Generalaudienzen 2005-2013 17081

Mittwoch, 17. August 2011: Der betende Mensch (10) Meditation

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Liebe Brüder und Schwestern!

Wir befinden uns noch im Licht des Hochfestes der Aufnahme Mariens in den Himmel, das – wie ich gesagt habe – ein Fest der Hoffnung ist. Maria ist im Paradies angekommen, und das ist unsere Bestimmung: Wir alle können das Paradies erreichen. Die Frage ist: Wie? Maria ist dort angekommen; sie ist – wie es im Evangelium heißt – »die, die geglaubt hat, daß sich erfüllt, was der Herr ihr sagen ließ« (
Lc 1,45). Maria hat also geglaubt, sie hat auf Gott vertraut, sie hat sich mit ihrem Willen in den Willen des Herrn hineinbegeben, und so war sie geradewegs auf dem direkten Weg, auf dem Weg zum Paradies. Glauben, auf den Herrn vertrauen, sich in seinen Willen hineinbegeben: Das ist die wesentliche Richtung.

Heute möchte ich nicht über diesen Weg des Glaubens sprechen, sondern nur über einen kleinen Aspekt des Gebetslebens, das ein Leben des Kontaktes mit Gott ist: über das betrachtende Gebet. Was ist das betrachtende Gebet? Es bedeutet, »sich zu erinnern«, was Gott getan hat, und nicht zu vergessen, was er uns Gutes getan hat (vgl. Ps 103,2). Oft sehen wir nur die negativen Dinge; wir müssen auch die positiven Dinge im Gedächtnis behalten, die Geschenke, die Gott uns gemacht hat, auf die positiven Zeichen achten, die von Gott kommen, und sie in Erinnerung behalten.

Wir sprechen also von einer Gebetsform, die in der christlichen Überlieferung »inneres Gebet« genannt wird. Gewöhnlich kennen wir das Beten mit Worten. Natürlich müssen auch der Verstand und das Herz in diesem Gebet präsent sein. Heute aber sprechen wir über ein betrachtendes Gebet, das nicht aus Worten besteht, sondern durch das unser Verstand mit dem Herzen Gottes in Berührung kommt. Und Maria ist hier ein sehr konkretes Vorbild. Der Evangelist Lukas sagt mehrmals: Maria »bewahrte alles, was geschehen war, in ihrem Herzen und dachte darüber nach« (2,19; vgl. 2,51). Als Hüterin, die nicht vergißt, achtet sie auf alles, was der Herr ihr gesagt und getan hat, und sie denkt nach, sie tritt also in Berührung mit verschiedenen Dingen, vertieft es in ihrem Herzen.

Diejenige, die der Verkündigung des Engels »geglaubt hat« und zum Werkzeug geworden ist, damit das ewige Wort des Allerhöchsten Mensch werden konnte, hat das Wunder jener menschlich-göttlichen Geburt auch im Herzen aufgenommen, hat es betend betrachtet, hat darüber nachgedacht, was Gott in ihr wirkte, um den göttlichen Willen in ihrem Leben aufzunehmen und ihm zu entsprechen. Das Geheimnis der Menschwerdung des Sohnes Gottes und der Mutterschaft Marias ist so groß, daß es einen Prozeß der Verinnerlichung verlangt. Es ist nicht nur etwas Leibliches, das Gott in ihr wirkt, sondern es verlangt eine Verinnerlichung von seiten Marias.

Sie versucht, es tiefer zu verstehen, seinen Sinn zu deuten, seine Folgen und Auswirkungen zu verstehen. So hat Maria Tag für Tag in der Stille des täglichen Lebens die wunderbaren Ereignisse, die einander folgten, stets in ihrem Herzen bewahrt und sie bezeugt, bis hin zur höchsten Prüfung des Kreuzes und zur Herrlichkeit der Auferstehung. Maria hat ihr Leben, ihre täglichen Pflichten, ihre Sendung als Mutter in Fülle gelebt, aber sie hat sich im Innern einen Raum bewahrt, um über das Wort und über den Willen Gottes nachzudenken, über das, was in ihr geschah, über die Geheimnisse des Lebens ihres Sohnes.

In unserer Zeit werden wir von vielen Aktivitäten und Verpflichtungen, Sorgen, Problemen vereinnahmt; oft ist man geneigt, den ganzen Tag auszufüllen, ohne einen Augenblick zu haben, um innezuhalten und nachzudenken und das geistliche Leben, den Kontakt mit Gott zu nähren. Maria lehrt uns, wie notwendig es ist, in unserem Tagesablauf mit all seinen Aktivitäten Augenblicke zu finden, in denen wir uns in Stille sammeln und darüber nachdenken können, was der Herr uns lehren will, wie er in der Welt und in unserem Leben gegenwärtig ist und wirkt: fähig zu sein, einen Augenblick innezuhalten und im Gebet nachzudenken. Der hl. Augustinus vergleicht das betrachtende Gebet über die Geheimnisse Gottes mit der Nahrungsaufnahme und gebraucht ein Verb, das in der ganzen christlichen Überlieferung immer wieder auftaucht: »ruminare« [lat. wiederkäuen oder nachsinnen]. Wir müssen uns die Geheimnisse Gottes immer wieder vergegenwärtigen, damit sie uns geläufig werden, unser Leben leiten, uns nähren wie die Speise, die notwendig ist, um uns zu erhalten. Und der hl. Bonaventura sagt über die Worte der Heiligen Schrift: »Man muß stets über sie nachsinnen, um sie mit brennendem Eifer im Herzen festhalten zu können« (vgl. Coll. In Hex., ed. Quaracchi 1934, S. 218). Betend betrachten bedeutet also, eine Haltung der Sammlung, der inneren Stille anzunehmen, um nachzudenken und die Geheimnisse unseres Glaubens und das, was Gott in uns wirkt, in uns aufzunehmen – und nicht nur die Dinge, die kommen und gehen. Dieses »Nachsinnen« kann in unterschiedlicher Weise geschehen.

