Generalaudienzen 2005-2013 25068
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Liebe Brüder und Schwestern!
Heute möchte ich die Gestalt eines der großen Kirchenväter aus der Spätzeit des Orients vorstellen. Es handelt sich um einen Mönch, den hl. Maximus, der sich in der christlichen Überlieferung den Beinamen »Confessor« - Bekenner - verdient hat wegen seines unerschrockenen Mutes, mit dem er es verstand, auch durch das Leiden für die Unversehrtheit seines Glaubens an Jesus Christus als wahren Gott und wahren Menschen und Retter der Welt Zeugnis abzulegen, ihn zu »bekennen«. Maximus wurde um das Jahr 580 in Palästina, dem Land des Herrn, geboren. Schon als Knabe wurde er zum Mönchsleben und zum Studium der Heiligen Schrift angeleitet, auch durch die Werke des Origines, des großen Meisters, dem es schon im 3. Jahrhundert gelungen war, die alexandrinische exegetische Tradition »festzuschreiben«.
Von Jerusalem übersiedelte Maximus nach Konstantinopel und floh dann wegen der Barbareneinfälle von dort nach Afrika. Hier zeichnete er sich mit äußerstem Mut in der Verteidigung der Rechtgläubigkeit aus. Maximus akzeptierte keinerlei Verkürzung der menschlichen Natur Christi. Es war die Theorie entstanden, nach welcher es in Christus nur einen Willen, nämlich den göttlichen, gäbe. Um die Einzigkeit seiner Person zu verteidigen, leugnete man einen richtiggehenden menschlichen Willen in ihm. Und auf den ersten Blick könnte es auch als gut erscheinen, daß Christus nur einen Willen hat. Aber der hl. Maximus verstand sogleich, daß dies das Geheimnis der Erlösung zerstören würde, weil eine willenlose Menschheit, ein Mensch, der keinen Willen hat, kein wahrer Mensch ist, sondern ein amputierter Mensch. Somit wäre der Mensch Jesus Christus kein wirklicher Mensch gewesen, er hätte nicht das Drama des Menschseins erlebt, das ja gerade in der Schwierigkeit besteht, unseren Willen an die Wahrheit des Seins anzugleichen. Einheit in Christus finden Und daher sagt der hl. Maximus mit großer Entschiedenheit: Die Heilige Schrift zeigt uns keinen amputierten Menschen ohne Willen, sondern einen wahrhaft vollständigen Menschen: Gott hat in Jesus Christus wirklich die Ganzheit des Menschseins angenommen - natürlich ausgenommen die Sünde -, also auch einen menschlichen Willen. Und so ausgedrückt, scheint klar zu sein: Christus ist entweder Mensch, oder er ist es nicht. Wenn er Mensch ist, hat er auch einen Willen. Aber da entsteht das Problem: Verfällt man so nicht in eine Art von Dualismus? Kommt man nicht dazu, zwei vollständige Persönlichkeiten zu behaupten: Vernunft, Wille, Gefühl? Wie kann man den Dualismus überwinden, die Vollständigkeit des Menschen erhalten und trotzdem die Einheit der Person Christi, der nicht schizophren war, bewahren? Und der hl. Maximus beweist, daß der Mensch seine Einheit, die Integration seiner selbst, seine Ganzheit nicht in sich selbst findet, sondern dadurch, daß er sich selbst überwindet, aus sich selbst herausgeht. So auch in Christus: der Mensch findet, indem er aus sich herausgeht, in Gott, im Sohn Gottes sich selbst. Man darf nicht den Menschen amputieren, um die Menschwerdung Gottes zu erklären; man muß nur die Dynamik des Menschseins verstehen, das nur im Herausgehen aus sich selbst verwirklicht wird; nur in Gott finden wir uns selbst, unsere Ganzheit und Vollständigkeit. Wir sehen also, daß nicht der Mensch vollständig ist, der sich verschließt, sondern der Mensch, der sich öffnet, der aus sich herausgeht, wird vollständig und findet gerade im Sohn Gottes sich selbst, sein wahres Menschsein. Für den hl. Maximus ist diese Vision nicht nur philosophische Spekulation; er sieht sie im konkreten Leben Jesu, vor allem im Drama von Getsemani, verwirklicht. In diesem Drama der Agonie Jesu, der Todesangst, des Gegensatzes zwischen dem menschlichen Willen, nicht zu sterben, und dem göttlichen Willen, der sich dem Tod ausliefert, in diesem Drama von Getsemani verwirklicht sich das ganze menschliche Drama, das Drama unserer