Generalaudienzen 2005-2013 51005
51005
Ps 135,13-21
13 Herr, dein Name währt ewig, das Gedenken an dich, Herr, dauert von Geschlecht zu Geschlecht.
14 Denn der Herr verschafft Recht seinem Volk; er hat mit seinen Knechten Mitleid.
15 Die Götzen der Heiden sind nur Silber und Gold, ein Machwerk von Menschenhand.
16 Sie haben einen Mund und reden nicht, Augen und sehen nicht;
17 sie haben Ohren und hören nicht; auch ist kein Hauch in ihrem Mund.
18 Die sie gemacht haben, sollen ihrem Machwerk gleichen, alle, die den Götzen vertrauen.
19 Haus Israel, preise den Herrn! Haus Aaron, preise den Herrn!
20 Haus Levi, preise den Herrn! Alle, die ihr den Herrn fürchtet, preist den Herrn!
21 Gepriesen sei der Herr auf Zion, er, der thront in Jerusalem. Halleluja!
Liebe Brüder und Schwestern!
1. Der Psalm 135, ein österlich klingendes Lied, wird uns von der Liturgie der Vesper in zwei Teilen angeboten. Soeben haben wir den zweiten Teil (vgl. V. 13-21) gehört, der vom Halleluja besiegelt wird, dem Lobgesang an den Herrn, mit dem der Psalm begonnen hat.
Während der Psalmist im ersten Teil des Hymnus an das Ereignis des Exodus erinnert, den Mittelpunkt der Paschafeier Israels, stellt er jetzt zwei religiöse Sichtweisen einander deutlich gegenüber. Auf der einen Seite steht der lebendige und personale Gott, der die Mitte des wahren Glaubens ist (vgl. V. 13-14). Seine Gegenwart ist wirksam und heilbringend. Der Herr ist keine unbewegliche, abwesende Wirklichkeit, sondern eine lebendige Person, er »führt« seine Gläubigen, er »hat Mitleid« mit ihnen und stützt sie durch seine Macht und Liebe.
2. Andererseits kommt der Götzendienst zum Vorschein (vgl. V. 15-18), Ausdruck einer fehlgeleiteten und trügerischen Religiosität. In der Tat ist der Götze nichts anderes als »ein Machwerk von Menschenhand«, ein Produkt der menschlichen Wünsche; er ist unfähig, die kreatürlichen Grenzen zu überschreiten. Er hat zwar die Form eines Menschen mit Mund, Augen, Ohren, Kehle, aber er ist unfähig, leblos, wie es eben bei einer unbelebten Statue der Fall ist (vgl. Ps 115,4-8).
Das Schicksal des Menschen, der diese toten Wirklichkeiten anbetet, besteht darin, ihnen ähnlich, machtlos, zerbrechlich, leblos zu werden. Bei dieser Beschreibung des Götzendienstes als falscher Religion kommt klar die ewige Versuchung des Menschen zum Ausdruck, im »Machwerk von Menschenhand« Heil zu suchen, indem er seine Hoffnungen auf Reichtum, Macht, Erfolg und Besitz setzt. Leider geschieht mit dem, der sich so verhält, der also Reichtum und Besitz anbetet, das, was schon der Prophet Jesaja deutlich beschrieben hat: »Wer Asche hütet, den hat sein Herz verführt und betrogen. Er wird sein Leben nicht retten und wird nicht sagen: Ich halte ja nur ein Trugbild in meiner rechten Hand« (Is 44,20).
3. Nach dieser Betrachtung über die wahre und die falsche Religion, über den echten Glauben an den Herrn des Universums und der Geschichte und über den Götzendienst endet Psalm 135 mit einem liturgischen Lobpreis (vgl. V. 19-21), in dem eine Reihe von Personen auftreten, die bei der Feier im Tempel von Zion mitwirken (vgl. Ps 115,9-13).
Von der ganzen Gemeinde, die im Tempel versammelt ist, steigt zu Gott, dem Schöpfer der Welt und Retter seines Volkes in der Geschichte, ein vielstimmiger Lobpreis auf, der in der Vielfalt der Stimmen und Einfachheit des Glaubens Ausdruck findet.
Die Liturgie ist der bevorzugte Ort, um das Wort Gottes zu hören, das die Heilstaten des Herrn vergegenwärtigt, aber sie ist auch der Bereich, in dem das gemeinschaftliche Gebet aufsteigt, das die göttliche Liebe lobpreist. Gott und Mensch umarmen einander in einer heilbringenden Begegnung, die gerade in der Feier der Liturgie ihre Vollendung findet. Wir könnten sagen, daß dies gleichsam eine Definition der Liturgie ist: sie verwirklicht eine heilbringende Umarmung zwischen Gott und Mensch.
