Generalaudienzen 2005-2013 20028

Mittwoch , 20. Februar 2008: Der Hl. Augustinus (4)

20028

- Petersdom

Mit Freude grüße ich die Audienzteilnehmer aus den Ländern deutscher Sprache hier im Petersdom. Die Fastenzeit, die österliche Bußzeit, bietet eine gute Gelegenheit, den Weg der Umkehr entschieden weiterzugehen und sich um eine geistliche Erneuerung zu bemühen für eine Neubelebung des Glaubens und unserer Beziehung zu Gott sowie für einen großherzigen Einsatz im Geist des Evangeliums. Die Liebe ist der Lebensstil, der den glaubenden Menschen auszeichnet. Werdet nicht müde, überall Zeugnis für die Nächstenliebe zu geben. Euch allen wünsche ich einen gesegneten Aufenthalt hier in Rom.
Audienzenhalle


Einen frohen Gruß richte ich an die deutschsprachigen Pilger und Besucher. Unter ihnen grüße ich besonders die Kirchenrechtsstudenten der Universitäten München, Augsburg und Potsdam. In seinen Schriften zeigt uns Augustinus auch heute den Weg, den Glauben tiefer zu verstehen. Wenn man sie liest, sieht man, daß der Glaube der gleiche geblieben ist und immerfort Gegenwart ist, die uns auch heute den Weg zeigt. So sollen wir wie er nicht müde werden, Gott immer neu zu suchen, um ihn dann auch immer mehr zu lieben und seine Zeugen zu sein. Von Herzen segne ich euch alle.

* * *


Der Hl. Augustinus (4)

Liebe Brüder und Schwestern!

Nach der kurzen Unterbrechung durch die Exerzitien in der vergangenen Woche kommen wir heute zur großen Gestalt des hl. Augustinus zurück, über den ich bereits mehrmals in den Mittwochskatechesen gesprochen habe. Er ist der Kirchenvater, der die größte Zahl an Werken hinterlassen hat, und über diese will ich heute kurz sprechen. Einige Schriften des Augustinus sind von grundlegender Bedeutung, und dies nicht nur für die Geschichte des Christentums, sondern für die Entwicklung der gesamten abendländischen Kultur: das deutlichste Beispiel sind die Confessiones, zweifellos eines der meistgelesenen Bücher der christlichen Antike. Wie verschiedene Kirchenväter der ersten Jahrhunderte, aber in unvergleichlich größerem Ausmaß, übte auch der Bischof von Hippo in der Tat einen weitreichenden und anhaltenden Einfluß aus, wie schon aus der überreichen Handschriftenüberlieferung seiner Werke deutlich wird, die wirklich sehr zahlreich sind.

Er selbst hat einige Jahre vor seinem Tod in den Retractationes eine Übersicht seiner Schriften erstellt, und kurz nach seinem Tod wurden sie sorgfältig in dem Indiculus (»Verzeichnis«) aufgeführt, den sein treuer Freund Possidius der Biographie des hl. Augustinus Vita Augustini beifügte. Das Verzeichnis der Werke des Augustinus wurde mit der ausdrücklichen Absicht angelegt, deren Gedächtnis zu bewahren, während sich die Invasion der Vandalen im ganzen römischen Afrika ausbreitete, und es führt gut 1030 Schriften an, die von ihrem Verfasser numeriert worden waren; dazu kommen weitere Schriften, »die nicht gezählt werden können, weil er sie mit keiner Zahl versehen hat«. Als Bischof einer benachbarten Stadt diktierte Possidius diese Worte in Hippo - wohin er geflohen war und wo er beim Sterben des Freundes zugegen war - und stützte sich dabei sicherlich auf den Katalog der persönlichen Bibliothek des Augustinus. Heute sind noch über 300 Briefe des Bischofs von Hippo und fast 600 Predigten erhalten, aber ursprünglich war die Zahl der Predigten viel, viel größer, vielleicht sogar zwischen 3000 und 4000 - Frucht von 40 Jahren Predigttätigkeit des ehemaligen Rhetors, der sich entschlossen hatte, Jesus zu folgen und nicht mehr zu den Großen des Kaiserhofes zu sprechen, sondern zum einfachen Volk von Hippo.

Noch in den letzten Jahren haben die Entdeckungen einer Reihe von Briefen und einiger Predigten unsere Kenntnis dieses großen Kirchenvaters bereichert. »Viele Bücher« - schreibt Possidius - »wurden von ihm verfaßt und veröffentlicht, viele Predigten wurden in der Kirche gehalten, niedergeschrieben und verbessert, sei es, um die verschiedenen Häretiker zu widerlegen, sei es, um die Heilige Schrift zur Erbauung der heiligen Söhne der Kirche auszulegen. Von diesen Werken« - hebt der befreundete Bischof hervor - »gibt es so viele, daß ein Gelehrter kaum in der Lage ist, sie alle zu lesen und kennenzulernen« (Vita Augustini, 18,9).

