Generalaudienzen 2005-2013 12011
12011
Liebe Brüder und Schwestern!
Heute möchte ich euch von einer weiteren Heiligen berichten, die den Namen »Katharina« trägt, nach Katharina von Siena und Katharina von Bologna. Ich spreche von Katharina von Genua, die vor allem durch ihre Gedanken über das Fegefeuer bekannt ist. Der Text, der ihr Leben und Denken beschreibt, wurde 1551 in der ligurischen Stadt veröffentlicht. Er ist in drei Teile unterteilt: die Vita im eigentlichen Sinne, die Dimostratione et dechiaratione del purgatorio – bekannt als der Traktat vom Fegefeuer – und den Dialog zwischen der Seele und dem Leib (Vgl. Libro de la Vita mirabile et dottrina santa, de la beata Caterinetta da Genoa.Nel quale si contiene una utile et catholica dimostratione et dechiaratione del purgatorio, Genua 1551 [dt. Lilli Sertorius, Katharina von Genua, Lebensbild und geistige Gestalt, ihre Werke (Der Dialog Buch I–IV), München 1939]. Der eigentliche Verfasser war Katharinas Beichtvater, der Priester Cattaneo Marabotto.
Katharina wurde 1447 in Genua geboren, als jüngstes von fünf Kindern. Bereits im zarten Alter verlor sie ihren Vater, Giacomo Fieschi. Ihre Mutter, Francesca di Negro, gab den Kindern eine gute christliche Erziehung, und die ältere der beiden Töchter wurde Ordensfrau. Katharina wurde mit 16 Jahren Giuliano Adorno zur Ehefrau gegeben, einem Mann, der verschiedene Erfahrungen im Handel und im Militär im Nahen Osten gemacht hatte und dann nach Genua zurückgekehrt war, um zu heiraten. Das Eheleben war nicht einfach, auch wegen des Charakters des Ehemannes, der dem Glücksspiel verfallen war. Katharina selbst sah sich zunächst veranlaßt, ein mondänes Leben zu führen, konnte darin jedoch keinen inneren Frieden finden. Nach zehn Jahren spürte sie in ihrem Herzen tiefe Leere und Bitterkeit.
Die Bekehrung begann am 20. März 1473, dank einer einzigartigen Erfahrung. Sie hatte sich in die Kirche »San Benedetto« und das Kloster »Nostra ora delle Grazie« begeben, um zu beichten. Als sie vor dem Priester niedergekniet war, »empfing sie« – wie sie selbst schreibt – »eine Wunde im Herzen, von einer überwältigenden Liebe Gottes«. Sie erkannte so deutlich ihre Armseligkeit und ihre Fehler und gleichzeitig die Güte Gottes, daß sie fast ohnmächtig wurde. Sie wurde im Herzen berührt von dieser Erkenntnis ihrer selbst, des leeren Lebens, das sie führte, und der Güte Gottes. Aus dieser Erfahrung heraus kam die Entscheidung, die ihrem ganzen Leben Orientierung gab und die sie mit folgenden Worten ausdrückte: »Keine Mondänität mehr und keine Sünde mehr« (vgl. Vita mirabile, 3rv). Daraufhin floh Katharina und verschob die Beichte. Nach Hause zurückgekehrt ging sie in die hinterste Kammer und weinte lange. In diesem Augenblick wurde sie über das Gebet belehrt, und die unendliche Liebe Gottes zu ihr, einer Sünderin, kam ihr zu Bewußtsein: eine geistliche Erfahrung, die sie nicht in Worte fassen konnte (vgl. Vita mirabile, 4r). Bei dieser Gelegenheit erschien ihr der leidende Jesus mit dem Kreuz auf den Schultern, wie er oft auf Abbildungen dieser Heiligen dargestellt ist. Wenige Tage später kehrte sie zu dem Priester zurück, um endlich eine gute Beichte abzulegen. Hier begann jenes »Leben der Läuterung«, das sie lange Zeit einen ständigen Schmerz empfinden ließ um der begangenen Sünden willen und das sie drängte, sich Bußen und Opfer aufzuerlegen, um Gott ihre Liebe zu zeigen.
Auf diesem Weg näherte sich Katharina dem Herrn immer mehr an, bis sie schließlich eintrat in die sogenannte »vita unitiva«, eine Beziehung tiefen Einsseins mit Gott. In der Vita steht geschrieben, daß ihre Seele einzig und allein von der zärtlichen Liebe Gottes innerlich geführt und unterwiesen wurde – er gab ihr alles, was sie brauchte. Katharina überließ sich so vollkommen den Händen des Herrn, daß sie etwa 25 Jahre lang – wie sie schreibt – »ohne die Mittlerschaft irgendeines Geschöpfes lebte, von Gott allein unterwiesen und geführt« (vgl. Vita, 117r–118r), genährt vor allem vom unablässigen Gebet und von der heiligen Kommunion, die sie jeden Tag empfing, was damals ungewöhnlich war. Erst viele Jahre später gab ihr der Herr einen Priester, der für ihre Seele Sorge trug.
