Generalaudienzen 2005-2013 20062

Mittwoch, 20. Juni 2012

20062


Liebe Brüder und Schwestern!

Unser Gebet ist sehr oft eine Bitte um Hilfe in der Not. Und das ist auch normal für den Menschen, denn wir brauchen Hilfe, wir brauchen die anderen, wir brauchen Gott. So ist es für uns normal, Gott um etwas zu bitten, bei ihm Hilfe zu suchen; und wir müssen daran denken, daß das Gebet, das der Herr uns gelehrt hat, das »Vaterunser«, ein Bittgebet ist. Mit diesem Gebet lehrt uns der Herr die Prioritäten unseres Gebets: Er reinigt und läutert unsere Wünsche und reinigt und läutert so unser Herz. Wenn es also an sich normal ist, daß wir im Gebet um etwas bitten, so darf es nicht ausschließlich so sein. Es gibt auch Grund zum Danken, und wenn wir etwas aufmerksam sind, dann sehen wir, daß wir von Gott viele gute Dinge empfangen: Er ist so gut zu uns, daß es angemessen und notwendig ist, Dank zu sagen. Und das Gebet muß auch Lobpreis sein: Wenn unser Herz offen ist, dann sehen wir trotz aller Probleme auch die Schönheit seiner Schöpfung, die Güte, die sich in seiner Schöpfung zeigt. Wir dürfen daher nicht nur bitten, sondern müssen auch loben und danken: Nur so ist unser Beten vollständig.

In seinen Briefen spricht der hl. Paulus nicht nur über das Gebet, sondern er gibt Gebete wieder, die natürlich Bitten enthalten, aber auch Lob und Preis für das, was Gott gewirkt hat und auch weiterhin in der Geschichte der Menschheit vollbringt. Heute möchte ich beim ersten Kapitel des Briefes an die Epheser verweilen, das mit einem Gebet beginnt, das ein Loblied ist, ein Ausdruck des Dankes, der Freude. Der hl. Paulus preist den Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus, denn in ihm hat er uns »das Geheimnis seines Willens kundgetan« (
Ep 1,9). Es gibt wirklich Grund zu danken, daß Gott uns das Verborgene kundgetan hat: seinen Willen mit uns, für uns; »das Geheimnis seines Willens«. »Mysterion«, »Geheimnis«: ein Begriff, der in der Heiligen Schrift und in der Liturgie oft vorkommt. Ich möchte jetzt nicht in die Philologie hineingehen, aber im gewöhnlichen Sprachgebrauch zeigt er das an, was man nicht kennen kann, eine Wirklichkeit, die wir mit unserem eigenen Verstand nicht erfassen können. Der Hymnus, der den Brief an die Epheser eröffnet, nimmt uns an die Hand und führt uns zu einer tieferen Bedeutung dieses Begriffs und der Wirklichkeit, die er uns aufzeigt. Für die Gläubigen ist »Geheimnis« nicht so sehr das Unbekannte, sondern vielmehr der barmherzige Wille Gottes, sein Liebesplan, der in Jesus Christus vollkommen offenbar geworden ist und uns die Möglichkeit gibt, »zusammen mit allen Heiligen« dazu fähig zu sein, »die Länge und Breite, die Höhe und Tiefe zu ermessen und die Liebe Christi zu verstehen« (). Das »unbekannte Geheimnis« Gottes ist offenbar geworden: Gott liebt uns, und er liebt uns von Anbeginn an, von Ewigkeit her.

Verweilen wir also etwas bei diesem feierlichen und tiefen Gebet. »Gepriesen sei der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus« (Ep 1,3). Der hl. Paulus gebraucht das Verb »eulogein«, das im allgemeinen den hebräischen Begriff »barak« übersetzt: Gott, den Vater, als Ursprung der Heilsgüter zu loben, zu verherrlichen, ihm zu danken: »Er hat uns mit allem Segen seines Geistes gesegnet durch unsere Gemeinschaft mit Christus im Himmel.« Der Apostel dankt und lobt, aber er denkt auch über die Gründe nach, die den Menschen zu diesem Lobpreis, zu diesem Dank bringen, indem er die grundlegenden Elemente des göttlichen Plans und seine Abschnitte darlegt. Vor allem müssen wir Gott, den Vater, preisen, denn – so schreibt der hl. Paulus – »er hat uns erwählt vor der Erschaffung der Welt, damit wir heilig und untadelig leben vor Gott« in der Liebe (V. 4). Was uns heilig und untadelig macht, ist die Liebe. Gott hat uns ins Dasein, zur Heiligkeit berufen. Und dieser Entschluß geht selbst der Erschaffung der Welt voraus. Wir waren immer schon in seinem Plan, in seinen Gedanken. Mit dem Propheten Jeremia können auch wir sagen, daß noch ehe er uns im Mutterleib formte, er uns ausersehen hat (vgl. Jr 1,5); und indem er uns ausersehen hat, hat er uns geliebt.

