Generalaudienzen 2005-2013 22082

Mittwoch, 22. August 2012

22082


Liebe Brüder und Schwestern!

Heute begehen wir den liturgischen Gedenktag der allerseligsten Jungfrau Maria, die mit dem Titel »Königin« verehrt wird. Es ist ein Fest, das erst in jüngerer Zeit eingeführt wurde, auch wenn sein Ursprung und die Verehrung sehr alt sind: Es wurde 1954 am Ende des Marianischen Jahres vom ehrwürdigen Diener Gottes Pius XII. eingesetzt, der das Datum auf den 31. Mai festlegte (vgl. Enzyklika Ad caeli Reginam, 11 octobris 1954: AAS 46 [1954], 625–640). Bei dieser Gelegenheit sagte der Papst, daß Maria mehr als jedes andere Geschöpf Königin ist durch die Erhabenheit ihrer Seele und die hervorragenden Gaben, die sie empfangen hat. Sie hört niemals auf, alle Schätze ihrer Liebe und ihrer Fürsorge an die Menschheit zu verteilen (vgl. Ansprache zu Ehren von Maria Königin, 1. November 1954).

Jetzt, nach der nachkonziliaren Reform des liturgischen Kalenders, wurde es auf den achten Tag nach dem Hochfest der Aufnahme Mariens in den Himmel verlegt, um die enge Verbindung zwischen dem Königtum Mariens und ihrer Verherrlichung in Seele und Leib bei ihrem Sohn hervorzuheben. In der Konstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils über die Kirche lesen wir: Maria wurde »in die himmlische Herrlichkeit aufgenommen und als Königin des Alls vom Herrn erhöht, um vollkommener ihrem Sohn gleichgestaltet zu sein« (Lumen gentium
LG 59).

Das ist die Wurzel des heutigen Gedenktages: Maria ist Königin, weil sie auf einzigartige Weise mit ihrem Sohn verbunden ist, sowohl auf dem irdischen Weg als auch in der Herrlichkeit des Himmels. Der große Heilige von Syrien, Ephräm der Syrer, sagt über das Königtum Mariens, daß es von ihrer Mutterschaft herkommt: Sie ist die Mutter des Herrn, des Königs der Könige (vgl. ) und verweist uns auf Jesus als unser Leben, unser Heil und unsere Hoffnung. Der Diener Gottes Paul VI. rief in seinem Apostolischen Schreiben Marialis Cultus in Erinnerung: »Bei Maria ist alles auf Christus hin bezogen und von ihm abhängig: im Hinblick auf ihn hat sie Gottvater von aller Ewigkeit her als ganz heilige Mutter erwählt und sie mit den Gaben des Heiligen Geistes ausgestattet, wie sie keinem anderen zuteil geworden sind« (Nr. 25).

Jetzt aber fragen wir uns: Was bedeutet Maria Königin? Ist es nur ein Titel, der mit anderen verbunden ist, die Krone, ein Schmuck unter anderem? Was bedeutet es? Was ist dieses Königtum? Wie bereits gesagt ist es eine Folge ihres Vereintseins mit dem Sohn, ihres Daseins im Himmel, also in Gemeinschaft mit Gott; sie hat Anteil an der Verantwortung Gottes für die Welt und an der Liebe Gottes zur Welt. Es gibt eine volkstümliche, geläufige Vorstellung von einem König oder einer Königin: eine Person mit Macht, Reichtum. Das ist jedoch nicht die Art des Königtums Jesu und Mariens. Denken wir an den Herrn: Das Königtum und das Königsein Christi ist durchwoben von Demut, Dienst, Liebe: Es ist vor allem dienen, helfen, lieben. Erinnern wir uns daran, daß Jesus am Kreuz zum König erklärt wurde mit der von Pilatus geschriebenen Inschrift: »König der Juden « (vgl. Mc 15,26). In jenem Augenblick am Kreuz zeigt sich, daß er König ist. Und wie ist er König? Indem er mit uns, für uns leidet, indem er bis ins Letzte liebt, und so regiert er und schafft er Wahrheit, Liebe, Gerechtigkeit. Oder denken wir auch an den anderen Augenblick: Beim Letzten Abendmahl beugt er sich nieder, um den Seinen die Füße zu waschen. Das Königtum Jesu hat also nichts zu tun mit dem der Mächtigen der Erde. Er ist ein König, der seinen Dienern dient; das hat er in seinem ganzen Leben gezeigt. Und das gleiche gilt für Maria: Sie ist Königin im Dienst für Gott und für die Menschheit, sie ist Königin der Liebe, die die Selbsthingabe an Gott lebt, um in den Heilsplan für den Menschen einzutreten. Dem Engel antwortet sie: Ich bin die Magd des Herrn (vgl. Lc 1,38), und im Magnifikat singt sie: Gott hat auf die Niedrigkeit seiner Magd geschaut (vgl. Lc 1,48). Sie hilft uns. Sie ist Königin, gerade indem sie uns liebt, uns in jeder Not beisteht; sie ist unsere Schwester, eine demütige Magd.