Im literarischen Schaffen des Augustinus - also mehr als 1000 Veröffentlichungen, die in philosophische, apologetische, lehrmäßige, moralische, monastische, exegetische und gegen die Irrlehren gerichtete Schriften unterteilt sind, und dazu noch die Briefe und Predigten - ragen einige außergewöhnliche Werke von großem theologischen und philosophischen Geist hervor. Zu erinnern ist vor allem an die schon erwähnten Confessiones, die in dreizehn Büchern zwischen 397 und 400 zum Lob Gottes geschrieben worden sind. Sie sind eine Art Autobiographie in Form eines Dialogs mit Gott. Diese literarische Gattung spiegelt das Leben des hl. Augstinus wider, das weder ein in sich verschlossenes noch ein in viele Dinge zerstreutes Leben war, sondern ein Leben, das im wesentlichen als Dialog mit Gott gelebt wurde und so ein Leben mit den anderen war. Schon der Titel Confessiones/Bekenntnisse verweist auf den besonderen Charakter dieser Autobiographie. Dieses Wort »confessiones« hat im christlichen Latein, das sich aus der Tradition der Psalmen entwickelt hat, zwei Bedeutungen, die jedoch eng miteinander verbunden sind. »Confessiones« besagt an erster Stelle das Bekenntnis der eigenen Schwächen, des Elends der Sünden; aber gleichzeitig bedeutet »confessiones« Lob Gottes, Anerkennung Gottes. Die eigene Armseligkeit im Licht Gottes zu sehen, wird zum Lob Gottes und zum Dank, daß Gott uns liebt und annimmt, daß er uns verwandelt und uns zu sich selbst erhebt. Über diese Confessiones, die schon während des Lebens des hl. Augustinus großen Erfolg hatten, schrieb er selbst: »Sie haben auf mich, während ich sie schrieb, eine solche Wirkung ausgeübt und sie üben sie noch immer aus, wenn ich sie wieder lese. Es gibt viele Brüder, denen diese Werke gefallen« (Retractationes, II,6): Und ich muß sagen, daß auch ich einer von diesen »Brüdern« bin. Und dank der Confessiones können wir Schritt für Schritt den inneren Weg dieses außerordentlichen und leidenschaftlich für Gott entflammten Mannes verfolgen. Weniger verbreitet, aber ebenso originell und sehr wichtig sind sodann die Retractationes, die um das Jahr 427 in zwei Büchern verfaßt wurden, in denen der hl. Augustinus nun als alter Mann ein Werk der »Durchsicht« (»retractatio«) seines gesamten geschriebenen Werkes vollzieht und so ein einzigartiges und sehr wertvolles literarisches Dokument, aber auch eine Lehre von Aufrichtigkeit und intellektueller Demut hinterläßt.

De civitate Dei - ein eindrucksvolles und für die Entwicklung des abendländischen politischen Denkens und für die christliche Geschichtstheologie entscheidendes Werk - wurde zwischen 413 und 426 in 22 Büchern geschrieben. Der Anlaß war die Plünderung Roms durch die Goten im Jahr 410. Viele noch lebende Heiden, aber auch viele Christen hatten gesagt: Rom ist gefallen, jetzt können der christliche Gott und die Apostel die Stadt nicht schützen. Während der Gegenwart der heidnischen Gottheiten war Rom »caput mundi«, die große Hauptstadt, und niemand hätte gedacht, daß sie jemals in die Hände der Feinde fallen würde. Jetzt, mit dem christlichen Gott, schien diese große Stadt nicht mehr sicher. Der Gott der Christen schützte also nicht, er konnte nicht der Gott sein, dem man sich anvertrauen kann. Auf diesen Einwand, der auch das Herz der Christen tief berührte, antwortet der hl. Augustinus mit diesem großartigen Werk, dem De civitate Dei, und klärt damit, was wir uns von Gott erwarten sollen und was nicht, wie das Beziehungsverhältnis zwischen der politischen Sphäre und der Sphäre des Glaubens, der Kirche, aussieht. Auch heute ist dieses Buch eine Quelle, um die wahre »Laicità« und die Zuständigkeit der Kirche, die große wahre Hoffnung, die uns der Glaube schenkt, richtig zu bestimmen.

Dieses große Buch ist eine Darlegung der Menschheitsgeschichte, die von der göttlichen Vorsehung gelenkt, aber gegenwärtig von zwei Arten der Liebe gespalten wird. Und das ist der zugrundeliegende Plan, seine Auslegung der Geschichte, die der Kampf zwischen den zwei Arten der Liebe ist: Eigenliebe »bis hin zur Gleichgültigkeit gegenüber Gott« und Gottesliebe »bis hin zur Gleichgültigkeit gegenüber sich selbst« (De civitate Dei, XIV,28), bis hin zur vollen Freiheit von sich selbst für die anderen im Licht Gottes. Das also ist vielleicht das größte Buch des hl. Augustinus und von bleibender Wichtigkeit. Ebenso wichtig ist De Trinitate, ein Werk in 15 Büchern über den Wesenskern des christlichen Glaubens, den Glauben an den dreieinigen Gott, das in zwei Zeitabschnitten geschrieben wurde: zwischen 399 und 412 die ersten zwölf Bücher, die ohne Wissen des Augustinus veröffentlicht wurden, der sie um das Jahr 420 vervollständigte und das gesamte Werk revidierte. Hier denkt er über das Antlitz Gottes nach und versucht, dieses Geheimnis des Gottes zu verstehen, der der eine ist, der eine Schöpfer der Welt, Schöpfer von uns allen, und dennoch ist gerade dieser eine Gott dreifaltig, ein Kreis der Liebe. Er versucht, das unergründliche Geheimnis zu begreifen: gerade das dreifaltige Sein in drei Personen ist die wirklichste und tiefste Einheit des einen Gottes. Die Schrift De doctrina Christiana hingegen ist eine regelrechte kulturelle Einführung in die Auslegung der Bibel und letztlich in das Christentum selbst, das entscheidende Bedeutung bei der Herausbildung der abendländischen Kultur gehabt hat.

