Generalaudienzen 2005-2013 14125

Mittwoch, 14. Dezember 2005: Lesung: Psalm 139,1-12

14125

Ps 139,1-12
1 Der Mensch vor dem allwissenden Gott [Für den Chormeister. Ein Psalm Davids.] Herr, du hast mich erforscht und du kennst mich.
2 Ob ich sitze oder stehe, du weißt von mir. Von fern erkennst du meine Gedanken.
3 Ob ich gehe oder ruhe, es ist dir bekannt; du bist vertraut mit all meinen Wegen.
4 Noch liegt mir das Wort nicht auf der Zunge - du, Herr, kennst es bereits.
5 Du umschließt mich von allen Seiten und legst deine Hand auf mich.
6 Zu wunderbar ist für mich dieses Wissen, zu hoch, ich kann es nicht begreifen.
7 Wohin könnte ich fliehen vor deinem Geist, wohin mich vor deinem Angesicht flüchten?
8 Steige ich hinauf in den Himmel, so bist du dort; bette ich mich in der Unterwelt, bist du zugegen. 9 Nehme ich die Flügel des Morgenrots und lasse mich nieder am äußersten Meer,
10 auch dort wird deine Hand mich ergreifen und deine Rechte mich fassen.
11 Würde ich sagen: »Finsternis soll mich bedecken, statt Licht soll Nacht mich umgeben«,
12 auch die Finsternis wäre für dich nicht finster, die Nacht würde leuchten wie der Tag, die Finsternis wäre wie Licht.



Liebe Brüder und Schwestern!

1. In zwei verschiedenen Schritten bietet uns das Stundengebet der Vesper - deren Psalmen und Cantica wir betrachten - die Lesung eines Weisheitshymnus von klarer Schönheit und starker emotionaler Wirkung: den 139. Psalm. Vor uns haben wir heute den ersten Teil dieses Textes (vgl. Verse 1-12), also die ersten beiden Strophen, die die Allwissenheit Gottes (vgl. V. 1-6) und seine Allgegenwart in Raum und Zeit (vgl. V. 7-12) preisen.

Die Kraft der Bilder und Ausdrücke dient dem Lobpreis des Schöpfers: »Wenn die geschaffenen Werke so großartig sind« - erklärt Theodoret von Kyros, christlicher Schriftsteller des 5. Jahrhunderts -, »wie großartig muß dann erst ihr Schöpfer sein!« (Reden über die Vorsehung, 4, in: Collana di Testi Patristici, LXXV, Roma 1988, S. 115). Die Betrachtung des Psalmisten zielt vor allem darauf ab, in das Geheimnis des transzendenten, uns aber dennoch nahen Gottes einzudringen.

2. Die wesentliche Aussage der Botschaft, die er uns bietet, ist eindeutig: Gott weiß alles und ist an der Seite seines Geschöpfes gegenwärtig, das sich ihm nicht entziehen kann. Seine Gegenwart bedeutet jedoch nicht Bedrohung oder Kontrolle; gleichwohl richtet er sicher seinen strengen Blick auf das Böse, dem er nicht gleichgültig gegenübersteht.

Doch das eigentliche Element ist eine heilbringende Gegenwart, die das ganze Sein und die ganze Geschichte zu umfangen vermag. Das ist faktisch das geistliche Szenarium, auf das der hl. Paulus in seiner Rede vor dem Areopag in Athen mit dem Zitat eines griechischen Dichters anspielt: »Denn in ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir« (Ac 17,28).

3. Der erste Abschnitt (vgl. Ps 139,1-6) ist, wie gesagt, der Lobpreis auf die göttliche Allwissenheit: In der Tat wiederholen sich hier die Worte, die mit der Erkenntnis in Zusammenhang stehen, wie: »erforschen«, »kennen«, »wissen«, »ergründen«, »begreifen«, »Weisheit«. Die biblische Erkenntnis geht bekanntlich über das bloße verstandesmäßige Lernen und Verstehen hinaus; sie ist so etwas wie eine Gemeinschaft zwischen Erkennendem und Erkanntem: Der Herr ist uns also während unseres Denkens und Handelns in enger Vertrautheit nahe.

Der göttlichen Allgegenwart ist der zweite Abschnitt unseres Psalms gewidmet (vgl. V. 7-12). In ihm wird auf lebendige Weise der illusorische Wille des Menschen beschrieben, sich jener Gegenwart zu entziehen. Das ganze Universum wird durchquert: Da ist zunächst die vertikale Achse »Himmel - Unterwelt« (vgl. V. 8); auf sie folgt dann die horizontale Dimension, die vom Morgenrot, also vom Osten, ausgeht und bis »zum äußersten Meer«, dem Mittelmeer, also dem Westen, reicht (vgl. V. 9). Jeder, selbst der verborgenste Teil des Raumes birgt in sich eine tätige Gegenwart Gottes.

Der Psalmist führt im weiteren auch die andere Wirklichkeit an, in der wir uns befinden: die Zeit; sie wird durch symbolhafte Bilder der Nacht und des Lichts, der Finsternis und des Tages dargestellt (vgl. V. 11-12). Selbst die Dunkelheit, in der man nur mühsam vorankommt und einem das Sehen schwerfällt, wird vom Blick und von der Epiphanie des Herrn des Seins und der Zeit durchdrungen. Seine Hand ist immer bereit, die unsere zu ergreifen, um uns auf unserem irdischen Weg zu führen (vgl. V. 10). Deshalb bedeutet seine Nähe nicht Verurteilung, die Schrecken einflößt, sondern Hilfe und Befreiung. So können wir verstehen, was letztlich der wesentliche Inhalt dieses Psalms ist: Er ist ein Hymnus vertrauensvoller Zuversicht. Gott ist immer bei uns. Selbst in den dunkelsten Nächten unseres Lebens verläßt er uns nicht. Sogar in den schwierigsten Augenblicken ist er zugegen. Und auch in der letzten Nacht, in der äußersten Einsamkeit, in der uns niemand begleiten kann, in der Nacht des Todes, verläßt uns der Herr nicht. Er begleitet uns auch in dieser äußersten Einsamkeit der Todesnacht. Deshalb können wir Christen Vertrauen haben: Wir werden niemals allein gelassen. Die Güte Gottes steht uns immer zur Seite.

