliche ungeziemend, das Unziemliche aber zugleich schädlich.


VIII. Kapitel

Auch nach Gottes Urteil ist nur das Sittlichgute nützlich, das Gegenteil schädlich und sträflich, wie aus der Geschichte Josues und Kalebs ersichtlich ist (53—56).

  Wie hätten unsere Altvordern je der Knechtschaft entrinnen können, wenn sie nicht die Dienstbarkeit gegen den König der Ägypter nicht bloß für schändlich, sondern auch für schädlich gehalten hätten? (Vgl. Exod. Ex 12,34 ff.)

  Desgleichen meldeten Jesus und Kaleb, die zur Erkundung des Landes ausgesendet waren, das Land sei wohl fruchtbar, werde aber von sehr wilden Volksstämmen bewohnt. Aus Angst vor dem Kriege entmutigt, wollte das Volk auf den Besitz jenes Landes verzichten. Die ausgesandten Kundschafter Jesus und Kaleb versicherten überzeugend, das Land sei nutzbringend und hielten es für ungeziemend, vor den Volksstämmen zurückzuweichen. Sie zogen es vor, sich lieber steinigen zu lassen — damit drohte das Volk — als vom Guten zu lassen. Die anderen rieten ab. Das Volk weigerte sich. Es meinte, es werde mit gar gefährlichen und grimmigen Völkern zum Kriege kommen; es müsse im Kampfe fallen; ihre Weiber und Kinder würden ein Opfer des Raubes werden ( Deut. Dt 1,22 ff. ).

  Da entbrannte des Herrn Zorn, so daß er alle dem Untergange weihen wollte. Doch auf des Moses Bitte milderte er das Urteil und verschob die Rache. Er hielt dafür, die Treulosen seien hinlänglich gestraft, auch wenn er einstweilen Schonung übe und die Ungläubigen nicht schlage. Doch zu jenem Lande, das sie verschmäht hatten, sollten sie ob ihres Unglaubens nicht gelangen; wohl aber sollten die Kinder und Weiber, die nicht gemurrt hatten und teils ihres Geschlechtes, teils ihres Alters wegen Nachsicht verdienten, das verheißene Erbe jenes Landes empfangen. So sanken denn auch alle, die seit zwanzig Jahren und darüber in der Wüste waren, leiblich dahin. Für die anderen aber ward die Strafe verschoben. Jene hingegen, die mit Jesus hinaufzogen und abraten zu sollen glaubten, starben, von unseliger Strafe getroffen, auf der Stelle. Jesus und Kaleb dagegen zogen mit dem Alter, bezw. dem Geschlechte, das keine Schuld traf, ins Land der Verheißung ein (Nb 14,11 ff. Deut. Dt 1,34 ff.).

  Der bessere Teil zog sonach die Ehre dem Wohle vor, der schlimmere das Wohl der Ehrenhaftigkeit. Gottes Urteil aber gab denen recht, die der Überzeugung lebten, daß das Tugendhafte dem Nützlichen vorgehe; jene hingegen verurteilte es, bei denen das ausschlaggebend war, was mehr dem Wohle als der Tugendhaftigkeit dienlich zu sein schien.


IX. Kapitel

Die Kleriker sollen sich vor Habsucht (57), insbesonders vor Erbschleicherei hüten (58) und Vermittlungsdienste in Geldsachen ablehnen (59). Trotz Unrecht von seiten des Nächsten ist an der Norm des Sittlichguten gegen ihn festzuhalten. Beispiel Davids (60—62) und Naboths (63—65).

  Das Häßlichste ist, wenn man keine Liebe zur Tugendhaftigkeit hat, gleichsam geschäftsmäßig sein Sinnen und Trachten voll Unruhe und Sorge auf niederen Erwerb aus gemeinem Handel richtet, im Herzen von Habsucht entbrennt, Tag und Nacht nach der Schädigung fremden Vermögens lechzt, seinen Geist nicht zum Glanz der Tugendhaftigkeit erhebt, seinen Sinn nicht auf die Schönheit wahren Lobes lenkt.

