Generalaudienzen 2005-2013 11008
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Liebe Brüder und Schwestern!
Die Achtung und Verehrung, die Paulus den Zwölf stets entgegengebracht hat, lassen auch nicht nach, als er mit aller Offenheit die Wahrheit des Evangeliums verteidigt, die nichts anderes ist als Jesus Christus, der Herr. Wir wollen heute bei zwei Episoden verweilen, die die Verehrung und zugleich die Freiheit beweisen, mit der sich der Apostel an Kephas und die anderen Apostel wendet: Es handelt sich um das sogenannte Konzil in Jerusalem und um den Zwischenfall im syrischen Antiochia, von denen im Brief an die Galater (vgl. 2,1-10; 2,11-14) berichtet wird.
Jedes Konzil und jede Synode der Kirche ist ein »Ereignis des Heiligen Geistes« und bringt in seinen Vollzug die Erfordernisse des ganzen Gottesvolkes ein: Das haben alle, denen es vergönnt war, am Zweiten Vatikanischen Konzil teilzunehmen, persönlich erfahren. Deshalb führt der hl. Lukas, der uns über das in Jerusalem abgehaltene erste Konzil der Kirche informiert, den Brief, den die Apostel aus diesem Anlaß an die christlichen Gemeinden in der Diaspora sandten, mit den Worten ein: »Der Heilige Geist und wir haben beschlossen…« (Ac 15,28). Der Geist, der in der ganzen Kirche wirkt, nimmt die Apostel an der Hand, wenn sie neue Wege einschlagen, um seine Vorhaben zu verwirklichen: Er ist der wichtigste Baumeister bei der Errichtung der Kirche.
Die Versammlung in Jerusalem fand jedoch in einem Augenblick nicht geringer Spannungen innerhalb der Urgemeinde statt. Es ging um eine Antwort auf die Frage, ob von den Heiden, die sich zu Jesus Christus, dem Herrn, bekannten, die Beschneidung gefordert werden sollte, oder ob es zulässig sei, sie vom mosaischen Gesetz zu befreien, das heißt von der Einhaltung der Vorschriften, die notwendig sind, um gerechte, gesetzestreue Menschen zu sein, und sie vor allem von den Normen zu befreien, die die kultischen Reinigungsvorschriften, die Speiseregeln (reine und unreine Speisen) und den Sabbat betrafen. Über die Versammlung in Jerusalem berichtet auch der hl. Paulus in Ga 2,1-10: 14 Jahre nach seiner Begegnung mit dem Auferstandenen vor Damaskus - wir befinden uns in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre - bricht Paulus zusammen mit Barnabas von Antiochia in Syrien auf und läßt sich von Titus, seinem treuen Mitarbeiter begleiten, der griechischer Herkunft war und nicht gezwungen worden war, sich beim Eintritt in die Kirche beschneiden zu lassen. Bei dieser Gelegenheit legt Paulus den Zwölf, die als die »Angesehenen« bezeichnet werden, sein Evangelium der Freiheit vom Gesetz dar (vgl. Ga 2,6). Im Licht der Begegnung mit dem auferstandenen Christus hatte er verstanden, daß für die Heiden im Augenblick ihres Übertritts zum Evangelium Jesu Christi die Beschneidung, die Speise- und Sabbatvorschriften als Zeichen der Gerechtigkeit nicht mehr notwendig waren: Christus ist unsere Gerechtigkeit, und »gerecht« ist alles, was ihm gleichgestaltet ist. Es bedarf keiner weiteren Zeichen, um gerecht zu sein. Im Galaterbrief berichtet er in wenigen Sätzen vom Verlauf der Versammlung: Begeistert erwähnt er, daß Jakobus, Kephas und Johannes, die »Säulen«, die ihm und Barnabas zum Zeichen der kirchlichen Gemeinschaft in Christus die Hand gaben, dem Evangelium der Freiheit vom Gesetz zustimmten (vgl. Ga 2,9). Wenn das Konzil von Jersualem für Lukas, wie wir erwähnt haben, Ausdruck des Wirkens des Heiligen Geistes ist, so stellt es für Paulus die entscheidende Anerkennung der Freiheit dar, die von allen jenen geteilt wurde, die daran teilnahmen: eine Freiheit von den aus der Beschneidung und dem Gesetz herrührenden Verpflichtungen; jene Freiheit, zu der »uns Christus befreit hat«, damit wir frei bleiben und uns nicht von neuem das Joch der Knechtschaft auflegen lassen (Ga 5,1). Die zwei Weisen, wie Paulus und Lukas die Versammlung von Jerusalem beschreiben, sind durch das befreiende Wirken des Geistes verbunden, denn »wo der Geist des Herrn wirkt, da ist Freiheit«, wird er später im Zweiten Brief an die Korinther schreiben (vgl. 3,17).
Wie aus den Briefen des hl. Paulus klar hervorgeht, ist die christliche Freiheit jedoch niemals mit Zügellosigkeit oder willkürlichem Handeln gleichzusetzen; sie verwirklicht sich in der Angleichung an Christus und daher im wahren Dienst für die Brüder, vor allem für die Bedürftigsten. Deshalb schließt der Bericht des Paulus über die Versammlung mit der Erinnerung an die Ermahnung der Apostel an sie: »Nur sollten wir an ihre Armen denken; und das zu tun, habe ich mich eifrig bemüht« (Ga 2,10). Jedes Konzil entsteht aus der Kirche und kehrt in die Kirche zurück: Bei jenem Anlaß kehrt es mit der Aufmerksamkeit für die Armen zurück, bei denen es sich, wie aus verschiedenen Bemerkungen des Paulus in seinen Briefen hervorgeht, vor allem um die Armen der Kirche von Jerusalem handelt. In der besonders im Zweiten Brief an die Korinther (vgl. 8-9) und im Schlußabschnitt des Briefes an die Römer (vgl. Rm 15) bekundeten Sorge für die Armen beweist Paulus seine Treue zu den während der Versammlung gereiften Entscheidungen.