Katharina widerstrebte es stets, ihre Erfahrung der mystischen Vereinigung mit Gott anderen anzuvertrauen und zu offenbaren, vor allem aufgrund der tiefen Demut, die sie angesichts der Gnaden des Herrn empfand. Nur die Aussicht, ihn zu verherrlichen und dem geistlichen Weg anderer zu nützen, bewegte sie dazu, das wiederzugeben, was in ihr geschah, angefangen beim Augenblick ihrer Bekehrung, ihrer ursprünglichen und grundlegenden Erfahrung. Der Ort ihres Aufstiegs in mystische Höhen war das Spital »Pammatone«, der größte Krankenhauskomplex von Genua, den sie leitete und beseelte. Katharina lebte also eine ganz aktive Existenz, trotz der Tiefe ihres inneren Lebens. In Pammatone scharte sich eine Gruppe von Nachfolgern, Schülern und Mitarbeitern um sie, angezogen von ihrem Glaubensleben und von ihrer Nächstenliebe. Auch ihr Ehemann, Giuliano Adorno, war davon so eingenommen, daß er seine Leichtlebigkeit aufgab, Franziskanerterziar wurde und in das Spital ging, um seiner Frau zur Seite zu stehen. Katharina setzte ihre Arbeit in der Krankenpflege fort bis ans Ende ihres irdischen Weges am 15. September 1510. Von der Bekehrung bis zum Tod gab es keine außerordentlichen Ereignisse, aber zwei Elemente kennzeichneten ihr ganzes Leben: auf der einen Seite die mystische Erfahrung, also die tiefe Gemeinschaft mit Gott, die sie wie eine bräutliche Vereinigung empfand, und auf der anderen Seite die Krankenpflege, die Organisation des Spitals, der Dienst am Nächsten, besonders an den Notleidenden und Verlassenen. Diese beiden Pole – Gott und der Nächste – erfüllten ihr Leben vollkommen; es wurde praktisch innerhalb der Spitalmauern geführt.
Liebe Freunde, wir dürfen nie vergessen: Je mehr wir Gott lieben und je beständiger wir im Gebet sind, desto mehr wird es uns gelingen, wirklich diejenigen zu lieben, die bei uns sind, die uns nahe sind, weil wir fähig sein werden, in jeder Person das Antlitz des Herrn zu sehen, der ohne Grenzen und Unterscheidungen liebt. Die Mystik schafft keine Entfernung zum anderen, sie bringt kein abstraktes Leben hervor, sondern sie nähert uns vielmehr dem anderen an, weil man beginnt, mit den Augen und mit dem Herzen Gottes zu sehen und zu handeln.
Katharinas Gedanken über das Fegefeuer, für das sie besonders bekannt ist, ist zusammengefaßt in den letzten beiden Teilen des eingangs zitierten Buches: dem Traktat vom Fegefeuer und dem Dialog zwischen der Seele und dem Leib. Es muß erwähnt werden, daß Katharina in ihrer mystischen Erfahrung nie besondere Offenbarungen hat über das Fegefeuer oder über die Seelen, die dort geläutert werden. In den inspirierten Schriften unserer Heiligen ist es jedoch ein zentrales Element, und ihre Art, es zu beschreiben, hat für ihre Zeit originelle Wesensmerkmale. Der erste originelle Zug betrifft den »Ort« der Läuterung der Seelen. In ihrer Zeit beschrieb man ihn in erster Linie mit Rückgriff auf Bilder, die an den Raum gebunden sind: Man dachte an einen bestimmten Raum, wo sich das Fegefeuer befände. Bei Katharina dagegen wird das Fegefeuer nicht als Element der unterirdischen Welt dargestellt. Es ist kein äußeres, sondern ein inneres Feuer. Das ist das Fegefeuer: ein inneres Feuer. Die Heilige spricht vom Weg der Läuterung der Seele auf die volle Gemeinschaft mit Gott hin, ausgehend von ihrer eigenen Erfahrung des tiefen Schmerzes aufgrund der begangenen Sünden angesichts der unendlichen Liebe Gottes (vgl. Vita mirabile, 171v). Wir haben vom Augenblick der Bekehrung gehört, wo Katharina plötzlich die Güte Gottes spürt, die unendliche Ferne des eigenen Lebens von dieser Güte und das brennende Feuer in ihrem Innern. Und das ist das läuternde Feuer, das innere Feuer des Fegefeuers. Auch hier befindet sich ein origineller Zug im Vergleich zum zeitgenössischen Denken. Denn es wird nicht mit dem Jenseits begonnen, um die Qualen des Fegefeuers zu beschreiben – wie es damals üblich war und vielleicht auch heute noch üblich ist –, um dann den Weg zur Läuterung oder Bekehrung aufzuzeigen, sondern unsere Heilige beginnt bei der eigenen inneren Erfahrung ihres Lebens auf dem Weg zur Ewigkeit. Die Seele – so Katharina – zeigt sich Gott noch gebunden an die Wünsche und die Qual, die aus der Sünde hervorgehen, und das macht es ihr unmöglich, die selige Gottesschau zu genießen. Katharina sagt, daß Gott so rein und heilig ist, daß die Seele, die mit den Makeln der Sünde behaftet ist, nicht in Gegenwart der göttlichen Majestät sein kann (vgl. Vita mirabile, 177r). Und auch wir spüren, wie fern wir davon sind, wie sehr wir von so vielen Dingen erfüllt sind, daß wir Gott nicht sehen können. Die Seele weiß um die unendliche Liebe und die vollkommene Gerechtigkeit Gottes, und daher leidet sie darunter, nicht richtig und vollkommen auf diese Liebe geantwortet zu haben. Und die Liebe zu Gott wird selbst zur Flamme, die Liebe selbst läutert die Seele von den Schlacken der Sünde.
