ANSPRACHE 2008 Januar 2008 4

AN DIE ANGEHÖRIGEN DES SICHERHEITSINSPEKTORATS BEIM VATIKAN

Freitag, 11. Januar 2008


Liebe Freunde!


5 Die Begegnung mit euch, den Beamten des Sicherheitsinspektorats beim Vatikan, ist bereits zu einer erwarteten und ersehnten Zusammenkunft zum Beginn des neuen Jahres geworden. Ich freue mich, euch zu empfangen und begrüße euch von Herzen. Gleichzeitig nehme ich die Gelegenheit wahr, euch erneut meine Wertschätzung und meine Dankbarkeit zum Ausdruck zu bringen für den Dienst, den ihr täglich verrichtet. Ich grüße zunächst den Präfekten Salvatore Festa, den Polizeipräsidenten von Rom, Marcello Fulvi, sowie Dr. Vincenzo Caso, dem ich für die freundlichen Worte danke, die er an mich gerichtet hat, und dem ich meine Dankbarkeit bekunde für die Arbeit, die er in diesen Jahren als Generalinspektor geleistet hat. Mein besonderer und ehrerbietiger Gruß gilt auch dem Polizeipräsidenten, Präfekt Antonio Manganelli. Außerdem wende ich mich freundschaftlich an die übrigen Beamten des Inspektorats der Polizei des italienischen Staates beim Vatikan, die heute nicht bei uns sein konnten, die aber bei diesem so tiefempfundenen Ereignis im Geiste mit uns vereint sind. Ich freue mich, allen und jedem meine besten Wünsche für das soeben begonnene Jahr zum Ausdruck zu bringen, und in diese Wünsche schließe ich die jeweiligen Familien mit ein.

Gerade an die Familien habe ich in diesem Jahr bei der Vorbereitung der Botschaft zum Weltfriedenstag gedacht, der am 1. Januar gefeiert wird. In diesem Text - er steht unter dem Thema: »Die Menschheitsfamilie, eine Gemeinschaft des Friedens« - habe ich gesagt: »Die auf die Ehe zwischen einem Mann und einer Frau gegründete natürliche Familie als innige Gemeinschaft des Lebens und der Liebe ist der ›erste Ort der Humanisierung der Person und der Gesellschaft‹, die ›Wiege des Lebens und der Liebe‹. Zu Recht wird darum die Familie als die erste natürliche Gesellschaft bezeichnet, als ›eine göttliche Einrichtung, die als Prototyp jeder sozialen Ordnung das Fundament des Lebens der Personen bildet‹« (Nr. 2).

Ihr, liebe Verantwortliche und Beamte des Inspektorats, begegnet beim Wachdienst, den ihr tagtäglich ausübt, nicht wenigen Familien. Sie kommen aus allen Teilen der Welt hierher, um den Aposteln ihre Ehrerbietung zu erweisen, besonders dem hl. Petrus, auf dessen Glauben Christus die Kirche gegründet hat; sie kommen, um gemeinsam das Bekenntnis dieses Glaubens zu erneuern, um den Vatikan in seinen verschiedenen Bereichen zu besuchen und mit ihnen in Kontakt zu kommen und um an den Audienzen und Feiern teilzunehmen, denen der Nachfolger des Apostels Petrus vorsteht. Ich bin euch dankbar für euren Dienst, der durch Einsatzbereitschaft und Professionalität gekennzeichnet ist, von ständiger Aufmerksamkeit gegenüber den Personen und den Absichten, die sie beseelen, und gleichzeitig von Hilfsbereitschaft, Geduld und Opfergeist. Zusammen mit den Obrigkeiten, die dafür Sorge tragen, die Stadt Rom immer schöner und einladender zu machen, leistet auf diese Weise auch ihr euren Beitrag zu einer fruchtbaren Begegnung und einem harmonischen Zusammenleben zwischen den Einwohnern von Rom und den Gästen, die aus verschiedenen Ländern der Erde kommen!