Die Berufung zur Heiligkeit, also zur Gemeinschaft mit Gott, gehört zum ewigen Plan dieses Gottes, einem Plan, der sich über die Geschichte erstreckt und alle Männer und Frauen der Welt umfaßt, denn es ist eine universale Berufung. Gott schließt niemanden aus, sein Plan besteht nur aus Liebe. Der hl. Johannes Chrysostomos sagt: »Gott selbst hat uns heilig gemacht, aber wir sind berufen, heilig zu bleiben. Heilig ist, wer im Glauben lebt« (Predigten über den Brief an die Epheser, 1,1,4). Der hl. Paulus fährt fort: Gott hat uns im voraus dazu bestimmt, hat uns erwählt, »seine Söhne zu werden durch Jesus Christus«, in den eingeborenen Sohn eingegliedert zu werden. Der Apostel hebt die Unentgeltlichkeit dieses wunderbaren Planes Gottes für die Menschheit hervor. Gott erwählt uns nicht, weil wir gut sind, sondern weil er gut ist. Und die Antike hatte ein Wort über das Gute: »Bonum est diffusivum sui«; das Gute teilt sich mit, es gehört zum Wesen des Guten, daß es sich mitteilt, sich ausbreitet. Und weil Gott die Güte ist, ist er also Mitteilung des Guten, will er mitteilen; er erschafft, weil er uns seine Güte mitteilen und uns gut und heilig machen will.

In der Mitte des Lobpreises erläutert der Apostel, wie der Heilsplan des Vaters in Christus, in seinem geliebten Sohn verwirklicht wird. Er schreibt: »Durch sein Blut haben wir die Erlösung, die Vergebung der Sünden nach dem Reichtum seiner Gnade« (Ep 1,7). Das Kreuzesopfer Christi ist das einzigartige und unwiederholbare Ereignis, durch das der Vater wie ein Leuchtfeuer seine Liebe zu uns gezeigt hat, nicht nur durch Worte, sondern in konkreter Weise. Gott ist so konkret, und seine Liebe ist so konkret, daß er in die Geschichte eintritt, Mensch wird, um zu spüren, was es heißt, wie es ist, in dieser erschaffenen Welt zu leben, und er nimmt den Leidensweg der Passion auf sich und erleidet auch den Tod. So konkret ist die Liebe Gottes, daß er nicht nur an unserem Dasein, sondern an unserem Leiden und Sterben teilhat. Durch das Kreuzesopfer werden wir »Gottes Eigentum«, denn das Blut Christi hat uns von der Schuld erlöst, es reinigt uns vom Bösen, es entzieht uns der Knechtschaft der Sünde und des Todes. Der hl. Paulus lädt ein, darüber nachzudenken, wie tief die Liebe Gottes ist, die die Geschichte verwandelt, die sein eigenes Leben vom Christenverfolger zum unermüdlichen Apostel des Evangeliums verwandelt hat. Es klingen noch einmal die beruhigenden Worte des Römerbriefes an: »Ist Gott für uns, wer ist dann gegen uns? Er hat seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern ihn für uns alle hingegeben – wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken? … Denn ich bin gewiß: Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Gewalten der Höhe oder Tiefe noch irgendeine andere Kreatur können uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn« (). Diese Gewißheit – Gott ist für uns, und keine Kreatur kann uns von ihm scheiden, denn seine Liebe ist stärker – müssen wir in unser Dasein, in unser Bewußtseins als Christen einfügen.

Am Ende schließt der göttliche Segen mit dem Hinweis auf den Heiligen Geist, der in unsere Herzen ausgegossen wurde, den Beistand, den wir als das verheißene Siegel empfangen haben. Paulus sagt: »Der Geist ist der erste Anteil des Erbes, das wir erhalten sollen, der Erlösung, durch die wir Gottes Eigentum werden, zum Lob seiner Herrlichkeit« (Ep 1,14). Die Erlösung ist noch nicht abgeschlossen – das spüren wir –, sondern wird ihre volle Erfüllung finden, wenn jene, die Gott sich erworben hat, vollkommen gerettet sein werden.

Wir sind noch auf dem Weg der Erlösung, deren wesentliche Wirklichkeit durch den Tod und die Auferstehung Jesu gegeben ist. Wir sind auf dem Weg zur endgültigen Erlösung, zur vollkommenen Befreiung der Kinder Gottes. Und der Heilige Geist ist die Gewißheit, daß Gott seinen Heilsplan zur Erfüllung bringen wird, wenn er in Christus alles vereinen wird, »alles, was im Himmel und auf Erden ist« (Ep 1,10). Der hl. Johannes Chrysostomos kommentiert diesen Punkt: »Gott hat uns durch den Glauben erwählt und uns das Siegel für das Erbe der zukünftigen Herrlichkeit aufgedrückt« (Predigt über den Brief an die Epheser, 2,11–14). Wir müssen akzeptieren, daß der Weg der Erlösung auch unser Weg ist, denn Gott will freie Geschöpfe, die aus freiem Willen »Ja« sagen; aber es ist vor allem und in erster Linie sein Weg. Wir sind in seinen Händen, und jetzt ist es unsere Freiheit, den von ihm eröffneten Weg zu gehen. Gehen wir diesen Weg der Erlösung gemeinsam mit Christus, und wir spüren, daß die Erlösung verwirklicht wird. Die Schau, die uns der hl. Paulus in diesem großen Lobpreis darlegt, hat uns dahin geführt, das Wirken der drei Personen der Allerheiligsten Dreifaltigkeit zu betrachten: der Vater, der uns erwählt hat vor der Erschaffung der Welt, der uns erdacht und erschaffen hat; der Sohn, der uns durch sein Blut erlöst hat; und der Heilige Geist, Unterpfand unserer Erlösung und der zukünftigen Herrlichkeit. Im beharrlichen Gebet, in der täglichen Beziehung zu Gott lernen auch wir, wie der hl. Paulus, die Zeichen dieses Plans und dieses Wirkens immer deutlicher zu erkennen: in der Schönheit des Schöpfers, die aus seinen Geschöpfen hervorgeht (vgl. Eph Ep 3,9), wie der hl. Franz von Assisi singt: »Gelobt seist du, mein Herr, mit allen deinen Geschöpfen« (FF 263). Wichtig ist, gerade jetzt, auch in der Ferienzeit, auf die Schönheit der Schöpfung zu achten und in dieser Schönheit das Antlitz Gottes durchscheinen zu sehen. In ihrem Leben zeigen die Heiligen in leuchtender Weise, was die Kraft Gottes in der Schwachheit des Menschen tun kann. Und sie kann es auch mit uns tun – in der ganzen Heilsgeschichte, in der Gott zu uns gekommen ist und geduldig unsere Zeiten abwartet, unsere Untreue versteht, unsere Bemühungen ermutigt und uns leitet.