In Katharina entdeckt man das Vorhandensein theologischer und mystischer Quellen, aus denen man zu ihrer Zeit gewöhnlich schöpfte. Insbesondere findet sich ein typisches Bild von Dionysios Areopagita: die goldene Schnur, die das menschliche Herz mit Gott verbindet. Wenn Gott den Menschen geläutert hat, dann bindet er ihn mit einer hauchdünnen goldenen Schnur, die seine Liebe ist, und zieht ihn zu sich mit so starker Liebe, daß der Mensch gleichsam »besiegt und überwunden und ganz außer sich« ist. So dringt in das Herz des Menschen die Liebe Gottes ein, der zum einzigen Wegweiser, zum einzigen Beweggrund seiner Existenz wird (vgl. Vita mirabile, 246rv). Diese Situation des Aufstiegs zu Gott und der Hingabe an seinen Willen, die im Bild von der Schnur zum Ausdruck kommt, gebraucht Katharina, um das Wirken des göttlichen Lichts auf die Seelen im Fegefeuer zum Ausdruck zu bringen – ein Licht, das die Seelen reinigt und sie zum Glanz der gleißenden Strahlen Gottes erhebt (vgl. Vita mirabile, 179r).
Liebe Freunde, die Heiligen erlangen in ihrer Erfahrung der Vereinigung mit Gott ein so tiefgehendes »Wissen« um die göttlichen Geheimnisse, in dem Liebe und Erkenntnis einander durchdringen, daß sie auch den Theologen eine Hilfe sind in ihrem Bemühen um das Studium, um die »intelligentia fidei«, um die »intelligentia« der Geheimnisse des Glaubens, um die wirkliche Vertiefung der Geheimnisse – zum Beispiel dessen, was das Fegefeuer ist. Mit ihrem Leben lehrt uns die hl. Katharina: Je mehr wir Gott lieben und in die Vertrautheit mit ihm im Gebet eintreten, desto mehr läßt er sich erkennen und entflammt unser Herz mit seiner Liebe. Indem sie über das Fegefeuer schreibt, ruft uns die Heilige eine grundlegende Glaubenswahrheit in Erinnerung, die für uns zur Einladung wird, für die Verstorbenen zu beten, damit sie zur beseligenden Gottesschau in der Gemeinschaft der Heiligen gelangen können (vgl. Katechismus der Katholischen Kirche CEC 1032). Der demütige, treue und großherzige Dienst, den die Heilige ihr ganzes Leben lang im Spital »Pammatone « leistete, ist außerdem ein leuchtendes Beispiel der Nächstenliebe gegenüber allen Menschen und eine Ermutigung besonders für die Frauen, die einen wesentlichen Beitrag für Gesellschaft und Kirche leisten durch ihr wertvolles Wirken, das bereichert wird durch ihre Einfühlsamkeit und durch die Fürsorge für die Ärmsten und Notleidenden. Danke.
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Von Herzen grüße ich alle Pilger deutscher Sprache. Die Heiligen sind immer zuerst große Beter. Sie leben uns diese Weggemeinschaft mit Christus vor und helfen uns, daß wir immer neu beten lernen im Mitbeten mit der Kirche und vom Beten her dann richtig leben lernen. Gottes Geist geleite euch auf allen euren Wegen.
BENEDIKT XVI.
Audienzhalle19011
Liebe Brüder und Schwestern!
Wir feiern die Gebetswoche für die Einheit der Christen, in der alle Christgläubigen eingeladen sind, sich im Gebet zu vereinen, um die tiefe Verbindung zu bezeugen, die zwischen ihnen besteht, und um das Geschenk der vollen Einheit zu erbitten. Es ist von der Vorsehung gewollt, daß auf dem Weg zum Aufbau der Einheit das Gebet in den Mittelpunkt gestellt wird: Das erinnert uns noch einmal daran, daß die Einheit nicht einfach aus dem menschlichen Wirken hervorgehen kann; sie ist vor allem ein Geschenk Gottes, das ein Wachstum in der Gemeinschaft mit dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist mit sich bringt. Das II. Vatikanische Konzil sagt: »Solche gemeinsamen Gebete sind ein höchst wirksames Mittel, um die Gnade der Einheit zu erflehen, und ein echter Ausdruck der Gemeinsamkeit, in der die Katholiken mit den getrennten Brüdern immer noch verbunden sind: ›Denn wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen‹ (Mt 18,20)« (Dekret Unitatis redintegratio UR 8). Der Weg zur sichtbaren Einheit aller Christen liegt im Gebet, weil im Grunde nicht wir die Einheit »bauen«, sondern Gott sie »baut«: Sie kommt von ihm, vom dreifaltigen Geheimnis, aus der Einheit des Vaters mit dem Sohn im Dialog der Liebe, dem Heiligen Geist, und unser ökumenisches Bemühen muß sich dem göttlichen Wirken gegenüber öffnen, es muß zur täglichen Bitte um Gottes Hilfe werden. Es ist seine Kirche und nicht unsere.