Erlösung. Der hl. Maximus sagt uns, und wir wissen, daß es wahr ist: Adam (und Adam sind wir selbst) dachte, das »Nein« wäre der Gipfel der Freiheit. Nur wer »Nein« sagen kann, wäre wirklich frei; um seine Freiheit tatsächlich zu realisieren, müsse der Mensch zu Gott »Nein« sagen; nur so, meint er, endlich er selbst zu sein, am Gipfel der Freiheit angekommen zu sein. Diese Neigung trug auch die menschliche Natur Christi in sich, aber sie hat sie überwunden, weil Jesus gesehen hat, daß nicht das »Nein« das Maximum der Freiheit ist. Das Maximum der Freiheit ist das »Ja«, die Übereinstimmung mit dem Willen Gottes. Nur im »Ja« wird der Mensch wirklich er selbst; nur in der großen Öffnung des »Ja«, in der Vereinigung seines Willens mit dem göttlichen Willen wird der Mensch unendlich offen, wird er »göttlich«. Zu sein wie Gott, das heißt völlig frei zu sein, war der Wunsch Adams. Aber der Mensch, der sich in sich selbst verschließt, ist nicht göttlich, ist nicht vollkommen frei; er ist dann frei, wenn er aus sich herausgeht, im »Ja« wird er frei; und das ist das Drama von Getsemani: nicht mein Wille geschehe, sondern der deine. Dadurch, daß der menschliche Wille in den göttlichen eingebracht wird, entsteht der wahre Mensch, so sind wir erlöst. Das ist in kurzen Worten der grundlegende Punkt dessen, was der hl. Maximus sagen wollte, und wir sehen, daß hier wirklich das ganze Menschsein in Frage gestellt wird; hier liegt die ganze Frage unseres Lebens. Der hl. Maximus hatte schon in Afrika Probleme, als er diese Sicht vom Menschen und von Gott verteidigte; dann wurde er nach Rom berufen. Im Jahr 649 nahm er am Laterankonzil teil, das von Papst Martin I. zur Verteidigung der beiden Willen Christi einberufen worden war - gegen den Erlaß des Kaisers, der - »pro bono pacis« (um des Friedens willen) - verbot, diese Frage zu diskutieren. Papst Martin mußte seinen Mut teuer bezahlen: Trotz seiner schlechten Gesundheit wurde er verhaftet und nach Konstantinopel überführt. Nachdem ihm der Prozeß gemacht und er zum Tod verurteilt worden war, erwirkte er die Umwandlung der Strafe in die endgültige Verbannung auf die Krim, wo er am 16. September 655 starb, nach zwei langen Jahren der Demütigungen und Qualen.
Wenig später, im Jahr 662, war Maximus an der Reihe, der sich gleichfalls dem Kaiser widersetzte und nicht davon abließ zu wiederholen: »Es ist unmöglich zu behaupten, daß es in Christus nur einen Willen gibt!« (Vgl. PG 91,268-269). So wurde Maximus zusammen mit zwei von seinen Schülern, die beide Anastasius hießen, einem zermürbenden Prozeß unterzogen, obwohl er bereits über 80 Jahre alt war. Das Gericht des Kaisers verurteilte ihn unter der Anschuldigung der Häresie zur grausamen Verstümmelung der Zunge und der rechten Hand - den beiden Organen, durch die Maximus in Wort und Schrift die falsche Lehre von dem einen Willen Christi bekämpft hatte. Schließlich wurde der so verstümmelte heilige Mönch nach Kolchis am Schwarzen Meer verbannt, wo er, von den erlittenen Leiden erschöpft, im Alter von 82 Jahren noch im selben Jahr, am 13. August 662 starb.
Als wir vom Leben des Maximus sprachen, haben wir auf sein literarisches Werk zur Verteidigung der Rechtgläubigkeit hingewiesen. Wir haben dabei besonders auf die »Disputatio cum Pyrrho«, dem damaligen Patriarchen von Konstantinopel, Bezug genommen: Es gelang ihm dabei, den Gegner von seinen Irrtümern zu überzeugen. Mit großer Aufrichtigkeit schloß nämlich Pyrrhus das Streitgespräch so ab: »Ich bitte um Verzeihung für mich und für jene, die mir vorangegangen sind: Aus Unwissenheit sind wir zu diesen absurden Gedanken und Argumentationen gelangt; und ich bitte, daß man eine Weise finden möge, um diese Absurditäten auszulöschen, aber unter Wahrung des Andenkens an jene, die geirrt haben« (). Auf uns sind dann einige Dutzend wichtige Werke gekommen, unter denen die »Mystagogie« hervorragt, eine der bedeutendsten Schriften des hl. Maximus, die in einer gut strukturierten Synthese sein theologisches Denken zusammenfaßt.