Im Gebet lernen wir, die Zeichen dieses barmherzigen Plans auf dem Weg der Kirche zu sehen. So wachsen wir in der Liebe Gottes, indem wir unsere Tür öffnen, damit die Allerheiligste Dreifaltigkeit in uns wohnen, unser Leben erleuchten, erwärmen, leiten möge. »Wenn jemand mich liebt, wird er an meinem Wort festhalten; mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und bei ihm wohnen« (Jn 14,23), sagt Jesus, als er den Jüngern die Gabe des Heiligen Geistes verheißt, der sie alles lehren wird. Der hl. Irenäus hat einmal gesagt, daß der Heilige Geist in der Menschwerdung sich daran gewöhnt hat, im Menschen zu sein. Im Gebet müssen wir uns daran gewöhnen, bei Gott zu sein. Das ist sehr wichtig, daß wir lernen, bei Gott zu sein, um zu sehen, wie schön es ist, bei ihm zu sein, der die Erlösung ist.

Liebe Freunde, wenn das Gebet unser geistliches Leben nährt, werden wir fähig, das zu bewahren, was der hl. Paulus als das »Geheimnis des Glaubens« in einem reinen Gewissen bezeichnet (vgl. 1Tm 3,9). Das Gebet als »Gewöhnung« an das Zusammensein mit Gott bringt Männer und Frauen hervor, die nicht vom Egoismus, vom Wunsch nach Besitz, vom Verlangen nach Macht beseelt sind, sondern von der unentgeltlichen Hingabe, vom Wunsch zu lieben, vom Verlangen zu dienen, die also von Gott beseelt sind; und nur so kann man Licht in das Dunkel der Welt bringen.

Ich möchte diese Katechese mit dem Epilog des Briefes an die Römer abschließen. Wie der hl. Paulus geben auch wir Gott die Ehre, weil er uns alles über sich gesagt hat in Jesus Christus und uns den Tröster gesandt hat, den Geist der Wahrheit. Der hl. Paulus schreibt am Ende des Briefes an die Römer: »Ehre sei dem, der die Macht hat, euch Kraft zu geben – gemäß meinem Evangelium und der Botschaft von Jesus Christus, gemäß der Offenbarung jenes Geheimnisses, das seit ewigen Zeiten unausgesprochen war, jetzt aber nach dem Willen des ewigen Gottes offenbart und durch prophetische Schriften kundgemacht wurde, um alle Heiden zum Gehorsam des Glaubens zu führen. Ihm, dem einen, weisen Gott, sei Ehre durch Jesus Christus in alle Ewigkeit! Amen« (16,25–27). Danke.
* * *


Gerne grüße ich alle deutschsprachigen Pilger und Besucher. Die Betrachtung des Heilswirkens Gottes im Gebet erleuchtet unser Leben und läßt uns in unserem Menschsein, in der Liebe zu Gott und so auch zu den Mitmenschen wachsen, weil wir dann in jedem Menschen das vielleicht verborgene, aber doch nie zerstörte Bild Gottes sehen. So können wir Licht in das Dunkel der Welt bringen. Ihnen allen wünsche ich von Herzen eine gesegnete Zeit in Rom und schöne Ferien.

APPELL


Ich verfolge mit tiefer Sorge die Nachrichten aus Nigeria, wo die vor allem gegen die Christen gerichteten Terroranschläge weitergehen. Während ich für die Opfer und alle Leidtragenden bete, appelliere ich an diejenigen, die für diese Gewalttaten verantwortlich sind, unverzüglich davon abzulassen, das Blut so vieler Unschuldiger zu vergießen. Im übrigen hoffe ich auf die volle Mitarbeit quer durch alle Gesellschaftsschichten Nigerias, damit nicht der Weg der Rache weiterverfolgt werde, sondern alle Bürger am Bau einer friedlichen und versöhnten Gesellschaft mitwirken mögen, in der das Recht, frei den eigenen Glauben bekennen zu können, wirksam geschützt ist.



Audienzhalle

Mittwoch, 27. Juni 2012

27062


Liebe Brüder und Schwestern!

Unser Gebet setzt sich zusammen – wie wir bei den vergangenen Mittwochsaudienzen gesehen haben – aus Schweigen und Wort, aus Gesang und Gesten, die die ganze Person einbeziehen: vom Mund bis zum Verstand, vom Herzen bis zum ganzen Leib. Dieses Merkmal finden wir im jüdischen Gebet wieder, besonders in den Psalmen. Heute möchte ich über einen Gesang oder Hymnus sprechen, der zu den ältesten der christlichen Überlieferung gehört. Der hl. Paulus stellt ihn uns vor in dem, was gewissermaßen sein geistliches Testament ist: im Philipperbrief. Denn diesen Brief diktiert der Apostel, als er sich im Gefängnis befindet, vielleicht in Rom. Er fühlt den Tod herannahen, denn er sagt, daß sein Leben zum Opfer dargebracht werden wird (vgl. Phil
Ph 2,17). Obwohl seine leibliche Unversehrtheit ernsthaft in Gefahr ist, bringt der hl. Paulus im ganzen Schreiben die Freude darüber zum Ausdruck, Jünger Christi zu sein, ihm entgegengehen zu können. Sogar das Sterben betrachtet er nicht als Verlust, sondern als Gewinn. Im letzten Kapitel des Briefes findet sich ein starker Aufruf zur Freude, dem Grundmerkmal des Christseins und unseres Betens. Der hl. Paulus schreibt: »Freut euch im Herrn zu jeder Zeit! Noch einmal sage ich: Freut euch!« (Ph 4,4). Wie aber kann man sich angesichts eines unmittelbar bevorstehenden Todesurteils freuen? Woher oder besser von wem nimmt der hl. Paulus diese Gelassenheit, diese Kraft, diesen Mut, dem Martyrium und dem Blutvergießen entgegenzugehen?