Wir sind vielleicht nicht mehr imstande, die Bedeutung, die Paulus und seine Gemeinden dem Sammeln von Geld für die Armen von Jerusalem beimaßen, voll zu begreifen. Es handelte sich um eine im Gesamtbild der religiösen Aktivitäten völlig neue Initiative: Sie war nicht verpflichtend, sondern freiwillig und spontan; alle von Paulus im Westen gegründeten Kirchen nahmen daran teil. Die Geldsammlung war Ausdruck der Bringschuld ihrer Gemeinden für die Mutterkirche in Palästina, von der sie das unfaßbare Geschenk des Evangeliums erhalten hatten. Die Bedeutung, die Paulus dieser Geste des Teilens beimißt, ist so groß, daß er sie nicht einfach »Geldsammeln« nennt: Für ihn ist es vielmehr »Dienst«, »Segen«, »Liebe«, »Gnade«, ja »Liturgie« (vgl. 2Co 9). Besonders überrascht dieser letztgenannte Begriff, der dem Sammeln von Geld auch einen kultischen Wert zuerkennt: Es ist einerseits liturgischer Gestus oder »Dienst«, der von jeder Gemeinde Gott dargebracht wird, und andererseits eine für das Volk vollzogene Handlung der Liebe. Liebe zu den Armen und göttliche Liturgie gehören zusammen, die Liebe zu den Armen ist Liturgie. Die beiden Horizonte sind in jeder Liturgie gegenwärtig, die in der Kirche - die sich ihrem Wesen nach der Trennung zwischen Kult und Leben, zwischen dem Glauben und den Werken, zwischen dem Gebet und der Liebe zu den Brüdern widersetzt - gefeiert und gelebt wird. So kommt es zum Konzil von Jerusalem, um die Streitfrage über das Verhalten gegenüber den zum Glauben gelangten Heiden beizulegen, und es entscheidet sich für die Freiheit von der Beschneidung und von den vom Gesetz auferlegten Normen und endet mit dem kirchlichen und pastoralen Erfordernis, das den Glauben an Christus Jesus und die Liebe zu den Armen von Jerusalem und der ganzen Kirche in den Mittelpunkt stellt.
Die zweite Episode ist der bekannte Zwischenfall in Antiochia in Syrien, der die innere Freiheit des Paulus beweist: Wie soll man sich im Hinblick auf die Tischgemeinschaft zwischen Gläubigen jüdischer Herkunft und den Heidenchristen verhalten? Hier kommt der andere Kern der Einhaltung des mosaischen Gesetzes zum Vorschein: die Unterscheidung zwischen reinen und unreinen Speisen, die die gesetzestreuen Juden zutiefst von den Heiden trennte. Zunächst hielt Kephas, Petrus, sowohl mit den einen wie mit den anderen Tischgemeinschaft; aber nach der Ankunft einiger Christen aus dem Kreis des Jakobus, dem »Bruder des Herrn« (Ga 1,19), hatte Petrus begonnen, die Kontakte mit den Heiden beim Essen zu vermeiden, um nicht diejenigen zu schockieren, die weiterhin die Reinheitsgebote beim Essen einhielten; und Barnabas hatte die Entscheidung gebilligt. Diese Entscheidung spaltete Judenchristen und Heidenchristen tief. Dieses Verhalten, das tatsächlich die Einheit und Freiheit der Kirche bedrohte, löste die erregten Reaktionen des Paulus aus, der so weit ging, Petrus und den anderen Heuchelei vorzuwerfen: »Wenn du als Jude nach Art der Heiden und nicht nach Art der Juden lebst, wie kannst du dann die Heiden zwingen, nach Art der Juden zu leben?« (Ga 2,14). In Wirklichkeit waren die Sorgen des Paulus auf der einen und die des Petrus und Barnabas auf der anderen Seite verschieden gelagert: Für letztere stellte die Trennung von den Heiden eine Möglichkeit dar, die aus dem Judentum kommenden Gläubigen zu schützen und nicht zu schockieren; für Paulus hingegen stellte sie die Gefahr eines Mißverständnisses bezüglich des sowohl den Heiden wie den Juden angebotenen universalen Heils in Christus dar. Wenn sich die Rechtfertigung allein kraft des Glaubens an Christus, kraft der Gleichgestaltung mit ihm, ohne jedes Gesetzeswerk, verwirklicht, welchen Sinn hat es dann noch, die Reinheit der Speisen beim gemeinsamen Mahl einzuhalten? Petrus und Paulus hatten höchstwahrscheinlich verschiedene Perspektiven: Dem ersten ging es darum, die Juden, die zum Evangelium gefunden hatten, nicht zu verlieren; dem zweiten darum, den heilbringenden Wert des Todes Christi für alle Gläubigen nicht zu vermindern.