Das Denken des hl. Maximus ist nie nur ein theologisches, spekulatives, auf sich selbst zurückgezogenes Denken, da es immer als Zielpunkt die konkrete Wirklichkeit der Welt und ihres Heils hat. In diesem Umfeld, in dem er leiden mußte, konnte er nicht in rein theoretisch-philosophische Behauptungen ausweichen; er mußte den Sinn des Lebens suchen und sich fragen: Wer bin ich, was ist die Welt? Gott hat dem nach seinem Bild und Gleichnis geschaffenen Menschen die Sendung anvertraut, den Kosmos zu vereinen. Und wie Christus in sich selbst das Menschsein vereint hat, so hat der Schöpfer im Menschen den Kosmos vereint. Er hat uns gezeigt, wie wir in der Gemeinschaft mit Christus den Kosmos vereinen und so wirklich zu einer erlösten Welt gelangen können. Auf diese mächtige heilbringende Sicht nimmt einer der größten Theologen des 20. Jahrhunderts Bezug, Hans Urs von Balthasar, der - indem er die Gestalt des Maximus gleichsam »neu hervorholt« - dessen Denken mit dem bildhaften Ausdruck »Kosmische Liturgie« definiert. Im Zentrum dieser feierlichen »Liturgie« bleibt immer Jesus Christus, der einzige Retter der Welt. Die Wirksamkeit seines heilbringenden Wirkens, das den Kosmos endgültig vereint hat, ist durch die Tatsache gewährleistet, daß er, obwohl er in allem Gott ist, auch ganz Mensch ist - einschließlich auch der »Energeia« (Wirkkraft) und des Willens des Menschen.
Das Leben und das Denken des Maximus werden mächtig erleuchtet von einem überaus großen Mut beim Bezeugen der ganzheitlichen Wirklichkeit Christi, ohne jede Verkürzung oder Kompromiß. Und so wird deutlich, wer der Mensch wirklich ist, wie wir leben müssen, um unserer Berufung zu entsprechen. Wir müssen geeint mit Gott leben, um so mit uns selbst und mit dem Kosmos geeint zu sein, indem wir dem Kosmos selbst und der Menschheit die rechte Gestalt geben. Das universale »Ja« Christi zeigt uns auch mit aller Klarheit, wie wir allen anderen Werten ihre rechte Stellung zu geben haben. Wir denken an Werte, die heute mit Recht verteidigt werden, wie die Toleranz, die Freiheit, der Dialog. Aber eine Toleranz, die nicht zwischen Gut und Böse zu unterscheiden wüßte, würde chaotisch und selbstzerstörerisch werden. Genauso würde eine Freiheit, die nicht die Freiheit der anderen achtete und nicht das gemeinsame Maß unserer jeweiligen Freiheiten fände, zu Anarchie werden und die Autorität zerstören. Der Dialog, der nicht mehr weiß, worüber man miteinander redet, wird zum leeren Gerede. Alle diese Werte sind groß und grundlegend, können aber nur dann wahre Werte bleiben, wenn sie den Bezugspunkt haben, der sie eint und ihnen die wahre Echtheit verleiht. Dieser Bezugspunkt ist die Synthese zwischen Gott und Kosmos, er ist die Gestalt Christi, in der wir die Wahrheit über uns selbst lernen und so lernen, an welche Stelle alle anderen Werte zu setzen sind, damit wir ihre wahre Bedeutung entdecken. Jesus Christus ist der Bezugspunkt, der allen anderen Werten Licht verleiht. Das ist der Zielpunkt des Zeugnisses dieses großen Bekenners. Und so zeigt uns am Ende Christus, daß der Kosmos Liturgie werden muß, Lobpreis Gottes, und daß die Anbetung der Anfang der wahren Verwandlung, der wahren Erneuerung der Welt ist.
Deshalb möchte ich mit einem grundlegenden Abschnitt aus den Werken des hl. Maximus schließen: »Wir beten den einen Sohn an, zusammen mit dem Vater und dem Heiligen Geist, wie vor aller Zeit, so auch jetzt und für allezeit und für die Zeit nach der Zeit. Amen!« ().