  Daher die Erbschleichereien unter der Maske der Selbstlosigkeit und der Vornehmheit, doch im Widerspruch mit der christlichen Gesinnung. Denn alles, was künstlich herausgelockt und trügerisch ergattert wird, mangelt des Verdienstes der Ehrlichkeit. Selbst an denen, die keinen Kirchendienst übernommen haben, hält man Erbschleicherei für ungehörig[219]. Wer an seinem Lebensende steht, soll selbst die Entscheidung haben und frei nach Gutdünken seine letztwilligen Verfügungen treffen, indem er nachher nichts mehr gut machen kann. Wäre es doch sittlich unstatthaft, anderen die bezüglichen Beträge, die ihnen gebühren oder für sie ausgeworfen sind, zu hintertreiben; geziemt es doch einem Priester oder Kirchendiener, womöglich jedermann zu nützen, niemand zu schaden.

  So empfiehlt es sich denn auch im Fall, daß man dem einen nicht nützen kann, ohne dem anderen zu schaden, lieber keinem zu helfen, als einem wehe zu tun. Es kann eben darum auch nicht Sache des Priesters sein, in Geldsachen die Mittlerrolle zu spielen. Es läßt sich nämlich dabei nicht vermeiden, daß häufig der Teil, der den kürzeren zieht, glaubt, er sei durch die Schuld des Mittlers unterlegen, und den Beleidigten spielt. Pflicht des Priesters ist es, keinem schaden, allen nützen zu wollen: das Können aber steht nur bei Gott. In einer Sache, in der das Leben auf dem Spiele steht, einem schaden, dem man in der Gefahr zu helfen verpflichtet ist, geht nicht ohne schwere Sünde ab. Dagegen in einer Geldsache sich Haß zuziehen wollen, wäre Unverstand. Für das Leben des Menschen sind schwere Opfer wohl am Platz; selbst einer Gefahr dafür sich zu unterziehen, ist ehrenvoll. An der eben aufgestellten Norm soll denn im Priesteramte festgehalten werden. Der Priester schade niemand, selbst wenn er gereizt und durch irgendein Unrecht gekränkt wurde! Ein edler Mensch, der da gesprochen hat: „Wenn ich denen, die mir Böses vergolten, wieder vergolten habe“ (Ps 7,5). Welcher Ruhm wäre es denn, einem nichts zuleid zu tun, der auch uns nichts zuleid getan hat? (Vgl. Matth. Mt 5,46 f.) Das aber ist Tugend, wenn man als Beleidigter verzeiht.

  Wie tugendhaft, daß David des Königs, seines Feindes, obwohl er ihm schaden konnte, lieber schonte! () Wie vorteilhaft aber auch, weil es dem Nachfolger zugute kam, daß alle ihrem König Treue wahren, nicht anmaßend ihre Hand nach der Herrschaft ausstrecken, sondern sie achten lernten! So ward dem Sittlichguten der Vorrang vor dem Nützlichen, dem Nützlichen der Platz nach dem Sittlichguten eingeräumt.

  Nicht genug, daß er desselben schonte. Er ging noch weiter und betrauerte und beweinte ihn bitterlich, da er im Kriege gefallen war, und klagte: „Ihr Berge von Gelboe, weder Tau noch Regen falle auf euch! Ihr Todesberge! Denn dort ward weggenommen die Schutzwehr der Helden, die Schutzwehr Sauls. Nicht mit Öl und dem Blute der Verwundeten und aus dem Fett der Kriegführenden wurde er gesalbt. Der Pfeil Jonathas kehrte nicht zurück und das Schwert Sauls nicht leer wieder. Saul und Jonathas, die Lieblichen und Liebsten, die Unzertrennlichen im Leben, wurden auch im Tode nicht getrennt. Leichter wie Adler, stärker wie Löwen waren sie. Töchter Israels, weinet über Saul, der euch zu eurem Schmuck hinzu mit Purpur kleidete; der eure Gewänder mit Gold besetzte! Wie fielen doch die Helden inmitten der Schlacht! Jonathas ward tödlich verwundet. Ich trauere über dich, Bruder Jonathas, ein Bild mir von unvergleichlicher Schönheit! Wie Frauenliebe war deine Liebe mir zuteil. Wie fielen die Helden und sind zunichte die Waffen, die begehrenswerten!“ (2R 1,21 ff.)