4. In seinem Kommentar über diese Psalmverse zu den Götzen und zu der Ähnlichkeit, die all jene mit ihnen haben, die ihnen vertrauen (vgl. Ps 135,15-18), schreibt Augustinus: »In der Tat - glaubt mir, Brüder - macht sich in ihnen eine gewisse Ähnlichkeit mit ihren Götzen bemerkbar, zwar nicht in ihrem Körper, aber in ihrem inneren Menschen. Sie haben Ohren, aber sie hören nicht, wenn Gott zu ihnen spricht: ›Wer Ohren hat, der höre!‹ Sie haben Augen, aber sie sehen nicht; das heißt, sie haben leibliche Augen, aber nicht das Auge des Glaubens.« Sie nehmen die Gegenwart Gottes nicht wahr. Sie haben Augen und sehen nicht. Ebenso »haben sie Nasenflügel, können aber die Gerüche nicht unterscheiden. Sie sind nicht fähig, den Wohlgeruch zu empfinden, von dem der Apostel sagt: Wir sind Christi Wohlgeruch an jedem Ort (vgl. 2Co 2,15). Welchen Nutzen haben sie von ihren Nasenflügeln, wenn diese den Wohlgeruch Christi nicht einatmen können?«
Augustinus stellt fest, daß es immer noch Personen gibt, die an den Götzendienst gebunden sind, und dies trifft auch zu auf unsere Zeit mit ihrem Materialismus, der ein Götzendienst ist. Augustinus fügt hinzu: Auch wenn es weiterhin diese Menschen gibt und wenn dieser Götzendienst fortdauert, so »gibt es doch jeden Tag Leute, die von den Wundertaten Christi, unseres Herrn, überzeugt sind und den Glauben annehmen - und Gott sei Dank ist das auch heute so! - Tagtäglich öffnen sich den Blinden die Augen, den Tauben die Ohren, beginnen die zuvor verschlossenen Nasen zu atmen, und es lösen sich die Zungen der Stummen, es festigen sich die Glieder der Gelähmten, es gesunden die Füße der Verkrüppelten. Aus allen diesen Steinen werden Kinder Abrahams gemacht (vgl. Mt 3,9). Man sage also zu ihnen: ›Haus Israel, preise den Herrn!‹ … Preiset den Herrn, ihr Völker im allgemeinen! Das heißt: ›Haus Israel‹. Preist ihn, ihr ›Hirten der Kirche‹! Das heißt: ›Haus Aaron‹. Preist ihn, ihr Diener der Kirche! Das heißt: ›Haus Levi‹. Und was ist über die anderen Völker zu sagen? ›Ihr, die ihr den Herrn fürchtet, preiset den Herrn!‹« (Esposizione sul Salmo 134,24-25: Nuova Biblioteca Agostiniana, XXVIII, Roma 1977, Ss. 375-377).
Laßt uns diese Einladung annehmen und den Herrn, den lebendigen und wahren Gott, loben, preisen und anbeten.
Zu Beginn dieser Audienz wurde uns der zweite Teil des Psalms 135 vorgetragen. Dieser enthält eine Gegenüberstellung von wahrer und falscher Religion: In der Mitte des wahren Glaubens steht der lebendige und personale Gott. Seine Gegenwart ist wirkmächtig und bringt Heil. Der Herr ist Leben; er führt und schützt die Gläubigen. Hingegen wird der Götzendienst als trügerische und irrige Religiosität entlarvt. Götzen sind bloß Produkte allzu menschlicher Wünsche und Machwerk ohne Leben. Im Grunde entspringen sie der alten Versuchung des Menschen, sich sein eigenes Heil zu schaffen im falschen Vertrauen auf materiellen Reichtum, auf Macht und Erfolg.
Unser Psalm endet mit einem vielstimmigen Lobpreis Gottes. In der Tat ist die Liturgie der vorzügliche Ort, um Gottes Wort zu hören und die Herzen gemeinsam zum Herrn zu erheben. Gott und Mensch begegnen einander in der Liturgie der Kirche, in der das Heil, das der Herr uns zuwendet, gewissermaßen sinnlich erfahrbar ist.
***
Mit diesen Gedanken heiße ich euch alle, liebe deutschsprachige Pilger und Besucher, freudig willkommen. Mein besonderer Gruß gilt heute den Kirchenmusikern aus dem Bistum Aachen, den verschiedenen Chören sowie den Bürgermeistern aus dem Landkreis Straubing-Bogen. - Gott macht frei und lebendig. Auf Ihn wollen wir unser Vertrauen setzen, nicht auf die toten Götzen der Selbstherrlichkeit und Selbstgenügsamkeit. Habt Mut und richtet euer Leben ganz auf Gott aus! Der Geist des Herrn stärke und leite euch!
12105
Ps 122
1 Ein Lied zur Wallfahrt nach Jerusalem [Ein Wallfahrtslied Davids.] Ich freute mich, als man mir sagte: »Zum Haus des Herrn wollen wir pilgern.«
2 Schon stehen wir in deinen Toren, Jerusalem:
3 Jerusalem, du starke Stadt, dicht gebaut und fest gefügt.
4 Dorthin ziehen die Stämme hinauf, die Stämme des Herrn, wie es Israel geboten ist, den Namen des Herrn zu preisen.
5 Denn dort stehen Throne bereit für das Gericht, die Throne des Hauses David.
6 Erbittet für Jerusalem Frieden! Wer dich liebt, sei in dir geborgen.
7 Friede wohne in deinen Mauern, in deinen Häusern Geborgenheit.
8 Wegen meiner Brüder und Freunde will ich sagen: In dir sei Friede.
9 Wegen des Hauses des Herrn, unseres Gottes, will ich dir Glück erflehen.
Liebe Brüder und Schwestern!
1. Wir haben soeben eines der schönsten und bewegendsten Wallfahrtslieder als Gebet gehört und genossen. Es handelt sich um Psalm 122, um eine lebendige und vielbesuchte Feier in der Heiligen Stadt Jerusalem, zu der die Pilger hinaufziehen.
Gleich zu Beginn werden zwei Erlebnisse des Gläubigen miteinander in Verbindung gebracht: der Tag, an dem er die Einladung angenommen hat, »zum Haus des Herrn zu pilgern« (vgl. V. 1), und die frohe Ankunft an den »Toren« Jerusalems (vgl. V. 2); jetzt betreten die Füße endlich den ersehnten heiligen Boden. Da öffnen sich auch die Lippen zu einem feierlichen Lied zu Ehren Zions, der in seinem tiefen geistlichen Sinn betrachtet wird.
2. Jerusalem, »die dicht gebaute und fest gefügte Stadt« (vgl. V. 3), Symbol für Sicherheit und Festigkeit, ist das Zentrum der Einheit der zwölf Stämme Israels, die auf sie als den Mittelpunkt ihres Glaubens und ihres Kultes zugehen. Denn sie ziehen dort hinauf, um »den Namen des Herrn zu preisen« (V. 4) an dem Ort, den das »Gesetz Israels« (Dt 12,13-14 Dt 16,16) zum einzigen rechtmäßigen und vollkommenen Heiligtum bestimmt hat.