4. Wir haben mit einem Zitat des christlichen Schriftstellers Theodoret von Kyros begonnen. Zum Abschluß vertrauen wir uns noch einmal ihm und seiner IV. Rede über die göttliche Vorsehung an, denn das ist ja letzten Endes das Thema des Psalms. Er verweilt bei Vers 6, in dem der Beter ausruft: »Zu wunderbar ist für mich dieses Wissen, zu hoch, ich kann es nicht begreifen.« Theodoret kommentiert diese Stelle, indem er auf die Innerlichkeit des Gewissens und der persönlichen Erfahrung eingeht. Er sagt: »Nachdem ich den Blick auf mich selbst gerichtet hatte, mir selbst eng vertraut geworden war und mich vom äußeren Lärm entfernt hatte, wollte ich mich in die Betrachtung meiner Natur versenken … Während ich über diese Dinge nachsinne und an den harmonischen Einklang zwischen der sterblichen und der unsterblichen Natur denke, fühle ich mich überwältigt von diesem großen Wunder und, da ich dieses Geheimnis nicht zu durchschauen vermag, gebe ich meine Niederlage zu. Mehr noch: Während ich den Sieg der Weisheit des Schöpfers verkünde und ihm Lobeshymnen singe, rufe ich aus: ›Zu wunderbar ist für mich dieses Wissen, zu hoch, ich kann es nicht begreifen.‹« (a.a.O., S. 116.117).

Vor dem geistigen Auge des Beters von Psalm 139 steht das Geheimnis des transzendenten und zugleich nahen Gottes. Der Herr ist allwissend und allgegenwärtig. Der Schöpfer pflegt einen vertrauten Umgang mit seiner Schöpfung. Sein göttliches Wissen begleitet das Denken und Handeln der Menschen. Gottes Kommen in diese Welt erleuchtet und verwandelt unsere Existenz. Seine Hand hält uns und geleitet uns auf den rechten Weg zum Leben und zur wahren Freiheit.

„Zu wunderbar ist für mich dieses Wissen, zu hoch, ich kann es nicht begreifen“ (V. 10), so ruft der Psalmist in heiliger Ehrfurcht. Gott ist dem Menschen zuinnerst nahe. Diese Erfahrung führt den Beter dazu, sich von allzu äußerem Tun abzuwenden und vor dem Wunder niederzuknien, das Gott vollbringt, der in der Menschwerdung seines eingeborenen Sohns die sterbliche Natur mit seiner Unsterblichkeit versöhnt.
***


Sehr herzlich heiße ich die Pilger und Besucher aus den Ländern deutscher Sprache willkommen. Der Advent ist eine Gnadenzeit, die uns ermahnt und ermutigt, in unserem Leben die Wege Gottes zu bereiten. Seid allezeit frohe Zeugen und Mitarbeiter der Liebe des Herrn zu den Menschen. Der Heilige Geist leite euer Denken, Reden und Handeln! Euch allen gesegnete adventliche Tage in Rom!



Mittwoch, 21. Dezember 2005

21125
Liebe Brüder und Schwestern!


Die heutige Generalaudienz findet in einer Atmosphäre der frohen und gespannten Erwartung der nun unmittelbar bevorstehenden Weihnachtstage statt. Komm, Herr Jesus! So beten wir in diesen Tagen wiederholt und bereiten uns darauf vor, in unseren Herzen die Freude über die Geburt des Erlösers zu verspüren. Besonders in dieser letzten Adventswoche begleitet und unterstützt die Liturgie unseren inneren Weg mit wiederholten Einladungen, den Erlöser aufzunehmen und Ihn in dem wehrlosen Kind in der Krippe zu erkennen.

Dies ist das Geheimnis des Weihnachtsfestes, das wir mit der Hilfe zahlreicher Symbole besser verstehen können. Unter diesen Symbolen ist auch das Licht, das von seiner spirituellen Bedeutung her zu den reichsten Symbolen gehört und auf das ich kurz eingehen möchte. Weihnachten fällt in unserer Hemisphäre in die Tage, in denen die Sonne ihre absteigende Bahn beendet und langsam beginnt, das Licht des Tages wieder zu verlängern, dem regelmäßig wiederkehrenden Ablauf der Jahreszeiten entsprechend. Das hilft uns, das Thema des Lichtes, das die Finsternis überwindet, besser zu verstehen. Es ist ein eindrückliches Symbol für eine Wirklichkeit, die das Innere des Menschen berührt: Ich beziehe mich auf das Licht des Guten, das über das Böse siegt, der Liebe, die den Haß überwindet, des Lebens, das den Tod besiegt. An dieses innere Licht, an das göttliche Licht läßt uns das Weihnachtsfest denken, das uns wieder den endgültigen Sieg der Liebe Gottes über die Sünde und den Tod verkündet. Aus diesem Grund gibt es in der Novene vor Weihnachten, die wir in diesen Tagen beten, viele und bedeutungsreiche Hinweise auf das Licht. Auch die Antiphon, die am Beginn unserer Begegnung gesungen wurde, erinnert uns daran. Der von den Völkern erwartete Erlöser wird als »Morgenstern« angerufen, als der Stern, der den Weg weist und die Menschen führt, die in den Dunkelheiten und Gefahren der Welt als Pilger unterwegs sind zum Heil, das von Gott verheißen und in Jesus Christus verwirklicht wurde.