Und so sind wir bereits beim folgenden Aspekt angekommen: Wie übt Maria dieses Königtum des Dienstes und der Liebe aus? Indem sie über uns, ihre Kinder, wacht: die Kinder, die sich im Gebet an sie wenden, um ihr zu danken oder ihren mütterlichen Schutz und ihren himmlischen Beistand zu erbitten, vielleicht nachdem sie den Weg verloren haben, bedrückt vom Schmerz oder von der Angst aufgrund der traurigen und leidvollen Ereignisse des Lebens. In der Freude oder in der Dunkelheit des Daseins wenden wir uns an Maria und vertrauen uns ihrer beständigen Fürbitte an, auf daß sie uns vom Sohn alle Gnade und Barmherzigkeit erlangen möge, die notwendig sind für unser Pilgern auf den Straßen der Welt. An ihn, der die Welt regiert und das Schicksal des Universums in den Händen hält, wenden wir uns vertrauensvoll durch die Jungfrau Maria. Seit Jahrhunderten wird sie als himmlische Königin des Himmels verehrt; achtmal wird sie nach dem Rosenkranzgebet in der Lauretanischen Litanei als Königin angerufen: als Königin der Engel, der Patriarchen, der Propheten, der Apostel, der Märtyrer, der Bekenner, der Jungfrauen, aller Heiligen und der Familien. Der Rhythmus dieser uralten Anrufungen und tägliche Gebete wie das Salve Regina zu verstehen, daß die allerseligste Jungfrau als unsere Mutter beim Sohn Jesus in der Herrlichkeit des Himmels im täglichen Ablauf unseres Lebens stets bei uns ist. Der Titel »Königin« ist also ein Titel des Vertrauens, der Freude, der Liebe. Und wir wissen, daß sie, die das Schicksal der Welt zum Teil in ihren Händen hält, gut ist, uns liebt und uns in unseren Schwierigkeiten beisteht.

Liebe Freunde, die Verehrung der Gottesmutter ist ein wichtiges Element des geistlichen Lebens. In unserem Gebet wollen wir uns stets vertrauensvoll an sie wenden. Maria wird nicht säumen, bei ihrem Sohn für uns Fürbitte einzulegen. Indem wir auf sie schauen, wollen wir ihren Glauben nachahmen, die volle Bereitschaft für den Liebesplan Gottes, die großherzige Annahme Jesu. Lernen wir von Maria zu leben. Maria ist als Königin des Himmels Gott nahe, aber sie ist auch die Mutter, die einem jeden von uns nahe ist, die uns liebt und unsere Stimme hört. Danke für die Aufmerksamkeit.

* * *

Mit Freude grüße ich alle Pilger und Besucher deutscher Sprache, die zu dieser Audienz nach Castel Gandolfo gekommen sind. Die Kirche feiert heute den Gedenktag Maria Königin. Es ist der achte Tag nach dem Hochfest ihrer Aufnahme in den Himmel. In dem dogmatischen Text Lumen gentium des Zweiten Vatikanischen Konzils wird gesagt: »Maria wurde als Königin des Alls vom Herrn erhöht, um vollkommener ihrem Sohn gleichgestaltet zu sein, dem Herrn der Herren« (LG 59). Das Königtum Christi, wir wissen es, ist ganz durchwoben von Demut, Dienen, Liebe und unterscheidet sich so von irdischen Reichen und Machtblöcken. Das gleiche gilt für Maria: Sie ist Königin im Dienst für Gott und für die Menschen. Sie ist eine Königin der Liebe, die ihre Hingabe an Gott lebt und so in den Plan der Erlösung Gottes für die Menschen eintritt. Als Königin des Himmels ist sie Gott ganz nahe. Aber weil sie Gott nahe ist, ist sie uns nahe. Als eine Mutter, die uns liebt und kennt, will sie uns allen nahe sein. Ihr mütterlicher Segen möge euch auf allen euren Wegen begleiten.



Castel Gandolfo

Mittwoch, 29. August 2012

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Liebe Brüder und Schwestern!

Auf diesen letzten Mittwoch im Monat August fällt der liturgische Gedenktag des hl. Johannes des Täufers, des Vorläufers Jesu. Im Römischen Kalender ist er der einzige Heilige, vom dem sowohl die Geburt, am 24. Juni, als auch der Tod durch das Martyrium gefeiert wird. Der heutige Gedenktag geht auf die Weihe einer Krypta in Sebaste in Samaria zurück, wo bereits in der Mitte des 4. Jahrhunderts sein Haupt verehrt wurde. Der Kult dehnte sich dann unter dem Titel »Enthauptung Johannes’ des Täufers« auf Jerusalem, auf die Kirchen des Ostens und nach Rom aus. Im Römischen Martyrologium wird eine zweite Auffindung der kostbaren Reliquie erwähnt, die bei diesem Anlaß in die Kirche »San Silvestro a Campo Marzio« in Rom überführt wurde.

Diese kleinen historischen Bezüge helfen uns zu verstehen, wie alt und tief die Verehrung des hl. Johannes des Täufers ist. In den Evangelien ist seine Rolle in bezug auf Jesus ganz deutlich. Insbesondere der hl. Lukas spricht über seine Geburt, sein Leben in der Wüste, seine Verkündigung, und der hl. Markus berichtet uns im heutigen Evangelium von seinem dramatischen Tod.

Johannes der Täufer beginnt mit seiner Verkündigung unter Kaiser Tiberius im Jahr 27/28 n. Chr., und er fordert die Menschen, die herbeigekommen sind, um ihn zu hören, deutlich auf, den Weg für die Aufnahme des Herrn zu bereiten, die krummen Wege des eigenen Lebens durch eine radikale Umkehr des Herzens gerade zu machen (vgl.
Lc 3,4). Der Täufer beschränkt sich jedoch nicht darauf, Buße und Umkehr zu predigen, sondern er erkennt Jesus als das »Lamm Gottes«, das gekommen ist, um die Sünde der Welt hinwegzunehmen (vgl. Jn 1,29), und hat so die tiefe Demut, auf Jesus, den wahren Gesandten Gottes, zu zeigen und selbst zurückzutreten, damit Christus wachsen kann, gehört werden kann und man ihm nachfolgen kann. Als letzte Tat bezeugt der Täufer mit dem Blut seine Treue zu den Geboten Gottes, ohne nachzugeben oder zurückzuweichen, und erfüllt so seine Sendung bis ins Letzte. Der hl. Beda, ein Mönch des 8. Jahrhunderts, sagt in seinen Predigten: Der hl. Johannes gab für [Christus] sein Leben hin, auch wenn ihm nicht geboten wurde, Jesus Christus zu verleugnen. Ihm wurde nur geboten, die Wahrheit zu verschweigen (vgl. Hom. 23: CCL 122,354). Und er verschwieg die Wahrheit nicht und starb so für Christus, der die Wahrheit ist. Gerade aus Liebe zur Wahrheit ließ er sich nicht auf Kompromisse ein und hatte keine Angst, starke Worte an jene zu richten, die den Weg Gottes verloren hatten.