In Jerusalem gibt es noch eine andere bedeutsame Wirklichkeit, die gleichfalls Zeichen für Gottes Gegenwart in Israel ist: Es sind »die Throne des Hauses David« (vgl. Ps 122,5), die auf die Herrschaft der davidischen Dynastie verweisen, Ausdruck des göttlichen Handelns in der Geschichte, das zum Messias führen sollte (2S 7,8-16).
3. Die »Throne des Hauses David« werden auch »Throne für das Gericht« genannt (vgl. Ps 122,5), denn der König war der oberste Richter. Deshalb war die politische Hauptstadt Jerusalem auch der oberste Gerichtsort, wo die Rechtsstreitigkeiten in letzter Instanz beigelegt wurden. Wenn also die jüdischen Pilger vom Zion kamen, kehrten sie gerechter und versöhnter in ihre Dörfer zurück.
Der Psalm entwirft somit ein Idealbild von der religiösen und sozialen Rolle der Heiligen Stadt und zeigt, daß die biblische Religion weder abstrakt noch furchterregend ist, sondern Sauerteig der Gerechtigkeit und Solidarität. Auf die Gemeinschaft mit Gott folgt notwendigerweise die Gemeinschaft der Brüder untereinander.
4. Wir kommen jetzt zur abschließenden Bitte (vgl. V. 6-9). Sie ist ganz dem Rhythmus des jüdischen Wortes shalom, »Frieden«, angepaßt, das in der Tradition als Wortstamm des Namens der Heiligen Stadt Jerushalajim galt, der »Stadt des Friedens«.
Bekanntlich weist shalom auf den messianischen Frieden hin, der Freude, Wohlergehen, Glück und Reichtum bedeutet. Ja, im Abschiedsgruß, den der Pilger an den Tempel, an das »Haus des Herrn, unseres Gottes«, richtet, fügt er zum Frieden das »Glück« hinzu: »… will ich dir Glück erflehen« (V. 9). Wir haben also eine Vorwegnahme des franziskanischen Grußes »Pace e bene!« vor uns. Wir alle haben ja ein bißchen einen franziskanischen Geist. Es ist ein Segenswunsch über die Gläubigen, die die Heilige Stadt lieben, über ihre physische Wirklichkeit der Mauern und Paläste, in denen das Leben eines Volkes pulsiert, über alle Brüder und Freunde. Auf diese Weise wird Jerusalem ein Ort der Harmonie und des Friedens.
5. Wir beenden unsere Betrachtung über Psalm 122 mit einem Denkanstoß, der von den Kirchenvätern stammt, für die das alte Jerusalem das Zeichen eines anderen Jerusalem war, auch einer »starken Stadt, dicht gebaut und fest gefügt «. Diese Stadt - schreibt Gregor der Große in seinen Homilien über Ezechiel - »hat hier schon ein großes Gebäude im Verhalten der Heiligen. In einem Bauwerk stützt ein Stein den andern, denn man legt einen Stein auf den anderen, und wer einen anderen stützt, der wird seinerseits von einem anderen gestützt. Genau so wird jeder in der Heiligen Kirche gestützt und stützt den anderen. Die Nachbarn stützen sich gegenseitig, und so entsteht mit ihrer Hilfe das Bauwerk der Liebe. Deshalb ermutigt der Apostel Paulus: ›Einer trage des anderen Last; so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen‹ (Ga 6,29). Er unterstreicht die Stärke dieses Gesetzes und sagt: ›Also ist die Liebe die Erfüllung des Gesetzes‹ (Rm 13,10). Denn wenn ich mich nicht anstrenge, euch so anzunehmen, wie ihr seid, und wenn ihr euch nicht bemüht, mich so anzunehmen, wie ich bin, kann unter euch das Bauwerk der Liebe nicht entstehen, obwohl wir doch durch gegenseitige und geduldige Liebe verbunden sind.« Zur Abrundung des Bildes ist nicht zu vergessen, daß »es ein Fundament gibt, das das ganze Gewicht des Bauwerks trägt, und das ist unser Erlöser, der ganz allein all unsere Verhaltensweisen erträgt. Von ihm sagt der Apostel: ›Denn einen anderen Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist: Jesus Christus‹ (1Co 3,11). Das Fundament trägt die Steine und wird nicht von den Steinen getragen; das heißt, unser Erlöser trägt die Last all unserer Sünden, aber in ihm war keine Sünde zu tragen« (2,1,5: Opere di Gregorio Magno, III/2, Rm 1993, Ss. 27.29).
Mit diesen Worten erklärt uns der heilige Papst Gregor der Große, welche konkrete Bedeutung der Psalm für unseren Lebenswandel hat. Er sagt uns, daß wir in der Kirche von heute ein wahres Jerusalem sein sollen, das heißt ein Ort des Friedens, wo »einer den anderen trägt«, so wie wir beschaffen sind; »wir tragen einander« in der freudigen Gewißheit, daß der Herr »uns alle trägt«. Damit wächst die Kirche als wahres Jerusalem, als Stätte des Friedens. Wir wollen aber auch für die Stadt Jerusalem beten, daß sie immer mehr ein Ort der Begegnung zwischen den Religionen und Völkern, daß sie wirklich ein Ort des Friedens sei.
Zu Beginn haben wir den Psalm 122 gehört. Dieses alttestamentliche Wallfahrtslied lädt dazu ein, voll Freude nach Jerusalem zu pilgern, um den Herrn zu preisen. Für den Psalmisten ist die Stadt Gottes ein Ort der Gerechtigkeit, des Friedens und des Glücks.