Trotz all seiner Demut war sich Augustinus gewiß seines intellektuellen Formats bewußt. Aber wichtiger als große Werke von außergewöhnlicher theologischer Weite zu verfassen, war es für ihn, die christliche Botschaft den einfachen Menschen zu bringen. Diese seine tiefste Absicht, die sein ganzes Leben geleitet hat, tritt in einem Brief an seinen Mitbruder Evodius zutage, wo er diesem die Entscheidung mitteilt, für den Augenblick das Diktieren der Bücher des Werkes De Trinitate zu unterbrechen, »da sie zu anstrengend sind, und ich denke, daß sie von wenigen verstanden werden können; deshalb sind mehr Texte dringend nötig, die hoffentlich vielen nützlich sein werden« (Epistulae, 169,1,1). Es war also für ihn nützlicher, den Glauben in verständlicher Weise allen mitzuteilen als große theologische Werke zu schreiben. Die scharfsinnig wahrgenommene Verantwortung gegenüber der Verbreitung der christlichen Botschaft liegt dann Schriften zugrunde wie De catechizandis rudibus, eine Theorie und auch Praxis der Katechese, oder Psalmus contra partem Donati. Die Donatisten waren das große Problem im Afrika des hl. Augustinus, ein ganz bewußt afrikanisches Schisma. Sie behaupteten: die wahre Christenheit ist die afrikanische. Sie widersetzten sich der Einheit der Kirche. Gegen dieses Schisma hat der große Bischof sein ganzes Leben lang gekämpft, während er versuchte, die Donatisten davon zu überzeugen, daß nur in der Einheit auch die Afrikanität wahr sein kann. Und um von den einfachen Menschen verstanden zu werden, die das großartige Latein des Rhetors nicht verstehen konnten, hat er gesagt: Ich muß auch mit grammatikalischen Fehlern schreiben, in einem sehr vereinfachten Latein. Und er tat dies vor allem in diesem Psalmus, einer Art einfachem Gedicht gegen die Donatisten, um allen Menschen zu helfen zu verstehen, daß nur in der Einheit der Kirche sich für alle wirklich unsere Beziehung zu Gott verwirklicht und der Friede in der Welt wächst.

In diesem für ein breiteres Publikum bestimmten Schaffen erhält die Menge an Predigten - die oft frei gesprochen, von den Stenographen während der Predigt mitgeschrieben und dann sofort in Umlauf gebracht wurden - eine besondere Wichtigkeit. Unter diesen ragen die wunderschönen Enarrationes in Psalmos hervor, die im Mittelalter viel gelesen wurden. Gerade die Praxis der Veröffentlichung der Tausenden von Predigten des Augustinus - oft ohne die Kontrolle des Verfassers - erklärt ihre Verbreitung und ihre spätere Zerstreuung, aber auch ihre Lebendigkeit. Die Predigten des Bischofs von Hippo wurden in der Tat wegen des Rufes ihres Verfassers sogleich zu sehr gesuchten Texten und dienten auch anderen Bischöfen und Priestern als Vorbilder, die immer neuen Umfeldern angepaßt wurden.

Die ikonographische Tradition stellt schon auf einem auf das 6. Jahrhundert zurückgehenden Fresko im Lateran den hl. Augustinus mit einem Buch in der Hand dar, sicher als Ausdruck für sein literarisches Schaffen, das die Gesinnung und das Denken der Christen so sehr beeinflußt hat, aber auch, um seine Liebe zu den Büchern, zum Lesen und zur Kenntnis der großen vorausgehenden Kultur auszudrücken. Bei seinem Tod hinterließ er nichts, erzählt Possidius, aber er »ermahnte immer dazu, die Bibliothek der Kirche mit allen Codices sorgfältig für die Nachwelt zu bewahren«, vor allem jene seiner Werke. In diesen, hebt Possidius hervor, ist Augustinus »immer lebendig« und nützt dem, der seine Schriften liest, auch wenn, sagt er abschließend, »ich glaube, daß diejenigen, die ihn persönlich sehen oder hören konnten, wenn er in der Kirche sprach, und vor allem jene, die seinen Alltag unter den Menschen miterlebten, aus dem Kontakt mit ihm größeren Gewinn hatten« (Vita Augustini, 31). Ja, auch für uns wäre es schön gewesen, ihn leibhaftig hören zu können. Aber er ist wirklich lebendig in seinen Schriften, er ist in uns gegenwärtig, und so sehen wir auch die bleibende Lebendigkeit des Glaubens, dem er sein ganzes Leben geschenkt hat.

Liebe Brüder und Schwestern!

In der heutigen Katechese möchte ich unsere Betrachtungen über den heiligen Augustinus wieder aufnehmen und einige seiner wichtigsten Werke kurz vorstellen. Augustinus selbst hat wenige Jahre vor seinem Tod eine kritische Übersicht seiner Schriften erstellt, die er „Retractationes“ nannte und die uns Aufschluß über die Entstehung der Werke wie auch über die Entwicklung seines Denkens gibt. Eine Liste der Werke findet sich auch im Anhang an die von seinem Freund Possidius verfaßte Vita des Bischofs von Hippo. Unter seinem reichen literarischen Schaffen ragen einige Werke in besonderer Weise hervor, die großen Anklang und Erfolg gefunden haben. Dazu zählt seine autobiographische Schrift der „Confessiones“, die nicht nur als Bekenntnisse Einblick in das innere Leben Augustins gewähren, sondern vor allem eine Anerkennung des gütigen Wirkens Gottes sind. Die 22 Bücher des Gottesstaates „De civitate Dei“ hingegen übten einen entscheidenden Einfluß auf das politische Denken im Abendland und auf die christliche Geschichtstheologie aus. Ebenso bedeutend ist sein großes Werk über die Dreifaltigkeit „De Trinitate“, das er im Laufe von 14 Jahren verfaßt hat. Als Seelsorger lag Augustinus die Verbreitung der christlichen Botschaft und die Verkündigung für die Gläubigen besonders am Herzen. Davon zeugen unter anderem seine unzähligen Predigten und Briefe. Mit seinem Wirken und in seinen Schriften hat dieser Kirchenvater in der Tat großen und andauernden Einfluß auf die Theologie und die geistesgeschichtliche Entwicklung des Abendlandes ausgeübt.



Audienzenhalle - Mittwoch , 27. Februar 2008: Der Hl. Augustinus (5)

27028

Liebe Brüder und Schwestern!