  Welche Mutter würde ihr einziges Kind so beweinen, wie dieser seinen Feind beweinte? Wer würde einem Gönner so hohes Lob spenden, wie dieser es dem Gegner spendete, der nach seinem Haupte fahndete? Wie kindlich trauerte, wie innig seufzte er! Die Berge vertrockneten auf den Fluch des Propheten, und Gottes Kraft erfüllte des Fluchenden Spruch. So vollzogen die Elemente die Strafe für das Trauerspiel des Königsmordes.

  Was aber soll man vom heiligen Naboth sagen? Was anders war die Ursache seines Todes als das Sittlichgute, das er im Auge behielt? Denn als der König von ihm den Weinberg forderte und Geld dafür anbot, wies er den Kaufpreis als eine Entehrung des väterlichen Erbes zurück und wollte einer solchen Schmach lieber mit dem Tode aus dem Wege gehen. „Das“, sprach er, „geschehe mir nicht vom Herrn, daß ich dir das Erbe meiner Väter gebe“ (3 Kön. 21, 1 ff.), das heißt: so große Schmach komme nicht über mich; Gott verhüte die Erpressung einer so großen Schandtat! Nicht von den Weinstöcken ist die Rede; denn nicht an den Weinstöcken liegt Gott und nicht an einem Stück Landes. Für das Recht der Väter tritt vielmehr sein Wort ein. Er hätte ja einen anderen Weinberg von denen des Königs nehmen und so dessen Freund bleiben können. In solcher Freundschaft pflegt man keinen geringen irdischen Gewinn zu erblicken. Doch was schändlich ist, so sagte er sich, ist offenbar nicht nutzbringend. Und er wollte lieber in Ehrenhaftigkeit Gefahr laufen, als einen Nutzen mit Schande erzielen. Den Nutzen im gewöhnlichen Sinn meine ich, nicht jenen, der zugleich den Vorzug des Sittlichguten in sich schließt.

  er König seinerseits hätte ja auch Erpressung üben können, aber er hielt sie für schamlos (3 Kön. 21, 2.). Aber auch den Getöteten bedauerte er (Vgl. ebd. 27.). Ebenso ließ der Herr ankündigen, daß sein unmenschliches Weib, das, des Sittlichguten vergessend, schändlichem Gewinn den Vorzug gab, die gebührende Strafe treffen sollte (Ebd. 23. Vgl. 2R 9,33 ff.).

  Schändlich ist jeglicher Trug. So ist denn selbst im Kleinen falsches Gewicht und trügerisches Maß verabscheuungswürdig. Wenn man aber den Trug auf dem Verkaufsmarkte, bei Handelsgeschäften mit Strafe belegt, kann er im Tugenddienste als unsträflich erscheinen? Salomo ruft aus: „Zu großes und kleines Gewicht und doppeltes Maß sind unrein vor Gott“ (Pr 20,10). Auch im vorausgehenden warnte er: „Falsche Wage ist dem Herrn ein Greuel, das rechte Gewicht aber ist ihm genehm“ (Ebd. 11, 1.).


X. Kapitel

Wie in allem, so ist auch bei Verträgen Betrug unerlaubt und strafbar. Etwaige Mängel des Kaufs- oder Vertragsgegenstandes müssen aufgedeckt werden (66), eine Forderung nicht sowohl der Juristen, als vielmehr der Patriarchen. Beispiel Josues und der Gabaoniter (67—69).