Wir Christen sehen die Stadt Jerusalem auch als Bild für die Kirche, die „fest gebaut und dicht gefügt“ (V. 3) bleibenden Frieden und wahres Glück schenkt. Gregor der Große erklärt in einer Homilie, wie dieses geistliche Gebäude bestehen kann: Jeder von uns ist ein lebendiger Stein, der von seinen Mitchristen gestützt wird und selbst die Last der anderen trägt. „Einer trage des anderen Last!“ (Ga 6,2). Nur die Liebe kann unsere Gemeinschaft zusammenhalten. Andererseits braucht jedes Bauwerk ein festes Fundament. Die Kirche ist auf Christus gebaut, den Erlöser, der unsere Sünden getragen hat und uns das ewige Heil schenkt.
***
Ganz herzlich begrüße ich alle, die aus den Ländern deutscher Sprache nach Rom gekommen sind. Mein Gruß gilt heute besonders den Pilgern aus dem Bistum Münster, die an der Seligsprechung von Clemens August Kardinal von Galen teilgenommen haben, sowie den Angehörigen und Freunden der Neupriester aus dem Collegium Germanicum.Euch allen wünsche ich, daß ihr den Segen des Herrn und die Nächstenliebe der Brüder und Schwestern im Glauben erfahren dürft. Seid lebendige Steine im Bau der Kirche und haltet fest an Christus dem Herrn. Alles Gute in Rom und eine gesegnete Heimreise!
19105
Ps 130,1-6
1 Bitte in tiefer Not [Ein Wallfahrtslied.] Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir:
2 Herr, höre meine Stimme! Wende dein Ohr mir zu, achte auf mein lautes Flehen!
3 Würdest du, Herr, unsere Sünden beachten, Herr, wer könnte bestehen?
4 Doch bei dir ist Vergebung, damit man in Ehrfurcht dir dient.
5 Ich hoffe auf den Herrn, es hofft meine Seele, ich warte voll Vertrauen auf sein Wort.
6 Meine Seele wartet auf den Herrn mehr als die Wächter auf den Morgen. Mehr als die Wächter auf den Morgen
7 soll Israel harren auf den Herrn. Denn beim Herrn ist die Huld, bei ihm ist Erlösung in Fülle.
8 Ja, er wird Israel erlösen von all seinen Sünden.
Liebe Brüder und Schwestern!
1. Soeben wurde einer der bekanntesten und beliebtesten Psalmen der christlichen Tradition vorgetragen. Er wird nach seinen lateinischen Anfangsworten »De profundis« genannt. Mit dem »Miserere« ist er in der Volksfrömmigkeit einer der bevorzugten Bußpsalmen geworden.
Abgesehen von seiner Verwendung bei Begräbnissen, ist der Text vor allem ein Lied, das der göttlichen Barmherzigkeit und der Versöhnung zwischen dem Sünder und dem Herrn gewidmet ist, einem gerechten Gott, der aber immer bereit ist, sich als »ein barmherziger und gnädiger Gott, langmütig, reich an Huld und Treue« zu erweisen. »Er bewahrt Tausenden Huld, nimmt Schuld, Frevel und Sünde weg« (Ex 34,6-7). Gerade aus diesem Grund ist unser Psalm in die Vesperliturgie von Weihnachten und der ganzen Weihnachtsoktav aufgenommen, ebenso in die vom IV. Ostersonntag und vom Hochfest der Verkündigung des Herrn.
2. Psalm 130 beginnt mit einem Ruf, der aus der Tiefe des Bösen und der Schuld aufsteigt (vgl. V. 1-2). Das Ich des Beters wendet sich an den Herrn und spricht: »Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir.« Der Psalm entfaltet sich dann in drei Abschnitten, die dem Thema Sünde und Vergebung gewidmet sind. Man wendet sich vor allem an Gott, der direkt mit Du angesprochen wird: »Würdest du, Herr, unsere Sünden beachten, Herr, wer könnte bestehen? Doch bei dir ist Vergebung, damit man in Ehrfurcht dir dient« (V. 3-4).
Bedeutsam ist die Tatsache, daß die Ehrfurcht, eine aus Achtung und Liebe bestehende Haltung, nicht von der Strafe, sondern von der Vergebung hervorgerufen wird. Es ist nicht der Zorn Gottes, sondern seine großmütige und entwaffnende Hochherzigkeit, die in uns eine heilige Ehrfurcht weckt. Denn Gott ist kein unerbittlicher Herrscher, der den Schuldigen verdammt, sondern ein liebevoller Vater, den wir nicht aus Furcht vor einer Strafe, sondern wegen seiner Güte lieben sollen, die zur Vergebung bereit ist.
3. Im Mittelpunkt des zweiten Abschnitts steht das Ich des Beters, der sich nicht mehr an den Herrn wendet, aber von ihm spricht: »Ich hoffe auf den Herrn, es hofft meine Seele, ich warte voll Vertrauen auf sein Wort. Meine Seele wartet auf den Herrn mehr als die Wächter auf den Morgen« (V. 5-6). Jetzt erwachen im Herzen des reumütigen Psalmisten die Erwartung, die Hoffnung, die Gewißheit, daß Gott ein befreiendes Wort sprechen und die Sünde tilgen wird.
Der dritte und letzte Abschnitt im Verlauf des Psalms weitet sich auf ganz Israel aus, auf das Volk, das oft sündigt und sich der Notwendigkeit der heilbringenden Gnade Gottes bewußt ist: »Israel soll harren auf den Herrn. Denn beim Herrn ist die Huld, bei ihm ist Erlösung in Fülle. Ja, er wird Israel erlösen von all seinen Sünden« (V. 7-8).
Das persönliche Heil, um das der Beter zuerst gefleht hat, schließt jetzt die ganze Gemeinschaft mit ein. Der Glaube des Psalmisten wird in den geschichtlichen Glauben des Bundesvolkes eingepflanzt, das der Herr nicht nur aus den Bedrängnissen der ägyptischen Sklaverei, sondern auch »von all seinen Sünden« erlöst hat. Wir glauben, daß das erwählte Volk, das Volk Gottes nun wir sind. Unser Glaube fügt uns in den gemeinsamen Glauben der Kirche ein. Und auf diese Weise schenkt er uns die Gewißheit, daß Gott uns voll Güte zugetan ist und uns von unserer Schuld befreit.