Mit der heutigen Begegnung möchte ich die Vorstellung der Gestalt des hl. Augustinus abschließen. Nachdem wir uns bei seinem Leben, seinen Werken und einigen Aspekten seines Denkens aufgehalten haben, möchte ich heute auf seinen inneren Weg zurückkommen, die aus ihm einen der größten Bekehrten der christlichen Geschichte gemacht hat. Dieser seiner Erfahrung habe ich im besonderen meine Überlegung während der Pilgerreise gewidmet, die ich im vergangenen Jahr nach Pavia unternommen habe, um die sterblichen Überreste dieses Kirchenvaters zu verehren. Auf diese Weise wollte ich ihm die Ehrerbietung der ganzen katholischen Kirche bezeigen, aber auch meine persönliche Verehrung und Dankbarkeit gegenüber einer Gestalt sichtbar machen, der ich mich sehr verbunden fühle wegen der Rolle, die sie in meinem Leben als Theologe, Priester und Hirt gespielt hat.

Noch heute ist es möglich, dem inneren Weg des hl. Augustinus nachzugehen - vor allem dank der zum Lob Gottes geschriebenen Confessiones, die einer der spezifischsten literarischen Formen des Abendlandes zugrunde liegen, der Autobiographie, das heißt dem persönlichen Ausdruck des Selbstbewußtseins. Nun, wer auch immer sich diesem außerordentlichen und faszinierenden Buch nähert, das noch heute viel gelesen wird, bemerkt leicht, daß die Bekehrung des Augustinus weder unvermittelt noch von Anfang an voll verwirklicht war, sondern vielmehr als ein richtiggehender Weg definiert werden kann, der ein Vorbild für jeden von uns bleibt. Dieser Weg fand seinen Höhepunkt gewiß in der Bekehrung und dann in der Taufe, aber er endete nicht in jener Osternacht des Jahres 387, als der afrikanische Rhetor in Mailand von Bischof Ambrosius getauft wurde. Der Weg der Bekehrung des Augustinus ging nämlich demütig weiter bis ans Ende seines Lebens, so daß man wirklich sagen kann, daß seine verschiedenen Etappen - es können leicht drei unterschieden werden - eine einzige große Bekehrung sind.

Der hl. Augustinus war ein leidenschaftlicher Sucher der Wahrheit: Er war dies von Anfang an und dann sein ganzes Leben lang. Die erste Etappe seines Bekehrungsweges vollzog sich gerade in der fortschreitenden Annäherung an das Christentum. In Wirklichkeit hatte er von seiner Mutter Monika, der er immer sehr verbunden geblieben ist, eine christliche Erziehung erhalten, und obwohl er während seiner Jugendjahre ein zügelloses Leben geführt hatte, fühlte er sich immer tief von Christus angezogen, da er, wie er selbst hervorhebt, die Liebe zum Namen des Herrn mit der Muttermilch getrunken hatte (vgl. Confessiones, III, 4,8). Aber auch die Philosophie, vor allem jene platonischer Prägung, hatte dazu beigetragen, ihn weiter an Christus anzunähern, indem sie ihm die Existenz des Logos, der schöpferischen Vernunft, deutlich machte. Die Bücher der Philosophen zeigten ihm, daß es die Vernunft gibt, aus der dann die ganze Welt hervorgeht, aber sie sagten ihm nicht, wie dieser Logos erreicht werden könne, der so fern zu sein schien. Erst die Lektüre der Briefsammlung des hl. Paulus im Glauben der katholischen Kirche offenbarte ihm die volle Wahrheit. Diese Erfahrung wurde von Augustinus auf einer der berühmtesten Seiten der Confessiones zusammengefaßt: Er erzählt, daß er sich in der Qual seiner Reflexionen in einen Garten zurückgezogen hatte, als er plötzlich eine Kinderstimme hörte, die singend in einer nie zuvor gehörten Melodie wiederholte: »tolle, lege, tolle, lege! - Nimm und lies! Nimm und lies!« (VIII,12,29). Da erinnerte er sich an die Bekehrung des Antonius, des Vaters des Mönchtums, und wandte sich aufmerksam wieder dem Schriftwerk des Paulus zu, das er kurz zuvor in Händen hatte, öffnete es, und sein Blick fiel auf den Abschnitt aus dem Brief an die Römer, wo der Apostel dazu ermahnt, die Werke des Fleisches aufzugeben und Christus als Gewand anzulegen (13,13-14). Er hatte verstanden, daß jenes Wort in jenem Augenblick persönlich an ihn gerichtet war: Es kam durch den Apostel von Gott und zeigte ihm, was er in jenem Moment tun sollte. So spürte er, daß sich die Finsternis des Zweifels zerstreute, und war endlich frei, sich Christus ganz zu schenken: »Du hast mein Sein zu dir bekehrt«, kommentiert er (Confessiones, VIII,12,30). Das war die erste und entscheidende Bekehrung.