Wie zahlreich sind die Pilger, denen ihr im Laufe des Jahres begegnet! Ich möchte euch einladen, in jedem von ihnen das Antlitz eines Bruders oder einer Schwester zu erblicken, die Gott auf euren Weg stellt - einen Freund, der euch zwar unbekannt ist, der aber Aufnahme und Hilfe erfahren muß durch geduldiges Zuhören, im Wissen, daß wir alle zu der einen großen Menschheitsfamilie gehören. Ist es etwa nicht wahr, daß wir, wie ich in der soeben erwähnten Botschaft geschrieben habe, nicht zufällig nebeneinander leben? Sind wir etwa nicht als Menschen alle auf demselben Weg und gehen ihn darum als Brüder und Schwestern? Deshalb ist es wesentlich, daß jeder sich bemüht, sein Leben verantwortungsvoll vor Gott zu leben, indem er in ihm den Urquell der eigenen Existenz wie auch jener der anderen erkennt. In Rückbesinnung auf diesen höchsten Ursprung können der unbedingte Wert eines jeden Menschen wahrgenommen und so die Voraussetzungen für den Aufbau einer versöhnten Menschheit geschaffen werden. Es muß ganz deutlich sein: Ohne dieses transzendente Fundament läuft die Gesellschaft Gefahr, nur eine Ansammlung von Nachbarn zu werden, und sie hört auf, eine Gemeinschaft von Brüdern und Schwestern zu sein, die berufen sind, eine große Familie zu bilden (vgl. Nr. 6).

Liebe Freunde, der Herr helfe euch, euren Beruf auszuüben und dabei immer den Idealen treu zu bleiben, an denen er stets ausgerichtet sein muß. Die Gesellschaft braucht Menschen, die ihre Pflicht erfüllen, im Bewußtsein, daß jede Arbeit, jeder Dienst, der gewissenhaft erfüllt wird, zum Aufbau einer gerechteren und wirklich freien Gesellschaft beiträgt. Ich vertraue euch der allerseligsten Jungfrau an, und während ich jedem erneut meinen aufrichtigen Dank ausspreche für den freundlichen Besuch, erteile ich euch und euren Angehörigen gern meinen besonderen Segen.



VORLESUNG VON BENEDIKT XVI. FÜR DIE RÖMISCHE UNIVERSITÄT "LA SAPIENZA"

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Text der Vorlesung, die Papst Benedikt XVI. anlässlich seines Besuches an der Universität "La Sapienza" von Rom am 17. Januar 2008 hätte halten sollen. Der Besuch wurde kurzfristig am 15. Januar 2008 abgesagt.



Magnifizenz,
verehrte Vertreter des politischen und gesellschaftlichen Lebens,
sehr geehrte Dozenten und Verwaltungsangestellte,
liebe Studenten!

Es ist für mich ein Grund zu großer Freude, anläßlich der Eröffnung des akademischen Jahres die Gemeinschaft der Römischen Universität „Sapienza“ zu besuchen. Schon seit Jahrhunderten prägt diese Universität den Weg und das Leben der Stadt Rom, indem sie in allen Wissensgebieten die besten intellektuellen Kräfte Früchte tragen läßt. Sowohl in der Zeit, als die Einrichtung nach der von Papst Bonifatius VIII. gewollten Gründung unmittelbar der kirchlichen Autorität unterstand, als auch später, als das Studium Urbis sich zu einer Institution des italienischen Staates entwickelte, hat Ihre akademische Gemeinschaft ein hohes wissenschaftliches und kulturelles Niveau bewahrt, das sie unter die renommiertesten Universitäten der Welt einreiht. Von jeher betrachtet die Kirche von Rom dieses Universitätszentrum mit Sympathie und Bewunderung und zollt ihm Anerkennung für seine bisweilen schwierige und mühevolle Aufgabe der Forschung und der Ausbildung der jungen Generationen. So hat es auch in den letzten Jahren nicht an bedeutsamen Momenten der Zusammenarbeit und des Dialogs gefehlt. Besonders möchte ich an das weltweite Rektoren-Treffen anläßlich des Jubiläums für die Universitäten erinnern, bei dem Ihre Gemeinschaft nicht nur die Aufnahme und die Organisation übernommen, sondern vor allem den prophetischen und umfassenden Vorschlag der Erarbeitung eines „neuen Humanismus für das dritte Jahrtausend“ vorgelegt hat.