Das in diesem Jahr für die Gebetswoche gewählte Thema nimmt Bezug auf die Erfahrung der christlichen Urgemeinde von Jerusalem, wie sie in der Apostelgeschichte beschrieben wird. Wir haben den Text vernommen: »Sie hielten an der Lehre der Apostel fest und an der Gemeinschaft, am Brechen des Brotes und an den Gebeten« (Ac 2,42). Wir müssen bedenken, daß bereits an Pfingsten der Heilige Geist auf Personen unterschiedlicher Sprache und Kultur herabkommt: Das bedeutet, daß die Kirche von Anfang an Menschen unterschiedlicher Herkunft umfaßt und der Heilige Geist dennoch, von eben diesen Unterschieden ausgehend, einen einzigen Leib schafft. Pfingsten als Beginn der Kirche bezeichnet die Erweiterung von Gottes Bund auf alle Geschöpfe, auf alle Völker und auf alle Zeiten, damit die gesamte Schöpfung auf ihr wahres Ziel zugeht: Ort der Einheit und der Liebe zu sein.
Im erwähnten Abschnitt der Apostelgeschichte definieren vier Merkmale die christliche Urgemeinde von Jerusalem als Ort der Einheit und der Liebe, und der hl. Lukas will nicht nur etwas Vergangenes beschreiben. Er stellt sie uns als Vorbild vor Augen, als Richtschnur für die gegenwärtige Kirche, denn diese vier Merkmale müssen das Leben der Kirche stets bestimmen. Das erste Merkmal ist: vereint und standhaft zu sein im Hören auf die Lehre der Apostel, dann in der brüderlichen Gemeinschaft, im Brechen des Brotes und im Gebet. Wie ich gesagt habe, sind diese vier Elemente auch heute noch die Grundpfeiler des Lebens jeder christlichen Gemeinde, und sie stellen auch die einzige feste Grundlage dar, um in der Suche nach der sichtbaren Einheit der Kirche voranzuschreiten.
Zunächst haben wir das Hören auf die Lehre der Apostel, also das Hören auf das Zeugnis, das sie von der Sendung, vom Leben, vom Tod und von der Auferstehung des Herrn geben. Paulus nennt es einfach das »Evangelium«. Die ersten Christen empfingen das Evangelium aus dem Mund der Apostel; sie waren vereint im Hören darauf und in seiner Verkündigung, denn das Evangelium ist, wie der hl. Paulus sagt, »eine Kraft Gottes, die jeden rettet, der glaubt« (Rm 1,16). Auch heute noch erkennt die Gemeinschaft der Gläubigen in der Bezugnahme auf die Lehre der Apostel die Richtschnur ihres Glaubens: Jedes Bemühen um den Aufbau der Einheit aller Christen geht daher durch die Vertiefung der Treue zum »depositum fidei«, das uns von den Aposteln gegeben wurde. Standhaftigkeit im Glauben ist die Grundlage unserer Gemeinschaft, die Grundlage der christlichen Einheit.
Das zweite Element ist die brüderliche Gemeinschaft. Zur Zeit der christlichen Urgemeinde ebenso wie in unseren Tagen war dies, vor allem für die Außenwelt, der greifbarste Ausdruck der Einheit unter den Jüngern des Herrn. In der Apostelgeschichte lesen wir, daß die ersten Christen alles gemeinsam hatten und Hab und Gut verkauften, um davon den Bedürftigen zu geben (vgl. Apg 2,44–45). Dieses Miteinander-Teilen des eigenen Besitzes hat in der Kirchengeschichte immer neue Ausdrucksformen gefunden. Eine besondere von ihnen sind die Beziehungen der Brüderlichkeit und der Freundschaft, die zwischen Christen verschiedener Konfessionen aufgebaut werden. Die Geschichte der ökumenischen Bewegung ist von Schwierigkeiten und Ungewißheiten geprägt, aber sie ist auch eine Geschichte der Brüderlichkeit, der Zusammenarbeit und des menschlichen und geistlichen Teilens, das in großem Ausmaß die Beziehungen zwischen denen, die an Jesus, den Herrn, glauben, verändert hat: Wir alle sind verpflichtet, diesen Weg weiterzugehen. Das zweite Element ist also die Gemeinschaft, die vor allem Gemeinschaft mit Gott durch den Glauben ist; aber die Gemeinschaft mit Gott schafft die Gemeinschaft unter uns und kommt notwendigerweise in jener konkreten Gemeinschaft zum Ausdruck, von der in der Apostelgeschichte die Rede ist: im Teilen. In der christlichen Gemeinde darf niemand hungern oder arm sein: Das ist eine grundlegende Pflicht. Die Gemeinschaft mit Gott, umgesetzt als brüderliche Gemeinschaft, findet ihren konkreten Ausdruck im sozialen Einsatz, in der christlichen Nächstenliebe, in der Gerechtigkeit.