Wir bereiten uns darauf vor, voll Freude die Geburt des Erlösers in unseren Familien und in unseren kirchlichen Gemeinschaften zu feiern, während eine gewisse moderne und konsumorientierte Kultur danach strebt, die christlichen Symbole aus der Feier des Weihnachtsfestes verschwinden zu lassen. Alle mögen sich dafür einsetzen, den Wert der weihnachtlichen Traditionen zu erfassen, die Teil unseres Glaubenserbes und unserer Kultur sind, um sie an die jungen Generationen weiterzugeben. Besonders wenn wir sehen, wie die Straßen und Plätze der Stadt in ein funkelndes Lichtermeer getaucht sind, sollen wir uns daran erinnern, daß diese Lichter uns auf ein anderes Licht verweisen, das für die Augen unsichtbar ist, aber nicht für das Herz. Während wir sie bewundern, während wir in den Kirchen die Kerzen anzünden oder die Krippe und den Weihnachtsbaum in den Häusern erstrahlen lassen, möge sich unser Inneres für das wahre spirituelle Licht öffnen, das allen Menschen guten Willens geschenkt wird. Der »Gott-mit-uns«, den die Jungfrau Maria zu Betlehem geboren hat, ist der Stern unseres Lebens!

»O Morgenstern, Glanz des unversehrten Lichtes, der Gerechtigkeit strahlende Sonne: o komm und erleuchte, die da sitzen in Finsternis und im Schatten des Todes!« Indem wir uns diese Anrufung aus der Liturgie des heutigen Tages zu eigen machen, bitten wir den Herrn, seine glorreiche Ankunft unter uns und unter all denen, die leiden, zu beschleunigen, denn nur in Ihm kann die tiefste Sehnsucht des menschlichen Herzens Erfüllung finden. Dieser Stern des Lichtes, der niemals untergeht, schenke uns die Kraft, immer dem Weg der Wahrheit, der Gerechtigkeit und der Liebe zu folgen! Leben wir mit tiefem Bewußtsein diese letzten Tage vor dem Weihnachtsfest, zusammen mit Maria, der Jungfrau des Schweigens und des Hörens. Sie, die vollständig in das Licht des Heiligen Geistes gehüllt war, möge uns helfen, das Geheimnis des Geburtsfestes Jesu zu verstehen und in ganzer Fülle zu leben. Mit diesen Empfindungen möchte ich euch auffordern, das innere Staunen lebendig zu erhalten in der sehnsüchtigen Erwartung der nun schon sehr nahen Feier der Geburt des Erlösers. Ich freue mich, schon jetzt euch allen ein gesegnetes und frohes Weihnachtsfest zu wünschen, die ihr hier anwesend seid, euren Angehörigen, euren Gemeinschaften und allen, die euch nahestehen.

Allen frohe Weihnachten!

In der vierten Adventswoche stehen wir an der Schwelle des Weihnachtsfests. Die Liturgie dieser Tage lädt uns ein, den göttlichen Erlöser aufzunehmen, den wir im Kind in der Krippe erkennen.

Zahlreiche Symbole helfen uns, das Geheimnis der Weihnacht besser zu verstehen; das Licht ist darunter eines der tiefsinnigsten. Mit der Wintersonnenwende nimmt auf unserer Hemisphäre die Zeit des Tageslichts wieder zu. Diese Naturerscheinung deutet auf eine andere Wirklichkeit hin, die den Menschen berührt. Das Licht des Guten siegt über die Dunkelheit des Bösen, die Liebe überwindet den Haß, das Leben besiegt den Tod. Zu Weihnachten erstrahlt die Botschaft vom endgültigen Sieg der Liebe Gottes über Sünde und Tod. Die heutige O-Antiphon grüßt den kommenden Herrn als den Morgenstern, der uns Menschen den Weg zeigt und der uns führt. Der „Gott-mit-uns“, den die Jungfrau Maria zu Bethlehem geboren hat, ist der wahre Stern unseres Lebens, der allein die tiefste Sehnsucht des menschlichen Herzens stillen kann.
***


In der Vorfreude auf das Fest der Geburt des Herrn grüße ich gerne alle Pilger und Besucher aus dem deutschen Sprachraum. Jesus Christus ist das Licht, das niemals untergeht und uns Kraft schenkt, auf dem Weg der Wahrheit, der Gerechtigkeit und der Liebe mutig voranzuschreiten. Schenkt dem Göttlichen Kind euer Leben und euer Herz. - Euch und euren Familien wünsche ich von Herzen gesegnete Weihnachten und den Frieden des Erlösers von Bethlehem!



Mittwoch, 28. Dezember 2005: Lesung: Psalm 139,13-18.23-24

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Ps 139,13-18 Ps 139,23-24

13 Denn du hast mein Inneres geschaffen, mich gewoben im Schoß meiner Mutter.
14 Ich danke dir, daß du mich so wunderbar gestaltet hast. Ich weiß: Staunenswert sind deine Werke.
15 Als ich geformt wurde im Dunkeln, kunstvoll gewirkt in den Tiefen der Erde, waren meine Glieder dir nicht verborgen.
16 Deine Augen sahen, wie ich entstand, in deinem Buch war schon alles verzeichnet; meine Tage waren schon gebildet, als noch keiner von ihnen da war.
17 Wie schwierig sind für mich, o Gott, deine Gedanken, wie gewaltig ist ihre Zahl!
18 Wollte ich sie zählen, es wären mehr als der Sand. Käme ich bis zum Ende, wäre ich noch immer bei dir.
23 Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz, prüfe mich, und erkenne mein Denken!
24 Sieh her, ob ich auf dem Weg bin, der dich kränkt, und leite mich auf dem altbewährten Weg!