Gerne möchte ich bei dieser Gelegenheit meine Dankbarkeit darüber ausdrücken, daß Ihre Universität mich zu Besuch und Vortrag eingeladen hat. Im Hinblick darauf habe ich mir zuallererst die Frage gestellt: Was kann und soll ein Papst bei einer solchen Gelegenheit sagen? Bei meiner Vorlesung in Regensburg habe ich, gewiß als Papst, aber vor allem auch als ehemaliger Hochschullehrer an meiner eigenen Universität gesprochen und dabei Erinnerungen und Gegenwart miteinander zu verknüpfen versucht. Aber an der „Sapienza“, der alten Universität von Rom, bin ich gerade als Bischof von Rom eingeladen und muß daher als solcher sprechen. Gewiß, die „Sapienza“ war einmal Universität des Papstes, aber heute ist sie eine säkulare Universität mit der Autonomie, welche von ihrer Gründungsidee her immer zum Wesen der Universität gehörte, die allein der Autorität der Wahrheit verpflichtet sein soll. In ihrer Freiheit von politischen und kirchlichen Autoritäten kommt der Universität ihre besondere Funktion gerade auch für die moderne Gesellschaft zu, die einer solchen Institution bedarf.

Ich komme auf meine Ausgangsfrage zurück: Was kann und soll der Papst bei der Begegnung mit der Universität seiner Stadt sagen? Beim Bedenken dieser Frage schien mir, sie schließe zwei andere Fragen ein, deren Klärung von selbst zur Antwort führen müßte. Es ist nämlich zu fragen: Was ist Wesen und Auftrag des Papsttums? Und: Was ist Wesen und Auftrag der Universität? Ich möchte Sie und mich an dieser Stelle nicht mit langen Erörterungen über das Wesen des Papsttums hinhalten. Ein kurzer Hinweis mag genügen. Der Papst ist zuallererst Bischof von Rom und als solcher in der Nachfolge des heiligen Petrus mit einer bischöflichen Verantwortung für die ganze katholische Kirche ausgestattet. Das Wort Bischof - Episkopos, das zunächst so viel wie Aufseher bedeutet, ist schon im Neuen Testament mit dem biblischen Begriff des Hirten verschmolzen worden: Er ist der, der von einem Übersichtspunkt aus aufs Ganze sieht, sich um den rechten Weg und den Zusammenhalt des Ganzen müht. Insofern ist mit dieser Berufsbezeichnung zunächst der Blick aufs Innere der gläubigen Gemeinschaft gerichtet. Der Bischof - der Hirte - ist der Mann, der sich um diese Gemeinschaft kümmert; der sie dadurch beieinanderhält, daß er sie auf dem Weg zu Gott hält, wie ihn dem christlichen Glauben gemäß Christus gezeigt hat - und nicht nur gezeigt hat; Er ist selbst für uns der Weg. Aber diese Gemeinschaft, um die sich der Bischof sorgt, lebt - ob sie nun groß oder klein ist - in der Welt; ihr Zustand, ihr Weg, ihr Beispiel und ihr Wort wirkt sich unweigerlich aufs Ganze der übrigen menschlichen Gemeinschaft aus. Je größer sie ist, desto mehr wird ihr rechter Zustand oder ihr eventueller Verfall sich aufs Ganze der Menschheit auswirken. Wir sehen es heute sehr deutlich, wie der Zustand der Religionen und wie die Situation der Kirche, ihre Krisen und ihre Erneuerungen aufs Ganze der Menschheit einwirken. So ist der Papst gerade als Hirte seiner Gemeinschaft immer mehr auch zu einer Stimme der moralischen Vernunft der Menschheit geworden.