Und schließlich das dritte Element: Im Leben der Urgemeinde von Jerusalem war der Augenblick des Brotbrechens wesentlich, in dem der Herr selbst gegenwärtig wird durch das einzige Kreuzesopfer in seiner vollkommenen Selbsthingabe für das Leben seiner Freunde: »Das ist mein Leib, der für euch hingegeben wird … Das ist der Kelch…, mein Blut, das für euch … vergossen wird.« »Die Kirche lebt von der Eucharistie. Diese Wahrheit drückt nicht nur eine alltägliche Glaubenserfahrung aus, sondern enthält zusammenfassend den Kern des Mysteriums der Kirche« (Johannes Paul II., Enzyklika Ecclesia de Eucharistia EE 1). Die Teilhabe am Opfer Christi ist der Höhepunkt unserer Vereinigung mit Gott und bedeutet daher auch die Fülle der Einheit der Jünger Christi, die volle Gemeinschaft. Jetzt in der Gebetswoche für die Einheit ist das Bedauern über die Unmöglichkeit, denselben eucharistischen Tisch miteinander teilen zu können, besonders lebendig: ein Zeichen, daß wir noch fern sind von der Verwirklichung jener Einheit, für die Christus gebetet hat. Diese schmerzhafte Erfahrung, die unserem Gebet auch eine Dimension der Buße verleiht, muß zu einem noch großherzigeren Bemühen von seiten aller führen, damit die Hindernisse für die volle Gemeinschaft beseitigt werden und der Tag kommt, an dem es möglich sein wird, sich um den Tisch des Herrn zu versammeln, gemeinsam das eucharistische Brot zu brechen und aus demselben Kelch zu trinken.
Schließlich ist das Gebet – oder, wie der hl. Lukas sagt, die Gebete – das vierte Merkmal der Urkirche von Jerusalem, die in der Apostelgeschichte beschrieben wird. Das Gebet war schon immer die ständige Haltung der Jünger Christi: Es begleitet ihr tägliches Leben im Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes, wie uns auch die Worte des Apostels Paulus bezeugen, der in seinem Ersten Brief an die Thessalonicher schreibt: »Freut euch zu jeder Zeit! Betet ohne Unterlaß! Dankt für alles; denn das will Gott von euch, die ihr Christus Jesus gehört« (1 Thess 5,16–18; vgl. Eph Ep 6,18). Das christliche Gebet, Teilhabe am Gebet Jesu, ist die Erfahrung der Kindschaft schlechthin, wie uns die Worte des Vaterunser bezeugen, des Gebets der Familie – das »Wir« der Kinder Gottes, der Brüder und Schwestern –, die sich an den gemeinsamen Vater wendet. Eine Gebetshaltung einzunehmen bedeutet daher auch, sich zur Brüderlichkeit hin zu öffnen. Nur im »Wir« können wir sagen: »Unser Vater«. Öffnen wir uns also der Brüderlichkeit, die daher kommt, daß wir als Kinder des einen himmlischen Vaters zur Vergebung und zur Versöhnung bereit sind.
Liebe Brüder und Schwestern, als Jünger des Herrn haben wir eine gemeinsame Verantwortung gegenüber der Welt, wir müssen einen gemeinsamen Dienst leisten: Wie die christliche Urgemeinde von Jerusalem müssen wir ausgehend von dem, was wir bereits miteinander teilen, ein starkes Zeugnis bieten – geistlich gegründet und von der Vernunft getragen –, von dem einen Gott, der sich in Christus offenbart hat und zu uns spricht, um Träger einer Botschaft zu sein, die dem Weg des Menschen unserer Zeit, der oft keine klaren und gültigen Bezugspunkte hat, eine Richtung gibt und ihn erleuchtet. Es ist also wichtig, jeden Tag in der gegenseitigen Liebe zu wachsen und sich zu bemühen, die Barrieren zu überwinden, die es noch zwischen den Christen gibt; zu spüren, daß es eine wahre innere Einheit zwischen allen gibt, die dem Herrn nachfolgen; soviel wie möglich zusammenzuarbeiten und gemeinsam an den noch offenen Fragen zu arbeiten; und uns vor allem bewußt zu sein, daß der Herr uns auf diesem Weg beistehen, uns noch viel helfen muß, denn ohne ihn, allein, ohne »in ihm zu bleiben«, können wir nichts vollbringen (vgl. Jn 15,5).
Liebe Freunde, wieder einmal sind wir im Gebet vereint – besonders in dieser Woche – mit all jenen, die ihren Glauben an Jesus Christus, den Sohn Gottes, bekennen. Wir wollen im Gebet verharren, Menschen des Gebets sein und Gott inständig um das Geschenk der Einheit bitten, damit sich für die ganze Welt sein Plan des Heils und der Versöhnung erfüllen möge. Danke.
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Mit Freude grüße ich die deutschsprachigen Pilger und Besucher, ganz besonders die Mitglieder der Frühjahrskonferenz der Ordinariatskanzler der Österreichischen Diözesen in Begleitung von Bischof Ägidius Zsifkovics. Beten wir in dieser Woche besonders für die Einheit aller Christen, die wir nicht selber machen können, sondern die ein Geschenk Gottes ist. Euch allen wünsche ich einen gesegneten Aufenthalt hier in Rom.
BENEDIKT XVI.
Audienzhalle26011
Liebe Brüder und Schwestern!