Zum Beispiel können wir uns einen kurzen Abschnitt aus der Heiligen Schrift vornehmen, vor allem aus den Evangelien, der Apostelgeschichte, den Briefen der Apostel, oder einen Abschnitt aus einem geistlichen Autor, der uns die Wirklichkeiten Gottes näherbringt und sie unserem Heute mehr vergegenwärtigt – vielleicht auch mit dem Rat des Beichtvaters oder des geistlichen Begleiters –, lesen und über das Gelesene nachdenken, dabei verweilen und versuchen, es zu erfassen, zu verstehen, was es mir sagt, was es heute sagt, das Herz öffnen für das, was der Herr uns sagen und lehren will. Auch der Rosenkranz ist ein betrachtendes Gebet: Wenn wir das »Gegrüßet seist du, Maria« wiederholen, sind wir eingeladen, über das Geheimnis, das wir verkündet haben, nachzudenken. Aber wir können auch über eine tiefe geistliche Erfahrung nachdenken, über Worte, die sich uns bei der Teilnahme an der sonntäglichen Eucharistiefeier eingeprägt haben. Ihr seht also, es gibt viele Formen des betrachtenden Gebets, um mit Gott in Berührung zu kommen, uns Gott zu nähern und auf diese Weise auf dem Weg zum Paradies zu sein.

Liebe Freunde, die Beständigkeit, mit der wir Gott Zeit schenken, ist ein grundlegendes Element für das geistliche Wachstum. Der Herr selbst wird uns Geschmack an seinen Geheimnissen, seinen Worten, seiner Gegenwart und seinem Wirken schenken, um zu spüren, wie schön es ist, wenn Gott mit uns spricht; er wird uns tiefer verstehen lassen, was er von uns will. Letztendlich ist genau das der Zweck des betrachtenden Gebets: daß wir uns immer mehr Gottes Hand anvertrauen, mit Vertrauen und Liebe, in der Gewißheit, daß wir am Ende nur dann wirklich glücklich sind, wenn wir seinen Willen tun.

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Ganz herzlich grüße ich die Pilger und Besucher aus den Ländern deutscher Sprache. Ich freue mich, daß ihr hierher nach Castel Gandolfo gekommen seid, und wünsche euch einen frohen Aufenthalt. Gottes Segen begleite euch auf allen euren Wegen.




Castel Gandolfo

Mittwoch, 24. August 2011: Apostolische Reise nach Madrid

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Liebe Brüder und Schwestern!

Heute möchte ich mit den Gedanken und mit dem Herzen kurz zu den wunderbaren Tagen zurückkehren, die ich anläßlich des XXVI. Weltjugendtages in Madrid verbracht habe. Es war, wie ihr wißt, ein bewegendes kirchliches Ereignis. Etwa zwei Millionen Jugendliche aus allen Kontinenten haben mit Freude eine großartige Erfahrung der Brüderlichkeit, der Begegnung mit dem Herrn, des Miteinander-Teilens und des Wachstums im Glauben erlebt: eine wahre Flut von Licht. Ich danke Gott für dieses kostbare Geschenk, das Hoffnung gibt für die Zukunft der Kirche: junge Menschen mit dem entschiedenen und aufrichtigen Wunsch, ihr Leben in Christus zu verwurzeln, fest zu bleiben im Glauben, gemeinsam in der Kirche unterwegs zu sein. Mein Dank gilt allen, die sich großherzig für diesen Weltjugendtag eingesetzt haben: dem Kardinalerzbischof von Madrid, seinen Weihbischöfen, den übrigen Bischöfen aus Spanien und aus anderen Teilen der Welt, dem Päpstlichen Rat für die Laien, den Priestern, Ordensmännern, Ordensfrauen und Laien. Ich danke noch einmal den spanischen Obrigkeiten, den Institutionen und Verbänden, den freiwilligen Helfern und allen, die das Ereignis mit ihrem Gebet unterstützt haben. Ich werde nie den herzlichen Empfang vergessen, den Ihre Majestäten, die Königlichen Hoheiten von Spanien, und das ganze Land mir bereitet haben.

Ich kann die so tiefgehenden Augenblicke, die wir erlebt haben, natürlich nicht mit wenigen Worten beschreiben. Ich denke an die stürmische Begeisterung, mit der die Jugendlichen mich am ersten Tag auf der »Plaza de Cibeles« empfangen haben, an ihre erwartungsvollen Worte, ihr starkes Verlangen, sich an der tiefsten Wahrheit zu orientieren und sich in ihr zu verwurzeln, in jener Wahrheit, die Gott uns in Christus zu erkennen gegeben hat. Im eindrucksvollen Kloster »San Lorenzo de El Escorial«, das reich ist an Geschichte, Spiritualität und Kultur, bin ich jungen Ordensfrauen und jungen Universitätsprofessoren begegnet. Erstere, die jungen Ordensfrauen, habe ich an die Schönheit ihrer in Treue gelebten Berufung erinnert sowie an die Bedeutung ihres apostolischen Dienstes und ihres prophetischen Zeugnisses. Ihre Begeisterung, ihr junger Glaube, erfüllt mit Mut im Hinblick auf die Zukunft und mit dem Willen, so der Menschheit zu dienen, haben mich tief beeindruckt. Den Professoren habe ich ans Herz gelegt, wahre Ausbilder der neuen Generationen zu sein und sie auf der Suche nach der Wahrheit zu leiten, nicht nur mit Worten, sondern auch mit dem Leben, im Bewußtsein, daß Christus selbst die Wahrheit ist. Wenn wir Christus begegnen, begegnen wir der Wahrheit. Am Abend, bei der Feier des Kreuzwegs, hat eine bunt gemischte Menge Jugendlicher mit tiefer Anteilnahme die Stationen des Leidens und des Todes Christi nachempfunden: Das Kreuz Christi gibt viel mehr als es verlangt, es gibt alles, denn es führt uns zu Gott.

Am nächsten Tag folgte die Heilige Messe in der Kathedrale »Santa María la Real della Almudena« in Madrid mit den Seminaristen: junge Männer, die in Christus verwurzelt sein wollen, um ihn später als seine Diener gegenwärtig zu machen. Ich hoffe, daß die Berufungen zum Priestertum zunehmen! Mehr als einer unter den Anwesenden hatte den Ruf des Herrn auf einem der vorangegangenen Weltjugendtage vernommen; ich bin sicher, daß der Herr auch in Madrid an die Herzen vieler junger Menschen geklopft hat, auf daß sie ihm im priesterlichen Dienst oder im Ordensleben großherzig folgen mögen. Im Rahmen des Besuchs bei einer Einrichtung für behinderte Jugendliche habe ich gesehen, welch große Achtung und Liebe jeder Person entgegengebracht wird, und ich hatte Gelegenheit, den Tausenden freiwilliger Helfer zu danken, die still das Evangelium der Liebe und des Lebens bezeugen.