Hier ergibt sich freilich sofort der Einwand, daß der Papst eben doch nicht wirklich von der moralischen Vernunft her spreche, sondern seine Urteile aus dem Glauben beziehe und daher keine Gültigkeit für diejenigen beanspruchen könne, die diesen Glauben nicht teilen. Auf diese Frage wird zurückzukommen sein, denn dabei ergibt sich die ganz grundsätzliche Frage: Was ist Vernunft? Wie weist sich eine Aussage - vor allem eine moralische Norm - als „vernünftig“ aus? An dieser Stelle möchte ich vorerst nur ganz kurz darauf hinweisen, daß John Rawls, obwohl er umfassenden religiösen Lehren den Charakter der „öffentlichen“ Vernunft abspricht, in deren „nicht öffentlicher“ Vernunft immerhin Vernunft sieht, die ihren Trägern nicht einfach im Namen einer säkularistisch verhärteten Rationalität abgesprochen werden dürfe. Ein Kriterium dieser Vernünftigkeit sieht er unter anderem darin, daß solche Lehren aus einer verantworteten und doktrinellen Tradition heraus stammen, in der über lange Zeiträume hinweg hinreichend gute Gründe für die jeweilige Lehre entwickelt wurden. An dieser Aussage erscheint mir wichtig, daß die Erfahrung und Bewährung über Generationen hin - der historische Fundus menschlicher Weisheit - auch ein Zeichen ihrer Vernünftigkeit und ihrer weiter reichenden Bedeutung ist. Gegenüber einer a-historischen Vernunft, die sich nur in einer a-historischen Rationalität selber zu konstruieren versucht, ist die Weisheit der Menschheit als solche - die Weisheit der großen religiösen Traditionen - als Realität zur Geltung zu bringen, die man nicht ungestraft in den Papierkorb der Ideengeschichte werfen kann.

Kehren wir zurück zur Ausgangsfrage. Der Papst spricht als Vertreter einer gläubigen Gemeinschaft, in welcher in den Jahrhunderten ihres Bestehens Weisheit des Lebens gereift ist; als Vertreter einer Gemeinschaft, die zumindest einen Schatz an moralischer Erkenntnis und Erfahrung in sich verwahrt, der für die ganze Menschheit von Bedeutung ist: Er spricht in diesem Sinn als Vertreter moralischer Vernunft.

Aber nun ist zu fragen: Und was ist die Universität? Was ist ihre Aufgabe? Eine gewaltige Frage, zu der ich wiederum nur im Telegrammstil die ein oder andere Anmerkung versuchen kann. Ich denke, man dürfe sagen, der eigentliche innere Ursprung der Universität liege in dem Drang des Menschen nach Erkenntnis. Er will wissen, was das alles ist, was ihn umgibt. Er will Wahrheit. In diesem Sinn kann man das Fragen des Sokrates als den Impuls sehen, aus dem die abendländische Universität geboren wurde. Ich denke etwa - um nur einen Text zu nennen - an das Streitgespräch mit Eutyphron, der dem Sokrates gegenüber die mythische Religion und ihre Frömmigkeit verteidigt. Dem stellt Sokrates die Frage entgegen: „Du glaubst, daß wirklich unter den Göttern gegenseitiger Krieg bestehe und furchtbare Feindschaften und Schlachten... Sollen wir wirklich sagen, Eutyphron, das alles sei wahr?“ (6 b - c). In dieser scheinbar unfrommen Frage, die bei Sokrates freilich aus einer tieferen und reineren Frömmigkeit, aus der Suche nach dem göttlichen Gott kam, haben die Christen der ersten Jahrhunderte sich und ihren Weg wiedererkannt. Sie haben ihren Glauben nicht positivistisch aufgenommen, nicht als Ausweg unerfüllter Wünsche, sondern als den Durchbruch aus dem Nebel der mythologischen Religion zu dem Gott verstanden, der schöpferische Vernunft und zugleich Vernunft als Liebe ist. Deswegen war das Fragen der Vernunft nach dem größeren Gott und nach dem, was der Mensch wirklich ist und soll, für sie nicht eine bedenkliche Form von Unfrömmigkeit, sondern gehörte zum Wesen ihrer Weise der Frömmigkeit. Sie brauchten daher das sokratische Fragen nicht aufzulösen oder beiseite zu schieben, sondern durften, ja mußten es aufnehmen und das Ringen der Vernunft um Erkenntnis der ganzen Wahrheit als Teil ihrer eigenen Identität erkennen. So konnte, mußte im Raum des christlichen Glaubens, in der christlichen Welt die Universität entstehen.