Heute möchte ich zu euch über die hl. Jeanne d’Arc sprechen, eine junge Heilige am Ende des Mittelalters, die 1431 mit 19 Jahren gestorben ist. Diese französische Heilige, die im Katechismus der Katholischen Kirche mehrmals zitiert wird, steht der hl. Katharina von Siena, Patronin Italiens und Europas, über die ich kürzlich in einer Katechese gesprochen habe, besonders nahe. Denn es sind zwei junge Frauen aus dem Volk, die als Laiengläubige der Jungfräulichkeit geweiht sind: zwei tatkräftige Mystikerinnen, die nicht im Kloster leben, sondern mitten in der dramatischen Wirklichkeit der Kirche und der Welt ihrer Zeit. Sie sind vielleicht die bezeichnendsten Gestalten aus den Reihen der »starken Frauen«, die gegen Ende des Mittelalters furchtlos das große Licht des Evangeliums in die schwierigen Ereignisse der Geschichte hineintrugen. Wir könnten sie den heiligen Frauen zur Seite stellen, die auf dem Kalvarienberg geblieben sind, beim gekreuzigten Jesus und seiner Mutter Maria, während die Apostel geflohen waren und selbst Petrus ihn dreimal verleugnet hatte. Die Kirche erlebte in jener Zeit die tiefe Krise des großen abendländischen Schismas, das fast 40 Jahre andauerte. Als Katharina von Siena 1380 stirbt, gibt es einen Papst und einen Gegenpapst; als Jeanne 1412 geboren wird, gibt es einen Papst und zwei Gegenpäpste. Zu dieser Zerrissenheit innerhalb der Kirche kamen Bruderkriege zwischen den christlichen Völkern Europas hinzu; der dramatischste unter ihnen war der nie enden wollende »Hundertjährige Krieg« zwischen Frankreich und England.
Jeanne d’Arc konnte weder lesen noch schreiben, aber man kann sie im Tiefsten ihrer Seele dank zweier Quellen von außerordentlichem historischem Wert kennenlernen: den beiden Prozessen, die sie betreffen. Der erste Prozeß, die Verurteilung (PCon), enthält die Niederschrift der langen und zahlreichen Verhöre, denen Jeanne sich in den letzten drei Monaten ihres Lebens (Februar – Mai 1431) unterziehen mußte, und gibt die eigenen Worte der Heiligen wieder. Der zweite Prozeß, der die Verurteilung für nichtig erklärte, oder die »Rehabilitation« (PNul), enthält die Aussagen von etwa 120 Augenzeugen aus allen Abschnitten ihres Lebens (vgl. Procès de Condamnation de Jeanne d’Arc, 3 Bd., und Procès en Nullité de la Condamnation de Jeanne d’Arc, 5 Bd., Ed. Klincksieck, Paris 1960–1989; DT, Ruth Schirmer-Imhoff, Jean d’Arc. Dokumente ihrer Verurteilung und Rechtfertigung 1431–1456, Köln 1956).
Jeanne wird in Domrémy geboren, einem kleinen Dorf an der Grenze zwischen Frankreich und Lothringen. Ihre Eltern sind wohlhabende Bauern, die bei allen als hervorragende Christen bekannt sind. Von ihnen erhält sie eine gute religiöse Erziehung, die unter starkem Einfluß der Spiritualität des Namens Jesu steht, die von Bernhardin von Siena gelehrt und durch die Franziskaner in Europa verbreitet wurde. Dem Namen Jesu wird stets der Name Mariä hinzugefügt, und so ist auf dem Hintergrund der Volksfrömmigkeit Jeannes Spiritualität zutiefst christozentrisch und marianisch. Von Kindheit an zeigt sie in der dramatischen Situation des Krieges eine große Liebe und ein tiefes Mitgefühl gegenüber den Armen, den Kranken und allen Leidenden.
Ihren eigenen Worten entnehmen wir, daß Jeannes religiöses Leben ab dem Alter von 13 Jahren als mystische Erfahrung heranreift (vgl. PCon, I, S. 47–48). Durch die »Stimme« des heiligen Erzengels Michael fühlt Jeanne sich vom Herrn berufen, ihr christliches Leben zu vertiefen und sich auch persönlich für die Befreiung ihres Volkes einzusetzen. Ihre unmittelbare Antwort, ihr »Ja«, ist das Versprechen der Jungfräulichkeit, mit einer neuen Hinwendung zum sakramentalen Leben und zum Gebet: tägliche Teilnahme an der Messe, häufige Beichte und Kommunion, lange Augenblicke des stillen Gebets vor dem Gekreuzigten oder dem Bild der Gottesmutter. Das Mitgefühl und der Einsatz des französischen Bauernmädchens für das Leiden ihres Volkes werden durch ihre mystische Beziehung zu Gott vertieft. Einer der ureigensten Aspekte der Heiligkeit dieses jungen Mädchens ist die Verbindung zwischen mystischer Erfahrung und politischer Sendung. Auf die Jahre des Lebens in der Verborgenheit und des inneren Heranreifens folgen die beiden kurzen, aber intensiven Jahre ihres öffentlichen Lebens: ein Jahr des »Handelns« und ein Jahr des »Leidens«. Zu Beginn des Jahres 1429 beginnt Jeanne ihr Befreiungswerk. Die zahlreichen Zeugnisse stellen uns diese junge Frau von nur 17 Jahren als eine sehr starke und entschlossene Person vor Augen, die in der Lage ist, unsichere und entmutigte Männer zu überzeugen. Nach Überwindung aller Hindernisse begegnet sie dem französischen Dauphin und zukünftigen König Karl VII., der sie in Poitiers einer Prüfung von seiten einiger Theologen der Universität unterzieht. Ihr Urteil ist positiv: Sie sehen in ihr nichts Schlechtes, sondern nur eine gute Christin.