Liebe Brüder und Schwestern!

1. In dieser Generalaudienz am Mittwoch in der Weihnachtsoktav, dem liturgischen Fest der Unschuldigen Kinder, nehmen wir unsere Meditation über Psalm 139 wieder auf, dessen betende Betrachtung in der Liturgie der Vesper in zwei getrennten Abschnitten vorgegeben wird. Nachdem wir im ersten Teil (vgl. V. 1-12) den allwissenden und allmächtigen Gott, den Herrn des Seins und der Geschichte, betrachtet haben, richtet dieser Weisheitshymnus von großer Schönheit und tiefer Empfindung den Blick nun auf die höchste und wunderbarste Wirklichkeit des ganzen Universums, den Menschen, der als »Wunder« Gottes bezeichnet wird (vgl. V. 14). Es handelt sich tatsächlich um ein Thema, das in tiefer Übereinstimmung mit der weihnachtlichen Atmosphäre steht, die wir in diesen Tagen erleben, in denen wir das große Geheimnis des Sohnes Gottes feiern, der zu unserem Heil Mensch, ja ein Kind geworden ist.

Nachdem wir den Blick und die Gegenwart des Schöpfers betrachtet haben, die das ganze Universum erfassen, richtet sich der liebevolle Blick Gottes im zweiten Teil, den wir heute meditieren, auf den Menschen, der schon am Anfang seines Daseins vollkommen ist. Er »entstand « im Mutterleib: Das an dieser Stelle verwendete hebräische Wort wurde von einigen Bibelwissenschaftlern als Hinweis auf den »Embryo« verstanden, der mit diesem Begriff als ein kleines zusammengerolltes Oval beschrieben wird, auf das sich aber schon der wohlwollende und liebevolle Blick der Augen Gottes richtet (vgl. V. 16).

2. Um das göttliche Handeln im Mutterleib zu beschreiben, greift der Psalmist auf die klassischen biblischen Bilder zurück, während der Leben schenkende Schoß der Mutter mit den »Tiefen der Erde« verglichen wird, das heißt mit der unaufhörlichen Lebenskraft der großen Mutter Erde (vgl. V. 15).

Vor allem verweist der Text auf das Symbol des Töpfers und des Bildhauers, der sein Kunstwerk, sein Meisterwerk »formt«, ihm Gestalt verleiht, genau so wie im Buch Genesis über die Erschaffung des Menschen gesagt wird: »Da formte Gott, der Herr, den Menschen aus Erde vom Ackerboden« (Gn 2,7). Auch auf das Symbol des »Webens« wird Bezug genommen, das die Zartheit der Haut, des Fleisches und der Nerven, die über das aus Knochen bestehende Skelett »geflochten« werden, in Erinnerung ruft. Auch Ijob bezieht sich wirkungsvoll auf diese und andere Bilder, um jenes Meisterwerk zu preisen, das die menschliche Person ist, auch wenn sie vom Leiden heimgesucht und verwundet wird: »Deine Hände haben mich gebildet, mich gemacht… Denk daran, daß du wie Ton mich geschaffen hast… Hast du mich nicht ausgegossen wie Milch, wie Käse mich gerinnen lassen? Mit Haut und Fleisch hast du mich umkleidet, mit Knochen und Sehnen mich durchflochten« (Jb 10,8-11).

3. In unserem Psalm ist die Vorstellung sehr stark, daß Gott schon die gesamte Zukunft des entstehenden Embryos sieht: Im Buch des Lebens des Herrn sind schon alle Tage verzeichnet, die dieses Geschöpf erleben und im Laufe seiner irdischen Existenz mit Taten erfüllen wird. So tritt wieder die transzendente Größe des göttlichen Wissens hervor, das nicht nur die Vergangenheit und die Gegenwart der Menschheit umfaßt, sondern auch die noch verborgene Zeitspanne der Zukunft. Aber es scheint auch die Größe dieses kleinen, noch nicht geborenen menschlichen Geschöpfes auf, das die Hände Gottes geschaffen haben und dessen Liebe es umfängt: ein biblischer Lobpreis des Menschen vom ersten Augenblick seiner Existenz an.

Jetzt wollen wir uns den Überlegungen anvertrauen, die der hl. Gregor der Große in seinen Homilien zu Ezechiel über den von uns eben kommentierten Psalmvers angestellt hat: »Deine Augen sahen, wie ich entstand, in deinem Buch war schon alles verzeichnet« (V. 16). Zu diesen Worten hat der Papst und Kirchenvater eine originelle und einfühlsame Meditation verfaßt über diejenigen, die in der christlichen Gemeinschaft auf ihrem geistlichen Weg die Schwächsten sind.

Er sagt, daß auch sie, die im Glauben und im christlichen Leben schwach sind, ein Teil des Kirchenbaus sind, daß sie »dennoch dazugehören … kraft ihres guten Wollens. Es ist wahr, sie sind klein und unvollkommen, dennoch lieben sie, soweit sie es verstehen können, Gott und den Nächsten und unterlassen es nicht, das Gute zu tun, das sie tun können. Auch wenn sie noch nicht die geistlichen Gaben erreichen, so daß sie ihren Geist der Vollkommenheit und der Kontemplation öffnen, so weichen sie doch nicht vor der Liebe zu Gott und zum Nächsten zurück, in dem Maße, in dem sie fähig sind, dies zu verstehen. Dadurch geschieht es, daß auch sie zum Aufbau der Kirche beitragen, auch wenn sie an einer weniger wichtigen Stelle stehen. Denn obwohl sie in Bezug auf das Wissen, Prophetie, Wundergabe und vollständige Loslösung von der Welt auf niedrigerer Stufe stehen, ruhen sie doch auf dem Fundament der Furcht und der Liebe, in dem sie ihre Festigkeit finden« (2,3,12-13; vgl. Opere di Gregorio Magno, III/2, Roma 1993, Ss. 79,81).