Ein weiterer Schritt ist nötig. Der Mensch will erkennen - er will Wahrheit. Wahrheit ist zunächst eine Sache des Sehens, des Verstehens, dertheoría, wie die griechische Tradition es nennt. Aber Wahrheit ist nie bloß theoretisch. Augustinus hat in seiner Zuordnung der Seligpreisungen der Bergpredigt und der Geistesgaben von
Is 11 scientia und tristitia aufeinander bezogen: Bloßes Wissen, so meint er, macht traurig. Und in der Tat - wer nur alles ansieht und erfährt, was in der Welt geschieht, wird traurig werden. Aber Wahrheit meint mehr als Wissen: Die Erkenntnis der Wahrheit zielt auf die Erkenntnis des Guten. Das ist auch der Sinn des sokratischen Fragens: Was ist das Gute, das uns wahr macht? Die Wahrheit macht uns gut, und das Gute ist wahr: Dies ist der Optimismus, der im christlichen Glauben lebt, weil er des Logos, der schöpferischen Vernunft ansichtig geworden ist, die sich in der Menschwerdung Gottes zugleich als das Gute, als die Güte selbst gezeigt hat.

In der mittelalterlichen Theologie hat es einen eingehenden Disput über das Verhältnis von Theorie und Praxis, über den rechten Zusammenhang von Erkennen und Tun gegeben, den wir hier nicht aufzurollen brauchen. Faktisch stellt die mittelalterliche Universität mit ihren vier Fakultäten diesen Zusammenhang dar. Beginnen wir mit der nach damaligem Verständnis vierten Fakultät, derjenigen der Medizin. Sie wurde zwar mehr als „Kunst“ denn als Wissenschaft betrachtet, aber ihre Einfügung in den Kosmos der Universitas bedeutete doch klar, daß sie im Raum der Rationalität angesiedelt war, daß die Kunst des Heilens unter der Leitung der Vernunft stand und dem Bereich des Magischen entzogen wurde. Heilen ist eine Aufgabe, die immer mehr als den bloßen Verstand verlangt, aber gerade so die Verbindung von Wissen und Können, die Zugehörigkeit zum Raum der Ratio braucht. Unvermeidlich erscheint die Frage nach dem Zusammenhang von Praxis und Theorie, von Erkenntnis und Handeln, in der juristischen Fakultät. Es geht um die rechte Gestaltung der menschlichen Freiheit, die immer Freiheit im Miteinander ist: Das Recht ist Voraussetzung der Freiheit, nicht ihr Gegenspieler. Aber hier erhebt sich sofort die Frage: Wie findet man die Maßstäbe der Gerechtigkeit, die gemeinsam gelebte Freiheit ermöglichen und dem Gutsein des Menschen dienen? An dieser Stelle drängt sich ein Sprung in die Gegenwart auf - die Frage, wie eine Rechtsordnung, die eine Ordnung der Freiheit, der Menschenwürde und der Menschenrechte darstellt, gefunden werden kann. Es ist die Frage, die uns heute in den demokratischen Meinungsbildungen bewegt und die uns zugleich als Frage für die Zukunft der Menschheit bedrängt. Jürgen Habermas drückt, wie mir scheint, einen weitgehenden Konsens des heutigen Denkens aus, wenn er