In der heutigen Katechese wollen wir uns einem christlichen Denker des Orients zuwenden, der auch im Westen große Bedeutung erlangte, dem heiligen Maximus Confessor. Der Beiname „Confessor“ - Bekenner - weist uns auf den Glauben dieses Heiligen und sein Zeugnis für Christus, den Sohn Gottes und den Erlöser der Welt, hin. Maximus wurde um 580 in Palästina geboren und in einem Kloster erzogen. Er lebte dann eine Zeitlang in der Nähe von Konstantinopel, wich aber vor den in Kleinasien eindringenden heidnischen Völkern nach Nordafrika aus und ging dann später nach Rom. Energisch hat er in die große theologische Streitfrage seiner Zeit eingegriffen. Es ging um die Frage: Wie weit war Jesus wirklich Mensch? Wie geht das, daß Mensch und Gott eins sind? Und um sich die Einheit vorstellen zu können, wurde gesagt: Er hatte keinen menschlichen Willen. Der menschliche Wille war durch den Willen Gottes ersetzt. Aber dann hätte das ganze Drama des Menschseins in ihm nicht stattgefunden, wenn er keinen Willen hat. Denn ein Mensch ohne Willen ist eben ein amputierter und kein wirklicher Mensch. So kann die Einheit nicht erklärt werden, hat uns Maximus gesagt. Er war wirklich Mensch, und dazu gehört ein echter menschlicher Wille. Die Einheit zwischen Mensch und Gott wird nicht durch die Amputation des Menschseins erreicht, und der Mensch muß nicht amputiert werden, um fromm zu sein und um mit Gott eins zu werden, sondern er muß ganz werden, ganz er selbst, dann wird er eins mit Gott. Am Drama des Ölbergs - „Nicht mein Wille geschehe, sondern der deinige“ - hat Maximus dies dargestellt. Nicht indem der Mensch sich abkapselt gegen Gott und „Nein“ sagt zu ihm, wird er vollständig, sondern indem er mit seinem freien Willen „Ja“ sagt, wird er eins mit dem Willen Gottes. So wird er erst wirklich ganz Mensch. Diesen Weg ist uns der Herr vorangegangen, nicht in der Amputation des Menschseins, sondern in der Öffnung des Willens in das große „Ja“ hinein, in die Einheit mit Gott. So ist er Modell für unsere eigene Existenz und zeigt uns zugleich auch die innere Einheit der ganzen Schöpfung Gottes auf, die dazu gedacht ist, daß sie als ganze durch das „Ja“ des Menschen Herrlichkeit Gottes, kosmische Liturgie werden soll.
Es war eine schwere Zeit, in der Maximus Confessor gelebt hat, weil die kaiserliche Politik auf Ausgleich in der Theologie drängte und daher schwierig scheinende Thesen nicht wahrhaben wollte. Maximus war politisch unerwünscht mit dem, was er sagte. Er wurde verurteilt, es wurde ihm die rechte Hand abgeschlagen und die Zunge herausgerissen, weil er mit Hand und Zunge diesen seinen Glauben bekannt und verteidigt hatte. Aber wissend, daß er so mit dem Herrn eins ist, konnte er diese Passion mit über achtzig Jahren auf sich nehmen und ist dann in der Verbannung im Jahr 662 am Schwarzen Meer gestorben. Ich denke, er zeigt uns den Mut zur Wahrheit, den Mut, auch gegen politische Pression standzuhalten in dem, was recht ist. Und nur wo es diesen Mut gibt, kann die Welt richtig werden.
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Von Herzen grüße ich die Pilger und Besucher deutscher Sprache.
Der heilige Maximus Confessor sagt uns, daß jeder Mensch von seiner Natur her zum Guten und zur Liebe zu Gott berufen ist. Wir wollen dies durch unser Leben sichtbar machen, unser tatkräftiges Wohlwollen allen Menschen zuwenden und Gott für seine immerwährende Güte danken. Euch allen wünsche ich eine gesegnete Zeit in Rom.
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Liebe Brüder und Schwestern!
Heute möchte ich eine neue Katechesenreihe beginnen, die dem großen Apostel Paulus gewidmet ist. Ihm ist, wie ihr wißt, dieses Jahr geweiht, das vom Hochfest der heiligen Petrus und Paulus am 29. Juni 2008 bis zum selben Fest im Jahr 2009 dauert. Der Apostel Paulus, eine herausragende, fast unnachahmliche, aber dennoch anregende Gestalt, steht vor uns als Beispiel nicht nur der totalen Hingabe an den Herrn und seine Kirche, sondern auch einer großen Öffnung hin zur Menschheit und ihren Kulturen. Es ist also nur recht, daß wir ihm nicht nur in unserer Verehrung einen besonderen Platz einräumen, sondern auch in dem Bemühen zu verstehen, was er auch uns heutigen Christen zu sagen hat. In dieser unserer ersten Begegnung wollen wir dabei verweilen, uns das Umfeld anzuschauen, in dem er lebte und wirkte. Ein solches Thema würde uns, so scheint es, von unserer Zeit weit wegführen, da wir uns in die Welt vor zweitausend Jahren begeben müssen. Und dennoch trifft das nur scheinbar und nur teilweise zu, denn wir werden feststellen können, daß unter verschiedenen Aspekten der sozio-kulturelle Kontext von heute sich nicht sehr von jenem der damaligen Zeit unterscheidet.