Am 22. März 1429 diktiert Jeanne einen wichtigen Brief an den König von England und seine Männer, die die Stadt Orléans belagern (vgl. ebd., S. 221–222). Sie bietet einen wahren Frieden in Gerechtigkeit zwischen den beiden christlichen Völkern an, im Licht der Namen Jesu und Mariä, aber ihr Angebot wird abgelehnt, und Jeanne muß sich im Kampf um die Befreiung der Stadt einsetzen, die am 8. Mai herbeigeführt wird. Der andere Höhepunkt ihres politischen Wirkens ist die Krönung von König Karl VII. in Reims am 17. Juli 1429. Ein ganzes Jahr lang lebt Jeanne bei den Soldaten und führt unter ihnen eine wahre Sendung der Evangelisierung durch. Viele von ihnen haben ihre Güte, ihren Mut und ihre außerordentliche Reinheit bezeugt. Alle nennen sie »la pucelle«, die Jungfrau, und auch sie selbst bezeichnet sich so.
Jeannes Leidensweg beginnt am 23. Mai 1430, als sie in Gefangenschaft gerät und in die Hände ihrer Feinde fällt. Am 23. Dezember wird sie in die Stadt Rouen gebracht. Dort findet der lange und dramatische Verurteilungsprozeß statt, der im Februar 1431 beginnt und am 30. Mai mit dem Scheiterhaufen endet. Es ist ein großer und feierlicher Prozeß, dem zwei kirchliche Richter vorsitzen, der Bischof Pierre Cauchon und der Inquisitor Jean le Maistre. In Wirklichkeit wird der ganze Prozeß jedoch von einer großen Gruppe von Theologen der berühmten Universität von Paris gesteuert, die als Beisitzer am Prozeß teilnehmen. Es sind französische Kleriker, die politische Entscheidungen getroffen haben, die Jeannes Zielen entgegenstehen, und daher ihre Person und ihre Sendung von vornherein negativ beurteilen. Dieser Prozeß ist ein erschütternder Abschnitt der Geschichte der Heiligkeit und auch ein Abschnitt, der Erleuchtung bringt über das Geheimnis der Kirche. Diese ist, mit den Worten des Zweiten Vatikanischen Konzils, »zugleich heilig und stets der Reinigung bedürftig« (Lumen gentium LG 8). Es ist die dramatische Begegnung zwischen dieser Heiligen und ihren Richtern, die Kleriker sind. Von ihnen wird Jeanne angeklagt und einer Prüfung unterzogen. Am Ende wird sie als Ketzerin verurteilt und zum schrecklichen Tod auf dem Scheiterhaufen geschickt. Im Gegensatz zu den heiligen Theologen, die die Universität von Paris erleuchtet hatten – wie der hl. Bonaventura, der hl. Thomas von Aquin und der sel. Duns Scotus, über die ich in einigen Katechesen gesprochen habe –, sind diese Richter Theologen, denen es an Liebe und Demut mangelt, um in diesem jungen Mädchen das Handeln Gottes zu sehen. Das läßt an die Worte Jesu denken, denen zufolge Gottes Geheimnisse jenen offenbart werden, die das Herz der Unmündigen haben, während sie den Weisen und Klugen, die keine Demut besitzen, verborgen bleiben (vgl. Lc 10,21). So sind Jeannes Richter zutiefst unfähig, sie zu verstehen, die Schönheit ihrer Seele zu sehen: Sie wußten nicht, daß sie eine Heilige verurteilten.
Das Tribunal lehnt Jeannes Berufung vom 24. Mai an das Urteil des Papstes ab. Am Morgen des 30. Mai empfängt sie im Gefängnis zum letzten Mal die heilige Kommunion und wird sofort zur Hinrichtung auf den alten Marktplatz geführt. Sie bittet einen der Priester, ein Prozessionskreuz vor den Scheiterhaufen zu halten. So stirbt sie mit dem Blick auf den gekreuzigten Jesus und ruft mehrmals laut den Namen Jesu an (vgl. PNul 1S 457 vgl. Katechismus der Katholischen Kirche CEC 435). Etwa 25 Jahre später endet der unter der Autorität von Papst Calixtus III. eröffnete Rehabilitationsprozeß mit einem feierlichen Urteil, das die Verurteilung für nichtig erklärt (7. Juli 1456; vgl. PNul, II, S. 604–610). Dieser lange Prozeß, der die Zeugenaussagen und die Urteile vieler Theologen zusammentrug, die alle für Jeanne sprechen, macht ihre Unschuld und völlige Treue zur Kirche deutlich. Jeanne d’Arc wird später, 1920, von Benedikt XV. heiliggesprochen. Liebe Brüder und Schwestern, der Name Jesu, der von unserer Heiligen bis zum letzten Augenblick ihres irdischen Lebens angerufen wurde, war gleichsam der unablässige Atem ihrer Seele.