sagt, die Legitimität einer Verfassung als Voraussetzung der Legalität gehe aus zwei Quellen hervor: aus der gleichmäßigen politischen Beteiligung aller Bürger und aus der vernünftigen Form, in der die politischen Auseinandersetzungen ausgetragen werden. Zu dieser „vernünftigen Form“ stellt er fest, daß sie nicht bloß ein Kampf um arithmetische Mehrheiten sein könne, sondern als ein „wahrheitssensibles Argumentationsverfahren“ zu charakterisieren sei. Das ist gut gesagt, aber sehr schwer in politische Praxis umzusetzen. Denn die Vertreter dieses öffentlichen „Argumentationsverfahrens“ sind nun einmal überwiegend die Parteien als Träger der politischen Willensbildung. Faktisch werden sie unausweichlich vor allem auf das Gewinnen von Mehrheiten bedacht sein und damit fast unvermeidlich auf Interessen achten, denen sie Befriedigung versprechen, die aber häufig partikulär sind und nicht wirklich dem Ganzen dienen. Die Wahrheits-Sensibilität wird immer wieder überlagert von der Interessen-Sensibilität. Ich finde es bedeutsam, daß Habermas von der Sensibilität für die Wahrheit als notwendigem Element im politischen Argumentationsprozeß spricht und so den Begriff der Wahrheit wieder in die philosophische und in die politische Debatte einführt.

Aber die Pilatus-Frage wird da unausweichlich: Was ist Wahrheit? Und wie erkennt man sie? Wenn man dafür auf die „öffentliche Vernunft“ verweist, wie Rawls es tut, dann folgt unausweichlich noch einmal die Frage: Was ist vernünftig? Wie weist sich Vernunft als wirkliche Vernunft aus? Jedenfalls wird von da aus sichtbar, daß andere Instanzen in der Suche nach dem Recht der Freiheit, nach der Wahrheit des rechten Miteinander zu Gehör kommen müssen als Parteien und Interessengruppen, deren Bedeutung damit nicht im mindesten bestritten werden soll. So kommen wir auf die Struktur der mittelalterlichen Universität zurück. Neben der Rechtswissenschaft standen da die Fakultäten für Philosophie und Theologie, denen die Suche nach dem Ganzen des Menschseins und so das Wachhalten der Sensibilität für die Wahrheit aufgetragen war. Man könnte geradezu sagen, daß dies der bleibende, wahre Sinn beider Fakultäten ist: Hüter der Sensibilität für die Wahrheit zu sein, den Menschen nicht von der Suche nach der Wahrheit abbringen zu lassen. Aber wie können sie dieser Aufgabe gerecht werden? Das ist eine Frage, um die immer neu gerungen werden muß und die nie einfach zu Ende gestellt und beantwortet ist. So kann auch ich an dieser Stelle nicht eigentlich eine Antwort anbieten, sondern viel eher eine Einladung, mit dieser Frage unterwegs zu bleiben - unterwegs mit den großen Ringenden und Suchenden der ganzen Geschichte, mit ihren Antworten und ihrer über jede einzelne Antwort immer neu hinweisenden Unruhe für die Wahrheit.