  In allem geziemt sich Treue, berührt Gerechtigkeit angenehm, Billigkeit wohltuend. Was soll ich aber von den Verträgen überhaupt und vom Güteraufkauf, oder von den Vergleichen und Abmachungen im besonderen sprechen? Gibt es nicht Bestimmungen, wonach böswilliger Trug zu unterbleiben und derjenige, welcher auf Trug ertappt wird, doppelte Strafe zu gewärtigen hat? Überall ist hier die Rücksicht auf das Sittlichgute ausschlaggebend, das den Trug ausschließt, die Hintergehung verpönt. Mit Recht sprach daher der Prophet David mit den Worten: „Und er tat dem Nächsten nichts Böses an“ (Ps 14,3), einen allgemein gültigen Grundsatz aus. Nicht allein also bei Verträgen, bei welchen vorschriftsmäßig auch die Mängel an den Verkaufsgegenständen angegeben werden müssen und welche, wenn sie der Verkäufer nicht angibt, selbst im Fall, daß er die Gegenstände bereits dem Käufer rechtlich gutschreiben ließ, wegen trügerischen Handelns null und nichtig sind, sondern überhaupt bei allem ist Trug zu meiden, der einfache Tatbestand aufzudecken, die Wahrheit anzugeben[220].

  Diese alte Rechtsbestimmung über den Trug stammt aber nicht von den Juristen, sondern ist ein Grundsatz der Patriarchen. Klar und deutlich sprach das die göttliche Schrift in jenem alttestamentlichen Buch aus, das den Titel Jesus Nave (Josue) führt. Denn als die Kunde zu den Völkern drang, beim Durchzug der Hebräer sei das Meer vertrocknet (Ex 14,16 ff.), aus dem Felsen sei Wasser geströmt (Ebd. 17, 5 ff.), so vielen Tausenden des Volkes werde täglich in Fülle Nahrung vom Himmel geboten (Ebd. 16, 4 ff.), die Mauern Jerichos seien auf den heiligen Posaunenschall, auf den Anlauf und das Geschrei des Volkes zusammengestürzt (Jos 6,20), der König der Gethäer ferner sei besiegt und bis zum Abend ans Holz gehängt worden (Ebd. 10, 26.): da fürchteten die Gabaoniter die starke Hand (Josues), nahten listig und stellten sich, als seien sie aus einem fernen Lande und hätten auf der langen Wanderung die Schuhe zerrissen, die Oberkleider zerschlissen, wobei sie die Stellen zeigten, die deren Abtragung verrieten; der Grund ihrer so großen Anstrengung aber sei ihr sehnlicher Wunsch, sich des Friedens mit den Hebräern würdig zu erweisen und Freundschaft mit ihnen zu schließen. Und sie begannen Jesus Nave um den Abschluß eines Bündnisses mit sich zu bitten. Und weil dieser des Landes noch unkundig war und dessen Bewohner nicht kannte, durchschaute er ihr listiges Vorgehen nicht, fragte auch den Herrn nicht, sondern schenkte ihnen voreilig Glauben (Ebd. 9, 1 ff.).

  So heilig war zu jenen Zeiten die Treue, daß man es nicht für möglich hielt, daß es Leute gebe, die betrügen. Wer möchte das an den Heiligen tadeln, wenn sie andere nach der eigenen Gesinnung beurteilen und, weil sie selbst Freunde der Wahrheit sind, nicht glauben, daß jemand lüge; nicht wissen, was betrügen heißt; gern glauben, was sie selbst sind, und was sie nicht sind, nicht einmal argwöhnen können? Daher Salomos Ausspruch: „Der Unschuldige glaubt jedem Wort“ (Pr 14,15). Ihre Leichtgläubigkeit ist nicht zu tadeln, wohl aber ihre Güte zu loben. Vom Schadenzufügen nichts wissen, das heißt ein Schuldloser sein. Und wird er auch von jemand hintergangen, urteilt er doch gut über alle, weil er allen Glaubwürdigkeit zutraut.

  Durch diesen seinen frommen Sinn zur Vertrauensseligkeit verleitet, ging nun Jesus Nave den Bund ein, schloß Frieden und machte das Bündnis rechtskräftig. Sogleich nach der Ankunft in deren Lande jedoch entdeckte man die Täuschung, daß sie sich fälschlich für Fremdlinge ausgegeben hatten, während sie benachbart waren, und das Vätervolk begann über seine Überlistung zu ergrimmen. Jesus aber glaubte gleichwohl den Frieden, den er gewährt hatte, nicht wieder brechen zu sollen, weil er durch einen heiligen Eid bekräftigt war. Er wollte nicht, während er fremde Treulosigkeit der Schuld zieh, selbst treubrüchig werden. Doch strafte er sie mit der Auflegung einer niedrigeren Dienstleistung. Das Urteil fiel milder aus, hatte aber eine nachhaltigere Wirkung. Die Strafe für die vor alters begangene Hinterlist dauert nämlich fort in den Verrichtungen, in der erblichen Dienstleistung, die ihnen bis zum heutigen Tage auferlegt ist[221].