Ein wichtiger und grundlegender Faktor, den man sich vergegenwärtigen muß, ist die Beziehung zwischen der Umgebung, in der Paulus geboren wird und sich entwickelt, und dem globalen Kontext, in den er sich später einfügt. Er kommt aus einer sehr genau umschriebenen Minderheitskultur, nämlich jener des Volkes Israel und seiner Tradition. In der antiken Welt und insbesondere innerhalb des Römischen Reiches dürften sich - wie uns die Altertumswissenschaftler lehren - die Juden auf ungefähr zehn Prozent der Gesamtbevölkerung belaufen haben; hier in Rom war ihre Zahl um die Mitte des 1. Jahrhunderts noch geringer und erreichte höchstens drei Prozent der Einwohnerzahl der Stadt. Ihr religiöser Glaube und ihr Lebensstil unterschieden sie, wie das auch heute noch geschieht, klar von ihrer Umgebung; und das konnte zwei Folgen haben: entweder Spott und Verhöhnung, die zur Intoleranz führen konnte, oder die Bewunderung, die sich in verschiedenen Formen von Sympathie äußerte, wie im Fall der »Gottesfürchtigen« oder der »Proselyten«, Heiden, die sich der Synagoge anschlossen und den Glauben an den Gott Israels teilten. Als konkrete Beispiele dieser Doppelhaltung können wir einerseits das scharfe Urteil eines Redners, nämlich Ciceros, anführen, der die Religion der Juden und sogar die Stadt Jerusalem verachtete (vgl. Pro Flacco, 66-69), und andererseits die Haltung der Frau Neros, Poppea, die von Flavius Iosephus als »Sympathisantin« der Juden bezeichnet wird (vgl. Jüdische Altertümer 20, 195.252; Selbstbiographie »Aus meinem Leben« 16), um nicht davon zu sprechen, daß schon Julius Cäsar ihnen offiziell Sonderrechte zuerkannt hatte, die uns von dem erwähnten jüdischen Historiker Flavius Iosephus überliefert sind (vgl. ebd., 14,200-216). Sicher ist, daß die Zahl der Juden - wie das übrigens noch heute der Fall ist - außerhalb des Landes Israel, also in der Diaspora, viel größer war als auf dem Territorium, das die anderen Palästina nannten.
Es verwundert also nicht, daß Paulus selbst Gegenstand der zweifachen, gegensätzlichen Bewertung gewesen ist, von der ich gesprochen habe. Eines ist sicher: Der Partikularismus der jüdischen Kultur und Religion fand unschwer einen Platz innerhalb einer alles durchdringenden Institution, wie sie das Römische Reich war. Schwieriger und leidvoller wird die Lage der Gruppe jener, ob Juden oder Heiden, die sich mit Glauben der Person Jesu von Nazaret soweit anschließen werden, daß sie sich sowohl vom Judentum als auch vom herrschenden Heidentum unterscheiden. In jedem Fall begünstigten zwei Faktoren den Einsatz des Paulus. Der erste Faktor war die griechische oder, richtiger, die hellenistische Kultur, die nach Alexander dem Großen zum gemeinsamen Erbe des östlichen Mittelmeerraums und des Nahen Ostens geworden war, auch wenn sie dabei viele Elemente der Kulturen von traditionell als Barbaren beurteilten Völkern in sich aufnahm. Ein Schriftsteller der Zeit sagt diesbezüglich: Alexander »befahl, daß alle die ganze bewohnte Erde (»oikoumene«) als Heimat ansehen sollten… und daß sich der Grieche und der Barbar nicht mehr voneinander unterscheiden sollten« (Plutarch, De Alexandri Magni fortuna aut virtute, §§ 6.8). Der zweite Faktor war die politisch-administrative Struktur des Römischen Reiches, die von Britannien bis nach Oberägypten Frieden und Stabilität gewährleistete und ein Territorium von vorher nie gesehenen Ausmaßen vereinte. In diesem Raum konnte man sich mit ausreichender Freiheit und Sicherheit bewegen, während man ein außerordentliches Straßensystem nutzte und an jedem Ankunftsort kulturelle Grundmerkmale vorfand, die, ohne auf Kosten der örtlichen Werte zu gehen, ein gemeinsames vereinendes Gewebe »super partes« darstellten, so daß der jüdische Philosoph Philon von Alexandrien, ein Zeitgenosse des Paulus, den Kaiser Augustus lobt, weil er »alle wilden Völker in Einklang gebracht … und sich zum Hüter des Friedens gemacht hat« (Legatio ad Caium, §§ 146-147).