Wir finden die Antwort in der Mitte des Philipperbriefs, in dem, was die christliche Überlieferung als »carmen Christo«, als Christuslied, oder häufiger als »christologischer Hymnus« bezeichnet: ein Gesang, in dem die ganze Aufmerksamkeit auf die »Gesinnungen« Christi gerichtet ist, also auf seine Art zu denken und seine konkrete und gelebte Haltung. Dieses Gebet beginnt mit einer Ermahnung: »Seid untereinander so gesinnt, wie es dem Leben in Christus Jesus entspricht« (Ph 2,5). Diese Gesinnungen werden in den folgenden Versen dargelegt: die Liebe, die Großherzigkeit, die Demut, der Gehorsam gegenüber Gott, die Selbsthingabe. Es geht nicht nur und nicht einfach darum, dem Vorbild Christi als etwas Moralischem zu folgen, sondern darum, das ganze Leben in seine Art zu denken und zu handeln hineinzunehmen. Das Gebet muß zu einer immer tieferen Erkenntnis und Vereinigung mit dem Herrn in der Liebe führen, um denken, handeln und lieben zu können wie er, in ihm und für ihn. Das zu üben, die Gesinnung Jesu zu erlernen, ist der Weg des christlichen Lebens.

Jetzt möchte ich kurz bei einigen Elementen dieses dichten Gesangs verweilen, der den ganzen göttlichen und menschlichen Weg des Sohnes Gottes zusammenfaßt und die gesamte Menschheitsgeschichte einbezieht: von der Gottgleichheit zur Menschwerdung, zum Tod am Kreuz und zur Aufnahme in die Herrlichkeit des Vaters ist auch das Verhalten Adams, des Menschen von Anbeginn an, mit eingebunden. Dieser Christus-Hymnus beginnt bei seinem Dasein »en morphe tou Theou«, wie es im griechischen Text heißt, also »in der Gestalt Gottes« oder besser »Gott gleich«. Jesus, wahrer Gott und wahrer Mensch, lebt sein »wie Gott sein« nicht, um zu triumphieren oder seine Oberhoheit aufzuzwingen, er betrachtet es nicht als Besitz, als Privileg, er hält nicht daran fest. Sondern er »entäußerte«, entleerte sich und nahm, wie der griechische Text sagt, die »morphe doulos« an, die »Gestalt eines Sklaven«: des menschlichen Zustands, der von Leiden, von Armut, vom Tod geprägt ist. Er ist den Menschen völlig gleich geworden, außer in der Sünde, und verhält sich wie ein Sklave, der sich ganz dem Dienst an den anderen widmet. In diesem Zusammenhang sagt Eusebius von Caesarea im 4. Jahrhundert: »Er hat die Mühsal der leidenden Glieder auf sich selbst genommen. Er hat sich unsere erbärmlichen Krankheiten zu eigen gemacht. Er hat um unsertwillen gelitten, wie es seiner großen Liebe zur Menschheit entspricht« (Demonstratio evangelica, 10,1,22).

Dann legt der hl. Paulus den »historischen« Rahmen dar, in dem diese Erniedrigung Jesu umgesetzt wurde: »Er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod« (Ph 2,8). Der Sohn Gottes ist wirklich Mensch geworden und hat einen Weg völligen Gehorsams und völliger Treue gegenüber dem Willen des Vaters beschritten, bis hin zum höchsten Opfer des eigenen Lebens. Mehr noch – der Apostel fügt sogar hinzu: »bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz«. Am Kreuz hat Jesus den höchsten Grad der Erniedrigung erreicht, denn die Kreuzigung war die Strafe, die den Sklaven und nicht den freien Menschen vorbehalten war: »Mors turpissima crucis«, schreibt Cicero (vgl. In Verrem, V,64,165). Im Kreuz Christi wird der Mensch erlöst, und die Erfahrung Adams wird ins Gegenteil verkehrt: Adam, der als Abbild Gottes – ihm ähnlich –, geschaffen wurde, maßte sich an, aus eigener Kraft wie Gott zu sein, sich an die Stelle Gottes zu setzen und verlor so die ursprüngliche Würde, die ihm gegeben worden war. Jesus dagegen war »Gott gleich«, hat sich jedoch erniedrigt, wurde den Menschen gleich, in völliger Treue zum Vater, um den Adam zu erlösen, der in uns ist, und dem Menschen die Würde zurückzugeben, die er verloren hatte. Die Kirchenväter heben hervor, daß er gehorsam war und der menschlichen Natur durch sein Menschsein und seinen Gehorsam das zurückerstattet hat, was durch den Ungehorsam Adams verlorengegangen war.