Wir sehen diese große Gestalt, diese Kraft im Leiden, im Widerstand gegen die Mächtigen. Wir fragen: Woraus entsteht dieses Leben, diese so starke, so aufrichtige, so konsequente Innerlichkeit, die so vollkommen für Gott hingegeben wurde und dafür, Jesus den Weg zu bereiten? Die Antwort ist einfach: aus der Beziehung zu Gott, aus dem Gebet, dem Leitmotiv seiner gesamten Existenz. Johannes ist das Geschenk Gottes, um das seine Eltern, Zacharias und Elisabet, lange gebetet hatten (vgl. Lc 1,13): ein großes, menschlich nicht zu erhoffendes Geschenk, denn beide waren in vorgerücktem Alter, und Elisabet war unfruchtbar (vgl. Lc 1,7). Aber für Gott ist nichts unmöglich (vgl. Lc 1,36).

Die Ankündigung dieser Geburt geschieht am Ort des Gebets, im Tempel von Jerusalem, ja sie geschieht als Zacharias das große Vorrecht zufällt, in das Allerheiligste des Tempels einzutreten, um dem Herrn das Rauchopfer darzubringen (vgl. ). Auch die Geburt des Täufers ist vom Gebet geprägt: Der Gesang der Freude, des Lobpreises und des Dankes, den Zacharias zum Herrn erhebt und den wir jeden Morgen in der Laudes sprechen, das »Benedictus«, preist das Wirken Gottes in der Geschichte und verweist prophetisch auf die Sendung seines Sohnes Johannes: dem menschgewordenen Sohn Gottes voranzugehen und ihm den Weg zu bereiten (vgl. ).

Die gesamte Existenz des Vorläufers Jesu wird von der Beziehung zu Gott genährt, besonders die Zeit, die er in der Wüste verbringt (vgl. Lc 1,80); die Wüste ist der Ort der Versuchung, aber auch der Ort, an dem der Mensch die eigene Armut spürt, weil er ohne Halt und materielle Sicherheiten ist und versteht, daß der einzige feste Bezugspunkt Gott selbst bleibt. Aber Johannes der Täufer ist nicht nur ein Mann des Gebets, des ständigen Kontakts mit Gott, sondern er führt auch zu dieser Beziehung hin. Als der Evangelist Lukas das Gebet wiedergibt, das Jesus die Jünger lehrt, das »Vaterunser«, merkt er an, daß die Bitte von den Jüngern mit diesen Worten formuliert wird: »Herr, lehre uns beten, wie schon Johannes seine Jünger beten gelehrt hat« (vgl. Lc 11,1).

Liebe Brüder und Schwestern, die Feier des Martyriums des hl. Johannes des Täufers erinnert auch uns, die Christen unserer heutigen Zeit, daran, daß man gegenüber der Liebe zu Christus, zu seinem Wort, zur Wahrheit keine Kompromisse eingehen kann. Die Wahrheit ist Wahrheit, es gibt keine Kompromisse. Das christliche Leben verlangt sozusagen das »Martyrium« der täglichen Treue zum Evangelium, also den Mut, Christus in uns wachsen zu lassen und an Christus unser Denken und unser Handeln auszurichten. Das kann in unserem Leben jedoch nur dann geschehen, wenn die Beziehung zu Gott gefestigt ist. Das Gebet ist keine verlorene Zeit, es bedeutet nicht, den Tätigkeiten – auch den Tätigkeiten des Apostolats – Platz wegzunehmen, sondern genau das Gegenteil ist der Fall: Nur wenn wir in der Lage sind, ein treues, beständiges, vertrauensvolles Gebets - leben zu haben, dann wird Gott selbst uns die Fähigkeit und die Kraft schenken, glücklich und in Frieden zu leben, die Schwierigkeiten zu überwinden und ihn mit Mut zu bezeugen. Der hl. Johannes der Täufer möge für uns Fürsprache halten, damit wir stets den Primat Gottes in unserem Leben zu wahren wissen. Danke.

* * *

Ein herzliches Grüß Gott sage ich allen Pilgern und Besuchern deutscher Sprache. Die Kirche feiert heute das Gedächtnis des Martyriums von Johannes dem Täufer. Er war es, der Christus als das »Lamm Gottes« bezeichnet hat, das die Sünde der Welt hinwegnimmt (Jn 1,29). Bis zum Vergießen seines eigenen Blutes hat er die Treue zum Herrn gehalten. Der heilige Beda sagt, er wurde nicht aufgefordert, Christus zu verleugnen; aber er wurde aufgefordert, die Wahrheit zu verschweigen. Und das hat er nicht getan. Er ist für die Wahrheit gestorben, und so ist er für Christus gestorben. In der Zurückgezogenheit und Stille der Wüste ist er in der inneren Freundschaft zu Gott gewachsen und gereift. In dieser Zeit ist Gott selbst zu seiner Kraft, zur Mitte seines Lebens geworden. So zeigt uns Johannes der Täufer, daß die Beziehung zu Gott, die innere Beziehung zu ihm wesentlich ist und daß Beten nie verlorene Zeit ist. Im Gegenteil. Durch das Gebet befähigt uns Gott, Schwierigkeiten zu überwinden und ihn mit Mut zu bezeugen, auch in unserer Zeit. Gott segne euch alle!



Aula Paolo VI

Mittwoch, 5. September 2012

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Liebe Brüder und Schwestern!