Er war gleichsam ihr Herzschlag, der Mittelpunkt ihres ganzen Lebens. »Jeanne d’Arcs Geheimnis der Liebe«, das den Dichter Charles Péguy so sehr fasziniert hatte, ist diese vollkommene Liebe zu Jesus und zum Nächsten in Jesus und für Jesus. Diese Heilige hatte verstanden, daß die Liebe die ganze Wirklichkeit Gottes und des Menschen, des Himmels und der Erde, der Kirche und der Welt umfaßt. Jesus steht immer an erster Stelle in ihrem Leben, gemäß dem schönen Satz: »Gott kommt an erster Stelle« (vgl. PCon 1S 288 Katechismus der Katholischen Kirche CEC 223). Ihn zu lieben bedeutet, stets seinem Willen zu gehorchen. Sie sagt mit vollem Vertrauen und voller Hingabe: »Ich vertraue mich Gott an, meinem Schöpfer, ich liebe ihn von ganzem Herzen« (vgl. ebd., S. 337). Mit dem Versprechen der Jungfräulichkeit weiht Jeanne ihre ganze Person ausschließlich der einzigen Liebe zu Jesus: Es ist »ihr Versprechen gegenüber unserem Herrn, die Jungfräulichkeit des Leibes und der Seele stets zu bewahren« (vgl. ebd., S. 149–150). Die Jungfräulichkeit der Seele ist der »Stand der Gnade«, der höchste Wert, der für sie kostbarer ist als das Leben: Sie ist ein Geschenk Gottes, das mit Demut und Vertrauen empfangen und bewahrt werden muß. Bei einem der bekanntesten Texte aus dem ersten Prozeß geht es genau darum: »Befragt, ob sie wisse, daß sie in der Gnade Gottes sei, antwortet sie: ›Falls ich nicht in ihr bin, wolle Gott mich in sie versetzen; falls ich in ihr bin, möge Gott mich in ihr bewahren‹« (vgl. ebd., S. 62; Katechismus der Katholischen Kirche CEC 2005).
Unsere Heilige lebt das Gebet in Form eines ständigen Dialogs mit dem Herrn, der auch ihren Dialog mit den Richtern erleuchtet und ihr Frieden und Sicherheit schenkt. Sie bittet mit Vertrauen: »Gütiger Gott, zu Ehren Eures heiligen Leidens bitte ich Euch, wenn Ihr mich liebt, mir zu offenbaren, was ich diesen Männern der Kirche antworten soll« (vgl. ebd., S. 252). Jesus wird von Jeanne als der »König des Himmels und der Erde« betrachtet. So ließ Jeanne auf ihre Standarte das Bild »unseres Herrn, der die Welt in Händen hält« malen (vgl. ebd., S. 172): die Ikone ihrer politischen Sendung. Die Befreiung ihres Volkes ist ein Werk menschlicher Gerechtigkeit, das Jeanne in der Liebe, aus Liebe zu Jesus durchführt. Sie ist ein schönes Vorbild der Heiligkeit für die Laien, die im politischen Leben tätig sind, vor allem in schwierigen Situationen. Der Glaube ist das Licht, das jede Entscheidung lenkt, wie ein Jahrhundert später ein anderer großer Heiliger, der Engländer Thomas Morus, bezeugen wird. In Jesus betrachtet Jeanne auch die ganze Wirklichkeit der Kirche, die »triumphierende Kirche« im Himmel ebenso wie die »streitende Kirche« auf Erden. Ihren Worten zufolge sind »Jesus und die Kirche eins« (vgl. ebd., S. 166). Diese Aussage, die im Katechismus der Katholischen Kirche wiedergegeben wird (vgl. CEC 795), hat im Zusammenhang mit dem Prozeß, der zu ihrer Verurteilung führte, im Angesicht ihrer Richter, der Kirchenmänner, die sie verfolgten und verurteilten, einen wirklich heroischen Charakter. In der Liebe zu Jesus findet Jeanne die Kraft, die Kirche bis zuletzt zu lieben, auch im Augenblick der Verurteilung. Ich erinnere gern daran, daß die hl. Jeanne d’Arc einen tiefen Einfluß auf eine junge Heilige der Moderne ausübte: Theresia vom Kinde Jesu. In einem völlig anderen Leben, einem Leben in der Klausur, fühlte sich die Karmelitin von Lisieux Jeanne sehr nahe, da sie im Herzen der Kirche lebte und an den Leiden Christi für das Heil der Welt teilhatte. Die Kirche hat beide als Patroninnen Frankreichs vereint, nach der Jungfrau Maria. Die hl. Theresia hatte den Wunsch ausgesprochen, wie Jeanne zu sterben, mit dem Namen Jesu auf den Lippen (Handschrift B, 3r), und war von derselben, in der geweihten Jungfräulichkeit gelebten großen Liebe zu Jesus und zum Nächsten beseelt.
Liebe Brüder und Schwestern, mit ihrem leuchtenden Zeugnis lädt uns die hl. Jeanne d’Arc zu einem hohen Maß christlichen Lebens ein: das Gebet zum Leitfaden unseres Tageslaufs zu machen; mit vollem Vertrauen den Willen Gottes zu tun, was immer er auch sein mag; die Nächstenliebe ohne Bevorzugungen und Grenzen zu leben und wie sie aus der Liebe zu Jesus eine tiefe Liebe zur Kirche zu schöpfen. Danke.
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Gerne grüße ich alle Pilger und Besucher aus den Ländern deutscher Sprache. Die heilige Jeanne d’Arc gibt uns ein hohes Beispiel für ein Leben aus dem Glauben. Das Gebet möge der Leitfaden auch in unserem Alltag sein, ebenso das Vertrauen in Gottes Güte und die Liebe zum Nächsten, in dem wir Christus erkennen. Um so mehr werden wir lebendige Glieder der Kirche und können sichtbar machen, daß Christus und die Kirche zusammengehören. Der Herr segne euch alle.
Audienzhalle
Generalaudienzen 2005-2013 12011