Theologie und Philosophie bilden dabei ein eigentümliches Zwillingspaar, in dem keines vom anderen gänzlich zu lösen ist und doch jedes seinen eigenen Auftrag und seine besondere Identität wahren muß. Es ist das geschichtliche Verdienst des heiligen Thomas von Aquin, daß er gegenüber der von ihrem geschichtlichen Kontext anders gearteten Antwort der Väter die Eigenständigkeit der Philosophie und mit ihr das Eigenrecht und die Eigenverantwortung der von ihren Kräften her fragenden Vernunft herausgestellt hat. Die Väter hatten gegenüber den neuplatonischen Philosophien, in denen Religion und Philosophie untrennbar verflochten waren, den christlichen Glauben als die wahre Philosophie dargestellt und dabei auch betont, daß dieser Glaube den Ansprüchen der nach Wahrheit suchenden Vernunft entspricht; daß er das Ja zur Wahrheit gegenüber den zu bloßer Gewohnheit gewordenen mythischen Religionen war. Aber nun, im Zeitpunkt der Entstehung der Universität, gab es im Abendland diese Religionen nicht mehr, sondern nur noch das Christentum, und so mußte nun auf neue Weise die Eigenverantwortung der Vernunft herausgestellt werden, die nicht vom Glauben absorbiert wird. Thomas wirkte in einem privilegierten Zeitpunkt: Die philosophischen Schriften des Aristoteles waren erstmals in ihrer Ganzheit zugänglich geworden; die jüdischen und arabischen Philosophien als je eigene Anverwandlungen und Weiterführungen der griechischen Philosophie standen im Raum. Das Christentum mußte so in einem neuen Dialog mit der ihr begegnenden Vernunft der anderen um seine eigene Vernünftigkeit ringen. Die philosophische Fakultät, die als sogenannte Artisten-Fakultät bisher nur eine Vorschule für die Theologie gewesen war, wurde zur eigentlichen Fakultät, zum eigenständigen Partner der Theologie und des von ihr reflektierten Glaubens. Über das spannende Ringen, das sich dabei ergab, kann hier nicht gehandelt werden. Ich würde sagen, daß die Vorstellung des heiligen Thomas über das Verhältnis von Philosophie und Theologie sich in der Formel ausdrücken lasse, die das Konzil von Chalzedon für die Christologie gefunden hatte: Philosophie und Theologie müssen zueinander im Verhältnis des „Unvermischt und Ungetrennt“ stehen. Unvermischt, das will sagen, daß jede der beiden ihre eigene Identität bewahren muß. Die Philosophie muß wirklich Suche der Vernunft in ihrer Freiheit und ihrer eigenen Verantwortung bleiben; sie muß ihre Grenze und gerade so auch ihre eigene Größe und Weite sehen. Die Theologie muß dabei bleiben, daß sie aus einem Schatz von Erkenntnis schöpft, den sie nicht selbst erfunden hat und der ihr vorausbleibt, nie ganz von ihrem Bedenken eingeholt wird und gerade so das Denken immer neu auf den Weg bringt. Mit diesem „Unvermischt“ gilt auch zugleich das „Ungetrennt“: Die Philosophie beginnt nicht immer neu vom Nullpunkt des einsam denkenden Subjekts her, sondern sie steht im großen Dialog der geschichtlichen Weisheit, die sie kritisch und zugleich hörbereit immer neu aufnimmt und weiterführt; sie darf sich aber auch nicht demgegenüber verschließen, was die Religionen und was besonders der christliche Glaube empfangen und der Menschheit als Wegweisung geschenkt haben. Manches, was von Theologen im Laufe der Geschichte gesagt oder auch von kirchlicher Autorität praktiziert wurde, ist von der Geschichte falsifiziert worden und beschämt uns heute. Aber zugleich gilt, daß die Geschichte der Heiligen, die Geschichte der vom christlichen Glauben her gewachsenen Menschlichkeit diesen Glauben in seinem wesentlichen Kern verifiziert und damit auch zu einer Instanz für die öffentliche Vernunft macht. Gewiß, vieles von dem, was Theologie und Glaube sagen, kann nur im Inneren des Glaubens angeeignet werden und darf daher nicht als Anspruch an diejenigen auftreten, denen dieser Glaube unzugänglich bleibt. Aber zugleich gilt, daß die Botschaft des christlichen Glaubens nie nur eine „comprehensive religious doctrine“ im Sinn von Rawls ist, sondern eine reinigende Kraft für die Vernunft selbst, die ihr hilft, mehr sie selbst zu sein. Die christliche Botschaft sollte von ihrem Ursprung her immer Ermutigung zur Wahrheit und so eine Kraft gegen den Druck von Macht und Interessen sein.