Es mag seltsam anmuten, aber als Paulus einige Jahre später (Mitte der fünfziger Jahre) an die Christen in Rom schreibt, wird er sich selber in einer ähnlichen Situation befinden und die Starken bitten, keine unreinen Speisen zu essen, um die Schwachen nicht zu verlieren und keinen Anstoß zu erregen: »Es ist nicht gut, Fleisch zu essen oder Wein zu trinken oder sonst etwas zu tun, wenn dein Bruder daran Anstoß nimmt« (Rm 14,21). Der Zwischenfall in Antiochia stellte sich somit sowohl für Petrus wie für Paulus als eine Lektion heraus. Nur der aufrichtige Dialog, der für die Wahrheit des Evangeliums offen ist, konnte dem Weg der Kirche Richtung geben: »Denn das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, es ist Gerechtigkeit, Friede und Freude im Heiligen Geist« (Rm 14,17). Das ist eine Lektion, die auch wir lernen müssen: Lassen wir uns alle mit den Petrus und Paulus anvertrauten unterschiedlichen Charismen vom Geist leiten, indem wir versuchen, in der Freiheit zu leben, die ihre Orientierung im Glauben an Christus findet und sich im Dienst an den Brüdern konkret verwirklicht. Wesentlich ist, Christus immer mehr gleichgestaltet zu werden. Auf diese Weise wird man wirklich frei, auf diese Weise kommt in uns der tiefste Kern des Gesetzes zum Ausdruck: die Liebe zu Gott und zum Nächsten. Bitten wir den Herrn, daß er uns lehre, so gesinnt zu sein wie er, um von ihm die wahre Freiheit und die Liebe des Evangeliums zu lernen, die jeden Menschen umfängt.
Das Thema der Katechese dieser Generalaudienz sind zwei herausragende Momente der Beziehung zwischen Paulus und Petrus. In beiden Fällen ging es um die Frage, ob auch die Heiden, die zum Glauben gekommen waren, das Gesetz des Moses einhalten müssen. Beim sogenannten Apostelkonzil in Jerusalem hörten die Apostel und Ältesten der Kirche das Zeugnis von Paulus und Barnabas sowie die Erklärungen von Petrus und Jakobus. Unter Anleitung des Heiligen Geistes kamen sie dann zum Entschluß, von den Heiden, die durch die Gnade und den Glauben an Christus das Heil gefunden hatten, nicht auch noch die jüdische Beschneidung zu fordern. Wenig später kam es aber zu einem Zwischenfall in Antiochia, wo Petrus sich von den bekehrten Heiden absonderte, um bei den gesetzestreuen Judenchristen keinen Anstoß zu erregen. Paulus sah darin eine Gefahr für die Wahrheit des Evangeliums und trat Petrus entgegen. Bei dieser Kontroverse ging es den beiden Apostelfürsten nicht um Rechthaberei; sie hatten zwar in dieser schwierigen Frage unterschiedliche Ansichten, fanden jedoch schließlich zu einer Einigung. Der Vorfall zeigte ihnen, daß eine offene Aussprache, die auf der Liebe gründet und sich am Evangelium ausrichtet, die Kirche auf ihrem Weg vorwärts bringt.
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Herzlich grüße ich die Gläubigen aus dem deutschen Sprachraum. Einen besonderen Gruß richte ich an die Pilger aus dem Bistum Essen in Begleitung von Bischof Dr. Felix Genn und den Weihbischöfen. Die Wallfahrt zum 50jährigen Jubiläum eures Bistums sei für euch ein Aufbruch zu einem erneuerten Leben aus dem Glauben. Ebenso begrüße ich den Chor der Deutschen Schule der Borromäerinnen aus Alexandria in Ägypten. - Euch alle bitte ich um euer Gebet für die Weltbischofssynode, die in wenigen Tagen hier in Rom beginnt, damit der Heilige Geist unsere Beratungen leite und das Wort Gottes die Kirche belebe. Der Herr segne euch und eure Familien.
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Liebe Brüder und Schwestern!
In den letzten Katechesen über den hl. Paulus habe ich von seiner Begegnung mit dem auferstandenen Christus gesprochen, die sein Leben tiefgreifend verändert hat, und dann von seiner Beziehung zu den zwölf von Jesus berufenen Aposteln - besonders zu Jakobus, Kephas und Johannes - und von seiner Beziehung zur Kirche von Jerusalem. Es bleibt nun die Frage, was der hl. Paulus vom irdischen Jesus, von seinem Leben, seinen Lehren, seinem Leiden gewußt hat. Bevor wir auf diese Frage eingehen, kann es nützlich sein, sich klarzumachen, daß der hl. Paulus selbst zwei Arten unterscheidet, Jesus zu kennen, und generell zwei Arten, einen Menschen zu kennen. Er schreibt im Zweiten Brief an die Korinther: »Also kennen wir von jetzt an niemand mehr dem Fleisch nach; auch wenn wir früher Christus dem Fleisch nach gekannt haben, jetzt kennen wir ihn nicht mehr so« (5,16). »Dem Fleisch nach« kennen bedeutet nur ein äußeres Kennen, unter äußeren Kriterien: Man kann einen Menschen mehrmals gesehen haben, kennt also seine äußeren Züge und die verschiedenen Details seines Verhaltens: wie er spricht, wie er sich bewegt usw. Auch wenn man jemanden auf diese Weise kennt, kennt man ihn dennoch nicht wirklich, man kennt nicht den Kern des Menschen. Nur mit dem Herzen kennt man einen Menschen wirklich. Die Pharisäer und Sadduzäer haben Jesus äußerlich gekannt, sie haben seine Lehre, viele Details über ihn vernommen, aber sie haben ihn nicht in seiner Wahrheit erkannt. Eine analoge Unterscheidung gibt es in einem Wort Jesu. Vor der Verklärung fragt er die Apostel: »Für wen halten mich die Leute?« und »Ihr aber, für wen haltet ihr mich?« Die Leute kennen ihn, aber nur oberflächlich; sie wissen Verschiedenes über ihn, haben ihn aber nicht wirklich erkannt. Die Zwölf hingegen haben dank der Freundschaft, die auch das Herz einbezieht, zumindest im wesentlichen begriffen und zu erkennen begonnen, wer Jesus ist. Auch heute gibt es diese unterschiedliche Art der Kenntnis: Es gibt gelehrte Personen, die Jesus in vielen seiner Details kennen, und einfache Menschen, die nichts von diesen Details wissen, aber ihn in seiner Wahrheit erkannt haben: »Das Herz spricht zum Herzen«. Und Paulus will im wesentlichen sagen, daß er Jesus eben so, mit dem Herzen, kennt und auf diese Weise das Wesen der Person in ihrer Wahrheit kennt; und daß er dann, in einem zweiten Schritt, deren Einzelheiten kennt.