Ausgehend von der tiefen Finsternis der Sünde, steigt die Bitte des »De profundis« auf zum hellen Horizont Gottes, wo »Erbarmen und Erlösung« herrschen, zwei wunderbare Eigenschaften Gottes, der die Liebe ist.
4. Widmen wir uns jetzt der Meditation, die die christliche Tradition zu diesem Psalm entfaltet hat. Wir wählen das Wort des hl. Ambrosius in seinen Schriften, wo er oft die Motive nennt, die den Impuls dazu geben, Gott um Vergebung zu bitten.
»Wir haben einen guten Herrn, der allen vergeben will«, schreibt er im Traktat über die Buße, und er fügt hinzu: »Wenn du Rechtfertigung erlangen willst, bekenne deine Missetat: ein demütiges Sündenbekenntnis löst das Gewirr der Schuld … Du erkennst, mit welcher Hoffnung auf Vergebung es dich drängt zu beichten« (2,6,40-41: Sancti Ambrosii Episcopi Mediolanensis Opera - SAEMO, XVII, Mailand/Rom 1982, S. 253).
In der Auslegung des Lukasevangeliums wiederholt der Bischof von Mailand diese Einladung und drückt das Staunen über die Gaben aus, die Gott zusammen mit seiner Vergebung austeilt: »Sieh, wie gut Gott ist und wie er bereit ist, die Sünden zu vergeben. Er gibt nicht nur das zurück, was er genommen hat, sondern er macht auch unverhoffte Geschenke.« Zacharias, der Vater von Johannes dem Täufer, war stumm geworden, weil er dem Engel nicht geglaubt hatte, aber dann hat Gott ihm vergeben und ihm im Gesang des Benedictus die Gabe des prophetischen Redens gegeben: »Er, der vor kurzem stumm war, weissagt jetzt bereits«, schreibt Ambrosius, »das ist eine der größten Gnaden des Herrn, daß gerade diejenigen, die ihn verleugnet hatten, ihn jetzt bekennen. Deshalb soll niemand den Mut verlieren, niemand an der göttlichen Belohnung zweifeln, auch wenn ihn die früheren Sünden quälen. Gott ändert seine Meinung, wenn du die Schuld berichtigst« (2,33: SAEMO, XI, Mailand/Rom 1978, S. 175).
„Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir.“ Mit diesen Worten beginnt Psalm 130, auf den die heutige Katechese Bezug nimmt. Der wahre Tiefpunkt im Leben eines Menschen ist die Sünde. Sie erniedrigt ihn und entfernt ihn von Gott. In dieser Situation ruft der Sünder im Psalm Gottes Erbarmen an.
Eine nur oberflächliche Betrachtung des moralischen Versagens kann dazu verleiten, so zu leben, als müßten wir für unser Tun nicht Rechenschaft ablegen. Kein Mensch kann sich indes dem Urteil Gottes entziehen. Um Verzeihung bitten heißt: unser Geringsein vor Gott anerkennen. Andererseits kann schwere Schuld auch dazu führen, an Gottes Güte und Barmherzigkeit zu zweifeln. Das Psalmwort stiftet hier neues Vertrauen: Beim Herrn ist Vergebung. Sein Erbarmen ist grenzenlos für den Menschen, der seine Schuld bereut.
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Gerne heiße ich alle Pilger und Besucher aus dem deutschen Sprachraum willkommen. Besonders grüße ich heute die katholischen Rundfunkbeauftragten bei verschiedenen deutschen Sendern, Mitglieder der Marianischen Männerkongregation Regensburg und eine Delegation der Militärakademie Wiener Neustadt. Laßt euch von der erbarmenden Liebe Gottes berühren! Das demütige Bekenntnis unserer Schuld und die Vergebung durch Gott erneuern unser Leben. Euch allen wünsche ich eine tiefe Erfahrung der Güte und Liebe unseres Herrn Jesus Christus sowie einen erholsamen Aufenthalt in Rom.
26105
Ph 2,6-11
6 Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein,
7 sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen;
8 er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz.
9 Darum hat ihn Gott über alle erhöht und ihm den Namen verliehen, der größer ist als alle Namen, 10 damit alle im Himmel, auf der Erde und unter der Erde ihre Knie beugen vor dem Namen Jesu 11 und jeder Mund bekennt: »Jesus Christus ist der Herr« - zur Ehre Gottes, des Vaters.
Liebe Brüder und Schwestern!
1. Auf dem Weg, den uns die Liturgie der Vesper durch die verschiedenen Psalmen und Cantica vorzeichnet, haben wir wieder den wunderbaren und bedeutsamen Hymnus gehört, den der Apostel Paulus in den Brief an die Philipper aufgenommen hat (Ph 2,6-11).
Schon früher haben wir einmal gesagt, daß der Text eine zweifache Bewegung beinhaltet: eine absteigende und eine aufsteigende. In der ersten Bewegung will sich Jesus Christus vom Glanz der Gottheit, die ihm von Natur aus eigen ist, bis zum »Tod am Kreuz« erniedrigen. So zeigt er sich tatsächlich als Mensch und unser Erlöser und teilt mit uns wahrhaftig und vollkommen die menschliche Wirklichkeit von Leiden und Tod.
2. Die zweite Bewegung, die aufsteigende, zeigt die österliche Herrlichkeit Christi, der sich nach dem Tod wieder im Glanz seiner göttlichen Majestät offenbart.
Der Vater, der den Akt des Gehorsams des Sohnes in der Menschwerdung und im Leiden und Sterben angenommen hatte, »erhöht« ihn jetzt über alle Maßen, wie es im griechischen Text heißt. Diese Erhöhung wird nicht nur durch die Inthronisierung zur Rechten Gottes ausgedrückt, sondern auch dadurch, daß Christus ein Name verliehen wird, »der größer ist als alle Namen« (V. 9).