Die Gebetsvigil am Abend und die große Eucharistiefeier zum Abschluß am folgenden Tag waren zwei sehr tiefgehende Augenblicke: Am Abend verharrte eine große Menge festlich gestimmter Jugendlicher, die sich von Regen und Wind nicht abschrecken ließen, in stiller Anbetung des in der Eucharistie gegenwärtigen Christus, um ihn zu loben, ihm zu danken, ihn um Hilfe und Licht zu bitten. Und am Sonntag haben die Jugendlichen dann ihre überschwängliche Freude darüber zum Ausdruck gebracht, den Herrn im Wort und in der Eucharistie zu feiern, um sich immer mehr in ihn einzugliedern und ihren Glauben und ihr christliches Leben zu stärken. In einer Atmosphäre der Begeisterung bin ich am Ende den freiwilligen Helfern begegnet und habe ihnen für ihre Großherzigkeit gedankt. Nach der Abschiedszeremonie habe ich dann das Land verlassen und trage diese Tage als großes Geschenk im Herzen.

Liebe Freunde, die Begegnung von Madrid war ein wunderbares Ereignis des Glaubens für Spanien und für die Welt. In erster Linie aber war es für die zahllosen Jugendlichen, die aus aller Welt gekommen waren, eine besondere Gelegenheit, um nachzudenken, miteinander zu sprechen, positive Erfahrungen auszutauschen und vor allem gemeinsam zu beten und die Verpflichtung zu erneuern, das eigene Leben in Christus, dem treuen Freund, zu verwurzeln. Ich bin sicher, daß sie nach Hause zurückgekehrt sind und zurückkehren mit dem festen Vorsatz, Sauerteig in der Masse zu sein und die Hoffnung zu bringen, die aus dem Glauben kommt. Meinerseits begleite ich sie auch weiterhin mit dem Gebet, auf daß sie den Vorsätzen, die sie gefaßt haben, treu bleiben mögen. Der mütterlichen Fürsprache Marias vertraue ich die Früchte dieses Weltjugendtages an.

Und jetzt möchte ich die Themen der nächsten Weltjugendtage ankündigen. Im nächsten Jahr wird er in den einzelnen Diözesen stattfinden und unter folgendem Motto stehen: »Freut euch im Herrn zu jeder Zeit!«, das dem Brief an die Philipper entnommen ist (4,4). Das Motto des Weltjugendtags 2013 in Rio de Janeiro wird das Gebot Jesu sein: »Geht und macht zu Jüngern alle Völker!« (vgl.
Mt 28,19). Schon jetzt vertraue ich die Vorbereitungen dieser sehr wichtigen Begegnungen dem Gebet aller an. Danke.

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Von Herzen grüße ich alle deutschsprachigen Pilger und Besucher. Gerne möchte ich euch teilhaben lassen an den tiefen Eindrücken des Weltjugendtags in Madrid. Für die jungen Teilnehmer war es eine besondere Gelegenheit, innezuhalten, sich auszutauschen und vor allem ihre Freundschaft mit Jesus zu festigen. Wir wollen für und mit den jungen Menschen beten, daß sie den Ruf Jesu Christi immer besser verstehen und ihm mutig und treu folgen. Das wünsche ich auch uns allen, und dazu schenke der Herr uns seinen Segen.



Castel Gandolfo

Mittwoch, 31. August 2011: Kunst und Gebet

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Liebe Brüder und Schwestern!

Ich habe in diesen Wochen mehrmals in Erinnerung gerufen, wie notwendig es für jeden Christen ist, Zeit zu finden für Gott, für das Gebet, inmitten der Geschäftigkeit unseres Tagesablaufs. Der Herr selbst schenkt uns viele Gelegenheiten, an ihn zu denken. Heute möchte ich kurz bei einem der Wege verweilen, die uns zu Gott führen und die uns auch bei der Begegnung mit ihm hilfreich sein können: der Weg der Kunstwerke als Teil jener »via pulchritudinis« – des »Weges der Schönheit« –, über den ich mehrmals gesprochen habe und den der heutige Mensch in seiner tiefsten Bedeutung wiederentdecken sollte.

Vielleicht ist es euch schon einmal passiert, daß ihr angesichts einer Skulptur, eines Bildes, einiger Verse aus einem Gedicht oder eines Musikstücks eine innere Bewegtheit, eine Freude empfunden habt, daß ihr deutlich gespürt habt, daß ihr nicht nur Materie vor euch habt – ein Stück Marmor oder Bronze, eine bemalte Leinwand, eine Ansammlung von Buchstaben oder eine Anhäufung von Tönen –, sondern etwas Größeres, etwas, das »spricht«, das in der Lage ist, das Herz zu berühren, eine Botschaft zu vermitteln, den Geist zu erheben. Ein Kunstwerk ist Frucht der schöpferischen Fähigkeit des Menschen, der über die sichtbare Wirklichkeit nachdenkt, der versucht, ihren tieferen Sinn zu erfassen und ihn durch die Sprache der Formen, der Farben, der Töne zu vermitteln. Die Kunst ist fähig, das Bedürfnis des Menschen, über das Sichtbare hinauszugehen, zum Ausdruck zu bringen und sichtbar zu machen; sie offenbart das Verlangen und die Suche nach dem Unendlichen. Ja, sie ist gleichsam eine offene Tür zum Unendlichen, zu einer Schönheit und einer Wahrheit, die über das Alltägliche hinausgehen. Und ein Kunstwerk kann die Augen des Verstandes und des Herzens öffnen und uns nach oben hin ausrichten. Es gibt jedoch Kunstwerke, die wahre Wege zu Gott, der erhabensten Schönheit, sind – ja, die sogar dabei helfen können, in der Beziehung mit ihm, im Gebet zu wachsen. Es handelt sich um die Werke, die aus dem Glauben heraus entstehen und die den Glauben zum Ausdruck bringen.