Im Gebet, in der Beziehung zu Gott, öffnen wir den Verstand, das Herz, den Willen für das Wirken des Heiligen Geistes, um in dieselbe Dynamik des Lebens einzutreten, wie der hl. Cyrill von Alexandrien sagt, dessen Gedenktag wir heute feiern: »Das Wirken des Geistes will uns durch die Gnade in das vollkommene Abbild seiner Erniedrigung verwandeln« (Festbrief 10,4). Die menschliche Logik dagegen sucht oft nach der Selbstverwirklichung in der Macht, in der Herrschaft, in den Machtmitteln. Der Mensch will weiter aus eigenen Kräften den Turm zu Babel bauen, um von selbst zur Höhe Gottes zu gelangen, um wie Gott zu sein. Die Menschwerdung und das Kreuz erinnern uns daran, daß die volle Verwirklichung darin besteht, den eigenen Willen dem Willen des Vaters anzupassen, indem man sich des eigenen Egoismus entleert, um mit der Liebe, mit Gottes Liebe erfüllt und so wirklich fähig zu werden, die anderen zu lieben. Der Mensch findet sich nicht, indem er in sich verschlossen bleibt, sich selbst behauptet. Der Mensch findet sich nur, indem er aus sich herausgeht; nur wenn wir aus uns selbst herauskommen, finden wir uns. Und wenn Adam Gott nachahmen wollte, so ist das an sich nicht schlecht, aber er hat sich in der Vorstellung von Gott geirrt. Gott will nicht nur Größe. Gott ist Liebe, die sich schon in der Dreifaltigkeit und dann in der Schöpfung hinschenkt. Und Gott nachzuahmen bedeutet, aus sich herauszukommen, sich in der Liebe hinzuschenken.

Im zweiten Teil dieses »christologischen Hymnus« des Philipperbriefs ändert sich das Subjekt; es ist nicht mehr Christus, sondern Gott, der Vater. Der hl. Paulus hebt hervor: Gerade wegen des Gehorsams gegenüber dem Willen des Vaters »hat ihn Gott über alle erhöht und ihm den Namen verliehen, der größer ist als alle Namen« (Ph 2,9). Er, der sich zutiefst erniedrigt hat und wie ein Sklave geworden ist, wird erhöht, wird über alle Dinge erhoben vom Vater, der ihm den Namen »Kyrios«, »Herr« verleiht, die höchste Würde und Herrschaft. »Damit alle im Himmel, auf der Erde und unter der Erde ihre Knie beugen vor dem Namen Jesu« – vor diesem neuen Namen, dem Namen Gottes selbst im Alten Testament – »und jeder Mund bekennt: ›Jesus Christus ist der Herr‹ – zur Ehre Gottes, des Vaters« (V. 10 – 11). Der Jesus, der erhöht wird, ist der des Letzten Abendmahls, der sein Gewand ablegt, sich mit einem Leinentuch umgürtet, sich niederbeugt, um den Aposteln die Füße zu waschen, und sie fragt: »Begreift ihr, was ich an euch getan habe? Ihr sagt zu mir Meister und Herr, und ihr nennt mich mit Recht so; denn ich bin es. Wenn nun ich, der Herr und Meister, euch die Füße gewaschen habe, dann müßt auch ihr einander die Füße waschen« (). Wichtig ist, daß wir in unserem Gebet und in unserem Leben stets daran denken: »Der Aufstieg zu Gott ereignet sich gerade im Abstieg des demütigen Dienens, im Abstieg der Liebe, die das Wesen Gottes ist und daher die wahrhaft reinigende Kraft, die den Menschen fähig macht, Gott wahrzunehmen und ihn zu sehen « (Jesus von Nazareth, Freiburg 2007, S. 126).

Der Hymnus des Philipperbriefs bietet uns hier zwei wichtige Hinweise für unser Gebet. Der erste ist die Anrufung »Herr«, die an Jesus Christus gerichtet ist, der zur Rechten des Vaters sitzt: Er ist der einzige Herr unseres Lebens, inmitten vieler »Herrscher«, die es ausrichten und leiten wollen. Daher ist es notwendig, eine Werteskala zu haben, in der der Primat Gott zukommt, um mit dem hl. Paulus zu sagen: »Ich sehe alles als Verlust an, weil die Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn, alles übertrifft« (Ph 3,8). Die Begegnung mit dem Auferstandenen hat ihn verstehen lassen, daß er der einzige Schatz ist, für den es sich lohnt, sein Leben hinzugeben. Der zweite Hinweis ist das Niederwerfen, das »Knie beugen« aller auf der Erde und im Himmel, das ein Wort des Propheten Jesaja ins Gedächtnis ruft, wo er auf die Verehrung hinweist, die alle Geschöpfe Gott schulden (vgl. 45,23). Der Kniefall vor dem Allerheiligsten Sakrament oder das Niederknien im Gebet bringen die Anbetung gegenüber Gott zum Ausdruck, auch mit dem Leib. Daher ist es wichtig, diese Geste nicht aus Gewohnheit und in Eile durchzuführen, sondern im tiefen Bewußtsein. Wenn wir vor dem Herrn niederknien, bekennen wir unseren Glauben an ihn, erkennen wir ihn als den einzigen Herrn unseres Lebens an.