Die Botschaft des hl. Gregor ist für uns alle, die wir oft nur mühsam auf dem Weg des geistlichen und des kirchlichen Lebens vorankommen, ein großer Trost. Der Herr kennt uns, und er umgibt uns alle mit seiner Liebe.

Die Katechese am heutigen Fest der Unschuldigen Kinder befaßt sich mit dem zweiten Teil von Psalm 139. Der Psalmist stellt uns darin die allmächtige und liebevolle Zuwendung Gottes vor Augen, die einen jeden Menschen vom Mutterschoß an begleitet. Gott kennt unsere Vergangenheit und hat einen Plan für unser Leben, den er uns Schritt für Schritt zu erkennen gibt. Darum können wir allezeit vertrauensvoll mit dem Psalm beten: „Sieh her, ob ich auf dem Weg bin, der dich kränkt, und leite mich auf dem altbewährten Weg!“ (V. 24). Diesen „altbewährten Weg“ beschreibt Gregor der Große in einer Predigt: Gott und den Nächsten lieben und das Gute nicht unterlassen, das wir zu tun vermögen.
***


In weihnachtlicher Freude begrüße ich euch, liebe Pilger und Besucher aus den Ländern deutscher Sprache. In der Menschwerdung Christi, die wir in diesen Tagen feiern, offenbart sich die Zuwendung Gottes zu uns Menschen in ihrer Fülle. Vor dem göttlichen Kind in der Krippe sollen auch wir unser Herz öffnen. Wir wollen es bitten, uns auf den Weg der Liebe und der Hingabe an den Nächsten zu führen. Unser Heiland, der in Bethlehem geboren ist, begleite euch mit seinem Segen.





Mittwoch, 4. Januar 2006: Lesung: 1 Kolosserbrief 1,3.12-20

40106
1Co 1,3 1Co 1,12-20

3 Wir danken Gott, dem Vater Jesu Christi, unseres Herrn, jedesmal, wenn wir für euch beten.
12 Dankt dem Vater mit Freude! Er hat euch fähig gemacht, Anteil zu haben am Los der Heiligen, die im Licht sind.
13 Er hat uns der Macht der Finsternis entrissen und aufgenommen in das Reich seines geliebten Sohnes.
14 Durch ihn haben wir die Erlösung, die Vergebung der Sünden.
15 Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene der ganzen Schöpfung.
16 Denn in ihm wurde alles erschaffen im Himmel und auf Erden, das Sichtbare und das Unsichtbare, Throne und Herrschaften, Mächte und Gewalten; alles ist durch ihn und auf ihn hin geschaffen.
17 Er ist vor aller Schöpfung, in ihm hat alles Bestand.
18 Er ist das Haupt des Leibes, der Leib aber ist die Kirche. Er ist der Ursprung, der Erstgeborene der Toten; so hat er in allem den Vorrang.
19 Denn Gott wollte mit seiner ganzen Fülle in ihm wohnen,
20 um durch ihn alles zu versöhnen. Alles im Himmel und auf Erden wollte er zu Christus führen, der Friede gestiftet hat am Kreuz durch sein Blut.



Liebe Brüder und Schwestern!

1. Bei dieser ersten Generalaudienz im neuen Jahr wollen wir für unsere Betrachtung bei dem berühmten Christus-Hymnus aus dem Kolosserbrief verweilen. Dieser Hymnus ist gleichsam das feierliche Eingangsportal zu diesem reichhaltigen paulinischen Schreiben und auch ein Eingangsportal zu diesem neuen Jahr. Eingerahmt wird der für unsere Betrachtung vorgesehene Hymnus von einer umfassenden Danksagung (vgl. die Verse 3 und 12-14). Sie hilft uns, die geistliche Atmosphäre zu schaffen, um diese ersten Tage des Jahres 2006 sowie auch unseren Weg durch die ganze Zeitspanne des neuen Jahres in rechter Weise zu leben (vgl. V. 15-20).

Der Lobpreis des Apostels und somit unser Lob steigt auf zu »Gott, dem Vater Jesu Christi, unseres Herrn« (V. 3), Quelle jenes Heils, das negativ als »Entreißen aus der Macht der Finsternis« (V. 13), das heißt als »Erlösung und Vergebung der Sünden« (V. 14), beschrieben wird. Es wird dann wieder ins Positive gekehrt als »Anteil haben am Los der Heiligen, die im Licht sind« (V. 12), und als Aufnahme »in das Reich seines geliebten Sohnes« (V. 13).

2. An diesem Punkt öffnet sich der großartige, reiche Hymnus: Im Mittelpunkt steht Christus, dessen Vorrang und Werk sowohl in der Schöpfung wie in der Erlösungsgeschichte gepriesen wird (vgl. V. 15-20). Der Lobgesang geht also in zwei Blickrichtungen. In der ersten wird Christus als vor aller Schöpfung gezeugt, als »der Erstgeborene der ganzen Schöpfung« vorgestellt (V. 15). Er ist in der Tat das »Ebenbild des unsichtbaren Gottes«, und dieser Ausdruck enthält die ganze Ausstrahlung, die die »Ikone« in der Kultur des Ostens hat: Es wird nicht nur die Ähnlichkeit, sondern die tiefe Vertrautheit mit dem dargestellten Thema unterstrichen.