Zu dieser grundlegenden Etappe seines langen Weges gelangte der afrikanische Rhetor dank seiner Leidenschaft für den Menschen und für die Wahrheit, eine Leidenschaft, die ihn dazu brachte, Gott zu suchen, der groß und unnahbar ist. Der Glaube an Christus ließ ihn verstehen, daß der anscheinend so ferne Gott in Wirklichkeit nicht so fern war. Er hatte sich nämlich uns genähert, indem er einer von uns wurde. In diesem Sinn brachte der Glaube an Christus die lange Suche des Augustinus auf dem Weg der Wahrheit zur Erfüllung. Nur ein Gott, der »berührbar«, einer von uns geworden war, war endlich ein Gott, zu dem man beten konnte, für den und mit dem man leben konnte. Dies ist ein Weg, den man mit Mut und zugleich in Demut zurücklegen muß, in der Öffnung zu einer ständigen Läuterung, deren ein jeder von uns ständig bedarf. Aber mit jener Osternacht des Jahres 387 war, wie wir gesagt haben, der Weg des Augustinus nicht abgeschlossen. Nachdem er nach Afrika zurückgekehrt war und ein kleines Kloster gegründet hatte, zog er sich mit wenigen Freunden dorthin zurück, um sich dem kontemplativen Leben und dem Studium zu widmen. Das war der Traum seines Lebens. Jetzt war er dazu berufen, ganz für die Wahrheit, mit der Wahrheit, in der Freundschaft Christi zu leben, der die Wahrheit ist. Ein schöner Traum, der drei Jahre dauerte, bis er, gegen seinen Willen, in Hippo zum Priester geweiht und dazu bestimmt wurde, den Gläubigen zu dienen, indem er zwar weiterhin mit Christus und für Christus lebte, aber im Dienst aller. Das fiel ihm sehr schwer, aber er verstand von Anfang an, daß er nur dann, wenn er für die anderen und nicht einfach für seine private Kontemplation lebte, wirklich mit Christus und für Christus leben konnte. Indem Augustinus so auf ein rein meditatives Leben verzichtete, lernte er, oft unter Schwierigkeiten, die Frucht seiner Intelligenz den anderen zu ihrem Nutzen zur Verfügung zu stellen. Er lernte, seinen Glauben den einfachen Menschen mitzuteilen und so für sie in jener Stadt zu leben, die seine Stadt wurde, und übte unermüdlich eine großherzige und mühsame Tätigkeit aus, die er in einer seiner wunderschönen Predigten so beschreibt: »Immer wieder predigen, disputieren, ermahnen, erbauen, für jeden bereitstehen. Das ist eine große Last, ein schwerer Druck, eine mühseliges Werk« (Serm. 339,4). Aber diese Last nahm er auf sich, da er verstand, daß er gerade so Christus näher sein konnte. Zu verstehen, daß man zu den anderen durch Einfachheit und Demut gelangt - das war seine wahre und zweite Bekehrung.

Es gibt aber eine letzte Etappe auf dem Weg des Augustinus, eine dritte Bekehrung: jene, die ihn jeden Tag seines Lebens Gott um Vergebung bitten ließ. Anfangs hatte er gedacht, daß er, einmal getauft, im Leben der Gemeinschaft mit Christus, in den Sakramenten, in der Feier der Eucharistie, zu dem Leben gelangt wäre, das von der Bergpredigt vorgeschlagen wird: zur Vollkommenheit, die in der Taufe geschenkt und in der Eucharistie bestätigt wird. Im letzten Abschnitt seines Lebens verstand er, daß das, was er in seinen ersten Predigten über die Bergpredigt gesagt hatte - nämlich daß wir jetzt als Christen dieses Ideal ständig leben -, falsch war. Nur Christus selbst verwirklicht wahrhaft und vollständig die Bergpredigt. Wir haben es immer nötig, von Christus, der uns die Füße wäscht, gewaschen und von ihm erneuert zu werden. Wir bedürfen einer ständigen Bekehrung. Bis zum Schluß bedürfen wir dieser Demut, die anerkennt, daß wir als Sünder unterwegs sind, bis der Herr uns endgültig die Hand reicht und uns in das ewige Leben einführt. In dieser letzten Demutshaltung, die er Tag für Tag lebte, ist Augustinus gestorben.

Diese Haltung der tiefen Demut vor dem einzigen Herrn Jesus führte ihn in die Erfahrung einer auch intellektuellen Demut ein. Augustinus, der eine der größten Gestalten in der Geschichte des Denkens ist, wollte nämlich in seinen letzten Lebensjahren alle seine sehr zahlreichen Werke einer nüchternen kritischen Prüfung unterziehen. So entstanden die Retractationes (»Durchsichten«), die auf diese Weise sein wahrhaft großes theologisches Denken in den demütigen und heiligen Glauben jener einfügt, die er einfach Catholica nennt, das heißt der Kirche. Ich habe erkannt - schreibt er in diesem sehr originellen Buch (vgl. I,19,1-3) -, daß nur einer wirklich vollkommen ist und daß nur in einem die Worte der Bergpredigt ganz erfüllt sind: in Jesus Christus selbst. Die ganze Kirche aber - wir alle, die Apostel eingeschlossen - muß jeden Tag beten: Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.

Zu Christus bekehrt, der Wahrheit und Liebe ist, folgte ihm Augustinus sein ganzes Leben lang und ist so ein Vorbild für jeden Menschen geworden, für uns alle, die wir auf der Suche nach Gott sind. Deshalb wollte ich meine Pilgerreise nach Pavia beenden, indem ich der Kirche und der Welt vor dem Grab dieses großen in Gott Verliebten auf ideelle Weise meine erste Enzyklika mit dem Titel Deus caritas est übergab. Diese verdankt nämlich vor allem in ihrem ersten Teil viel dem Denken des hl. Augustinus. Auch heute wie zu seiner Zeit hat es die Menschheit nötig, diese fundamentale Wirklichkeit zu kennen und vor allem zu leben: Gott ist Liebe, und die Begegnung mit ihm ist die einzige Antwort auf die Unruhe des menschlichen Herzens. Ein Herz, in dem die Hoffnung wohnt, in vielen unserer Zeitgenossen vielleicht noch dunkel und unbewußt, die aber für uns Christen schon heute den Weg zur Zukunft eröffnet, so daß der hl. Paulus geschrieben hat: »Denn wir sind gerettet, doch in der Hoffnung« (
Rm 8,24). Der Hoffnung habe ich meine zweite Enzyklika, Spe salvi, gewidmet, und auch sie schuldet sehr viel dem Augustinus und seiner Begegnung mit Gott.