Die universalistische Sicht, die für die Persönlichkeit des Paulus, zumindest des christlichen Paulus nach dem Ereignis auf der Straße vor Damaskus, typisch ist, verdankt ihren Grundimpuls gewiß dem Glauben an Jesus Christus, insofern die Gestalt des Auferstandenen nun jenseits jeder partikularistischen Enge steht; in der Tat, für den Apostel gibt es »nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid ›einer‹ in Christus Jesus» (Ga 3,28). Dennoch muß auch die historisch-kulturelle Situation seiner Zeit und seines Umfeldes einen Einfluß auf seine Entscheidungen und seinen Einsatz gehabt haben. Jemand hat Paulus als »Mann dreier Kulturen« bezeichnet und damit seiner jüdischen Herkunft, seiner griechischen Sprache und seinem Vorrecht eines »civis Romanus« Rechnung getragen, wie auch sein Name lateinischen Ursprungs bezeugt. Erwähnt werden muß im besonderen die stoische Philosophie, die zur Zeit des Paulus vorherrschend war und, wenngleich nur am Rande, auch das Christentum beeinflußte. In diesem Zusammenhang können wir einige Namen von stoischen Philosophen, wie die der Begründer Zenon und Kleanthes nicht verschweigen, und sodann jene, die zeitlich näher an Paulus waren, wie Seneca, Musonius und Epiktet: In ihnen finden sich sehr hohe Werte der Menschlichkeit und Weisheit, die natürlich ins Christentum aufgenommen werden. Wie ein Fachgelehrter sehr treffend schreibt, »verkündete die Stoa… ein neues Ideal, das dem Menschen wohl Pflichten gegenüber seinen Mitmenschen auferlegte, ihn aber gleichzeitig von allen körperlichen und nationalen Banden befreite und aus ihm ein rein geistiges Wesen machte« (Max Pohlenz, Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung. 2 Bde., 2. Aufl. 1964). Man denke zum Beispiel an die Lehre vom Universum, das als ein einziger großer harmonischer Leib verstanden wird, und folgerichtig an die Lehre von der Gleichheit aller Menschen ohne soziale Unterschiede, an die zumindest prinzipielle Gleichstellung zwischen Mann und Frau, und dann an das Ideal der Genügsamkeit, des rechten Maßes und der Selbstbeherrschung, um jede Ausschweifung zu vermeiden. Als Paulus an die Philipper schreibt: »Was immer wahrhaft, edel, recht, was lauter, liebenswert, ansprechend ist, was Tugend heißt und lobenswert ist, darauf seid bedacht« (Ph 4,8), tut er nichts anderes, als eine rein humanistische Konzeption jener philosophischen Weisheit aufzunehmen.
Zur Zeit des hl. Paulus gab es auch eine Krise der traditionellen Religion, zumindest in ihren mythologischen und auch bürgerlichen Aspekten. Nachdem Lukrez schon ein Jahrhundert zuvor polemisch geäußert hatte, daß »die Religion zu vielen Übeln geführt hat« (De rerum natura, 1,101), lehrte ein Philosoph wie Seneca, indem er weit über jeden äußerlichen Ritualismus hinausging: »Gott ist dir nahe, er ist mit dir, er ist in dir« (Briefe an Lucilius, 41,1). Analog sagt Paulus, als er sich auf dem Areopag in Athen an eine Zuhörerschaft von stoischen und epikureischen Philosophen wendet, wörtlich: »Gott … wohnt nicht in Tempeln, die von Menschenhand gemacht sind… Denn in ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir« (Ac 17,24 Ac 17,28). Damit läßt er gewiß den jüdischen Glauben an einen Gott anklingen, der nicht in anthropomorphen Begriffen darstellbar ist, aber er stellt sich auch auf eine religiöse Wellenlänge ein, die seine Zuhörer wohl kannten. Darüber hinaus müssen wir der Tatsache Rechnung tragen, daß viele heidnische Kulte von den offiziellen Tempeln der Stadt absahen und an privaten Orten vollzogen wurden, die die Initiation der Adepten begünstigten. Es bot somit keinen Anlaß zur Verwunderung, daß auch die christlichen Versammlungen (die »ekklesíai«), wie uns vor allem die Paulusbriefe bezeugen, in Privathäusern stattfanden. Im übrigen gab es damals noch kein öffentliches Gebäude. Deshalb mußten die Versammlungen der Christen den Zeitgenossen als eine einfache Variante dieser ihrer innersten religiösen Praxis erscheinen. Doch sind die Unterschiede zwischen den heidnischen Kulten und dem christlichen Kult von nicht geringer Bedeutung und betreffen sowohl das Identitätsbewußtsein der Teilnehmer als auch die gemeinsame Teilnahme von Männern und Frauen, die Feier des »Herrenmahles« und die Lesung der Heiligen Schrift.