Ein Beispiel wird uns gegeben, wenn wir eine gotische Kathedrale besuchen: Wir sind hingerissen von den vertikalen Linien, die sich zum Himmel erheben und die unseren Blick und unseren Geist in die Höhe richten, während wir uns zur selben Zeit klein fühlen oder nach Fülle verlangen… Oder wenn wir in eine romanische Kirche eintreten: Wir sind sofort zur Sammlung und zum Gebet eingeladen. Wir spüren, daß in diesen wunderbaren Bauwerken gleichsam der Glaube von Generationen enthalten ist. Oder wenn wir ein Stück Kirchenmusik hören, das die Saiten unseres Herzens zum Schwingen bringt: Unser Herz wird gleichsam erweitert, und es kann sich leichter an Gott wenden. Ich erinnere mich an ein Konzert mit Musik von Johann Sebastian Bach in München unter der Leitung von Leonard Bernstein. Am Ende des letzten Stücks, einer der Kantaten, spürte ich, nicht durch Überlegung sondern im tiefsten Herzen, daß das, was ich gehört hatte, mir Wahrheit vermittelt hatte, die Wahrheit des allerhöchsten Komponisten, und es drängte mich, Gott zu danken.

Neben mir saß der bayerische lutherische Landesbischof, und ich sagte unvermittelt zu ihm: »Wenn man das hört, dann versteht man: Das ist wahr. Wahr ist der so starke Glaube und die Schönheit, die die Gegenwart der Wahrheit Gottes unwiderstehlich zum Ausdruck bringt.« Wie oft spornen uns doch Bilder oder Fresken, Frucht des Glaubens des Künstlers, durch ihre Formen, ihre Farben, ihr Licht an, die Gedanken Gott zuzuwenden, und lassen in uns das Verlangen wachsen, aus dem Quell aller Schönheit zu schöpfen. Ein großer Künstler, Marc Chagall, hat geschrieben, daß die Maler ihren Pinsel jahrhundertelang in jenes bunte Alphabet getaucht haben, das die Bibel ist. Wie oft können also Kunstwerke für uns Gelegenheiten sein, an Gott zu denken, können sie unser Gebet oder auch die Umkehr des Herzens unterstützen! Als Paul Claudel, ein berühmter französischer Dichter, Dramaturg und Diplomat 1886 in der Basilika »Notre Dame« in Paris während der Weihnachtsmesse den Gesang des »Magnifikat« hörte, spürte er die Gegenwart Gottes. Er war nicht aus Glaubensgründen in die Kirche gegangen, sondern er war dorthin gegangen, um Argumente gegen die Christen zu suchen. Statt dessen wirkte jedoch Gottes Gnade in seinem Herzen.

Liebe Freunde, ich lade euch ein, die Bedeutung dieses Weges auch für das Gebet, für unsere lebendige Beziehung zu Gott neu zu entdecken. Die Städte und Dörfer in aller Welt enthalten Kunstschätze, die den Glauben zum Ausdruck bringen und uns auffordern, in Beziehung zu Gott zu treten. Der Besuch von Stätten der Kunst möge daher nicht nur Gelegenheit zur kulturellen Bereicherung sein – das auch –, sondern er möge vor allem zu einem Augenblick der Gnade werden und uns anspornen, unsere Verbindung und unseren Dialog mit dem Herrn zu festigen und innezuhalten, um – im Übergang von der einfachen äußeren Wirklichkeit zur tieferen Wirklichkeit, die darin zum Ausdruck kommt – den Strahl der Schönheit zu betrachten, der uns berührt, uns gleichsam im Innersten »verwundet« und uns einlädt, zu Gott aufzusteigen. Ich schließe mit dem Gebet eines Psalms, Psalm 27: »Nur eines erbitte ich vom Herrn, danach verlangt mich: Im Haus des Herrn zu wohnen alle Tage meines Lebens, die Freundlichkeit des Herrn zu schauen und nachzusinnen in seinem Tempel« (V. 4). Hoffen wir, daß der Herr uns helfen möge, seine Freundlichkeit, seine Schönheit zu schauen, sowohl in der Natur als auch in den Kunstwerken, auf daß wir berührt werden vom Licht seines Antlitzes, damit auch wir Licht für unseren Nächsten sein können. Danke.

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Von Herzen grüße ich alle deutschsprachigen Pilger hier in Castel Gandolfo, ganz besonders natürlich die Teilnehmer der Familienwallfahrt aus dem Erzbistum München und Freising mit Kardinal Reinhard Marx. Zu den Wegen, die uns zu Gott führen können, zählen auch die verschiedenen Ausdrucksformen der Kunst. Werke der Architektur, der bildenden Kunst, der Musik oder der Literatur, die aus dem Glauben entstanden sind und ihn ausdrücken, laden uns ein, das unmittelbar Gegenwärtige zu überschreiten und auf Gott zuzugehen. Sie lassen in uns den Wunsch wachsen, die Quelle aller Schönheit zu suchen. Ich wünsche euch, daß der Herr euch allen in dieser Urlaubszeit Momente der Gnade schenkt, in denen ihr durch die Erfahrung künstlerischer Schönheit mehr als dies, mehr als bloße menschliche Kultur, die Gegenwart der Schönheit selbst spürt. Gottes Geist geleite euch auf allen euren Wegen!





Petersplatz

Mittwoch, 7. September 2011: "Stehe auf, Jehova! Rette mich, mein Gott!": Psalm 3

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Liebe Brüder und Schwestern!

Heute nehmen wir die Audienzen auf dem Petersplatz wieder auf, und ich möchte in der »Schule des Gebets«, die wir in diesen Mittwochskatechesen gemeinsam erleben, mit der Betrachtung einiger Psalmen beginnen, die, wie ich im Juni gesagt habe, das »Gebetbuch« schlechthin darstellen. Der erste Psalm, dem ich mich widme, ist ein Klage- und Bittpsalm, durchdrungen von tiefem Vertrauen, in dem die Gewißheit der Gegenwart Gottes das Gebet begründet, das einer äußerst schwierigen Lage entspringt, in der der Beter sich befindet. Es handelt sich um Psalm 3, den die jüdische Überlieferung David zuschreibt, als er vor seinem Sohn Abschalom flieht (vgl. V. 1): eines der dramatischsten und leidvollsten Ereignisse im Leben des Königs, als sein Sohn den Königsthron an sich reißt und ihn zwingt, Jerusalem zu verlassen, um sein Leben zu retten (vgl. 2 Sam 15ff.). Die gefährliche Lage und die Angst, die David erlebt, ist also der Hintergrund dieses Gebets und trägt zu seinem Verständnis bei, indem es sich als typische Situation darstellt, in der ein solcher Psalm gebetet werden kann. Im Hilferuf des Psalmisten kann jeder Mensch die Empfindungen des Schmerzes, der Verbitterung und gleichzeitig des Vertrauens auf Gott wiedererkennen, die dem biblischen Bericht zufolge die Flucht Davids aus seiner Stadt begleitet hatten.