Christus stellt auf sichtbare Weise den »unsichtbaren Gott« wieder in unsere Mitte. In ihm sehen wir das Angesicht Gottes durch die gemeinsame Natur, die sie verbindet. Durch diese seine erhabenste Würde hat Christus nicht nur wegen seiner Ewigkeit, sondern auch und vor allem durch sein vorausschauendes Schöpfungswerk »in allem« den Vorrang: »Denn in ihm wurde alles erschaffen im Himmel und auf Erden, das Sichtbare und das Unsichtbare […]; in ihm hat alles Bestand« (V. 16-17). Ja, alles ist auch »auf ihn hin geschaffen« (V. 16). Und so weist uns der hl. Paulus auf eine sehr wichtige Wahrheit hin: Die Geschichte hat ein Ziel und eine Richtung. Die Geschichte geht auf die in Christus geeinte Menschheit und damit auf den vollkommenen Menschen, auf den vollkommenen Humanismus zu. Mit anderen Worten, der hl. Paulus sagt uns: Ja, es gibt Fortschritt in der Geschichte. Es gibt - wenn wir so wollen - eine Evolution der Geschichte. Fortschritt ist all das, was uns Christus und damit der geeinten Menschheit, dem wahren Humanismus annähert. Und daher verbirgt sich in diesen Hinweisen auch eine Weisung für uns: Wir sollen für den Fortschritt arbeiten, was wir ja alle wollen. Wir können es dadurch tun, daß wir für die Annäherung der Menschen an Christus arbeiten; wir können es tun, indem wir uns persönlich Christus angleichen und auf diese Weise in die Richtung des wahren Fortschritts gehen.

3. Die zweite Blickrichtung des Hymnus (vgl. Col 1,18-20) wird von der Gestalt Christi, des Retters, innerhalb der Heilsgeschichte beherrscht. Sein Wirken offenbart sich vor allem darin, daß er »das Haupt des Leibes ist, der Leib aber ist die Kirche« (V. 18): Das ist die bevorzugte Heilsperspektive, in der die Befreiung und die Erlösung, die lebenswichtige Verbundenheit, die zwischen dem Haupt und den Gliedern des Leibes, also zwischen Christus und den Christen besteht, voll zutage treten. Der Blick des Apostels wendet sich dem letzten Ziel zu, auf das die Geschichte ausgerichtet ist: Christus ist »der Erstgeborene der Toten« (V. 18), er ist derjenige, der die Pforten zum ewigen Leben öffnet, indem er uns der Schranke des Todes und des Bösen entreißt.

Das ist tatsächlich jenes »pleroma«, jene »Fülle« von Leben und Gnade, die in Christus selbst wohnt und die uns geschenkt und mitgeteilt wird (vgl. V. 19). Durch diese lebendige Gegenwart, die uns zu Teilhabern an der Göttlichkeit macht, werden wir innerlich verwandelt, versöhnt und erhalten den Frieden: Das ist eine Harmonie des ganzen erlösten Seins, in dem nun Gott »alles und in allem« (1Co 15,28) sein wird, und als Christen leben heißt, sich in dieser Weise innerlich hin zur Gestalt Christi verwandeln zu lassen. Die Versöhnung, der Friede wird Wirklichkeit.

4. Diesem großartigen Mysterium der Erlösung widmen wir jetzt einen kontemplativ betrachtenden Blick und zwar mit den Worten des hl. Proklos von Konstantinopel, der im Jahr 446 gestorben ist. Er stellt in seiner ersten Homilie über die Gottesmutter Maria das Geheimnis der Erlösung als konsequente Folge der Menschwerdung Gottes dar.

Denn Gott - so der Bischof - ist Mensch geworden, um uns zu retten und uns damit der Macht der Finsternis zu entreißen und uns in das Reich seines geliebten Sohnes zurückzuführen, wie es in diesem Hymnus aus dem Kolosserbrief heißt. »Der uns erlöst hat, ist nicht ein bloßer Mensch«, führt Proklos aus, »denn das ganze Menschengeschlecht war ja der Sünde hörig; aber er war auch nicht ein Gott ohne menschliche Natur: denn er hatte einen Leib. Hätte er sich nicht mit mir bekleidet, hätte er mich nicht gerettet. Als er im Schoß der Jungfrau erschien, bekleidete er sich mit dem Gewand des Verdammten. Dort erfolgte der furchtbare Handel: er schenkte den Geist und nahm Fleisch an« (8, in: Testi mariani del primo millennio, I, Rom 1988, S. 561).

Wir stehen also vor dem Werk Gottes, der die Erlösung vollbracht hat, weil er eben auch Mensch ist. Er ist der Sohn Gottes, der Retter, aber er ist gleichzeitig auch unser Bruder, und durch diese Nähe gießt er in uns die göttliche Gabe aus.

Er ist wirklich der »Gott-mit-uns«. Amen!

Zu Beginn des neuen Jahres besinnen wir uns auf den Ursprung allen Lebens und den Geber jeder Gnade. Auf Gott hin, dem wir alles verdanken und dessen Führung wir uns erneut anvertrauen, bewegt sich unser Herz in diesen ersten Tagen des Jahres 2006. Dabei lassen wir uns vom Christus-Hymnus im Kolosserbrief des Apostels Paulus leiten, der den tiefsten Grund christlicher Danksagung nennt: „Dankt dem Vater mit Freude ... [denn] er hat uns der Macht der Finsternis entrissen und aufgenommen in das Reich seines geliebten Sohnes“. Christus ist „das Ebenbild des unsichtbaren Gottes“. In Ihm begegnen wir dem Vater, der „mit seiner ganzen Fülle in Ihm wohnen“ wollte. Der Sohn Gottes von Ewigkeit, unser Erlöser, ist als Mensch unser Bruder geworden. Im Wissen um diese radikale Nähe Gottes zu uns Menschen dürfen wir vertrauensvoll das neue Jahr beginnen.
* * *


Mit diesen Gedanken grüße ich gerne alle Pilger und Besucher deutscher Muttersprache, unter ihnen die Ritter vom Heiligen Grab der Komturei Frankfurt am Main und Gläubige der Pfarrei St. Michael in Athen. Ganz herzlich willkommen heiße ich ebenso die Mitglieder der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit aus Münster. - Dankt dem Vater mit Freude! In Jesus Christus, unserem Herrn und Bruder, hat er uns den Himmel geöffnet. Seine Gnade möge euch alle heute und an allen Tagen dieses Jahres begleiten. Ein gesegnetes und friedvolles Neues Jahr!