Heute nehmen wir nach der Sommerpause die Audienzen im Vatikan wieder auf und setzen jene »Schule des Gebets« fort, die ich gemeinsam mit euch in diesen Mittwochskatechesen erkunde. Heute möchte ich über das Gebet im Buch der Offenbarung sprechen, das – wie ihr wißt – das letzte Buch des Neuen Testaments ist. Es ist ein schwieriges Buch, das jedoch einen großen Reichtum enthält. Es bringt uns in Berührung mit dem lebendigen und leidenschaftlichen Gebet der christlichen Gemeinde, die »am Tag des Herrn« (
Ap 1,10) versammelt ist: denn auf dieser Grundspur bewegt sich der Text.

Ein Vorleser trägt der Gemeinde eine Botschaft vor, die dem Evangelisten Johannes vom Herrn anvertraut wurde. Der Vorleser und die Gemeinde stellen sozusagen die beiden Hauptakteure im Ablauf des Buches dar; sie werden gleich zu Anfang mit einem feierlichen Segenswunsch bedacht: »Selig, wer diese prophetischen Worte vorliest und wer sie hört« (1,3). Aus dem beständigen Dialog zwischen ihnen tritt eine Symphonie des Gebets hervor, die sich mit großer Formenvielfalt bis zum Schluß entfaltet. Wenn wir dem Vorleser, der die Botschaft vorträgt, zuhören und der Gemeinde, die darauf reagiert, zuhören und sie beobachten, dann wird ihr Gebet gleichermaßen zum unsrigen.

Der erste Teil der Apokalypse (1,4–3,22) zeigt in der Haltung der betenden Gemeinde drei aufeinanderfolgende Phasen auf. Die erste (1,4–8) besteht aus einem Dialog, der sich – einzigartig im Neuen Testament – zwischen der soeben versammelten Gemeinde und dem Vorleser abspielt, der einen Segenswunsch an sie richtet: »Gnade sei mit euch und Friede« (1,4). Anschließend hebt der Vorleser die Herkunft dieses Wunsches hervor. Er kommt von der Dreifaltigkeit: vom Vater, vom Heiligen Geist, von Jesus Christus, die gemeinsam Anteil daran haben, den Schöpfungs- und Heilsplan für die Menschheit voranzubringen.

Die Gemeinde hört zu, und als sie den Namen Jesu Christi hört, geht gleichsam ein freudiger Ruck durch sie hindurch, und sie antwortet mit Begeisterung, indem sie den folgenden Lobpreis erhebt: »Er liebt uns und hat uns von unseren Sünden erlöst durch sein Blut; er hat uns zu Königen gemacht und zu Priestern vor Gott, seinem Vater. Ihm sei die Herrlichkeit und die Macht in alle Ewigkeit. Amen« (1,5b–6). Die Gemeinde, von der Liebe Christi umgeben, fühlt sich von den Fesseln der Sünde befreit und erklärt sich zum »Reich« Jesu Christi, das völlig ihm gehört. Sie erkennt die große Sendung, die ihr durch die Taufe anvertraut wurde: die Gegenwart Gottes in die Welt zu tragen. Und sie schließt ihren Lobpreis, indem sie erneut unmittelbar auf Jesus schaut und mit wachsender Begeisterung seine »Herrlichkeit und die Macht«, die Menschheit zu retten, erkennt. Das »Amen« am Ende schließt den Lobgesang auf Christus ab. Bereits diese ersten vier Verse enthalten einen großen Reichtum an Hinweisen für uns; sie sagen uns, daß unser Beten vor allem ein Hören auf Gott sein muß, der zu uns spricht. Von vielen Worten überflutet, sind wir kaum daran gewöhnt zuzuhören und uns vor allem in die innere und äußere Haltung der Stille zu versetzen, um darauf zu achten, was Gott uns sagen will. Diese Verse lehren uns außerdem, daß unser Gebet, das oft nur ein Bitten ist, vielmehr vor allem ein Lob Gottes für seine Liebe sein muß, für das Geschenk Jesu Christi, der uns Kraft, Hoffnung und Heil gebracht hat.

Ein neuer Wortbeitrag des Vorlesers ermahnt dann die Gemeinde, die von der Liebe Christi ergriffen ist, sich zu bemühen, seine Gegenwart im eigenen Leben zu erfassen. Er sagt: »Siehe, er kommt mit den Wolken, und jedes Auge wird ihn sehen, auch alle, die ihn durchbohrt haben; und alle Völker der Erde werden seinetwegen jammern und klagen« (1,7a). Nachdem er in einer »Wolke«, Symbol der Transzendenz, in den Himmel aufgenommen wurde (vgl. Ac 1,9), wird Jesus Christus ebenso wiederkommen wie er zum Himmel hingegangen ist (vgl. Ac 1,11). Dann werden alle Völker ihn erkennen und, wie der hl. Johannes im vierten Evangelium sagt, »sie werden auf den blicken, den sie durchbohrt haben « (19,37). Sie werden an ihre eigenen Sünden denken, die Ursache seiner Kreuzigung, und ebenso wie jene, die auf dem Kalvarienberg unmittelbar daran teilgenommen haben, werden sie sich »an die Brust schlagen« (vgl. Lc 23,48) und ihn um Vergebung bitten, um ihm im Leben nachzufolgen und so die volle Gemeinschaft mit ihm nach seiner endgültigen Wiederkunft vorzubereiten.