Im Sprachgebrauch der Bibel weist der »Name« auf das wahre Wesen und die besondere Rolle einer Person hin und offenbart ihre innere und tiefe Wirklichkeit. Der Vater verleiht dem Sohn, der sich aus Liebe bis in den Tod erniedrigt hat, eine unvergleichliche Würde, den »Namen« schlechthin, den des »Herrn«, den Namen Gottes selbst.
3. Das Bekenntnis des Glaubens, das Himmel, Erde und Unterwelt zur Anbetung gemeinsam anstimmen, ist klar und deutlich: »Jesus Christus ist der Herr« (V. 11). In Griechisch wird bekräftigt, daß Jesus der Kyrios ist, sicher ein königlicher Titel, der in der griechischen Tradition für den Namen Gottes stand, der an Mose geoffenbart wurde - ein heiliger und unaussprechlicher Name. Mit diesem Namen »Kyrios« wird Jesus Christus als wahrer Gott anerkannt.
Da ist also einerseits die Anerkennung der universalen Herrschaft Jesu Christi, dem die Würdigung der ganzen Schöpfung zuteil wird, die wie ein zu seinen Füßen kniender Untergebener angesehen wird. Anderseits wird durch die Zustimmung zum Glauben Christus für wesensgleich in der göttlichen Gestalt oder Befindlichkeit erklärt und als damit anbetungswürdig dargestellt.
4. Die Bezugnahme in diesem Hymnus auf das Ärgernis des Kreuzes (vgl. 1Co 1,23) und zuvor auf die wahre Menschheit des fleischgewordenen Wortes (vgl. Jn 1,14) verbindet sich mit dem Ereignis der Auferstehung und findet in ihm ihren Höhepunkt. Auf den Gehorsam und das Opfer des Sohnes folgt als Antwort die Verherrlichung durch den Vater, mit der die Anbetung seitens der Menschheit und der Schöpfung einhergeht. Die Einzigkeit Christi erwächst aus seiner Rolle als Herr der erlösten Welt, die ihm aufgrund seines vollkommenen Gehorsams »bis zum Tod« verliehen worden ist. Der Heilsplan findet im Sohn seine endgültige Vollendung, und die Gläubigen sind eingeladen, ihn vor allem in der Liturgie zu bekennen und seine Früchte zu genießen.
Der Christushymnus, den die Kirche seit Jahrhunderten meditiert, singt und als Leitspruch des Lebens ansieht, führt uns zu diesem Ziel: »Seid untereinander so gesinnt, wie es dem Leben in Christus Jesus entspricht« (Ph 2,5).
5. Vertrauen wir uns jetzt der Meditation an, die der hl. Gregor von Nazianz über unseren Hymnus weise entfaltet hat. In einem Lied zu Ehren Christi erklärt der große Kirchenlehrer des 4. Jahrhunderts, daß Jesus Christus »sich keines wesentlichen Teils seiner göttlichen Natur entäußert hat, und trotzdem hat er mich wie ein Heiler gerettet, der sich über die eitrigen Wunden beugt … Er war aus Davids Stamm, war aber der Schöpfer Adams. Er hat Fleisch angenommen, war aber auch dem Körper fremd. Er ist aus einer Mutter geboren worden, aber aus einer jungfräulichen Mutter; er war beschnitten, blieb aber unversehrt. Eine Krippe hat ihn aufgenommen, aber ein Stern führte die Magier, die kamen, um ihm Geschenke zu bringen und vor ihm das Knie zu beugen. Er kämpfte wie ein Sterblicher mit dem Teufel, aber er, unbesiegbar wie er war, überwand den Versucher durch einen dreifachen Kampf … Er war Opfer, aber auch Hohepriester; er war Opfernder, aber auch Gott. Er brachte Gott sein Blut dar und reinigte dadurch die ganze Welt. Ein Kreuz hatte ihn von der Erde erhöht, aber die Sünde blieb in den Nägeln stecken … Er stieg hinab zu den Toten, stieg aber aus der Hölle hinauf und erweckte viele, die tot waren. Das erste Ereignis ist ja das menschliche Elend, aber das zweite entspricht dem Reichtum des Daseins ohne Leib … Der unsterbliche Sohn hat diese irdische Form angenommen, weil er dich lieb hat« (Carmina arcana, 2: Collana di Testi Patristici, LVIII, Roma 1986, Ss. 236-238).
Zum Abschluß dieser Betrachtung möchte ich zwei Worte für unser Leben hervorheben. Vor allem diese Mahnung des Apostels Paulus: »Seid untereinander so gesinnt, wie es dem Leben in Christus Jesus entspricht.« Lernen, so wie Jesus gesinnt zu sein; uns der Gesinnung Jesu anzugleichen, indem wir auf seine Weise denken, entscheiden und handeln. Wenn wir versuchen, so gesinnt zu sein, wie Jesus gesinnt war, gehen wir diesen Weg. Und wir gehen dann den richtigen Weg. Das zweite Wort ist vom hl. Gregor von Nazianz: »Er, Jesus, hat dich lieb.« Dieses zärtliche Wort ist für uns eine große Ermutigung und ein Trost, aber auch eine große Verantwortung, Tag für Tag.