Mittwoch, 11. Januar 2006: Lesung: Psalm 144, 1-8

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Ps 144,1-8
1 Danklied auf das Glück des Gottesvolkes [Von David] Gelobt sei der Herr, der mein Fels ist, der meine Hände den Kampf gelehrt hat, meine Finger den Krieg.
2 Du bist meine Huld und Burg, meine Festung, mein Retter, mein Schild, dem ich vertraue. Er macht mir Völker untertan.
3 Herr, was ist der Mensch, daß du dich um ihn kümmerst, des Menschen Kind, daß du es beachtest?
4 Der Mensch gleicht einem Hauch, seine Tage sind wie ein flüchtiger Schatten.
5 Herr, neig deinen Himmel, und steig herab, rühre die Berge an, so daß sie rauchen.
6 Schleudre Blitze, und zerstreue die Feinde, schieß deine Pfeile ab, und jag sie dahin!
7 Streck deine Hände aus der Höhe herab, und befreie mich; reiß mich heraus aus gewaltigen Wassern, aus der Hand der Fremden!
8 Alles, was ihr Mund sagt, ist Lüge, Meineide schwört ihre Rechte.



Liebe Brüder und Schwestern!

1. Unsere Reise durch den Psalter, der im Stundengebet der Vesper verwendet wird, führt heute zu einem königlichen Hymnus: Psalm 144. Dessen erster Teil ist soeben erklungen, denn die Liturgie stellt uns diesen Gesang in zwei Teilen vor.

Der erste Teil (vgl. V. 1-8) enthüllt auf sehr klare Weise den literarischen Charakter dieser Komposition: Der Psalmist greift auf Zitate aus anderen Psalmtexten zurück und artikuliert sie in einem neuen Gesangs- und Gebetsentwurf.

Gerade weil der Psalm aus einer späteren Epoche stammt, fällt es leicht, daran zu denken, daß der König, der hier verherrlicht wird, nicht mehr die Züge des davidischen Herrschers hat, da das jüdische Königtum mit dem Babylonischen Exil des 6. Jahrhunderts vor Christus zu Ende gegangen war, sondern daß er die glänzende und glorreiche Gestalt des Messias repräsentiert, dessen Sieg nicht mehr ein kriegerisch-politisches Ereignis ist, sondern ein befreiendes Eingreifen gegen das Böse. An die Stelle des »Messias« - das hebräische Wort bezeichnet den »Gesegneten«, wie es der Herrscher war - tritt so der »Messias« schlechthin, der in der christlichen Interpretation das Antlitz Jesu Christi trägt, »des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams« (Mt 1,1).

2. Der Hymnus wird mit einem Lob eröffnet, mit einem Ausruf des Lobes auf den Herrn, der mit einer kleinen Litanei von Heilstiteln gerühmt wird: Er ist der sichere und unverrückbare Fels, er ist die liebevolle Huld, die geschützte Festung, der Zufluchtsort, die Befreiung und der Schild, der jeden Angriff des Bösen abhält (vgl. Ps 144,1-2). Das ist auch das martialische Bild von Gott, der seinen Gläubigen für den Kampf schult, damit dieser sich der feindseligen Umgebung und den dunklen Mächten der Welt zu stellen vermag.

Vor dem allmächtigen Herrn fühlt sich der Beter selbst in seiner königlichen Würde schwach und zerbrechlich. Da stößt er ein Bekenntnis seiner Demut hervor, das er in Worte faßt, die, wie gesagt, den Psalmen 8 und 39 entnommen sind: Er fühlt sich in der Tat wie ein »Hauch« und ein flüchtiger Schatten, kümmerlich und unbeständig, eingetaucht in den Fluß der Zeit, die verrinnt, gezeichnet von der Begrenztheit, die wesentlich zum Geschöpf gehört (vgl. Ps 144,4).

3. Daraus ergibt sich nun die Frage: Warum kümmert sich Gott überhaupt um dieses arme und schwache Geschöpf und beachtet es? Auf diese Frage (vgl. V. 3) antwortet die großartige Herabkunft Gottes, die sogenannte Theophanie, begleitet von einem Festzug aus kosmischen Elementen und historischen Ereignissen, die darauf ausgerichtet sind, die Transzendenz des höchsten Königs des Seins, des Universums und der Geschichte zu preisen.

Da ist von Bergen die Rede, die wie bei Vulkanausbrüchen rauchen (vgl. V. 5), von Blitzen, die Pfeilen ähnlich sind und die Bösen auseinandertreiben (vgl. V. 6), von den »gewaltigen Wassern« des Ozeans, die das Chaos symbolisieren, aus dem der König jedoch durch die Hand Gottes gerettet wird (vgl. V. 7). Im Hintergrund befinden sich die gottlosen Frevler, die lügen und Meineide schwören (vgl. V. 7-8), eine dem semitischen Stil entsprechende konkrete Darstellung des Götzendienstes, der moralischen Verirrung und des Bösen, das sich tatsächlich Gott und seinem Gläubigen widersetzt.