Es bleibt jedoch die Frage offen: Was hat der hl. Paulus vom konkreten Leben, den Worten, dem Leiden, den Wundern Jesu gewußt? Es scheint gesichert, daß er ihm während seines Erdenlebens nicht begegnet ist. Durch die Apostel und die entstehende Kirche hat er sicherlich auch Details über das Erdenleben Jesu kennengelernt. In seinen Briefen können wir drei Formen der Bezugnahme auf den vorösterlichen Jesus finden. An erster Stelle stehen die ausdrücklichen und direkten Bezugnahmen. Paulus spricht von Jesus als Nachkomme Davids (vgl. Rm 1,3), er weiß von der Existenz seiner »Brüder« oder Verwandten (1Co 9,5 Ga 1,19), er kennt den Verlauf des Letzten Abendmahls (vgl. 1Co 11,23), er kennt andere Worte Jesu, zum Beispiel über die Unauflöslichkeit der Ehe (vgl. 1Co 7,10 mit Mc 10,11-12), über die Notwendigkeit, daß wer das Evangelium verkündet, von der Gemeinde erhalten werden muß, da der Arbeiter ein Recht auf seinen Lohn habe (vgl. 1Co 9,14 mit Lc 10,7); Paulus kennt die von Jesus beim Letzten Abendmahl gesprochenen Worte (vgl. 1Co 11,24-25 mit Lc 22,19-20), und er kennt auch das Kreuz Jesu. Das sind direkte Bezugnahmen auf Worte und Tatsachen aus dem Leben Jesu.
An zweiter Stelle können wir in einigen Sätzen der Paulusbriefe verschiedene Anspielungen auf die Überlieferung erkennen, die in den synoptischen Evangelien bezeugt ist. Zum Beispiel lassen sich die Worte, die wir im Ersten Brief an die Thessalonicher lesen, wonach »der Tag des Herrn kommt wie ein Dieb in der Nacht« (5,2), nicht mit einem Hinweis auf die alttestamentlichen Prophezeiungen erklären, da sich der Vergleich mit dem nächtlichen Dieb nur im Matthäus- und im Lukasevangelium findet, also der synoptischen Überlieferung entnommen ist. Wenn wir lesen, »Gott hat das Törichte in der Welt erwählt…« (1Co 1,27-28), hört man den getreuen Widerhall der Lehre Jesu über die Unmündigen und die Armen (vgl. Mt 5,3 Mt 11,25 Mt 19,30). Dann gibt es die Worte, die Jesus im messianischen Lobpreis ausgesprochen hat: »Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, weil du all das den Weisen und Klugen verborgen, den Unmündigen aber offenbart hast«. Paulus weiß - das ist seine missionarische Erfahrung -, wie wahr diese Worte sind, daß nämlich gerade das Herz der Einfachen für die Erkenntnis Jesu offen ist. Auch der Hinweis auf den Gehorsam Jesu »bis zum Tod«, der in Phil 2,8 zu lesen ist, will die völlige Bereitschaft des irdischen Jesus in Erinnerung rufen, den Willen seines Vaters zu erfüllen (vgl. Mc 3,35 Jn 4,34). Paulus kennt also das Leiden Jesu, sein Kreuz, die Art, wie er die letzten Augenblicke seines Lebens verbracht hat. Das Kreuz Jesu und die Überlieferung über dieses Ereignis des Kreuzes stehen im Mittelpunkt des paulinischen Kerygmas. Eine weitere Säule des Lebens Jesu, von der der hl. Paulus weiß, ist die Bergpredigt, aus der er einige Elemente fast wörtlich zitiert, wenn er an die Römer schreibt: »Liebt einander… Segnet jene, die euch verfolgen… Lebt in Frieden mit allen… Besiege das Böse durch das Gute…«. In seinen Briefen findet sich also ein getreuer Widerschein der Bergpredigt (vgl. Mt 5-7).