In zwei gegenläufigen Bewegungen offenbart sich uns Christus als der Erlöser: In der Erniedrigung seines Kreuzestods nimmt er die menschliche Wirklichkeit bis zur äußersten Konsequenz des Leidens an. In seinem Aufstieg als Sieger über den Tod erscheint die Strahlkraft seiner göttlichen Natur. Der Christushymnus des Philipperbriefes, der uns zu Beginn vorgetragen wurde, verbindet diese beiden Akkorde zu einem großartigen Lied. Der himmlische Vater lohnt den Gehorsam seines Sohnes, der sich aus Liebe für die Menschen hingab, mit seiner Erhöhung über die ganze Schöpfung. Er verleiht ihm einen „Namen, der größer ist als alle Namen“ (Ph 2,9). Dieser Name sagt aus, wer Jesus ist: „Jesus Christus ist der Herr“ (V. 11). Dieser Name ist für uns Christen allezeit Grund zur Anbetung und zum frohen Bekenntnis in der Gemeinschaft der Erlösten, der Kirche, die einstimmt in den ewigen Lobpreis der Schöpfung.
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Liebe Brüder und Schwestern! Von Herzen heiße ich die Pilger und Besucher aus den Ländern deutscher Sprache willkommen. Ein ganz besonderer Gruß gilt heute den Wallfahrern des Malteser-Hospitaldienstes aus Österreich sowie einer Delegation des Bayerischen Pilgerbüros, das heuer sein 80-jähriges Bestehen feiert. Christus kennt die Sorgen und Leiden der Menschheit: und von jedem von uns. Er ist und bleibt der Sieger über Sünde und Tod. Ihm wollen wir danken; Ihn wollen wir freudig vor aller Welt bekennen. Gottes Geist gebe euch dazu Mut und stets glaubensfrohe Hoffnung alle Tage.
21105
Ps 122
1 Der Segen der Gottesfurcht Halleluja! Wohl dem Mann, der den Herrn fürchtet und ehrt und sich herzlich freut an seinen Geboten.
2 Seine Nachkommen werden mächtig im Land, das Geschlecht der Redlichen wird gesegnet.
3 Wohlstand und Reichtum füllen sein Haus, sein Heil hat Bestand für immer.
4 Den Redlichen erstrahlt im Finstern ein Licht: der Gnädige, Barmherzige und Gerechte.
5 Wohl dem Mann, der gütig und zum Helfen bereit ist, der das Seine ordnet, wie es recht ist.
6 Niemals gerät er ins Wanken; ewig denkt man an den Gerechten.
7 Er fürchtet sich nicht vor Verleumdung; sein Herz ist fest, er vertraut auf den Herrn.
8 Sein Herz ist getrost, er fürchtet sich nie; denn bald wird er herabschauen auf seine Bedränger.
9 Reichlich gibt er den Armen, sein Heil hat Bestand für immer; er ist mächtig und hoch geehrt.
10 Voll Verdruß sieht es der Frevler, er knirscht mit den Zähnen und geht zugrunde. Zunichte werden die Wünsche der Frevler.
Liebe Brüder und Schwestern!
1. Nachdem wir gestern das Hochfest aller Heiligen des Himmels gefeiert haben, gedenken wir heute aller verstorbenen Gläubigen. Die Liturgie lädt uns ein, für unsere lieben Verstorbenen zu beten, wobei wir uns das Geheimnis des Todes, das gemeinsame Erbe aller Menschen, vor Augen halten.
Vom Glauben erleuchtet, schauen wir gelassen und voll Hoffnung auf das menschliche Rätsel des Todes. Denn nach der Schrift ist er mehr als ein Ende, er ist eine neue Geburt, er ist der unumgängliche Übergang, durch den diejenigen das Leben in Fülle erlangen, die ihr Dasein auf Erden entsprechend den Weisungen des Wortes Gottes gestalten.
Psalm 112, ein Weisheitslied, stellt uns die Persönlichkeit dieser Gerechten vor, die den Herrn fürchten, seine Transzendenz anerkennen und seinem Willen mit Vertrauen und Liebe zustimmen in der Erwartung, ihm nach dem Tod zu begegnen.
Diesen Gläubigen gilt eine »Seligpreisung«: »Wohl dem Mann, der den Herrn fürchtet« (V. 1). Der Psalmist erklärt sofort genauer, wie diese Furcht beschaffen ist: Sie äußert sich in der Befolgung der göttlichen Gebote. Wer »sich herzlich freut an seinen Geboten«, wer aus ihnen Freude und Frieden schöpft, wird seliggepriesen.
2. Der Gehorsam gegenüber Gott ist also der Ursprung der Hoffnung und der inneren und äußeren Harmonie. Die Beachtung des Moralgesetzes ist für das Gewissen eine Quelle inneren Friedens. Ja, gemäß der biblischen Auffassung vom »Lohn« breitet sich über den Gerechten der Mantel des göttlichen Segens aus, der seinen Werken und denen seiner Nachkommen Beständigkeit und Erfolg verleiht. »Seine Nachkommen werden mächtig im Land, das Geschlecht der Redlichen wird gesegnet. Wohlstand und Reichtum füllen sein Haus« (V. 2-3; vgl. V. 9). Aber das Gegenteil von diesem optimistischen Ausblick sind die bitteren Beobachtungen des gerechten Ijob, der das Mysterium des Leidens erfährt, sich zu unrecht bestraft und scheinbar sinnlosen Prüfungen unterworfen fühlt. Ijob steht stellvertretend für die vielen gerechten Personen, die in der Welt schweres Leid erfahren. Deshalb ist dieser Psalm im Zusammenhang mit der Heiligen Schrift, bis zum Kreuzestod und zur Auferstehung des Herrn, zu lesen. Die Offenbarung umfaßt alle Aspekte der Wirklichkeit des menschlichen Lebens.
Trotzdem bleibt das Vertrauen erhalten, dessen Erfahrung der Psalmist demjenigen vermitteln will, der sich entschieden hat, den Weg einer moralisch einwandfreien Lebensführung zu gehen im Gegensatz zu den Alternativen eines trügerischen Erfolges, der auf Ungerechtigkeit und Unmoral aufgebaut ist.