In einem sehr schönen Text definiert der hl. Augustinus das Gebet als Ausdruck der Sehnsucht und sagt, daß Gott antwortet, indem er unser Herz auf ihn hin weit macht. Unsererseits müssen wir unsere Wünsche und unsere Hoffnungen läutern, um die Milde Gottes zu empfangen (vgl. In I Ioannis, 4,6). Diese allein öffnet uns nämlich auch für die anderen und rettet uns. Beten wir also, daß es uns in unserem Leben jeden Tag gewährt sei, dem Beispiel dieses großen Bekehrten zu folgen, während wir wie er in jedem Augenblick unseres Lebens Jesus, dem Herrn, begegnen, dem einzigen, der uns rettet, uns läutert und uns die wahre Freude, das wahre Leben schenkt.

Zum Abschluß der Katechesen über den Kirchenvater Augustinus möchte ich heute den Weg seiner Bekehrung in den Blick nehmen, von dem er selbst freimütig und dankbar in seinen Schriften berichtet. Augustinus schreibt in den „Bekenntnissen“, seiner faszinierenden Autobiographie, daß er von seiner Mutter, der heiligen Monika, von Kind an in den christlichen Glauben eingeführt wurde. Selbst in seinen ungestümen Jugendjahren fühlte er sich im Innersten stets von Christus angezogen, auch wenn seine leidenschaftliche Suche nach der Wahrheit manche persönliche und denkerische Um- und Abwege durchlief. Nach einer entscheidenden Begegnung mit der Gnade Gottes in der Heiligen Schrift gelingt es ihm schließlich, die Versuchungen des Fleisches zu überwinden und sich aus ganzem Herzen für Christus zu entscheiden und die Taufe zu empfangen. Doch die Vorsehung Gottes führte ihn gleichsam noch zu einer zweiten Bekehrung und stellte ihn nach drei Jahren monastischen Lebens als Priester und Bischof in den Dienst seiner Mitchristen. Auch als bekannter Lehrer und Bischof bewahrte Augustinus stets eine tiefe Demut vor dem einzigen Herrn Jesus Christus. Dieses tägliche Streben nach Bekehrung zeigt sich auch darin, daß er seine großen theologischen Überlegungen ganz bewußt dem einfachen und reinen Glauben der Kirche unterordnen wollte.

* * *


Petersdom


Ganz herzlich heiße ich die Audienzteilnehmer aus den deutschsprachigen Ländern hier im Petersdom willkommen. Eure Wallfahrt zum Grab des Apostels Petrus stärke euch im Glauben und in der Liebe, damit ihr Zeugnis geben könnt für die Frohbotschaft des Evangeliums. Die Fastenzeit lädt uns zudem ein, unser Herz für die materielle und seelische Not unserer Mitmenschen zu öffnen, in denen uns Christus selbst begegnet. Er ist es, der uns um unsere Zuwendung und unsere Solidarität bitten. Seien wir großzügig und teilen wir unsere Zeit, unsere Güter und auch unseren Glauben mit unseren bedürftigen Brüdern und Schwestern. Der Herr segne euch und eure Familien.

* * *


Audienzenhalle


Von Herzen begrüße ich die Pilger und Besucher aus den Ländern deutscher Zunge. Besonders heiße ich die Konferenz der deutschsprachigen Seminarregenten und Konviktsdirektoren willkommen. Mögen die Schriften und das Vorbild des heiligen Augustinus für uns alle eine Hilfe auf unserem Weg der täglich neu nötigen Bekehrung sein. Dazu bestärke uns der Allmächtige Gott mit seinem Segen.



Audienzenhalle

Mittwoch , 5. März 2008: Der Hl. Leo der Große

50308

Liebe Brüder und Schwestern!

Während wir unseren Weg durch die Reihe der Kirchenväter - wahre Sterne, die aus der Ferne strahlen - fortsetzen, nähern wir uns in unserer heutigen Begegnung der Gestalt eines Papstes, der 1754 von Benedikt XIV. zum Kirchenlehrer erklärt wurde: Es handelt sich um den hl. Leo den Großen. Wie der ihm schon bald von der Tradition zuerkannte Beiname zeigt, war er wirklich einer der größten Päpste, die den Römischen Stuhl mit Ehre bekleidet haben, hat er doch sehr viel zur Stärkung von dessen Autorität und Ansehen beigetragen. Als erster Bischof von Rom, der den Namen Leo getragen hat - ein Name, der in der Folge von weiteren zwölf Päpsten angenommen wurde -, ist er auch der erste Papst, dessen Predigt auf uns gekommen ist, die er an das Volk richtete, das sich während der Meßfeiern um ihn drängte. Unwillkürlich denkt man an ihn auch im Zusammenhang mit den heutigen Generalaudienzen am Mittwoch, die in den letzten Jahrzehnten für den Bischof von Rom zu einer gewohnten Art der Begegnung mit den Gläubigen und mit zahlreichen Besuchern aus allen Teilen der Welt geworden sind.

Leo stammte aus Tuszien. Er wurde Diakon der Kirche von Rom um das Jahr 430 und erlangte mit der Zeit in ihr eine Stellung von großem Einfluß. Diese herausragende Rolle veranlaßte im Jahr 440 Galla Placidia, die damals das Westreich regierte, ihn nach Gallien zu entsenden, um eine schwierige Situation zu schlichten. Doch im Sommer jenes Jahres starb Papst Sixtus III. - dessen Name mit den herrlichen Mosaiken in »Santa Maria Maggiore« verbunden ist -, und zu seinem Nachfolger wurde eben Leo gewählt, der davon benachrichtigt wurde, als er gerade seine Friedensmission in Gallien durchführte. Nach seiner Rückkehr nach Rom empfing der neugewählte Papst am 29. September 440 die Bischofsweihe. So begann sein Pontifikat, das über 21 Jahre dauerte und das zweifellos eines der wichtigsten in der Kirchengeschichte gewesen ist. Nach seinem Tod am 10. November 461 wurde der Papst beim Grab des hl. Petrus bestattet. Seine Reliquien werden auch heute in einem der Altäre der vatikanischen Basilika verwahrt.