Schließlich kann man eine dritte Art der Gegenwart der Worte Jesu in den Briefen des Paulus feststellen: Das ist dann gegeben, wenn er eine Art Übertragung der vorösterlichen Überlieferung auf die Situation nach Ostern vornimmt. Ein typischer Fall ist das Thema des Reiches Gottes. Es steht sicher im Mittelpunkt der Verkündigung des historischen Jesus (vgl. Mt 3,2 Mc 1,15 Lc 4,43). Bei Paulus kann man eine Übertragung dieser Thematik ausmachen, weil es nach der Auferstehung offensichtlich ist, daß Jesus in Person, der Auferstandene, das Reich Gottes ist. Das Reich Gottes ist deshalb dort, wo Jesus ist. Und so verwandelt sich notwendigerweise das Thema vom Reich Gottes, in dem das Geheimnis Jesu vorweggenommen worden war, in Christologie. Dennoch, dieselben Voraussetzungen, die von Jesus für den Eintritt in das Reich Gottes gefordert werden, gelten genauso für Paulus im Hinblick auf die Rechtfertigung durch den Glauben: Sowohl der Eintritt in das Reich als auch die Rechtfertigung erfordern eine Haltung großer Demut und Verfügbarkeit, die frei von Anmaßungen ist, um die Gnade Gottes anzunehmen. Das Gleichnis vom Pharisäer und dem Zöllner (vgl. Lc 18,9-14) erteilt eine Lehre, die genauso bei Paulus zu finden ist, wenn er auf dem gebotenen Ausschluß jedweder Prahlerei gegenüber Gott besteht. Auch die Sätze Jesu über die Zöllner und die Dirnen, die bereiter sind als die Pharisäer, das Evangelium anzunehmen (vgl. Mt 21,31 Lc 7,36-50), und seine Entscheidung, den Tisch mit ihnen zu teilen (vgl. Mt 9,10-13 Lc 15,1-2), finden vollen Widerhall in der Lehre des Paulus über die barmherzige Liebe Gottes zu den Sündern (vgl. Rm 5,8-10; und auch Ep 2,3-5). So wird das Thema des Reiches Gottes in neuer Form wieder aufgegriffen, aber stets in voller Treue zur Überlieferung des historischen Jesus.
Ein weiteres Beispiel getreuer Umwandlung des von Jesus beabsichtigten lehrmäßigen Kerns findet sich in den auf ihn bezogenen »Titeln«. Vor Ostern weist er sich selbst als Menschensohn aus; nach Ostern wird offenkundig, daß der Menschensohn auch der Sohn Gottes ist. Daher ist der von Paulus für die Bezeichnung Jesu bevorzugte Titel »Kyrios«, »Herr« (vgl. Ph 2,9-11), der auf die Göttlichkeit Jesu hinweist. Jesus, der Herr, erscheint mit diesem Titel im vollen Licht der Auferstehung. Auf dem Ölberg, im Augenblick der äußersten Angst Jesu (vgl. Mc 14,36), hatten die Jünger, bevor sie einschliefen, gehört, wie er mit dem Vater sprach und ihn »Abba - Vater« nannte. Das ist ein sehr vertrauliches Wort, das unserem »Papa« gleichkommt und nur von Kindern in Verbundenheit mit ihrem Vater gebraucht wird. Bis zu jenem Augenblick war es undenkbar, daß ein Jude ein derartiges Wort benutzte, um sich an Gott zu wenden; aber Jesus - da er ja der wahre Sohn Gottes ist - spricht in dieser Stunde der Vertrautheit so und sagt: »Abba, Vater«. In den Briefen des hl. Paulus an die Römer und an die Galater taucht dieses Wort »Abba«, das die Ausschließlichkeit der Sohnschaft Jesu zum Ausdruck bringt, überraschenderweise aus dem Munde der Getauften auf (vgl. Rm 8,15 Ga 4,6), da sie den »Geist des Sohnes« empfangen haben und jetzt diesen Geist in sich tragen und sprechen können wie Jesus und mit Jesus als wahre Kinder zu ihrem Vater »Abba« sagen können, weil sie Kinder im Sohn geworden sind.
Und schließlich möchte ich die heilbringende Dimension des Todes Jesu andeuten, die wir in dem Wort des Evangeliums finden, nach dem »der Menschensohn nicht gekommen ist, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele« (Mc 10,45 Mt 20,28). Der getreue Widerschein dieses Wortes Jesu kommt in der Lehre des Paulus vom Tod Jesu als Lösegeld (vgl. 1Co 6,20), als Erlösung (vgl. Rm 3,24), als Befreiung (vgl. Ga 5,1) und als Versöhnung (vgl. Rm 5,10 2Co 5,18-20) zum Vorschein. Hier liegt das Zentrum der paulinischen Theologie, die auf diesem Wort Jesu fußt.
Abschließend sei darauf hingewiesen, daß der hl. Paulus nicht als Historiker an Jesus, gleichsam als eine Person der Vergangenheit, denkt. Er kennt gewiß die große Überlieferung über das Leben, die Worte, den Tod und die Auferstehung Jesu, behandelt dies alles aber nicht als Sache der Vergangenheit; er stellt es als Wirklichkeit des lebendigen Jesus vor. Die Worte und Taten Jesu gehören für Paulus nicht zur historischen Zeit, zur Vergangenheit. Jesus lebt jetzt und spricht jetzt mit uns und er lebt für uns. Das ist die wahre Art und Weise, Jesus zu kennen und die Überlieferung über ihn anzunehmen. Auch wir müssen lernen, Jesus nicht nach dem Fleisch zu kennen, als eine Person der Vergangenheit, sondern als unseren Herrn und Bruder, der heute mit uns ist und uns zeigt, wie wir leben und sterben sollen.