3. Kern dieser Treue zum göttlichen Wort ist eine grundsätzliche Entscheidung, das heißt die Liebe zu den Armen und Notleidenden: »Wohl dem Mann, der gütig und zum Helfen bereit ist … Reichlich gibt er den Armen« (VV. 5.9). Der Gläubige ist also großherzig; weil er die biblische Regel beachtet, leiht er den Brüdern in Not, ohne Zins (vgl. Dt 15,7-11) und ohne die Schandtat des Wuchers zu begehen, der das Leben der Armen zerstört.
Indem er die ständige Mahnung der Propheten aufnimmt, tritt er für die Ausgegrenzten ein und unterstützt sie mit allen Mitteln. »Reichlich gibt er den Armen«, heißt es in Vers 9, womit äußerste, völlig selbstlose Freigiebigkeit ausgedrückt wird.
4. Neben dem Bild des »Gnädigen, Barmherzigen und Gerechten«, der treu und mildtätig ist, werden in Psalm 112 in einem Vers auch die Merkmale des Frevlers dargestellt (vgl. V. 10). Wenn dieser den Erfolg des Gerechten sieht, verzehrt er sich vor Neid und Wut. Es ist die Qual dessen, der ein schlechtes Gewissen hat, im Unterschied zum großmütigen Menschen, dessen Herz »fest« und »getrost« ist (V. 7-8).
Wir richten unseren Blick auf das gelassene Antlitz des glaubensvollen Menschen, der »reichlich den Armen gibt«, und wir überlassen uns am Ende unserer Betrachtung den Worten des Kirchenvaters Klemens von Alexandrien aus dem 2. Jahrhundert, der ein schwer verständliches Wort des Herrn kommentiert hat. Im Gleichnis vom unredlichen Verwalter kommt das Wort vor, nach dem wir mit »ungerechtem Reichtum« Gutes tun sollen. Daraus erwächst die Frage: Ist Geld, Reichtum an sich ungerecht, oder was will der Herr damit sagen? Klemens von Alexandrien erklärt dieses Wort sehr gut in seiner Predigt unter dem Titel: »Welcher Reiche wird sich retten«, indem er sagt: Jesus »erklärt jeden Besitz von Natur aus für ungerecht, wenn der Besitzer ihn persönlich für sein eigenes Wohl besitzt und ihn nicht der Gemeinschaft zur Verfügung stellt zugunsten all jener, die ihn brauchen. Aber er sagt auch, daß es möglich ist, aus dieser Ungerechtigkeit heraus ein heilbringendes Werk der Gerechtigkeit zu vollbringen, indem man den Kleinen, die eine ewige Wohnung beim Vater haben, Ruhe verschafft (vgl. Mt 10,42 Mt 18,10)« (31,6: Collana di Testi Patristici, CXLVIII, Roma 1999, S. 56-57).
Und in seinen Worten an den Leser mahnt Klemens: »Achte darauf, daß er dir nicht befohlen hat, dich bitten zu lassen oder darauf zu warten, daß du gebeten wirst, sondern du selbst sollst die suchen, die wirklich würdig sind, gehört zu werden, weil sie Jünger des Erlösers sind« (31,7: ebd., S. 57).
Dann nimmt er einen anderen Text aus der Bibel zu Hilfe und kommentiert: »Das Sprichwort des Apostels ist also wahr: ›Gott liebt einen fröhlichen Geber‹ (2Co 9,7); wenn jemand es genießt zu schenken, wenn er nicht spärlich sät und nicht das gleiche zurückbekommen will, sondern ohne Bedauern und Unterschied und Schmerz teilt, dann heißt das wirklich Gutes tun« (31,8: ebd.).
Wie ich anfangs gesagt habe, sind wir am Gedenktag der Verstorbenen aufgerufen, uns mit dem Geheimnis des Todes auseinanderzusetzen und uns die Frage zu stellen, wie wir leben sollen, damit wir die Seligkeit erlangen. Der Psalm antwortet: Selig der Mensch, der barmherzig, gütig und gerecht ist; selig der Mensch, der in der Liebe zu Gott und zum Nächsten lebt. So leben wir gut, und so brauchen wir vor dem Tod keine Angst haben, denn wir sind in der Seligkeit, die von Gott kommt und ewig dauert.
Heute, am Tag nach dem Hochfest Allerheiligen, begeht die Kirche das Gedächtnis Allerseelen. Die Liturgie lädt uns in besonderer Weise ein, für das Seelenheil unserer Verstorbenen zu beten. Im Licht des Glaubens sehen wir das Geheimnis des Todes als einen Übergang zum Leben in Fülle, das denen bereitet ist, die ihr irdisches Dasein nach dem Wort und der Weisung Gottes ausgerichtet haben.
Von dieser gläubigen Zuversicht spricht auch Psalm 112, den die heutige Katechese zum Inhalt hat. Darin wird der Mensch seliggepriesen, „der den Herrn fürchtet und ehrt und sich freut an seinen Geboten" (V. 1). Gottesfurcht und Folgsamkeit gegenüber den Geboten des Herrn sind ihm Grund unerschütterlicher Hoffnung und verschaffen seinem Gewissen Frieden. Dieses Vertrauen bleibt aufrecht, selbst wenn der Gerechte wie Hiob die Erfahrung des Leids macht. Die Treue gegenüber Gottes Wort bringt schließlich die Frucht der Nächstenliebe hervor: „Wohl dem Mann, der gütig und zum Helfen bereit ist ... Reichlich gibt er den Armen" (VV. 5.9). Als ein von Gott Beschenkter zeigt der Gläubige sich großherzig und selbstlos gegenüber den Menschen in Not.
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Herzlich grüße ich alle deutschsprachigen Pilger und Besucher, insbesondere die Romwallfahrer aus meiner Heimat. Gott gibt unserem Leben Richtung und Halt. Sein Wort und sein Gebot sind keine Last; sie machen frei und öffnen unser Herz für den Nächsten. Schaut auf das Vorbild der Heiligen und und ahmt ihren Glaubensmut nach! Der Herr helfe euch dabei mit seiner Gnade.
Generalaudienzen 2005-2013 51005