Es waren sehr schwierige Zeiten, in denen Papst Leo lebte: die wiederholten Einfälle der Barbaren, die fortschreitende Schwächung der kaiserlichen Autorität im Westen und eine lange soziale Krise hatten es dem Bischof von Rom auferlegt - wie dies mit noch größerer Sichtbarkeit eineinhalb Jahrhunderte später während des Pontifikats Gregors des Großen geschehen sollte -, eine bedeutende Rolle auch in den zivilen und politischen Angelegenheiten zu übernehmen. Das ließ natürlich die Bedeutung und das Ansehen des Römischen Bischofssitzes anwachsen. Berühmt ist vor allem eine Episode aus dem Leben Leos geblieben. Sie geht in das Jahr 452 zurück, als der Papst in Mantua zusammen mit einer römischen Gesandtschaft dem Hunnenkönig Attila begegnete und ihn davon abbrachte, den Invasionskrieg fortzusetzen, durch den er bereits die nordöstlichen Regionen Italiens verwüstet hatte. Und so rettete er den Rest der Halbinsel. Dieses wichtige Ereignis erlangte rasch Denkwürdigkeit und bleibt als ein emblematisches Zeichen des Wirkens dieses Papstes für den Frieden. Nicht ebenso positiv verlief leider drei Jahre später eine weitere Initiative des Papstes, die dennoch Zeichen eines Mutes ist, der uns noch heute in Erstaunen setzt: Im Frühjahr 455 gelangt es nämlich Leo nicht zu verhindern, daß die Vandalen Geiserichs, die bis vor die Tore Roms gelangt waren, die wehrlose Stadt einnahmen, die dann zwei Wochen lang geplündert wurde. Dennoch verhinderte die Geste des Papstes - der wehrlos und von seinem Klerus umgeben dem Eroberer entgegentrat, um ihn zu beschwören einzuhalten - wenigstens, daß Rom in Brand gesteckt wurde, und erreichte, daß die Petersbasilika und die Basiliken Sankt Paul und Sankt Johann im Lateran, in die sich ein Teil der terrorisierten Bevölkerung geflüchtet hatte, vor der schrecklichen Plünderung verschont blieben.

Wir kennen das Wirken Papst Leos gut dank seiner wunderschönen Predigten - fast 100 davon sind in einem herrlichen und klaren Latein erhalten - und dank seiner ungefähr 150 Briefe. In diesen Texten erscheint der Papst in seiner ganzen Größe, dem Dienst der Wahrheit in der Liebe zugewandt durch einen eifrigen Gebrauch des Wortes, der ihn zugleich als Theologen und Hirt zeigt. Leo der Große, der sich ständig um seine Gläubigen und um das Volk von Rom, aber auch um die Gemeinschaft unter den verschiedenen Kirchen und deren Bedürfnisse sorgte, war ein unermüdlicher Verfechter und Förderer des römischen Primats, indem er als wahrer Erbe des Apostels Petrus auftrat: daß sie sich dessen sehr wohl bewußt waren, zeigten die zahlreichen Bischöfe, zum Großteil aus dem Osten, die sich zum Konzil von Chalzedon versammelt hatten.

Dieses Konzil, das im Jahr 451 unter der Teilnahme von 350 Bischöfen abgehalten wurde, war die wichtigste Versammlung, die bisher in der Geschichte der Kirche stattgefunden hatte. Chalzedon stellt das sichere Ziel der Christologie der drei vorhergehenden ökumenischen Konzilien dar: der Konzilien von Nizäa im Jahr 325, von Konstantinopel 381 und von Ephesus 431. Bereits im 6. Jahrhundert wurden nämlich diese vier Konzilien, die den Glauben der frühen alten Kirche zusammenfassen, mit den vier Evangelien verglichen: Das sagt Gregor der Große in einem berühmten Brief (I,24), in dem er erklärt, »die vier Konzilien wie die vier Bücher des heiligen Evangeliums anzunehmen und zu verehren«, da sich auf ihnen - so erklärt Gregor weiter - »das Gefüge des heiligen Glaubens wie auf einem quadratischen Felsen erhebt«. Mit der Zurückweisung der Irrlehre des Eutyches, der die wahre menschliche Natur des Sohnes Gottes leugnete, bekräftigte das Konzil von Chalzedon die Einheit der beiden Naturen, der menschlichen und der göttlichen, in seiner einen Person, unvermischt und ungetrennt.

Dieser Glaube an Jesus Christus, wahrer Gott und wahrer Mensch, wurde vom Papst in einem wichtigen lehramtlichen Text bestätigt, der an den Bischof von Konstantinopel gerichtet war, dem sogenannten Tomus ad Flavianum; dieser Text wurde in Chalzedon verlesen und von den anwesenden Bischöfen mit einem beredten Beifall aufgenommen; eine Nachricht darüber ist in den Konzilsakten erhalten: »Petrus hat durch den Mund Leos gesprochen«, riefen die Konzilsväter einstimmig. Vor allem durch dieses Eingreifen sowie durch weitere Interventionen während der christologischen Auseinandersetzung jener Jahre wird offensichtlich, daß der Papst mit besonderer Dringlichkeit die Verantwortung des Nachfolgers Petri wahrnahm, dessen Rolle in der Kirche einzigartig ist, da »nur einem Apostel das anvertraut ist, was allen Aposteln mitgeteilt ist«, wie Leo in einer seiner Predigten zum Fest der hll. Petrus und Paulus bekräftigt (83,2). Und der Papst wußte diese Verantwortung im Westen wie im Osten auszuüben, indem er bei verschiedenen Anlässen mit Umsicht, Stärke und Klarheit durch seine Schriften und mittels seiner Legaten intervenierte. Er zeigte auf diese Weise, daß die Ausübung des römischen Primats damals wie heute notwendig ist, um der Gemeinschaft, Wesensmerkmal der einen Kirche Christi, zu dienen.