XI. Kapitel

 Jede Art des Truges ist verpönt. Abschreckende Beispiele aus dem Leben (70), aus der profanen (71—73) wie biblischen Geschichte (74). Den heuchlerischen Betrüger vergleicht Christus mit einem Fuchs, David mit einem Schermesser (75).

  Ich will nicht Notiz nehmen vom Fingerschnalzen und Tanzen eines nackt auftretenden Erbfolgers beim Antritt von Erbschaften: es ist ja männiglich bekannt[222]; nicht von den zubereiteten Fischmengen aus einem erdichteten Fischfange, wodurch die Kauflust geködert werden sollte. Warum auch ließ sich der Käufer als Genußmensch und Feinschmecker ertappen, um solchem Trug zum Opfer zu fallen?

  Wofür soll ich von jenem lieblichen und stillen Aufenthalt in Syrakus und der Hinterlist jenes Siziliers sprechen, der einen Fremden[223] antraf und denselben, als er merkte, daß er Lust zum Ankauf eines Parkes habe, zur Tafel in seinen Park lud; daß der Geladene zusagte und am nächsten Tage auch erschien; daß er dort eine große Menge Fische vorfand, eine mit reichlichen und ausgesuchten Speisen besetzte Tafel; daß vor den Augen der Tafelrunde, vor den Gartenanlagen, wo nie zuvor Netze ausgeworfen lagen, Fischer aufgestellt waren? Jeder brachte um die Wette seinen Fang den Schmausenden. Haufenweise lagen die Fische auf dem Tische, bei ihrem Aufhüpfen eine Augenweide für die Zecher. Der Gast wunderte sich über die Unmenge Fische und die Unzahl Kähne. Auf seine Frage erhielt er die Antwort, es sei dort eine Bucht. Des süßen Wassers wegen kämen zahllose Fische dorthin. Kurz, er reizte den Gast, ihm den Park — abzupressen: er ließ sich nötigen, obschon er dessen Verkauf wünschte, und nahm (anscheinend) schweren Herzens den Kaufpreis entgegen.

  Am folgenden Tage kommt nun der Käufer in Begleitung von Freunden zu dem Parke. Er findet kein Fahrzeug. Auf seine Erkundigung, ob etwa die Fischer an diesem Tage Feiertag hätten, erhält er die Antwort: nein. Auch sei hier nie außer gestern gefischt worden. Welchen Grund zur Beschwerde wegen Übervorteilung hätte der Lebemensch, der so schimpflich nach Genüssen haschte, gehabt? Wer den Nächsten der Sünde zeiht, muß selbst von Sünde frei sein. Ich will darum solche Flausen nicht vor das Forum des kirchlichen Gerichtes rufen, das ganz allgemein jedes Haschen nach schändlichem Gewinn verurteilt und mit kurzen Worten leichtfertiges und hinterlistiges Gebaren ausschließt.

  Was soll ich denn von einem sagen, der auf Grund eines Testamentes, das er, wenn auch von anderen gefertigt, doch als gefälscht erkennt, Anspruch auf eine Erbschaft oder ein Vermächtnis erhebt und aus fremdem Verbrechen Nutzen zu ziehen sucht? Bestrafen doch sogar die staatlichen Gesetze einen, der sich wissentlich einer falschen Urkunde bedient, als Verbrecher[224]. Die Norm der Gerechtigkeit aber ist bekannt: Es ziemt dem Guten nicht, von der Wahrheit abzuweichen, jemand ungerechten Schaden zuzufügen, irgendwelche Hinterlist damit zu verbinden oder Trug zu ersinnen.