Liebe Brüder und Schwestern, richten wir in unserem Gebet unseren Blick auf den Gekreuzigten, verweilen wir öfter in Anbetung vor der Eucharistie, um unser Leben in die Liebe Gottes eintreten zu lassen, der sich in Demut erniedrigt hat, um uns zu ihm zu erhöhen. Zu Beginn der Katechese haben wir uns gefragt, wie der hl. Paulus sich freuen konnte angesichts der unmittelbar bevorstehenden Gefahr des Martyriums und seines Blutvergießens. Das ist nur möglich, weil der Apostel seinen Blick nie von Christus abgewandt hat, bis er ihm im Tod gleichgeworden ist, in der Hoffnung, »auch zur Auferstehung von den Toten zu gelangen« (Ph 3,11). Wie der hl. Franziskus vor dem Gekreuzigten sagen auch wir: »Höchster, glorreicher Gott, erleuchte die Finsternis meines Herzens und schenke mir rechten Glauben, gefestigte Hoffnung und vollendete Liebe. Gib mir, Herr, das rechte Empfinden und Erkennen, damit ich deinen heiligen und wahrhaften Auftrag erfülle. Amen« (vgl. Gebet vor dem Kreuzbild von San Damiano: FF [276]).
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Ganz herzlich grüße ich alle deutschsprachigen Pilger und Besucher. Lassen wir in uns die Gedanken des heiligen Paulus konkret werden, indem wir auf Christus hinschauen und so hineinwachsen in seine Weise des Seins, des Fühlens, des Denkens und damit von dem Sohn Gottes her das richtige Menschsein erlernen. Euch allen wünsche ich schöne Pilgerschaft in Rom und freudige Erlebnisse der Nähe unseres Herrn. Danke.



Castel Gandolfo

Mittwoch, 1. August 2012

10812




Liebe Brüder und Schwestern!

Heute feiern wir den liturgischen Gedenktag des heiligen Bischofs und Kirchenlehrers Alfons Maria von Liguori, Gründer der Kongregation des Heiligsten Erlösers, der Redemptoristen, Schutzpatron der Moraltheologen und der Beichtväter.

Der hl. Alfons ist einer der beliebtesten Heiligen des 18. Jahrhunderts aufgrund seines einfachen Stils und seiner Lehre über das Bußsakrament: In einer Zeit des großen Rigorismus, Frucht des jansenistischen Einflusses, legte er den Beichtvätern ans Herz, beim Spenden dieses Sakraments die freudige Umarmung Gottes, des Vaters, zum Ausdruck zu bringen, der in seiner unendlichen Barmherzigkeit nicht müde wird, den reuigen Sohn anzunehmen. Der heutige Gedenktag gibt uns Gelegenheit, bei den Lehren des hl. Alfons über das Gebet zu verweilen, die äußerst kostbar und voll geistlicher Eingebung sind. Seine Abhandlung Das große Gnadenmittel des Gebetes, die er als die nützlichste seiner Schriften betrachtete, geht auf das Jahr 1759 zurück. Sie beschreibt in der Tat das Gebet als »das notwendige und unfehlbare Mittel, die ewige Seligkeit und alle dazu notwendigen Gnaden zu erlangen« (Einleitung).

In diesem Wort ist die alfonsianische Weise, das Gebet zu verstehen, zusammengefaßt. Indem er sagt, daß es ein Mittel ist, verweist er uns zunächst auf das zu erlangende Ziel: Gott hat aus Liebe erschaffen, um uns das Leben in Fülle schenken zu können. Dieses Ziel, dieses Leben in Fülle, hat sich jedoch – wie wir alle wissen – aufgrund der Sünde sozusagen entfernt, und nur die Gnade Gottes kann es zugänglich machen. Um diese Grundwahrheit zu erläutern und unmittelbar verständlich zu machen, wie konkret für den Menschen die Gefahr ist, »verlorenzugehen «, hatte der hl. Alfons einen sehr einfachen Leitsatz geprägt, der lautet: »Wer betet, wird sicher gerettet; wer nicht betet, geht sicher verloren.« Als Kommentar zu diesem schlichten Satz fügte er hinzu: »Ohne das Gebet ist es sehr schwer, ja … sogar unmöglich, selig zu werden; mit dem Gebete aber ist es leicht und sicher, daß man selig werde« (II, Schluß). Und er sagt auch, daß »wenn wir nicht beten, wir keine Entschuldigung verdienen; denn die Gnade zu beten, wird jedem gegeben … wenn wir nicht gerettet werden, so ist es ganz unsere Schuld, weil wir nicht gebetet haben« (ebd.). Indem er sagte, daß das Gebet ein notwendiges Mittel ist, wollte der hl. Alfons also zu verstehen geben, daß man in keiner Lebenssituation darauf verzichten kann zu beten, insbesondere im Augenblick der Prüfung und in den Schwierigkeiten. Immer müssen wir mit Vertrauen an die Tür des Herrn klopfen, im Wissen, daß er in allem für seine Kinder, für uns, Sorge trägt. Wir sind daher eingeladen, keine Furcht zu haben, uns an ihn zu wenden und ihm mit Vertrauen unsere Bitten darzubringen, in der Gewißheit, das zu erhalten, was wir brauchen.

Liebe Freunde, das ist die zentrale Frage: Was ist in meinem Leben wirklich notwendig? Ich antworte mit dem hl. Alfons: »Das Heil und alle dazu notwendigen Gnaden« (ebd.). Natürlich meint er damit nicht nur das leibliche Heil, sondern vor allem das der Seele, das Jesus uns schenkt. Mehr als alles andere brauchen wir seine befreiende Gegenwart, die unser Leben wirklich zutiefst menschlich macht und daher mit Freude erfüllt. Und nur durch das Gebet können wir ihn, seine Gnade annehmen, die uns in jeder Situation erleuchtet und uns das wahre Wohl erkennen läßt. Und indem sie uns stärkt, macht sie auch unseren Willen wirkkräftig, das heißt, sie macht ihn fähig, das erkannte Gute umzusetzen. Oft erkennen wir das Gute, sind aber nicht in der Lage, es zu tun. Mit dem Gebet gelangen wir dahin, es zu tun. Der Jünger des Herrn weiß, daß er stets der Versuchung ausgesetzt ist, und versäumt es nicht, Gott im Gebet um Hilfe zu bitten, um sie zu überwinden.