In der heutigen Katechese über den heiligen Paulus möchte ich der Frage seines Verhältnisses zu Jesus von Nazareth, zum sogenannten historischen Jesus nachgehen. Paulus hat Jesus, den er während seines öffentlichen Wirkens wohl nie getroffen hat, vor seiner Begegnung mit dem Auferstandenen nach menschlichen Maßstäben eingeschätzt (vgl. 2Co 5,16) und für einen gewöhnlichen Menschen gehalten. Im Grunde hat er Jesus dann durch die erste Christengemeinde, das heißt durch Vermittlung der Kirche, näher kennengelernt. In seiner Verkündigung bezieht sich der Apostel auf dreierlei Weise auf die Gestalt des Jesus von Nazareth. Zum einen finden sich ausdrückliche und direkte Hinweise auf das irdische Leben Christi. Paulus zitiert auch Jesu eigene Worte, zum Beispiel die Worte des Letzten Abendmahls. Zum anderen können wir in den Paulusbriefen verschiedene Anspielungen auf die von den synoptischen Evangelien bezeugte Tradition ausfindig machen, wenn dabei auch nicht explizit auf den Herrn Bezug genommen wird. Schließlich gibt es wichtige inhaltliche Übereinstimmungen und Gleichklänge zwischen dem Denken des Paulus und der Verkündigung Jesu - auch dort, wo der Apostel nicht direkt auf Jesus verweist oder Unterschiede in Sprache und Ausdruck vorhanden sind. Denken wir hier an die Themen des Reiches Gottes, der barmherzigen Liebe Gottes gegenüber den Sündern oder des Heils durch den Kreuzestod Jesu. Vor allem aber ist die Person Jesu für Paulus nicht eine Gestalt der Geschichte; Jesus Christus ist für ihn das Leben unseres eigenen Lebens, hier und jetzt.
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Mit Freude heiße ich alle deutschsprachigen Pilger und Besucher willkommen. Gerne grüße ich die vielen jungen Menschen, besonders die Schüler aus Lippstadt und die Ministranten aus dem Bistum Aachen. Christus ist für uns, die wir durch die Taufe dem Herrn und seiner Kirche angehören, unser Leben. Werden wir nicht müde, unsere Beziehung zu ihm im Gebet, in der Feier der Sakramente und in Werken der Liebe zu vertiefen. Der Herr stärke euch mit seiner Gnade.
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Liebe Brüder und Schwestern!
In der Katechese vom vergangenen Mittwoch habe ich über das Verhältnis des Paulus zum vorösterlichen Jesus in seinem irdischen Leben gesprochen. Es ging um die Frage: »Was hat Paulus vom Leben Jesu, von seinen Worten, von seinem Leiden gewußt?« Heute möchte ich von der Lehre des hl. Paulus über die Kirche sprechen. Wir wollen mit der Feststellung beginnen, daß das Wort für »Kirche«, im Italienischen »Chiesa« wie auch »Église« im Französischen und »Iglesia« im Spanischen, vom griechischen »ekklesía« hergeleitet ist! Es stammt aus dem Alten Testament und bedeutet die von Gott zusammengerufene Versammlung des Volkes Israel, besonders die vorbildliche Versammlung am Fuß des Sinai. Mit diesem Wort wird jetzt die neue Gemeinschaft der Christgläubigen bezeichnet, die sich als Versammlung Gottes fühlen, die neue Einberufung aller Völker durch Gott und vor Gott. Das Wort »ekklesía« taucht erstmalig bei Paulus auf, der der erste Verfasser einer christlichen Schrift ist. Das geschieht in der Einleitung zum Ersten Brief an die Thessalonicher, wo sich Paulus wörtlich »an die Gemeinde (original: ekklesía) von Thessalonich« wendet (vgl. dann auch »die Gemeinde [ekklesía] von Laodizea« in Col 4,16). In anderen Briefen spricht er von der Kirche Gottes in Korinth (1Co 1,2 2Co 1,1), in Galatien (Ga 1,2 usw.) - also Teilkirchen -, aber er sagt auch, daß er »die Kirche Gottes« verfolgt habe: nicht eine bestimmte Ortsgemeinde, sondern »die Kirche Gottes«. Wir sehen also, daß dieses Wort »Kirche« eine mehrdimensionale Bedeutung hat: Es bezeichnet einerseits die Versammlungen Gottes an bestimmten Orten (einer Stadt, einem Dorf, einem Haus), aber es bedeutet auch die Kirche in ihrer Gesamtheit. Und so sehen wir, daß »die Kirche Gottes« nicht nur eine Summe von verschiedenen Ortskirchen ist, sondern daß die verschiedenen Ortskirchen ihrerseits Verwirklichungen der einen Kirche Gottes sind. Alle zusammen sind »die Kirche Gottes«, die den einzelnen Ortskirchen vorausgeht und in ihnen zum Ausdruck kommt, sich in ihnen verwirklicht.