  Was ist bekannter als das Verhalten des Ananias? Er behielt vom Erlös seines Ackers, den er selbst veräußert hatte, trügerisch etwas zurück und legte einen Teilbetrag des Erlöses für die volle Summe den Aposteln zu Füßen. Es war ihm doch freigestellt, auch nichts anzubieten, und er hätte dies ohne Trug tun können. Aber weil er solchen unterlaufen ließ, trug er keinen Dank für seine Freigebigkeit davon, sondern erntete vielmehr Strafe für seine Falschheit (Ac 6,1 ff.).

  Auch der Herr wies im Evangelium jene, die in Arglist ihm nahten, mit den Worten ab: „Die Füchse haben Gruben“ (Mt 8,20); er befiehlt uns nämlich in Einfalt und Unschuld des Herzens zu leben. Desgleichen rügt David: „Wie ein scharfes Schermesser übtest du Trug“ (Ps 51,4). Er beschuldigt den Verräter der Bosheit, insofern dieses Instrument wohl zur Verschönerung des Menschen dient, so manchmal aber auch zur Verwundung. Wenn daher jemand nach dem Beispiele des Verräters Doeg (1R 22,9 ff.) Wohlwollen zur Schau trägt und dabei den Trugfaden knüpft, um einen, den er schützen sollte, dem Tode auszuliefern, so paßt auf ihn der Vergleich mit jenem Instrumente. Es verletzt gern bei vorhandener Trunkenheit sowie bei zitternder Hand. So beschwor jener vom Wein der Schlechtigkeit trunkene Mensch mit seiner unseligen verräterischen Anzeige für den Priester Abimelech den Tod herauf, weil derselbe einen Propheten (David) gastlich aufgenommen hatte, den der König, vom Stachel des Hasses gereizt, verfolgte (Ebd. 21, l ff.).


XII. Kapitel

Ein unehrenhaftes Versprechen (76), selbst in Eidesform, bindet nicht. So hatte der Schwur des Herodes (77—78), das Gelübde des Jephte keine bindende Kraft (79). Herrlicher als der Pythagoreer Dämon sein Versprechen (80), löste Jephtes Tochter des Vaters Gelübde ein (81).

  Rein und aufrichtig soll die Gesinnung sein. Schlicht sei darum die Rede, die einer vorbringt; in Heiligkeit trage er sein Gefäß (1Th 4,4); er täusche den Bruder nicht mit listigen Worten und mache kein unehrenhaftes Versprechen. Und wenn er eines gemacht hat, wäre es erträglicher, es nicht zu halten, als etwas Schändliches zu tun[225].

  Häufig bindet sich gar mancher selbst durch einen Eidschwur. Und obschon er merkt, das Versprechen sollte nicht gegeben worden sein, löst er gleichwohl mit Rücksicht auf den Eid das Gelübde ein. Das haben wir oben in unserer Schrift[226] beispielsweise von Herodes gezeigt, welcher der Tänzerin ein schimpfliches Versprechen machte und es grausam einlöste. Schimpflich war es, ein Reich für einen Tanz zu versprechen; grausam, um der Heiligkeit des Eides willen den Tod eines Propheten als Geschenk zu bieten. Wie unvergleichlich erträglicher wäre ein Meineid gewesen als ein solcher Eid, wenn man das überhaupt Meineid hätte nennen können, was ein Trunkener bei Wein beschworen, was ein Entmannter beim Reigen der Tanzenden versprochen hatte. Man bringt auf einer Schüssel das Haupt des Propheten herein: und das hielt man für Eidestreue, was nur Ausfluß von Raserei war.