Die Gemeinde denkt über diese Botschaft nach und sagt: »Ja, amen« (Ap 1,7). Sie bringt durch ihr »Ja« die volle Annahme des ihr Mitgeteilten zum Ausdruck und bittet, daß dies wahrhaftig Wirklichkeit werden möge. Es ist das Gebet der Gemeinde, die über die Liebe Gottes nachdenkt, die in ihrer höchsten Form am Kreuz offenbar wurde, und bittet, konsequent als Jünger Christi zu leben. Und Gott gibt eine Antwort: »Ich bin das Alpha und das Omega, […] der ist und der war und der kommt, der Herrscher über die ganze Schöpfung« (1,8). Gott, der sich als Beginn und Abschluß der Geschichte offenbart, nimmt die Bitte der Gemeinde an und nimmt sie sich zu Herzen. Mit seiner Liebe ist er im menschlichen Leben in der Gegenwart und in der Zukunft ebenso wie in der Vergangenheit bis zum Erreichen des Endziels gegenwärtig und tätig und wird es immer sein. Das ist Gottes Verheißung. Und hier finden wir ein weiteres wichtiges Element: Das beständige Gebet weckt in uns das Bewußtsein für die Gegenwart des Herrn in unserem Leben und in der Geschichte, und seine Gegenwart trägt uns, führt uns und schenkt uns große Hoffnung auch in der Finsternis gewisser menschlicher Lebensumstände. Außerdem bedeutet das Gebet – auch das in der radikalsten Einsamkeit – niemals, sich zu isolieren, und es ist niemals unfruchtbar, sondern jedes Gebet ist der Lebenssaft, der ein immer engagierteres und konsequenteres christliches Leben nährt.

Die zweite Phase des Gebets der Gemeinde (1,9–22) vertieft die Beziehung zu Jesus Christus noch weiter: Der Herr läßt sich sehen, er spricht, handelt, und die Gemeinschaft, die ihm immer näher ist, hört zu, reagiert und nimmt an. In der vom Vorleser vorgetragenen Botschaft berichtet der hl. Johannes von einer persönlichen Erfahrung seiner Begegnung mit Christus: Er befindet sich auf der Insel Patmos »um des Wortes Gottes willen und des Zeugnisses für Jesus« (1,9), und es ist der »Tag des Herrn« (1,10a), der Sonntag, an dem die Auferstehung gefeiert wird. Und der hl. Johannes wird »vom Geist ergriffen« (1,10a). Der Heilige Geist durchdringt und erneuert ihn, er erweitert seine Fähigkeit, Jesus anzunehmen, der ihn auffordert zu schreiben. Das Gebet der Gemeinde, die zuhört, nimmt nach und nach eine kontemplative Form an, bei der die Verben »sie sieht«, »sie schaut« den Takt angeben: Sie betrachtet also das, was der Vorleser ihr vorträgt, verinnerlicht es und macht es sich zu eigen.

Johannes hört »eine Stimme, laut wie eine Posaune « (1,10b): Die Stimme gebietet ihm, eine Botschaft zu schicken »an die sieben Gemeinden« (1,11) in Kleinasien und durch sie an alle Gemeinden aller Zeiten, vereint mit ihren Hirten. Der Ausdruck »Stimme … wie eine Posaune«, der dem Buch Exodus entnommen ist (vgl. 20,18), erinnert an die göttliche Offenbarung gegenüber Mose auf dem Berg Sinai und zeigt die Stimme Gottes an, der von seinem Himmel herab, aus seiner Transzendenz heraus spricht. Hier wird sie dem auferstandenen Jesus Christus zugeschrieben, der aus der Herrlichkeit des Vaters heraus mit der Stimme Gottes zur betenden Gemeinde spricht. Als Johannes sich umwendet, »weil ich sehen wollte, wer zu mir sprach« (1,12), sieht er »sieben goldene Leuchter und mitten unter den Leuchtern einen, der wie ein Mensch aussah« (1,12–13), ein dem Johannes besonders vertrauter Begriff, der auf Jesus selbst verweist. Die goldenen Leuchter mit ihren brennenden Kerzen zeigen die Kirche aller Zeiten an, in Gebetshaltung während der Liturgie: Der auferstandene Jesus, der »Menschensohn«, befindet sich mitten in ihr, und bekleidet mit den Gewändern des Hohenpriesters des Alten Testaments übt er die priesterliche Funktion des Mittlers beim Vater aus. In der symbolischen Botschaft des Johannes folgt eine leuchtende Erscheinung des auferstandenen Christus, mit den Eigenschaften Gottes, die wiederholt im Alten Testament auftauchen. Es ist die Rede von Haaren »weiß wie weiße Wolle, leuchtend weiß wie Schnee« (1,14), Symbol der Ewigkeit Gottes (vgl. Dan Da 7,9) und der Auferstehung.

Ein zweites Symbol ist das des Feuers, das im Alten Testament oft auf Gott bezogen ist, um zwei Eigenschaften aufzuzeigen. Die erste ist die eifersüchtige Intensität seiner Liebe, die seinen Bund mit dem Menschen beseelt (vgl. Dtn Dt 4,24). Und dieselbe glühende Intensität der Liebe liest man im Blick des auferstandenen Jesus: »Seine Augen [waren] wie Feuerflammen« (Ap 1,14). Die zweite ist die unaufhaltsame Fähigkeit, das Böse zu überwinden, wie ein »verzehrendes Feuer« (Dt 9,3). So glänzen auch »die Beine« Jesu, der auf dem Weg ist, dem Bösen zu begegnen und es zu zerstören, »wie Golderz« (Ap 1,15). Die Stimme Jesu Christi, »wie das Rauschen von Wassermassen « (1,15c), hat das gewaltige Getöse der »Herrlichkeit des Gottes Israels«, die sich auf Jerusalem zu bewegt, wovon der Prophet Ezechiel spricht (vgl. 43,2). Es folgen noch drei symbolische Elemente, die zeigen, was der auferstandene Jesus für seine Kirche tut: Er hält sie fest in seiner rechten Hand – ein sehr wichtiges Bild: Jesus hält die Kirche in seiner Hand – er spricht zu ihr mit der durchdringenden Kraft eines scharfen Schwertes und zeigt ihr den Glanz seiner Göttlichkeit: »Sein Gesicht leuchtete wie die machtvoll strahlende Sonne« (Ap 1,16). Johannes ist so ergriffen von dieser wunderbaren Erfahrung des Auferstandenen, daß er ohnmächtig wird und wie tot niederfällt.