Abschließend scheint es aus diesem schnellen Blick auf das kulturelle Umfeld des ersten Jahrhunderts der christlichen Zeit klar, daß es nicht möglich ist, den hl. Paulus angemessen zu verstehen, ohne ihn vor den sowohl jüdischen wie heidnischen Hintergrund seiner Zeit zu stellen. Auf diese Weise gewinnt seine Gestalt an historischer und idealer Dichte und offenbart gegenüber dem Umfeld zugleich Teilnahme und Originalität. Aber das gilt ähnlich auch für das Christentum im allgemeinen, dessen erstrangiges Vorbild eben der Apostel Paulus ist, von dem wir alle noch immer viel zu lernen haben. Das ist denn auch der Zweck des Paulusjahres: Vom hl. Paulus lernen, den Glauben lernen, Christus lernen, schließlich den Weg des rechten Lebens lernen.
Heute beginnen wir einen neuen Zyklus von Katechesen über den hl. Apostel Paulus. Wie ihr wißt, haben wir vor wenigen Tagen mit dem Hochfest der heiligen Petrus und Paulus das Paulusjahr eröffnet, das dem Völkerapostel gewidmet ist und bis zum 29. Juni 2009 dauert. In dieser Zeit wollen wir Paulus nicht nur als eine herausragende und geradezu einzigartige Heiligengestalt verehren, sondern uns auch um ein tieferes Verständnis seiner Lehre bemühen. Mit diesem Ziel werfen wir heute einen Blick auf sein religiöses und kulturelles Umfeld. Paulus wird treffend als „ein Mann dreier Kulturen“ bezeichnet: der jüdischen aufgrund seiner Religion, der griechisch-hellenistischen im Hinblick auf die Sprache und das philosophische Gedankengut und schließlich der römischen als Bürger des Römischen Reiches mit den dazugehörigen Rechten. Diese Faktoren hatten einen nicht unbedeutenden Einfluß auf das Denken und Wirken des hl. Paulus, auch nach der radikalen Wende, die sein Leben durch die Begegnung mit Christus erfahren hat. Als Angehöriger einer kleinen Minderheit wurde er sowohl mit Geringschätzung als auch mit neugierigem Interesse bedacht. Zugleich eröffneten ihm die verbreitete hellenistische Kultur sowie die gute Infrastruktur des Römerreiches den Zugang zu den Menschen im gesamten Mittelmeerraum. Auch die authentischen Ideale verschiedener philosophischer Strömungen und die Krise der heidnischen Kulte hatten gewissermaßen den Boden für die christliche Mission bereitet.
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Einen frohen Gruß richte ich an alle Pilger und Besucher aus dem deutschen Sprachraum. Besonders grüße ich den Dresdner Kapellknabenchor und danke für den Gesang, den sie uns geshenkt haben, ich grüße die Studentenverbindungen aus Wien und so viele Jugendliche, die heute unter uns sind. Der Apostel Paulus ist ein großes Beispiel der Liebe zu Christus und zu seiner Kirche. Das Paulusjahr soll uns dazu anspornen, ihn nachzuahmen und unseren Mitmenschen das Evangelium zu verkünden. Dabei begleite euch der Segen des Allmächtigen Gottes!
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Liebe Brüder und Schwestern!
Nach meiner Rückkehr aus Brixen, wo ich einige erholsame Tage verbringen konnte, freue ich mich über diese Begegnung mit euch. Ich grüße euch, liebe Bewohner von Castel Gandolfo, und euch, liebe Pilger, die ihr mich heute hier besuchen kommt. Erneut möchte ich allen danken, die mich freundlich aufgenommen und den reibungslosen Ablauf meines Aufenthaltes in den Bergen gewährleistet haben. Es waren Tage der Ruhe und Entspannung, in denen ich nicht aufgehört habe, dem Herrn all jene anzuempfehlen, die sich meinen Gebeten anvertrauen. Und es sind wirklich sehr viele, die mir schreiben und mich bitten, für sie zu beten. Sie teilen mir ihre Freuden mit, aber auch ihre Sorgen, ihre Lebenspläne, ihre Probleme in der Familie und am Arbeitsplatz, die Erwartungen und Hoffnungen, die sie im Herzen tragen, sowie ihre Ängste im Hinblick auf die Ungewißheiten, denen die Menschheit in diesem Moment ausgesetzt ist. Ich kann euch zusichern, daß ich eines jeden einzelnen gedenke, vor allem in der täglichen Feier der heiligen Messe und im Gebet des Rosenkranzes. Ich weiß, daß der erste Dienst, den ich der Kirche und der Menschheit erweisen kann, im Gebet besteht. Im Gebet lege ich nämlich vertrauensvoll jenes Amt in die Hände des Herrn, das er selbst mir anvertraut hat, zusammen mit den Geschicken der gesamten kirchlichen und zivilen Gemeinschaft.