  Nimmer auch könnte ich zum Glauben bewogen werden, der Feldherr Jephte habe nicht unvorsichtig sein Gelübde gemacht, Gott zu opfern, was immer ihm bei seiner Rückkehr auf der Schwelle seines Hauses begegnen würde. Bereute er doch selbst sein Gelübde, da ihm seine Tochter begegnet war[227]. So zerriß er denn seine Kleider und klagte: „Wehe mir, o Tochter, du hast mich verwirrt, zum Stachel des Schmerzes bist du mir geworden“ (Richt. 11, 35.). Obschon er aus religiöser Scheu und Angst das bittere Opfer der schmerzlichen Einlösung (des Gelübdes) brachte, hinterließ er doch selbst für die Folgezeit die Anordnung einer jährlichen Trauerfeier. Ein hartes Gelübde, noch bitterer dessen Erfüllung. Wie mußte jener selbst es bedauern, der es machte! So wurde denn folgende Vorschrift und Anordnung für ewige Zeiten erlassen: „Es ergingen sich“, so lautete sie, „die Töchter des Volkes Israel vier Tage im Jahre in Trauer über die Tochter des Galaditers Jephte“ (Ebd. 39 f.). Ich kann den Mann nicht der Schuld zeihen, der sich zur Erfüllung seines Gelübdes verpflichtet hielt. Bedauerlich aber bleibt eine Pflicht, die mit Kindesmord eingelöst wird.

  Besser kein Gelöbnis als ein Gelöbnis, dessen Erfüllung derjenige, dem es gemacht wird, nicht wünschen kann. So haben wir denn an Isaak ein Beispiel hierfür, indem der Herr statt seiner das Opfer eines Widders sich ausbedingte (Gn 22,11 ff.). Nicht immer darf jedwedes Versprechen eingelöst werden. So ändert auch der Herr selbst häufig sein Urteil, wie die Schrift bezeugt. Auch in jenem Buche, das den Titel Numeri trägt, hatte er sich vorgenommen, über das Volk Tod und Untergang zu verhängen, ließ sich aber nachher auf Bitten des Moses mit seinem Volke wieder versöhnen (Nb 14,11 ff.). Und wiederum sprach er zu Moses und Aaron: „Sondert euch ab von dieser Gemeine, und ich will sie mitsammen vertilgen“ (Ebd. 16, 21). Während sie sich von der Rotte entfernten, teilte sich plötzlich die Erde mit tiefem Spalt und verschlang den Dathan und Abiron, die gottlosen (Ebd. 31 ff.).

  Herrlicher und älter ist das obige Beispiel von der Tochter Jephtes als das in philosophischen Kreisen gerühmte von den zwei Pythagoreern[228]. Der eine von ihnen nämlich bat, als er vom Tyrannen Dionysius zum Tode verurteilt war, am festgesetzten Todestage um die Erlaubnis, nach Hause gehen zu dürfen, um für die Seinigen noch Sorge zu treffen[229]. Um nun die Glaubwürdigkeit seiner Rückkehr außer Zweifel zu setzen, stellte er einen Todesbürgen mit dem Anerbieten, daß, falls er selbst zum bestimmten Termin nicht da wäre, sein Bürge die Verpflichtung anerkenne, für ihn zu sterben. Der bestellte Bürge lehnte auch die Bürgschaft, wie sie lautete, nicht ab und harrte standhaft des Tages der Hinrichtung. Der eine Freund kannte kein Sichweigern, der andere kehrte auf den Tag zurück. Das war etwas so Wundervolles, daß der Tyrann sie zu Freunden annahm, deren Leben er eben aufs äußerste gefährdete.

  Was nun an angesehenen und gebildeten Männern voll des Staunenswerten ist, das findet sich noch viel großartiger und viel glänzender bei der Jungfrau eingelöst, die dem seufzenden Vater zuredete: „Tu mit mir gemäß dem Worte, das aus deinem Munde kam!“ (Richt 11, 36.) Doch einen Zeitraum von zwei Monaten erbat sie sich, um mit den Altersgenossinnen gemeinschaftlich auf den Bergen zu weilen: sie sollten mit liebevoller Teilnahme ihre dem Tode geweihte Jungfrauschaft beweinen. Weder rührten die Tränen der Genossinnen das Mädchen, noch stimmte deren Schmerz es um, noch ließ deren Seufzen es zaudern. Des Tages vergaß sie nicht, die Stunde entging ihr nicht: da kehrte sie zum Vater zurück, kehrte gleichsam zur Gelübdeerfüllung wieder und drang aus eigener Entschließung in den Zögernden und bewirkte kraft ihres freien Entschlusses, daß die übereilte Tat seines frevlen Beginnens zu einem Opfer der Frömmigkeit wurde (Ebd. 37 ff.).



(De Officiis) - VI. Kapitel