Der hl. Alfons führt das – sehr interessante – Beispiel des hl. Philipp Neri an, der, »sobald er des Morgens erwachte, zu Gott sprach: Herr! Halte heute deine Hand über Philipp! Denn sonst wird Philipp dich noch verraten!« (III,3). Ein großer Realist! Er bittet Gott, seine Hand über ihn zu halten. Auch wir müssen im Bewußtsein unserer Schwäche mit Demut um Gottes Hilfe bitten, im Vertrauen auf den Reichtum seiner Barmherzigkeit. An einer anderen Stelle sagt der hl. Alfons: »Wir sind arm an allem; aber wenn wir beten, so werden wir aufhören, arm zu sein. Und wenn wir auch arm sind, so ist Gott reich« (II,4). Und dem hl. Augustinus folgend lädt er jeden Christen ein, keine Angst zu haben, sich von Gott durch das Gebet jene Kraft zu verschaffen, die er nicht hat und derer er bedarf, um Gutes zu tun, in der Gewißheit, daß der Herr dem, der ihn mit Demut anruft, seine Hilfe nicht versagt (vgl. III,3).

Liebe Freunde, der hl. Alfons erinnert uns daran, daß die Beziehung zu Gott in unserem Leben wesentlich ist. Ohne die Beziehung zu Gott fehlt der wesentliche Bezug, und die Beziehung zu Gott wird verwirklicht im Sprechen mit Gott, im täglichen persönlichen Gebet, und durch die Teilhabe an den Sakramenten. Und so kann diese Beziehung in uns wachsen, kann die göttliche Gegenwart in uns wachsen, die unseren Weg ausrichtet, ihn erleuchtet und ihn sicher und ruhig macht, auch inmitten von Schwierigkeiten und Gefahren. Danke.

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Ganz herzlich heiße ich alle Pilger und Besucher deutscher Sprache willkommen. Wir feiern heute den Gedenktag des heiligen Alfons von Liguori. Er ist der Gründer der Redemptoristen und der Patron der Beichtväter. In seinen Schriften erinnert uns der Heilige daran, vor allem eine lebendige Beziehung zu Gott zu verwirklichen. Er hat ein kleines, schönes Buch über das Gebet geschrieben, in dem er uns sagt: Der Mensch braucht die Beziehung zu Gott. Und wie soll er sie haben, wenn nicht anders als dadurch, daß er mit ihm spricht. Das tägliche Gebet und die Teilnahme an den Sakramenten lassen dann die Nähe und Gegenwart Gottes in uns wachsen, die uns hilft, den wahren Lebensweg zu finden. Es gibt ein Wort des heiligen Alfons, das sehr elementar ist: »Wer betet, wird sicher gerettet, wer nicht betet, geht sicher verloren«. Der Heilige Geist helfe uns, daß wir Lust am Beten finden, gerade in den Ferien, und so die innere Beziehung zu Gott herstellen und unser Leben weiter, reicher und größer wird.



Castel Gandolfo

Mittwoch, 8. August 2012

8082


Liebe Brüder und Schwestern!

Heute feiert die Kirche den Gedenktag des heiligen Priesters Dominikus de Guzmán, Gründer des Predigerordens, genannt Dominikaner. In einer vorhergehenden Katechese habe ich bereits seine hervorragende Gestalt und den grundlegenden Beitrag, den er zur Erneuerung der Kirche seiner Zeit geleistet hat, erläutert. Heute möchte ich einen wesentlichen Aspekt seiner Spiritualität beleuchten: sein Gebetsleben. Der hl. Dominikus war ein Mann des Gebets. Er war verliebt in Gott und hatte kein anderes Bestreben als das Heil der Seelen, besonders jener, die in die Fänge der Irrlehren seiner Zeit geraten waren; in der Nachfolge Christi verkörperte er radikal die drei evangelischen Räte, indem er die Verkündigung des Wortes mit dem Zeugnis eines armen Lebens verband; unter der Führung des Heiligen Geistes schritt er auf dem Weg der christlichen Vollkommenheit voran. In jedem Augenblick war das Gebet die Kraft, die seine apostolischen Werke erneuerte und immer fruchtbarer machte.

Der sel. Jordan von Sachsen, der 1237 starb, sein Nachfolger in der Ordensleitung, schreibt: »Bei Tag zeigte sich niemand geselliger als er… Bei Nacht hingegen wachte niemand eifriger als er im Gebet. Den Tag widmete er dem Nächsten, die Nacht aber schenkte er Gott« (vgl. P. Filippini, San Domenico visto dai suoi contemporanei, Bologna 1982, S. 133). Im hl. Dominikus erblicken wir ein Beispiel der harmonischen Ergänzung der Betrachtung der göttlichen Geheimnisse und der apostolischen Tätigkeit. Den Zeugnissen der Personen zufolge, die ihm am nächsten standen, »sprach er immer mit Gott oder von Gott«. Diese Beobachtung verweist auf seine tiefe Gemeinschaft mit dem Herrn und gleichzeitig das ständige Bemühen, die anderen zu dieser Gemeinschaft mit Gott zu führen. Er hat keine Schriften über das Gebet hinterlassen, aber die dominikanische Überlieferung hat seine lebendige Erfahrung gesammelt und weitergegeben in einem Werk mit dem Titel Die neun Gebetsweisen des Dominikus. Dieses Buch wurde zwischen 1260 und 1288 von einem Dominikanerbruder verfaßt; es hilft uns, etwas vom Innenleben des Heiligen zu verstehen, und es hilft auch uns, mit allen Unterschieden, etwas darüber zu lernen, wie man beten soll.