Der Psalm beginnt mit einer Anrufung des Herrn: »Herr, wie zahlreich sind meine Bedränger; so viele stehen gegen mich auf. Viele gibt es, die von mir sagen: Er findet keine Hilfe bei Gott « (V. 2–3). Die Beschreibung, die der Beter von der Situation gibt, ist also von hochdramatischen Tönen geprägt. Dreimal wird der Gedanke der Übermacht hervorgehoben: »zahlreich«, »so viele«, »viele«. Im Originaltext wird es mit derselben hebräischen Wurzel zum Ausdruck gebracht, um das ungeheure Ausmaß der Gefahr noch mehr zu betonen, immer wieder, es gleichsam »einzuhämmern«. Die Betonung der großen Überzahl der Feinde soll zum Ausdruck bringen, daß der Psalmist ein absolutes Mißverhältnis zwischen ihm und seinen Bedrängern wahrnimmt. Dieses Mißverhältnis rechtfertigt und begründet die Dringlichkeit seines Hilferufs: Die Widersacher sind viele, sie nehmen überhand, während der Beter seinen Bedrängern allein und wehrlos ausgeliefert ist. Dennoch ist »Herr« das erste Wort, das der Psalmist spricht; sein Hilferuf beginnt mit einer Anrufung Gottes. Eine Übermacht steht ihm drohend gegenüber und erhebt sich gegen ihn. Die Angst, die sie erzeugt, läßt die Bedrohung anwachsen und noch größer und schrecklicher erscheinen. Der Beter jedoch läßt sich angesichts des Todes nicht unterkriegen. Er hält die Beziehung zum Gott des Lebens aufrecht und wendet sich als erstes hilfesuchend an ihn. Aber die Feinde versuchen auch, dieses Band mit Gott zu zerreißen und dem Glauben ihres Opfers Schaden zuzufügen. Sie unterstellen, daß der Herr nicht eingreifen kann und behaupten, daß nicht einmal Gott ihn retten kann. Es ist also nicht nur ein physischer Angriff, sondern er berührt die geistliche Dimension. »Er findet keine Hilfe bei Gott«, sagen sie. Damit wird der Psalmist tief im Innern seines Herzens angegriffen. Es ist die höchste Versuchung, der der Gläubige unterworfen ist, es ist die Versuchung, den Glauben, das Vertrauen in Gottes Nähe zu verlieren. Der Gerechte besteht die letzte Prüfung, er bleibt standhaft im Glauben und in der Gewißheit um die Wahrheit und im vollen Vertrauen auf Gott, und so findet er das Leben und die Wahrheit. Mir scheint, daß der Psalm uns hier ganz persönlich berührt: In vielen Problemen sind wir versucht zu meinen, daß vielleicht auch Gott mich nicht rettet, mich nicht kennt, vielleicht nicht die Möglichkeit dazu hat. Die Versuchung gegen den Glauben ist der letzte Angriff des Feindes, und ihm müssen wir widerstehen: So finden wir Gott und finden wir das Leben.

Der Beter unseres Psalms ist also aufgerufen, mit dem Glauben auf die Angriffe der Gottlosen zu antworten. Wie gesagt streiten die Feinde ab, daß Gott ihm helfen könne, aber er ruft ihn an, er ruft ihn beim Namen: »Herr«. Und dann wendet er sich an ihn mit einem emphatischen »Du«, das eine feste, stabile Beziehung zum Ausdruck bringt und die Gewißheit der göttlichen Antwort in sich birgt: »Du aber, Herr, bist ein Schild für mich, du bist meine Ehre und richtest mich auf. Ich habe laut zum Herrn gerufen; da erhörte er mich von seinem heiligen Berg« (V. 4–5). Die Feinde verschwinden nun aus dem Blickfeld. Sie haben nicht gewonnen, denn wer an Gott glaubt, ist sicher, daß Gott sein Freund ist: Es bleibt nur das »Du« Gottes, den »vielen« ist jetzt ein einziger entgegengesetzt, der jedoch viel größer und mächtiger ist als die vielen Feinde. Der Herr ist Hilfe, Verteidigung, Heil; wie ein Schild schützt er den, der sich im anvertraut, und er läßt ihn sein Haupt erheben, in einer Geste des Triumphs und des Sieges. Der Mensch ist nicht mehr allein, die Feinde sind nicht unschlagbar, wie es zuvor schien, denn der Herr erhört den Ruf des Bedrängten und antwortet vom Ort seiner Gegenwart, von seinem heiligen Berg. Der Mensch ruft in Angst, in Gefahr, im Schmerz; der Mensch bittet um Hilfe, und Gott antwortet.

Diese Verknüpfung von menschlichem Rufen und göttlicher Antwort ist die Dialektik des Gebets und der Schlüssel zur ganzen Heilsgeschichte. Der Ruf bringt die Hilfsbedürftigkeit zum Ausdruck und appelliert an die Treue des anderen; rufen bedeutet, eine Geste des Glaubens an die Nähe Gottes und seine Bereitschaft zur Erhörung durchzuführen. Das Gebet bringt die Gewißheit einer bereits erfahrenen und geglaubten göttlichen Gegenwart zum Ausdruck, die sich in Gottes Heilsantwort in Fülle offenbart. Von Bedeutung ist, daß in unserem Gebet die Gewißheit der Gegenwart Gottes wichtig, gegenwärtig ist. So bekennt der Psalmist, der sich vom Tod umzingelt sieht, seinen Glauben an den Gott des Lebens, der ihn wie ein Schild mit einem unverwundbaren Schutz umhüllt. Wer meinte, bereits verloren zu sein, kann das Haupt erheben, weil der Herr ihn rettet; dem bedrohten und verspotteten Beter wird Ehre zuteil, weil Gott seine Ehre ist.