Im Bewußtsein des historischen Moments, in dem er lebte, und des Übergangs, der sich - in einer Zeit der tiefen Krise - vom heidnischen zum christlichen Rom vollzog, verstand es Leo der Große, dem Volk und den Gläubigen durch Seelsorge und Predigt nahe zu sein. Er beseelte die Nächstenliebe in einem Rom, das von Hungersnöten, vom Zustrom der Flüchtlinge, von Ungerechtigkeiten und von Armut gezeichnet war. Er trat dem heidnischen Aberglauben und dem Wirken der manichäischen Gruppen entgegen. Er verband die Liturgie mit dem alltäglichen Leben der Christen: indem er zum Beispiel vor allem anläßlich der Quattuor tempora, die im Laufe des Jahres den Wechsel der Jahreszeiten markieren, die Praxis des Fastens mit der Nächstenliebe und dem Almosengeben verband. Insbesondere lehrte Gregor der Große seine Gläubigen - und seine Worte gelten noch heute für uns -, daß die christliche Liturgie keine Erinnerung an vergangene Ereignisse ist, sondern die Vergegenwärtigung unsichtbarer Wirklichkeiten, die im Leben eines jeden wirken. Das hebt er in einer Predigt (64,1-2) zum Osterfest hervor, das in jeder Zeit des Jahres »nicht so sehr als etwas Vergangenes, als vielmehr als ein Ereignis der Gegenwart« zu feiern sei. All dies gehört zu einem genauen Plan, betont der heilige Papst: Wie nämlich der Schöpfer mit dem Hauch des vernünftigen Lebens den aus der Erde vom Ackerboden geformten Menschen beseelt hat, so hat er nach der Ursünde seinen Sohn in die Welt gesandt, um dem Menschen die verlorene Würde zurückzugeben und die Herrschaft des Teufels durch das neue Leben aus der Gnade zu zerstören.

Das ist das christologische Geheimnis, zu dem der hl. Leo der Große mit seinem Brief an das Konzil von Chalzedon einen wirksamen und wesentlichen Beitrag geleistet hat, indem er für alle Zeiten - durch das Konzil - das bestätigte, was der hl. Petrus in Cäsarea Philippi gesagt hatte. Mit Petrus und wie Petrus bekannte er: »Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes«. Und daher Gott und Mensch zugleich, »dem Menschengeschlecht nicht fremd, aber ohne Sünde« (vgl. Serm.64). In der Kraft dieses christologischen Glaubens war er ein großer Überbringer des Friedens und der Liebe. So zeigt er uns den Weg: Im Glauben lernen wir die Liebe. Lernen wir also mit dem hl. Leo dem Großen an Christus zu glauben, den wahren Gott und wahren Menschen, und diesen Glauben jeden Tag im Wirken für den Frieden und in der Liebe zum Nächsten zu verwirklichen.

Nachdem wir uns in den letzten Wochen eingehend mit dem heiligen Augustinus befaßt haben, wollen wir uns heute einer weiteren bedeutenden Hirtengestalt zuwenden, einem der beiden Päpste, denen die Kirchengeschichte das Attribut „der Große“ zuerkennt, nämlich dem heiligen Leo. Er stammte aus Tuszien, einem Landstrich nordwestlich von Rom. Gegen 430 wurde er in Rom zum Diakon geweiht und erlangte aufgrund seiner Begabung bald großen Einfluß. Während er sich in kaiserlichem Auftrag in Gallien befand, wurde Leo nach dem Tod des Papstes Sixtus III. in Abwesenheit zu dessen Nachfolger bestimmt. Nach seiner Bischofsweihe am 29. September 440 wirkte Leo 21 Jahre lang auf dem Stuhl Petri in einer Zeit politischer Wirren, in der er sich entschieden für das Wohl der Menschen einsetzte. Furchtlos trat er im Jahre 452 gegen den Hunnenkönig Attila auf, den er zum Abbruch seiner Plünderungsfeldzüge bewegen konnte. Auch gegenüber dem Vandalen Geiserich erreichte er, daß bei der Einnahme der Stadt Rom zumindest die Bevölkerung geschont wurde. Papst Leo war zudem ein vortrefflicher Lehrer und Hirte, der gleichermaßen für die Einheit unter den Teilkirchen wie für den Vorrang des Nachfolgers Petri vor allen anderen Bischöfen eintrat. Er sah sich in der Tradition des Auftrags Christi: Petrus möge seine Brüder stärken (vgl.
Lc 22,32). Bedeutung erlangte seine dogmatische Schrift Tomus ad Flavianum, mit der Leo in einen Lehrstreit um den Häretiker Eutyches, der dem Sohn Gottes keine menschliche Natur zuerkennen wollte, eingriff. Diese Abhandlung wurde später, im Jahre 451, mit großem Beifall auf dem Konzil von Chalzedon als Lehrschreiben angenommen. Wichtig war ihm auch die Liturgie. Er sagt: das, was wir feiern, ist nicht etwas Vergangenes, sondern Gott will uns damit nahe sein und neues Leben aus der Gnade schenken (v. Sermo 64).
* * *


Einen frohen Gruß richte ich an die deutschsprachigen Pilger und Besucher; heute grüße ich ganz besonders die Delegation von ehemaligen Abgeordneten im Deutschen Bundestag. Der heilige Leo sei euch ein Vorbild, stets die Verständigung mit den anderen zu suchen. Der Friede Christi begleite euch, liebe Brüder und Schwestern, auf allen euren Wegen.



Audienzenhalle

Mittwoch , 12. März 2008: Die Kirchenschriftsteller Boethius und Cassiodor


Generalaudienzen 2005-2013 20028