Wer betet, wird nie die Hoffnung verlieren, auch wenn er sich in schwierigen und, menschlich betrachtet, aussichtslosen Situationen befindet. Dies lehrt uns die Heilige Schrift und dies bezeugt uns die Geschichte der Kirche. Wie viele Beispiele ließen sich anführen für Situationen, in denen gerade das Gebet den Heiligen und dem christlichen Volk auf ihrem Weg Halt gegeben hat! Unter den Zeugnissen unserer Zeit möchte ich jene beiden Heiligen erwähnen, deren Gedenktage wir in diesen Tagen feiern: Teresia Benedicta a Cruce, Edith Stein, deren Fest wir am 9. August begangen haben, und Maximilian Maria Kolbe, dessen wir morgen, am Vortag des Hochfestes der Aufnahme der allerseligsten Jungfrau Maria in den Himmel, gedenken werden. Beide haben ihr irdisches Leben im Konzentrationslager Auschwitz mit dem Martyrium beschlossen. Ihr Leben könnte als Niederlage erscheinen, doch gerade in ihrem Martyrium erstrahlt der Glanz jener Liebe, die alle Finsternis des Egoismus und des Hasses überwindet. Dem hl. Maximilian Kolbe werden folgende Worte zugeschrieben, die er angesichts der damals wütenden nationalsozialistischen Verfolgung gesagt haben soll: »Der Haß ist niemals eine kreative Kraft, das kann allein die Liebe sein.« Und ein heroischer Beweis dieser Liebe war die hochherzige Hingabe seiner selbst an Stelle eines Mithäftlings. Diese Selbsthingabe fand ihren Höhepunkt in seinem Tod im Hungerbunker am 14. August 1941.
Am 6. August des nachfolgenden Jahres sagte Edith Stein drei Tage vor ihrem dramatischen Lebensende zu einigen Mitschwestern im holländischen Kloster Echt: »Ich bin auf alles gefaßt. Jesus ist auch hier mitten unter uns. Bisher konnte ich sehr gut beten und aus vollem Herzen ausrufen: ›Ave, Crux, spes unica‹«. Zeugen, die dem schrecklichen Massaker entkommen konnten, erzählten, daß Teresia Benedicta a Cruce, mit dem Gewand einer Karmelitin bekleidet, dem Tod selbstbewußt entgegenging. Sie unterschied sich dabei durch ihre friedvolle Haltung, ihre Gelassenheit und ihr ruhiges und aufmerksames Verhalten gegenüber den Bedürfnissen all ihrer Mitmenschen. Das Gebet war das eigentliche Geheimnis dieser heiligen Mitpatronin Europas, die »auch nachdem sie im Frieden des kontemplativen Lebens bei der Wahrheit angekommen war, das Geheimnis des Kreuzes bis zum Letzten leben [mußte]« (Apostolisches Schreiben Spes aedificandi; in O.R. dt., Nr. 42, 15.10.1999, S. 8,8).
»Ave Maria!«: diese letzte Anrufung hatte der hl. Maximilian Kolbe auf den Lippen, als er demjenigen, der ihn mit einer Phenol-Injektion töten sollte, den Arm entgegenstreckte. Es ist bewegend festzustellen, wie die demütige und vertrauensvolle Zuflucht zur Muttergottes stets eine Quelle des Mutes und der inneren Ruhe ist. Während wir uns auf die Feier des Hochfestes Mariä Himmelfahrt vorbereiten, das in der christlichen Tradition eines der beliebtesten Marienfeste ist, erneuern wir unsere Weihe an jene Frau, die vom Himmel aus mit mütterlicher Liebe unablässig über uns wacht. Dies bringen wir in dem uns so vertrauten Gebet des »Gegrüßet seist du, Maria« zum Ausdruck, in dem wir sie anflehen, für uns zu bitten »jetzt und in der Stunde unseres Todes«.
Ganz herzlich grüße ich die deutschsprachigen Pilger und Besucher hier in Castel Gandolfo. In diesen Tagen verbringen viele Menschen ihren wohlverdienten Urlaub. Dieser kann nur dann gut und wirklich erfüllt sein, wenn der Mensch die Beziehungen zu den Mitmenschen und vor allem auch zu Gott, unserem Schöpfer, nicht außer acht läßt; denn das Leben ist seinem Wesen nach Beziehung. - Der gütige Gott schenke euch in dieser Ferienzeit eine echte Gemeinschaft untereinander und eine gute Erholung!
Generalaudienzen 2005-2013 25068