Die göttliche Antwort, die das Gebet erhört, schenkt dem Psalmisten völlige Sicherheit; auch die Angst ist beendet, und der Ruf verebbt im stillen Frieden, in einer tiefen inneren Ruhe: »Ich lege mich nieder und schlafe ein, ich wache wieder auf, denn der Herr beschützt mich. Viele Tausende von Kriegern fürchte ich nicht, wenn sie mich ringsum belagern« (V. 6–7). Auch inmitten von Gefahr und Kampf kann der Beter ruhig einschlafen, in einer unmißverständlichen Haltung vertrauensvoller Hingabe. Ringsum lagern die Feinde, sie umzingeln ihn, es sind viele, sie erheben sich gegen ihn, verspotten ihn und versuchen, ihn zu Fall zu bringen. Er aber legt sich nieder und schläft ruhig und friedlich, der Gegenwart Gottes gewiß. Und beim Erwachen findet er Gott noch immer bei sich, als Hüter, der nicht schläft (vgl. Ps 121,3–4), der ihn erhält, ihn bei der Hand hält, ihn niemals verläßt. Die Angst vor dem Tod ist überwunden durch den, der nicht stirbt. Und eben die Nacht, die mit Urängsten erfüllt ist, die schmerzhafte Nacht der Einsamkeit und der angstvollen Erwartung, verwandelt sich jetzt: Was den Tod heraufbeschwört, wird zur Gegenwart des Ewigen.

Der Sichtbarkeit des massiven, heftigen Angriffs des Feindes wird die unsichtbare Gegenwart Gottes mit all seiner unüberwindlichen Macht gegenübergestellt. Und an ihn richtet der Psalmist nach seinen vertrauensvollen Worten erneut das Gebet: »Herr, erhebe dich, mein Gott, bring mir Hilfe!« (V. 8a). Die Bedränger standen gegen ihr Opfer auf (vgl. V. 2), wer jedoch »aufstehen« wird, ist der Herr, und zwar, um sie niederzuschlagen. Gott wird ihn retten und seinen Ruf erhören. Daher endet der Psalm mit der Aussicht auf die Befreiung aus der tödlichen Gefahr und aus der Versuchung, die zum Tod führen kann. Nach der Bitte an den Herrn, sich zu erheben, um Hilfe zu bringen, beschreibt der Beter den göttlichen Sieg: Die Feinde, die durch ihr unrechtes und grausames Bedrängen Symbol für all das sind, was sich Gott und seinem Heilsplan widersetzt, werden besiegt. Auf den Mund getroffen können sie nicht mehr mit ihrer zerstörerischen Gewalt angreifen und nicht mehr das Übel des Zweifels an der Gegenwart und am Wirken Gottes verbreiten: Ihr unsinniges und gotteslästerliches Reden ist endgültig widerlegt und durch den rettenden Eingriff des Herrn zum Schweigen gebracht (vgl. V. 8b). So kann der Psalmist sein Gebet mit einem Wort beschließen, das liturgische Anklänge hat und in Dankbarkeit und Lob den Gott des Lebens preist: »Beim Herrn findet man Hilfe. Auf dein Volk komme dein Segen!« (V. 9).

Liebe Brüder und Schwestern, der Psalm 3 hat uns eine vertrauensvolle und trostreiche Bitte vor Augen gestellt. Wenn wir diesen Psalm beten, können wir uns die Empfindungen des Psalmisten zu eigen machen, der Gestalt des verfolgten Gerechten, die in Jesus ihre Erfüllung findet. Im Schmerz, in der Gefahr, in der Verbitterung des Unverständnisses und der Verletzung öffnen die Worte des Psalms unser Herz auf die tröstliche Gewißheit des Glaubens hin. Gott ist immer nahe, auch in den Schwierigkeiten, in den Problemen, in den finsteren Stunden des Lebens. Er erhört, antwortet und rettet auf seine Weise. Aber man muß seine Gegenwart erkennen und seine Wege annehmen können, wie David in der demütigenden Flucht vor seinem Sohn Abschalom, wie der verfolgte Gerechte im Buch der Weisheit und letztlich in aller Fülle wie unser Herr Jesus auf Golgota. Wenn Gott in den Augen der Gottlosen nicht einzugreifen scheint und der Sohn stirbt, gerade dann werden für alle Gläubigen die wahre Herrlichkeit und die endgültige Verwirklichung des Heils offenbar. Der Herr schenke uns Glauben, er komme uns zu Hilfe in unserer Schwachheit, und er mache uns fähig zu glauben und zu beten in jeder Angst, in den schmerzhaften Nächten des Zweifels und an den langen Tagen des Schmerzes, indem wir uns mit Vertrauen hingeben an ihn, der unser »Schild« und unsere »Ehre« ist. Danke.



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Sehr herzlich begrüße ich alle Pilger und Besucher deutscher Sprache. Das Gebet der Psalmen öffnet unser Herz der tröstlichen Gewißheit des Glaubens: Gott ist da, Gott ist immer nahe, auch in den Schwierigkeiten, Problemen und Dunkelheiten des Lebens. Wir müssen lernen, seine Gegenwart zu erkennen und seine Wege anzunehmen. So soll dieser Psalm uns ermutigen zu bitten, daß der Herr uns Glauben schenke, uns fähig mache, zu jeder Zeit zu beten und im Vertrauen auf ihn zu leben und so wirkliches Leben zu finden. Gott segne euch alle.




Audienzhalle

Mittwoch, 14. September 2011: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?", Psalm 22

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Liebe Brüder und Schwestern!

In der heutigen Katechese möchte ich einen Psalm mit starken christologischen Bezügen aufgreifen, der in den Berichten von der Passion Jesu mit ihrem doppelten Aspekt – Erniedrigung und Verherrlichung, Tod und Leben – immer wieder auftaucht. Es ist Psalm 22 in der hebräischen Überlieferung, Psalm 21 in der griechisch-lateinischen Überlieferung, ein schmerzerfülltes und ergreifendes Gebet. Seine menschliche Dichte und sein theologischer Reichtum machen diesen Psalm zu einem der meistgebeteten und meiststudierten Psalmen des ganzen Psalters. Es handelt sich um ein langes poetisches Werk, und wir werden uns insbesondere mit seinem ersten Teil befassen, in dem die Klage im Mittelpunkt steht, um einige Dimensionen zu vertiefen, die für das an Gott gerichtete Bittgebet bedeutsam sind.