4. In unserer Betrachtung wollen wir uns nun zunächst auf das Bekenntnis der Demut konzentrieren, das der Psalmist ausspricht. Dazu vertrauen wir uns den Worten des Origenes an, dessen Kommentar zu dieser Textstelle in der lateinischen Version des hl. Hieronymus auf uns gekommen ist. »Der Psalmist spricht von der Zerbrechlichkeit des Leibes und der menschlichen Verfassung«, denn »was seine Verfassung angeht, ist der Mensch ein Nichts. ›Windhauch, Windhauch, das ist alles Windhauch‹, sagte Kohelet«. Aber da taucht wieder die erstaunte und dankbare Frage auf: »›Herr, was ist der Mensch, daß du dich ihm offenbarst?‹… Es ist eine große Glückseligkeit für den Menschen, seinen Schöpfer zu kennen. Darin unterscheiden wir uns von den wilden Tieren und den anderen Lebewesen: Wir wissen, daß wir unseren Schöpfer haben, während sie das nicht wissen«. Es lohnt sich, ein wenig über diese Worte des Origines nachzudenken, der den grundlegenden Unterschied zwischen dem Menschen und den anderen Lebewesen darin sieht, daß der Mensch fähig ist, Gott, seinen Schöpfer, zu erkennen, daß der Mensch fähig zur Wahrheit ist, fähig zu einer Kenntnis, die zur Beziehung, zur Freundschaft wird. In unserer Zeit ist es wichtig, daß wir neben allen anderen Kenntnissen, die wir inzwischen erworben haben - und sie sind überaus zahlreich! -, Gott nicht vergessen! Alle diese Kenntnisse werden nämlich problematisch, ja manchmal gefährlich, wenn die grundlegende Kenntnis fehlt, die allem Sinn und Orientierung verleiht: die Kenntnis von Gott, dem Schöpfer.

Kehren wir zu Origines zurück. Er sagt: »Du wirst dieses Häufchen Elend, das der Mensch ist, nicht retten können, wenn du sein Elend nicht selbst auf dich nimmst. ›Herr, neige deinen Himmel und steig herab.‹ Dein verirrtes Schaf wird nicht gesund werden können, wenn du es nicht auf deine Schultern nimmst… Diese Worte sind an den Sohn gerichtet: ›Herr, neige deinen Himmel und steig herab‹ … Du bist herabgestiegen, du hast den Himmel herabgesenkt und von oben deine Hand ausgestreckt und dich herabgelassen, das Fleisch des Menschen auf dich zu nehmen, und viele haben an dich geglaubt« (Origenes-Hieronymus, 74 Predigten über das Buch der Psalmen, Mailand 1993, S. 512-515). Für uns Christen ist Gott nicht mehr eine Hypothese wie in der Philosophie vor der Zeit des Christentums, sondern eine Realität, weil Gott »den Himmel geneigt hat und herabgestiegen ist«. Der Himmel ist er selbst, und er ist herabgestiegen mitten unter uns. Mit Recht sieht Origenes im Gleichnis vom verlorenen Schaf, das der Hirt auf seine Schultern nimmt, das Gleichnis von der Menschwerdung Gottes. Ja, in der Menschwerdung ist er herabgestiegen und hat unser Fleisch und damit uns selbst auf seine Schultern genommen. Auf diese Weise ist die Kenntnis Gottes Wirklichkeit geworden, sie ist Freundschaft, Gemeinschaft geworden. Danken wir dem Herrn, denn »er hat seinen Himmel geneigt und ist herabgestiegen«. Er hat unser Fleisch auf seine Schultern genommen und trägt uns auf den Wegen unseres Lebens.

Der Psalm, der mit unserer Entdeckung beginnt, daß wir schwach und weit entfernt sind vom göttlichen Glanz, mündet schließlich in dieses große und wunderbare Staunen über das Wirken Gottes: Bei uns ist Gott-Immanuel, der für den Christen das liebevolle Antlitz Jesu Christi trägt, des Mensch gewordenen Gottes, der einer von uns geworden ist.

Im festen Vertrauen auf Gottes erbarmende Liebe stimmt der Beter von Psalm 144 dankbar einen Lobpreis des Allerhöchsten an. Er weiß sich unter dem Schutz des Herrn. Dies drückt der Psalmist in einer ganzen Reihe von Ehrentiteln aus: Der Herr ist sein Fels, seine Burg und Festung, sein Retter und Schild (vgl. VV. 1-2). Vor der Größe und Güte Gottes erkennt der Gläubige zugleich die eigene Schwachheit: „Der Mensch gleicht einem Hauch, seine Tage sind wie ein flüchtiger Schatten“ (V. 4).

Diese demütige Erkenntnis führt aber zu einer neuen Einsicht: Gott kommt den Menschen entgegen! Der Schöpfer trägt Sorge für seine Geschöpfe. Er sendet seinen Sohn vom Himmel herab - als Mensch unter die Menschen. Im Staunen vor der Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes lobpreisen wir Christen den Herrn als den Emmanuel. Er ist in der Tat der „Gott mit uns“, der sich im liebenden Antlitz Jesu Christi, unseres Erlösers, offenbart.
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Von Herzen heiße ich alle deutschsprachigen Pilger und Besucher willkommen. Gott will allen Menschen nahe sein. Seine liebende Nähe wird besonders auch in einer wahren und echten Gemeinschaft sichtbar. Liebe Freunde, tragt in eurer Umgebung dazu bei, daß Gemeinschaft wachsen und sich entfalten kann. Der Heilige Geist geleite euch auf allen Wegen.




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