Nach dieser Offenbarungserfahrung hat der Apostel den Herrn Jesus vor sich, der mit ihm spricht, ihn beruhigt, ihm eine Hand auf das Haupt legt, ihm seine Identität als der auferstandene Gekreuzigte enthüllt und ihm die Aufgabe anvertraut, seine Botschaft den Gemeinden zu übermitteln (vgl. ). Das ist etwas Schönes, dieser Gott, vor dem er ohnmächtig wird, wie tot niederfällt: Er ist der Freund des Lebens, und er legt ihm die Hand auf das Haupt. Und so wird es auch für uns sein: Wir sind Freunde Jesu. Danach wird die Offenbarung des auferstandenen Gottes, des auferstandenen Christus nicht schrecklich sein, sondern es wird die Begegnung mit dem Freund sein. Auch die Gemeinde erlebt mit Johannes den besonderen lichtvollen Augenblick vor dem Herrn, jedoch verbunden mit der Erfahrung der täglichen Begegnung mit Jesus, in der sie den Reichtum der Berührung mit dem Herrn spürt, der jeden Raum des Lebens erfüllt.

In der dritten und letzten Phase des ersten Teils der Apokalypse () trägt der Vorleser der Gemeinde eine siebenfältige Botschaft vor, in der Jesus in erster Person spricht. An sieben Gemeinden gerichtet, die in Kleinasien um Ephesus herum gelegen sind, geht die Rede Jesu von der besonderen Situation einer jeden Gemeinde aus, um sich dann auf die Gemeinden jeder Zeit auszuweiten. Jesus stellt sich sofort mitten in die Situation einer jeden Gemeinde hinein, hebt ihre Licht- und Schattenseiten hervor und richtet einen dringenden Appell an sie: »Kehr um« (2,5.16; 3,19c); »halte fest, was du hast« (3,11); »kehr zurück zu deinen ersten Werken« (2,5); »mach also Ernst und kehr um« (3,19b)… Wenn dieses Wort Jesu mit Glauben angehört wird, beginnt es sofort zu wirken: Die betende Gemeinde, die das Wort des Herrn annimmt, wird verwandelt. Alle Gemeinden müssen dem Herrn aufmerksam zuhören und sich dem Geist öffnen, wie Jesus nachdrücklich fordert, indem er sieben Mal das Gebot wiederholt: »Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt« (2,7.11.17.29; 3,6.13.22). Die Gemeinde hört die Botschaft und erhält einen Ansporn zur Buße, zur Umkehr, zur Beharrlichkeit, zum Wachsen in der Liebe, zur Orientierung für den Weg.

Liebe Freunde, die Offenbarung zeigt uns eine im Gebet versammelte Gemeinde, denn gerade im Gebet spüren wir zunehmend die Gegenwart Jesu bei uns und in uns. Je mehr und je besser wir mit Beständigkeit, mit Intensität beten, desto mehr werden wir ihm ähnlich und tritt er wirklich in unser Leben ein und führt es, schenkt ihm Freude und Frieden. Und je mehr wir Jesus kennen, lieben und ihm nachfolgen, desto mehr verspüren wir das Bedürfnis, im Gebet bei ihm zu verweilen und Ruhe, Hoffnung und Kraft in unserem Leben zu empfangen. Danke für die Aufmerksamkeit.


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Ganz herzlich grüße ich alle deutschsprachigen Pilger und Besucher, besonders die ständigen Diakone und die Kandidaten zum Diakonat der Diözese Gurk-Klagenfurt mit Bischof Schwarz sowie die Stadtjugendkapelle Landsberg am Lech. Christus lädt uns ein, die Freundschaft mit ihm im Gebet zu pflegen und so mit ihm gemeinsam eine bessere Zukunft zu gestalten. Bitten wir ihn um seinen Heiligen Geist, der die Liebe in der Welt zum Sieg führt. Euch allen wünsche ich Gottes reichsten Segen und schöne Tage hier in Rom!



Aula Paolo VI

Mittwoch, 12. September 2012

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Liebe Brüder und Schwestern!

Am vergangenen Mittwoch habe ich über das Gebet im ersten Teil des Buches der Offenbarung gesprochen. Heute gehen wir zum zweiten Teil des Buches über, und während das Gebet im ersten Teil auf das innerkirchliche Leben ausgerichtet ist, so gilt die Aufmerksamkeit im zweiten Teil der ganzen Welt. Denn die Kirche pilgert in der Geschichte, sie ist Teil davon, dem Plan Gottes gemäß. Die Gemeinde hat durch das Hören der vom Vorleser vorgetragenen Botschaft des Johannes ihre Aufgabe wiederentdeckt, als »Priester Gottes und Christi« (
Ap 20,6 vgl. Ap 1,5 Ap 5,10) an der Entfaltung des Reiches Gottes mitzuwirken, und öffnet sich zur Welt der Menschen hin. Und hier werden zwei Lebensformen deutlich, die in dialektischem Verhältnis zueinander stehen: Die erste könnten wir als das »System Christi« bezeichnen, dem die Gemeinde glücklicherweise angehört, und die zweite als das »irdische System gegen das Reich und gegen den Bund, das entstanden ist unter dem Einfluß des Bösen«, der die Menschen täuscht und so eine Welt verwirklichen will, die zu der von Christus und von Gott gewollten Welt im Gegensatz steht (vgl. Päpstliche Bibelkommission, Bibel und Moral. Biblische Wurzeln des christlichen Handelns, 70). Die Gemeinde muß also die Geschichte, die sie erlebt, in der Tiefe lesen können und dadurch lernen, die Ereignisse mit dem Glauben zu erkennen, um durch ihr Handeln an der Entfaltung des Reiches Gottes mitzuwirken. Und dieses Lesen und Erkennen ist ebenso wie das Handeln mit dem Gebet verbunden.

Nach dem wiederholten Aufruf Christi, der im ersten Teil der Apokalypse sieben Mal gesagt hat: »Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt« (vgl. Ap 2,7 Ap 2,11 Ap 2,17 Ap 2,29 Ap 3,6 Ap 3,13 Ap 3,22), wird die Gemeinde zunächst eingeladen, in den Himmel aufzusteigen, um die Wirklichkeit mit den Augen Gottes zu betrachten; und hier finden wir drei Symbole, Bezugspunkte, von denen ausgehend man die Geschichte lesen kann: den Thron Gottes, das Lamm und das Buch (vgl. ).