Dieser Psalm zeigt die Gestalt eines unschuldig Verfolgten, der von Bedrängern umgeben ist, die seinen Tod wollen; und er wendet sich an Gott in einer schmerzerfüllten Klage, die sich in der Gewißheit des Glaubens auf geheimnisvolle Weise zum Lobpreis öffnet. In seinem Gebet wechseln sich die bedrängende Wirklichkeit der Gegenwart und die tröstliche Erinnerung an die Vergangenheit ab, in einer leidvollen Bewußtwerdung seiner verzweifelten Lage, die jedoch nicht auf die Hoffnung verzichten will. Seine Anfangsworte sind ein Appell, der an einen Gott gerichtet ist, der fern zu sein scheint, der nicht antwortet und der ihn scheinbar verlassen hat: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen, bist fern meinem Schreien, den Worten meiner Klage? Mein Gott, ich rufe bei Tag, doch du gibst keine Antwort; Ich rufe bei Nacht und finde doch keine Ruhe« (V. 2–3).

Gott schweigt, und dieses Schweigen zerreißt das Herz des Beters, der unablässig ruft, aber keine Antwort findet. Tage und Nächte vergehen, in einer unermüdlichen Suche nach einem Wort, nach einer Hilfe, die nicht kommt. Gott scheint so fern, so abwesend zu sein, scheint ihn vergessen zu haben. Das Gebet bittet um Hören und Erhörung, es will einen Kontakt herstellen, es sucht nach einer Beziehung, die Trost und Heil spenden kann. Aber wenn Gott nicht antwortet, dann verhallt der Hilferuf im Leeren, und die Einsamkeit wird unerträglich. Und dennoch nennt der Beter unseres Psalms in seinem Ruf den Herrn gleich dreimal »mein« Gott, in einem Akt äußersten Vertrauens und Glaubens. Allem Anschein zum Trotz kann der Psalmist nicht glauben, daß die Verbindung mit dem Herrn vollkommen abgebrochen ist; und während er nach dem Warum für das vermeintliche Verlassensein fragt, das ihm unverständlich ist, sagt er, daß »sein« Gott ihn nicht verlassen kann.

Bekanntlich wird der Ruf, der am Anfang des Psalms steht – »mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen« –, vom tthäus- und vom Markusevangelium als der Ruf überliefert, den der sterbende Jesus am Kreuz ausstieß (vgl.
Mt 27,46 Mc 15,34). Er bringt die ganze trostlose Lage des Messias, des Sohnes Gottes zum Ausdruck, der dem Drama des Todes gegenübersteht, einer Wirklichkeit, die in völligem Gegensatz zum Herrn des Lebens steht. Fast gänzlich von den Seinen verlassen, von den Jüngern verraten und verleugnet, umgeben von Menschen, die ihn beleidigen, steht Jesus unter der erdrückenden Last einer Sendung, die durch Erniedrigung und Tod hindurchführen muß. Darum ruft er zum Vater, und sein Leiden nimmt die schmerzerfüllten Worte des Psalms an. Aber sein Ruf ist kein verzweifelter Ruf, ebensowenig wie der des Psalmisten: Er beschreitet in seiner Bitte einen qualvollen Weg, der am Ende jedoch in den Lobpreis einmündet, in das Vertrauen auf den göttlichen Sieg. Den Anfang eines Psalms zu zitieren bedeutete nach jüdischem Brauch eine Bezugnahme auf das ganze poetische Werk, und so tat sich das schmerzerfüllte Gebet Jesu, obgleich es auch weiterhin unsagbar leidvoll war, zur Gewißheit der Herrlichkeit auf. »Mußte nicht der Messias all das erleiden, um so in seine Herrlichkeit zu gelangen?«, wird der Auferstandene zu den Emmausjüngern sagen (Lc 24,26). In seiner Passion, im Gehorsam gegenüber dem Vater, geht der Herr Jesus durch Verlassenheit und Tod, um zum Leben zu gelangen und es allen Gläubigen zu schenken. Auf dieses Flehen, das am Anfang unseres Psalms 22 steht, folgt – in schmerzlichem Gegensatz dazu – die Erinnerung an die Vergangenheit: »Dir haben unsre Väter vertraut, sie haben vertraut, und du hast sie gerettet. Zu dir riefen sie und wurden befreit, dir vertrauten sie und wurden nicht zuschanden« (V. 5–6).

Jener Gott, der dem Psalmisten heute so fern erscheint, ist dennoch der barmherzige Herr, den Israel in seiner Geschichte immer erfahren hat. Das Volk, dem der Beter angehört, war Gegenstand der Liebe Gottes und kann seine Treue bezeugen. Begonnen bei den Erzvätern und dann in Ägypten und in der langen Pilgerschaft in der Wüste, im Aufenthalt im Gelobten Land, wo es mit aggressiven und feindlichen Völkern in Berührung kam, bis hin zur Finsternis der Verbannung war die ganze biblische Geschichte eine Geschichte der Hilferufe des Volkes und der rettenden Erhörung durch Gott. Und der Psalmist erwähnt den unerschütterlichen Glauben seiner Väter: Sie »vertrauten« – dieses Wort wird dreimal wiederholt –, ohne jemals zuschanden zu werden. Doch diese Verkettung von vertrauensvollem Gebet und göttlicher Erhörung scheint jetzt unterbrochen zu sein; die Lage des Psalmisten scheint die gesamte Heilsgeschichte zu verleugnen, und das macht die gegenwärtige Wirklichkeit noch schmerzhafter.

Aber Gott kann sich selbst nicht widersprechen, und daher beschreibt das Gebet jetzt wieder die qualvolle Lage des Beters, um den Herrn dazu zu bringen, Erbarmen zu zeigen und einzugreifen, wie er es in der Vergangenheit stets getan hatte. Der Psalmist sagt von sich selbst, er sei ein »Wurm und kein Mensch, der Leute Spott, vom Volk verachtet« (V. 7). Er wird verlacht, verhöhnt (vgl. V. 8) und ausgerechnet im Glauben verletzt: »Er wälze die Last auf den Herrn, / der soll ihn befreien! Der reiße ihn heraus, / wenn er an ihm Gefallen hat« (V. 9), sagen sie. Unter den höhnischen Schlägen des Spottes und der Verachtung scheint der Verfolgte fast seine menschliche Gestalt zu verlieren, wie der im tesknecht (vgl. Is 52,14 53,2b–3). Und wie der bedrängte Gerechte im Buch der Weisheit (vgl. 2,12–20), wie Jesus auf Golgota (vgl. ) sieht der Psalmist seine Beziehung zu seinem Herrn in Frage gestellt, in der grausamen und sarkastischen Hervorhebung dessen, was ihm Leid verursacht: das Schweigen Gottes, seine scheinbare Abwesenheit. Und dennoch war Gott im Leben des Beters gegenwärtig, mit unbestreitbarer Nähe und Liebe. Daran erinnert der Psalmist den Herrn: »Du bist es, der mich aus dem Schoß meiner Mutter zog, / mich barg an der Brust der Mutter. Von Geburt an bin ich geworfen auf dich« (V. 10–11a).