Dem hl. Dominikus zufolge gibt es also neun Gebetsweisen, und jede von ihnen, die er stets vor dem gekreuzigten Christus pflegte, bringt eine körperliche und eine geistliche Haltung zum Ausdruck, die einander tief durchdringen und die Sammlung und den Eifer fördern. Die ersten sieben Weisen folgen einer aufsteigenden Linie, wie Schritte eines Weges, zur Gemeinschaft mit Gott, mit der Dreifaltigkeit: Der hl. Dominikus betet stehend mit gesenktem Haupt, um die Demut zum Ausdruck zu bringen, auf die Erde hingestreckt, um die Vergebung seiner Sünden zu erbitten, auf Knien, um in Teilhabe an den Leiden des Herrn Buße zu tun, mit offenen Armen auf den Gekreuzigten hinschauend, um die höchste Liebe zu betrachten, mit dem Blick zum Himmel gerichtet, wo er sich von der Welt Gottes angezogen fühlt. Es gibt also drei Formen: stehend, kniend, auf die Erde hingestreckt; aber stets auf den gekreuzigten Herrn hinschauend. Die letzten beiden Weisen jedoch, bei denen ich kurz verweilen möchte, entsprechen zwei Frömmigkeitsübungen, die der Heilige gewöhnlich lebte. Vor allem die persönliche Betrachtung, wo das Gebet eine noch innigere, leidenschaftlichere und Zuversicht schenkende Dimension annimmt. Am Ende des Stundengebets und nach der Feier der Messe verlängerte der hl. Dominikus das Gespräch mit Gott, ohne sich zeitliche Grenzen zu setzen. Er saß ruhig da und sammelte sich innerlich in einer hörenden Haltung, las ein Buch oder heftete den Blick auf den Gekreuzigten.

Er lebte diese Augenblicke der Beziehung zu Gott so intensiv, daß man seine freudigen oder traurigen Reaktionen auch äußerlich wahrnehmen konnte. Er hat also in der Betrachtung die Wirklichkeit des Glaubens in sich aufgenommen. Die Zeugen berichten, daß er manchmal in eine Art Verzückung eintrat, mit verklärtem Gesicht, aber sofort darauf demütig seine täglichen Tätigkeiten wiederaufnahm, mit neuer Energie aus der Kraft, die aus der Höhe kommt. Dann das Gebet auf den Reisen von einem Kloster zum anderen; er betete die Laudes, die Mittagshore, die Vesper mit den Gefährten, und während er die Täler und Hügel durchquerte, betrachtete er die Schönheit der Schöpfung. Dann ging aus seinem Herzen ein Gesang des Lobes und des Dankes an Gott hervor für die vielen Gaben, vor allem für das größte Wunder: die von Christus gewirkte Erlösung.

Liebe Freunde, der hl. Dominikus erinnert uns daran, daß am Ursprung des Glaubenszeugnisses, das jeder Christ in der Familie, am Arbeitsplatz, im sozialen Einsatz und auch in Augenblicken der Entspannung geben muß, das Gebet, der persönliche Kontakt mit Gott steht; nur diese echte Beziehung zu Gott gibt uns die Kraft, jedes Ereignis tiefer zu leben, besonders die Augenblicke des größten Leidens. Dieser Heilige ruft uns auch die Bedeutung der äußeren Haltungen bei unserem Beten in Erinnerung. Knien, vor dem Herrn stehen, auf den Gekreuzigten hinschauen, schweigend innehalten und sich sammeln sind nicht nebensächlich, sondern helfen uns, uns innerlich, mit der ganzen Person in Beziehung zu Gott zu stellen. Ich möchte noch einmal die Notwendigkeit für unser geistliches Leben in Erinnerung rufen, täglich Augenblicke zu finden, um in Ruhe zu beten; wir müssen uns diese Zeit besonders in den Ferien nehmen, etwas Zeit haben, um mit Gott zu sprechen. Es wird ein Weg sein, um denen, die uns nahe sind, zu helfen, in den leuchtenden Strahl der Gegenwart Gottes einzutreten, der den Frieden und die Liebe bringt, derer wir alle bedürfen. Danke

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Ein herzliches Grüß Gott sage ich allen Gästen deutscher Sprache. Besonders grüße ich die Teilnehmer am »Alumni-Kongreß« des Sozialinstituts Kommende Dortmund. Der heilige Dominikus, dessen Gedenktag wir heute feiern, war ein Mann des Gebets. Es heißt von ihm, daß er, wenn er redete, entweder mit Gott oder von Gott redete und daß für ihn Betrachtung und Apostolat ganz ineinander gingen. Die Formen des Betens, die von ihm überliefert werden, zeigen, wie wichtig dabei auch die körperliche Haltung ist: sitzen, stehen, knien, auf den Herrn hinschauen, sich sammeln. Der Leib muß mitbeten, und es braucht eine Umgebung der Stille für eine rechte Sammlung. Die Beziehung zu Gott im Gebet stärkt unseren Glauben und gibt uns auch Kraft, den Herausforderungen des Alltags standzuhalten. Mühen wir uns deshalb jeden Tag um Zeiten des Gebets. Von Herzen segne ich euch alle.



Castel Gandolfo

Mittwoch, 22. August 2012


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