Wichtig ist die Feststellung, daß das Wort »Kirche« fast immer mit der qualifizierenden Hinzufügung »Gottes« vorkommt: Sie ist keine aus gemeinsamen Ideen oder Interessen entstandene menschliche Vereinigung, sondern eine Einberufung Gottes. Er hat sie zusammengerufen, und deshalb ist sie eine einzige in allen ihren Ausdrucksformen. Die Einheit Gottes schafft die Einheit der Kirche an allen Orten, wo immer sie sich befindet. Später wird Paulus im Brief an die Epheser ausführlich den Begriff der Einheit der Kirche behandeln, und zwar in Kontinuität mit dem Begriff des Volkes Gottes, Israels, das von den Propheten als »Braut Gottes« betrachtet und dazu berufen worden war, eine bräutliche Beziehung zu ihm zu leben. Paulus stellt die eine Kirche Gottes als »Braut Christi« in der Liebe vor, die ein Leib und ein Geist mit Christus selbst ist. Der junge Paulus war bekanntlich ein erbitterter Gegner der von der Kirche Christi gebildeten neuen Bewegung gewesen. Er war ihr Gegner gewesen, weil er in dieser neuen Bewegung eine Bedrohung für die Treue zur Überlieferung des Volkes Gottes gesehen hatte, das vom Glauben an den einen Gott beseelt war. Diese Treue kam vor allem in der Beschneidung, der Beachtung kultischer Reinheitsregeln, der Enthaltsamkeit von gewissen Speisen, der Einhaltung des Sabbats zum Ausdruck. Diese Treue hatten die Israeliten in der Zeit der Makkabäer mit dem Blut der Märtyrer bezahlt, als das hellenistische Regime alle Völker dazu verpflichten wollte, sich der einen hellenistischen Kultur anzupassen. Viele Israeliten hatten die Israel eigene Berufung mit ihrem Blut verteidigt. Die Märtyrer hatten für die Identität ihres Volkes, die durch diese Elemente zum Ausdruck kam, mit ihrem Leben bezahlt. Nach der Begegnung mit dem auferstandenen Christus verstand Paulus, daß die Christen keine Verräter waren; im Gegenteil, in der neuen Situation hatte der Gott Israels durch Christus seinen Ruf auf alle Völker ausgeweitet; so wurde er zum Gott aller Völker. Auf diese Weise verwirklichte sich die Treue zu dem einen Gott; es bedurfte keiner von besonderen Normen und Vorschriften festgelegten Unterscheidungszeichen mehr, weil alle in ihrer Vielfalt dazu berufen waren, in Christus Teil des einen Volkes Gottes, der »Kirche Gottes« zu sein.
Etwas war Paulus in der neuen Situation sofort klar: Der grundlegende und gründende Wert Christi und des »Wortes«, das er verkündete. Paulus wußte, daß man nicht nur nicht durch Zwang Christ wird, sondern daß in der inneren Gestaltung der neuen Gemeinschaft die institutionelle Komponente unweigerlich an das lebendige »Wort« gebunden war, an die Verkündigung des lebendigen Christus, in dem sich Gott allen Völkern öffnet und sie zu einem einzigen Volk Gottes vereint. Es ist bezeichnend, daß Lukas in der Apostelgeschichte mehrmals, auch in bezug auf Paulus, die Wendung »das Wort verkünden« verwendet (Ac 4,29 Ac 4,31 Ac 8,25 Ac 11,19 Ac 13,46 Ac 14,25 Ac 16,6 Ac 16,32), in der offenkundigen Absicht, die entscheidende Tragweite des »Wortes« der Verkündigung möglichst hervorzuheben. Konkret besteht dieses Wort aus dem Kreuz und aus der Auferstehung Christi, in denen die Schrift ihre Verwirklichung gefunden hat. Das Ostergeheimnis, das die Wende seines Lebens auf dem Weg nach Damaskus ausgelöst hat, steht natürlich im Mittelpunkt der Verkündigung des Apostels (vgl. 1Co 2,2 1Co 15,14). Dieses im Wort verkündete Geheimnis erfüllt sich in den Sakramenten der Taufe und der Eucharistie und wird dann in der christlichen Nächstenliebe Wirklichkeit. Das Werk der Evangelisierung des Paulus hat kein anderes Ziel als den Aufbau der Gemeinde der Christgläubigen. Dieser Gedanke ist in der Etymologie des Wortes »ekklesía« enthalten, das Paulus und mit ihm das ganze Christentum dem anderen Begriff - »Synagoge« - vorgezogen hat: Nicht nur deshalb, weil der erste Begriff ursprünglich »säkularer« ist (da er von der griechischen Praxis der politischen und nicht eigentlich religiösen Versammlung abgeleitet ist), sondern auch, weil er direkt die theologischere Idee einer Berufung »ab extra« (von außen) impliziert, also nicht einer einfachen Zusammenkunft: Die Gläubigen sind von Gott gerufen, der sie in einer Gemeinschaft versammelt, seiner Kirche.
Auf dieser Linie können wir auch den ursprünglichen, ausschließlich paulinischen Begriff der Kirche als »Leib Christi« verstehen. Dazu muß man die beiden Dimensionen dieses Begriffs berücksichtigen. Eine ist soziologischer Natur: Nach ihr ist der Leib aus seinen Bestandteilen zusammengesetzt und würde ohne sie nicht existieren. Diese Interpretation erscheint im Brief an die Römer und im Ersten Brief an die Korinther, wo Paulus ein Bild aufnimmt, das bereits in der römischen Soziologie vorhanden war: Er sagt, daß ein Volk wie ein Leib ist, mit verschiedenen Gliedern, von denen jedes seine eigene Funktion hat; alle aber, auch die kleinsten und anscheinend bedeutungslosesten, sind notwendig, damit der Leib leben und seine Funktionen erfüllen kann. Angemessenerweise bemerkt der Apostel, daß es in der Kirche viele Berufungen gibt: Propheten, Apostel, Lehrer, einfache Menschen; sie alle sind dazu berufen, jeden Tag die Liebe zu leben; alle sind notwendig, um die lebendige Einheit dieses geistlichen Organismus aufzubauen. Die andere Interpretation bezieht sich auf den Leib Christi selbst. Paulus führt aus, daß die Kirche nicht nur ein Organismus ist, sondern wirklich zum Leib Christi wird, im Sakrament der Eucharistie, wo wir alle seinen Leib empfangen und wirklich zu seinem Leib werden. So verwirklicht sich das bräutliche Geheimnis, daß alle ein Leib und ein Geist in Christus werden. Damit geht die Wirklichkeit weit über das soziologische Bild hinaus, indem sie ihr wahres, tiefes Wesen zum Ausdruck bringt, das heißt die Einheit aller Getauften in Christus, die vom Apostel als »eins« in Christus betrachtet werden, dem Sakrament seines Leibes gleichgestaltet.