Der Herr ist der Gott des Lebens, der das neugeborene Kind zur Welt kommen läßt und es mit väterlicher Liebe umsorgt. Und wenn vorher die Treue Gottes in der Geschichte des Volkes ins Gedächtnis gerufen wurde, so ruft der Beter jetzt seine persönliche Geschichte der Beziehung zum Herrn in Erinnerung, indem er zu dem besonders bedeutenden Augenblick des Beginns seines Lebens zurückkehrt. Und dort erkennt der Psalmist trotz der Trostlosigkeit der Gegenwart eine göttliche Nähe und Liebe, die so tief verwurzelt sind, daß er jetzt in einem Bekenntnis, das mit Glauben erfüllt ist und Hoffnung erzeugt, ausrufen kann: »Vom Mutterleib an bist du mein Gott« (V. 11b). Die Wehklage wird nun zum herzzerreißenden Flehen: »Sei mir nicht fern, denn die Not ist nahe, / und niemand ist da, der hilft« (V. 12). Die einzige Nähe, die der Psalmist spürt und die ihn erschreckt, ist die der Feinde. Daher muß Gott zu ihm kommen und ihm beistehen, denn die Feinde umgeben den Beter, sie umringen ihn, und sie sind wie mächtige Stiere, wie Löwen, die den Rachen aufsperren, um zu brüllen und zu reißen (vgl. V. 13–14). Die Angst verändert die Wahrnehmung der Gefahr, läßt sie größer erscheinen.

Die Feinde scheinen unbesiegbar, sie sind zu wilden, gefährlichen Tieren geworden, während der Psalmist gleichsam ein kleiner, machtloser, wehrloser Wurm ist. Aber diese im Psalm verwendeten Bilder sollen auch zum Ausdruck bringen, daß im Menschen, wenn er brutal wird und seinen Bruder angreift, etwas Animalisches die Oberhand gewinnt und er alle menschlichen Züge zu verlieren scheint; die Gewalt birgt immer etwas Bestialisches in sich, und nur das rettende Eingreifen Gottes kann dem Menschen seine Menschlichkeit zurückgeben. Für den Psalmisten, der so grausamen Angriffen ausgesetzt ist, scheint es nunmehr kein Entrinnen zu geben, und der Tod beginnt, von ihm Besitz zu ergreifen: »Ich bin hingeschüttet wie Wasser, / gelöst haben sich all meine Glieder […] Meine Kehle ist trocken wie ein Scherbe, / die Zunge klebt mir am Gaumen […] Sie verteilen unter sich meine Kleider / und werfen das Los um mein Gewand« (V. 15.16.19). Mit dramatischen Bildern, die wir in den Berichten von der Passion Christi wiederfinden, wird die Vernichtung des Leibes des Verurteilten beschrieben, der unerträgliche brennende Durst, der den Sterbenden quält und der einen Widerhall findet in der Bitte Jesu: »Mich dürstet« (Jn 19,28), um schließlich zur letzten Tat der Bedränger zu gelangen, die, wie die Soldaten unter dem Kreuz, die Kleidung des bereits tot geglaubten Opfers unter sich verteilen (vgl. Mt 27,35 Mc 15,24 Lc 23,34).

Dann folgt erneut die eindringliche Bitte um Beistand: »Du aber, Herr, halte dich nicht fern! / Du, meine Stärke, eil mir zu Hilfe! […] Rette mich« (V. 20.22a). Dieser Ruf öffnet die Himmel, denn er verkündigt einen Glauben, eine Gewißheit, die über jeden Zweifel, jede Finsternis und jede Verzweiflung erhaben ist. Und die Klage verwandelt sich, macht dem Lobpreis Platz in der Annahme des Heils: »Du hast mich erhört. Ich will deinen Namen meinen Brüdern verkünden, / inmitten der Gemeinde dich preisen« (V. 22c–23). So öffnet sich der Psalm zur Danksagung, zum großen abschließenden Lobgesang, der das ganze Volk einschließt, die Gottesfürchtigen, die liturgische Gemeinde, die künftigen Geschlechter (vgl. V. 24–32). Der Herr ist zu Hilfe gekommen, er hat den Armen errettet und ihm sein barmherziges Antlitz gezeigt. Tod und Leben sind einander begegnet, in einem untrennbaren Geheimnis, und das Leben hat triumphiert, der Gott des Heils hat sich als unbestrittener Herr erwiesen, den alle Enden der Erde preisen und vor dem alle Völkerfamilien sich niederwerfen werden. Es ist der Sieg des Glaubens, der den Tod in das Geschenk des Lebens umwandeln kann, den Abgrund des Schmerzes in einen Quell der Hoffnung.

Liebe Brüder und Schwestern, dieser Psalm hat uns nach Golgota geführt, unter das Kreuz Jesu, um sein Leiden erneut zu durchleben und an der fruchtbringenden Freude der Auferstehung teilzuhaben. Lassen wir uns also vom Licht des Ostergeheimnisses durchdringen, auch in der scheinbaren Abwesenheit Gottes, auch im Schweigen Gottes, und lernen wir, wie die Emmausjünger hinter allem Anschein die wahre Wirklichkeit zu erkennen, indem wir den Weg der Erhöhung gerade in der Erniedrigung erkennen und die volle Offenbarung des Lebens im Tod, im Kreuz. Wenn wir so unser Vertrauen und unsere Hoffnung auf Gott, den Vater, setzen, dann können auch wir in allen Ängsten gläubig zu ihm beten, und unser Hilferuf wird sich in Lobpreis verwandeln. Danke.



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Ganz herzlich grüße ich die deutschsprachigen Pilger und Besucher. Gott verläßt uns nicht. Deshalb ist es wichtig, daß wir nicht aufhören, im Gebet bei ihm anzuklopfen, ja zu ihm hin zu schreien, wie der Herr es getan hat. Er wird auch in uns das Licht der Auferstehung anzünden. Gott begleite Euch alle! Herzlichen Dank.



Petersplatz

Mittwoch, 28. September 2011: Apostolische Reise nach Deutschland


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