Das erste Symbol ist der Thron, auf dem eine Gestalt sitzt, die Johannes nicht beschreibt, weil sie jede menschliche Vorstellung übersteigt; er kann nur auf das Gefühl der Schönheit und der Freude hinweisen, das er vor ihr empfindet. Diese geheimnisvolle Gestalt ist Gott, der allmächtige Gott, der nicht in seinem Himmel verschlossen geblieben ist, sondern der auf den Menschen zugekommen ist und einen Bund mit ihm geschlossen hat: Gott, der auf geheimnisvolle, aber reale Weise in der Geschichte seine Stimme hören läßt, symbolisiert von Blitzen und Donner. Um den Thron Gottes herum tauchen verschiedene Elemente auf, wie die 24 Ältesten und die vier Lebewesen, die dem einzigen Herrn über die Geschichte unablässig den Lobpreis darbringen. Das erste Symbol ist also der Thron. Das zweite Symbol ist das Buch, das Gottes Plan über die Ereignisse und über die Menschen enthält; es ist mit sieben Siegeln hermetisch verschlossen, und niemand ist in der Lage, es zu lesen. Angesichts dieser Unfähigkeit des Menschen, den Plan Gottes zu erkennen, verspürt Johannes eine tiefe Traurigkeit, die ihn zum Weinen bringt. Es läßt sich jedoch Abhilfe schaffen von der Verlorenheit des Menschen gegenüber dem Geheimnis der Geschichte: Einer ist in der Lage, das Buch zu öffnen und es zu erhellen.

Und hier erscheint das dritte Symbol: Christus, das im Kreuzesopfer geschlachtete Lamm, das jedoch aufrecht steht, als Zeichen seiner Auferstehung. Und das Lamm öffnet nach und nach die Siegel und enthüllt den Plan Gottes, den tiefen Sinn der Geschichte. Was sagen diese Symbole? Sie rufen uns den Weg in Erinnerung, auf dem wir Ereignisse der Geschichte und unseres eigenen Lebens lesen können. Wenn wir den Blick auf Gottes Himmel richten, in der ständigen Beziehung zu Christus, und ihm im persönlichen und gemeinschaftlichen Gebet unser Herz und unseren Verstand öffnen, dann lernen wir, die Dinge auf neue Art zu sehen und ihren wahren Sinn zu erfassen. Das Gebet ist wie ein offenes Fenster, das uns erlaubt, den Blick auf Gott gerichtet zu halten – nicht nur, um uns das Ziel in Erinnerung zu rufen, auf das wir zugehen, sondern auch, um zuzulassen, daß der Wille Gottes unseren irdischen Weg erleuchte und uns helfe, ihn intensiv und engagiert zu leben. Auf welche Weise führt der Herr die christliche Gemeinschaft zu einem tieferen Verständnis der Geschichte? Vor allem indem er sie auffordert, die Gegenwart, in der wir leben, realistisch zu betrachten.

Das Lamm öffnet also die ersten vier Siegel des Buches, und die Kirche sieht die Welt, in die sie eingebunden ist, eine Welt, in der es verschiedene negative Elemente gibt. Es gibt die Übel, die der Mensch verursacht, wie die Gewalt, die aus dem Wunsch entsteht zu besitzen, einander überlegen zu sein, so daß man am Ende einander sogar tötet (zweites Siegel) – oder die Ungerechtigkeit, weil die Menschen die Gesetze, die sie sich gegeben haben, nicht beachten (drittes Siegel). Hinzu kommen die Übel, die der Mensch erleiden muß, wie Tod, Hunger, Krankheit (viertes Siegel). Angesichts dieser oft dramatischen Wirklichkeiten ist die kirchliche Gemeinschaft aufgefordert, nie die Hoffnung zu verlieren, fest zu glauben, daß die scheinbare Allmacht des Bösen auf die wahre Allmacht Gottes stößt. Und das erste Siegel, das das Lamm öffnet, enthält genau diese Botschaft. Johannes berichtet: »Da sah ich ein weißes Pferd; und der, der auf ihm saß, hatte einen Bogen. Ein Kranz wurde ihm gegeben, und als Sieger zog er aus, um zu siegen« (Ap 6,2). In die Geschichte des Menschen ist die Kraft Gottes eingetreten, der nicht nur in der Lage ist, das Böse auszugleichen, sondern sogar, es zu überwinden. Die weiße Farbe erinnert an die Auferstehung: Gott ist so nahe gekommen, daß er in die Finsternis des Todes hinabgestiegen ist, um sie mit dem Glanz seines göttlichen Lebens zu erleuchten; er hat das Übel der Welt auf sich genommen, um es mit dem Feuer seiner Liebe zu läutern.

Wie kann man in diesem christlichen Verständnis der Wirklichkeit wachsen? Die Apokalypse sagt uns, daß das Gebet in jedem von uns und in unseren Gemeinschaften diese Vision des Lichtes und der tiefen Hoffnung nährt: Sie lädt uns ein, uns nicht vom Bösen überwinden zu lassen, sondern das Böse mit dem Guten zu überwinden, auf den gekreuzigten und auferstandenen Christus zu schauen, der uns an seinem Sieg teilhaben läßt. Die Kirche lebt in der Geschichte, sie verschließt sich nicht in sich selbst, sondern geht inmitten von Schwierigkeiten und Leiden mutig ihren Weg und sagt mit Nachdruck, daß das Böse letztlich das Gute nicht überwindet, die Dunkelheit den Glanz Gottes nicht trübt. Das ist ein wichtiger Punkt für uns: Als Christen können wir nie Pessimisten sein; wir wissen, daß uns auf dem Weg unseres Lebens oft Gewalt, Lüge, Haß, Verfolgung begegnen, aber das entmutigt uns nicht. Vor allem lehrt uns das Gebet, die Zeichen Gottes zu sehen, seine Gegenwart und sein Wirken, ja selbst Lichter des Guten zu sein, die Hoffnung verbreiten und darauf hinweisen, daß der Sieg Gott gehört.