Mit dieser Art zu reden zeigt Paulus, daß er wohl weiß und uns alle verstehen läßt, daß die Kirche nicht ihm und nicht uns gehört: Die Kirche ist der Leib Christi, sie ist »Gottes Kirche«, »Gottes Ackerfeld, Gottes Bau, … Gottes Tempel« (1Co 3,9 1Co 3,16). Diese letzte Bezeichnung ist besonders interessant, da sie einem Geflecht zwischenmenschlicher Beziehungen einen Begriff zuschreibt, der gewöhnlich dazu diente, einen als heilig betrachteten physischen Ort anzuzeigen. Die Beziehung zwischen Kirche und Tempel nimmt daher zwei sich ergänzende Dimensionen an: Einerseits wird auf die kirchliche Gemeinschaft das Merkmal der Abgeschiedenheit und Reinheit angewandt, die dem heiligen Gebäude zustand; anderseits aber wird auch der Begriff eines materiellen Raumes überwunden, um diese Wertigkeit auf die Wirklichkeit einer lebendigen Glaubensgemeinschaft zu übertragen. Wenn vorher die Tempel als Orte der Gegenwart Gottes betrachtet wurden, so weiß und sieht man jetzt, daß Gott nicht in Gebäuden aus Stein wohnt, sondern daß der Ort der Gegenwart Gottes in der Welt die lebendige Gemeinschaft der Gläubigen ist.
Eine eigene Überlegung würde die Bezeichnung »Volk Gottes« verdienen, die bei Paulus grundsätzlich auf das Volk des Alten Testaments und dann auf die Heiden angewandt wird, die das »Nicht-Volk« waren und dank ihrer Eingliederung in Christus durch das Wort und das Sakrament auch Volk Gottes geworden sind. Und schließlich eine letzte Nuance. Im Ersten Brief an Timotheus bezeichnet Paulus die Kirche als »Hauswesen Gottes« (1Tm 3,15); und das ist eine wirklich originelle Definition, da sie sich auf die Kirche als Gemeinschaftsstruktur bezieht, in der man herzliche zwischenmenschliche Beziehungen familiären Charakters lebt. Der Apostel hilft uns, das Geheimnis der Kirche in ihren verschiedenen Dimensionen als Versammlung Gottes in der Welt immer tiefer zu verstehen. Das ist die Größe der Kirche und die Größe unserer Berufung: Wir sind Tempel Gottes in der Welt, der Ort, wo Gott wirklich wohnt, und gleichzeitig sind wir Gemeinschaft, Familie Gottes, der die Liebe ist. Als Familie und Haus Gottes müssen wir in der Welt die Liebe Gottes verwirklichen und so mit der Kraft, die aus dem Glauben kommt, Ort und Zeichen seiner Gegenwart sein. Bitten wir den Herrn, daß er uns gewähre, immer mehr seine Kirche zu sein, sein Leib, der Ort der Gegenwart seiner Liebe in dieser unserer Welt und in unserer Geschichte.
Heute wollen wir uns einem grundlegenden Thema widmen, auf das der Apostel Paulus sein Augenmerk gerichtet hat: die Kirche. Seine Auffassung von Kirche gründet auf persönlicher Erfahrung. Bei seiner Bekehrung hatte er schon die Kirche als Gemeinschaft vorgefunden. Als erster Autor einer christlichen Schrift, des Ersten Thessalonicherbriefs, prägte er aber maßgeblich den Ausdruck ekklesía (Versammlung) für die Kirche. Zunächst bedeutet dieser Begriff für ihn die Gemeinde von Gläubigen an einem bestimmten Ort. In einem zweiten Moment spricht Paulus dann von der gesamten Christenheit als der Kirche Gottes, die ihm wie eine Braut des Bräutigams Christi erscheint. Während sich die örtliche Gemeinschaft aus denjenigen zusammensetzt, die den gleichen Glauben an Christus und an sein lebendiges Wort teilen, wird die Gesamtkirche mehr aus dem Blickwinkel Gottes verstanden. Die ekklesía ist die Weise, wie der Herr mit den Menschen in Beziehung tritt: nämlich eine Gemeinschaft, die von außen - ab extra - von Gott gerufen wird. In diesem Sinne benutzt Paulus auch das Bild der Kirche als Leib Christi; es gibt eine mystische Einheit zwischen Christus und denen, die „in ihm“ leben. Bei aller Sorge um die von ihm gegründeten Gemeinden weiß Paulus darum, daß die Kirche nicht sein Werk ist. Sie ist ein Tempel Gottes, kein starres Gebäude, sondern ein organisches Ganzes von Menschen, die zu Heiligkeit, Reinheit und Vertrauen berufen sind. Gott ist gegenwärtig, wo die Gläubigen in einer Gemeinschaft der Liebe leben.
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Herzlich grüße ich alle deutschsprachigen Pilger und Besucher, besonders die Gemeinschaft der Marienschule aus Xanten. Der Apostel Paulus hilft uns, das Geheimnis der Kirche besser zu verstehen, die Kirche zu lieben und an ihrem Aufbau verantwortlich mitzuwirken. Er stellt uns die Kirche als Familie vor. Stehen wir den Menschen als Brüder und Schwestern Christi zur Seite. Gott segne euch alle!
Generalaudienzen 2005-2013 11008