Diese Sichtweise führt dazu, Gott und dem Lamm Dank und Lobpreis entgegenzubringen: Die 24 Ältesten und die vier Lebewesen singen gemeinsam das »neue Lied«, das das Werk Christi preist, der alles neu macht (vgl. Ap 21,5). Diese Erneuerung ist jedoch vor allem ein zu erbittendes Geschenk. Und hier finden wir ein weiteres Element, das das Gebet kennzeichnen muß: den Herrn inständig bitten, daß sein Reich komme, daß der Mensch ein fügsames Herz gegenüber der Herrschaft Gottes haben möge, daß unser Leben und das der Welt an seinem Willen ausgerichtet sei. In der Vision der Apokalypse ist dieses Bittgebet durch ein wichtiges Detail dargestellt: »Die 24 Ältesten« und »die vier Lebewesen« tragen in der Hand zusammen mit der Harfe, die ihren Gesang begleitet, »goldene Schalen voll von Räucherwerk« (5,8a). Das, so wird erläutert, »sind die Gebete der Heiligen« (5,8b), also jener, die bereits bei Gott sind, aber auch die von uns allen, die wir uns auf dem Weg befinden. Und wir sehen, daß vor dem Thron Gottes ein Engel eine goldene Räucherpfanne in der Hand hält, in die er unablässig Weihrauchkörner gibt – also unsere Gebete –, deren lieblicher Duft zusammen mit den Gebeten dargebracht wird, die zu Gott aufsteigen (vgl. ). Diese Symbolik sagt uns, daß unsere Gebete – mit all ihren Grenzen, ihrer Mühe, Armut, Trockenheit, den Unvollkommenheiten, die sie haben können – gleichsam geläutert werden und Gottes Herz erreichen. Wir dürfen also sicher sein, daß es keine überflüssigen, unnützen Gebete gibt; keines geht verloren. Und sie finden eine Antwort, wenn diese auch manchmal geheimnisvoll ist, denn Gott ist unendliche Liebe und Barmherzigkeit. Der Engel, so schreibt Johannes, nahm »die Räucherpfanne, füllte sie mit glühenden Kohlen, die er vom Altar nahm, und warf sie auf die Erde; da begann es zu donnern und zu dröhnen, zu blitzen und zu beben« (8,5). Dieses Bild bedeutet, daß Gott für unser Bitten nicht unempfänglich ist, er greift ein und läßt auf der Erde seine Macht spüren und seine Stimme hören, er läßt es beben und erschüttert das System des Bösen. Oft hat man angesichts des Bösen das Gefühl, nichts tun zu können, aber gerade unser Gebet ist die erste und wirksamste Antwort, die wir geben können und die unser tägliches Bemühen, das Gute zu verbreiten, stärker macht. Gottes Kraft macht unsere Schwachheit fruchtbar (vgl. ).

Ich möchte schließen mit einigen Worten über den abschließenden Dialog (vgl. Ap 22,6 – 21). Jesus wiederholt mehrmals: »Siehe, ich komme bald« (Ap 22,7 Ap 22,12). Dies verweist nicht nur auf die Zukunft, das Ende der Zeiten, sondern auch auf die Gegenwart: Jesus kommt, er errichtet seine Wohnstatt in dem, der an ihn glaubt und ihn annimmt. Die vom Heiligen Geist geleitete Gemeinde fordert Jesus daher stets von neuem auf, immer näher zu kommen: »Komm!« (Ap 22,17): Sie ist gleichsam die »Braut« (22,17), die sich brennend nach der Fülle der Bräutlichkeit sehnt. Zum dritten Mal bittet sie: »Amen. Komm, Herr Jesus!« (22,20b); und der Vorleser schließt mit einem Wort, das das Bewußtsein um diese Gegenwart offenbart: »Die Gnade des Herrn Jesus sei mit allen!« (22,21).

Trotz der sehr komplexen Symbole bezieht die Apokalypse uns in ein sehr reiches Gebet ein; auch wir hören und loben daher den Herrn, wir danken ihm, betrachten ihn, bitten ihn um Vergebung. Die Struktur des großen gemeinschaftlichen liturgischen Gebets ist auch ein starker Appell, die außerordentliche und verwandelnde Kraft wiederzuentdecken, die die Eucharistie besitzt. Ich möchte insbesondere nachdrücklich dazu auffordern, der heiligen Messe am Tag des Herrn, dem Sonntag, dem wahren Mittelpunkt der Woche treu zu sein! Der Reichtum des Gebets in der Apokalypse läßt uns an einen Diamanten denken, der eine Reihe faszinierender Facetten besitzt, dessen Kostbarkeit jedoch in der Reinheit des einen zentralen Kerns liegt. So lassen die eindrucksvollen Formen des Gebets, denen wir in der Apokalypse begegnen, die einzigartige und unsagbare Kostbarkeit Jesu Christi erstrahlen. Danke.


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Mit Freude grüße ich alle Brüder und Schwestern deutscher Sprache, vor allem die Pilger der Loretto-Bewegung aus Österreich. Das Gebet läßt uns Gottes Plan in der Geschichte erkennen und gibt uns Kraft, am Kommen des Reiches Gottes mitzuwirken. Ich bitte euch heute besonders, mich auf meiner Reise in den Libanon mit eurem Gebet zu begleiten. Euer Beten wird dazu beitragen, die Christen im Nahen Osten im Glauben zu stärken. Vertrauen wir alle auf die Kraft des Gebets. Vergelt’s Gott!



Aula Paolo VI

Mittwoch, 19. September 2012: Apostolische Reise in den Libanon


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