Nun, ich habe bisher nur von der mittelalterlichen Universität gesprochen, dabei freilich versucht, das bleibende Wesen der Universität und ihres Auftrags durchscheinen zu lassen. In der Neuzeit haben sich neue Dimensionen des Wissens eröffnet, die in der Universität vor allem in zwei großen Bereichen zur Geltung kommen: in der Naturwissenschaft, die aus der Verbindung von Experiment und vorausgesetzter Rationalität der Materie sich gebildet hat; in den Geschichts- und Humanwissenschaften, in denen der Mensch sich im Spiegel seiner Geschichte und im Ausleuchten der Dimensionen seines Wesens besser zu verstehen sucht. Bei dieser Entwicklung hat sich der Menschheit nicht nur ein ungeheures Maß von Wissen und Können erschlossen; auch Erkenntnis und Anerkenntnis von Menschenrechten und Menschenwürde sind gewachsen, und dafür können wir nur dankbar sein. Aber der Weg des Menschen ist nie einfach zu Ende, und die Gefahr des Absturzes in die Unmenschlichkeit nie einfach gebannt: Wie sehr erleben wir das im Panorama der gegenwärtigen Geschichte: Die Gefahr der westlichen Welt - um nur davon zu sprechen - ist es heute, daß der Mensch gerade angesichts der Größe seines Wissens und Könnens vor der Wahrheitsfrage kapituliert. Und das bedeutet zugleich, daß die Vernunft sich dann letztlich dem Druck der Interessen und der Frage der Nützlichkeit beugt, sie als letztes Kriterium anerkennen muß. Von der Struktur der Universität her gesagt: Die Gefahr ist, daß die Philosophie sich ihre eigentliche Aufgabe nicht mehr zutraut und in Positivismus abgleitet; daß die Theologie mit ihrer an die Vernunft gewandten Botschaft ins Private einer mehr oder weniger großen Gruppe abgedrängt wird. Aber wenn die Vernunft aus Sorge um ihre vermeintliche Reinheit taub wird für die große Botschaft, die ihr aus dem christlichen Glauben und seiner Weisheit zukommt, dann verdorrt sie wie ein Baum, dessen Wurzeln nicht mehr zu den Wassern hinunterreichen, die ihm Leben geben. Sie verliert den Mut zur Wahrheit und wird so nicht größer, sondern kleiner. Auf unsere europäische Kultur angewandt heißt dies: Wenn sie sich nur selbst aus ihrem Argumentationszirkel und dem ihr jetzt Einleuchtenden konstruieren will und sich aus Furcht um ihre Säkularität von den Wurzeln abschneidet, von denen sie lebt, dann wird sie nicht vernünftiger und reiner, sondern zerfällt.

Damit kehre ich zum Ausgangspunkt zurück. Was hat der Papst an der Universität zu tun oder zu sagen? Er darf gewiß nicht versuchen, andere in autoritärer Weise zum Glauben zu nötigen, der nur in Freiheit geschenkt werden kann. Über seinen Hirtendienst in der Kirche hinaus und vom inneren Wesen dieses Hirtendienstes her ist es seine Aufgabe, die Sensibilität für die Wahrheit wachzuhalten; die Vernunft immer neu einzuladen, sich auf die Suche nach dem Wahren, nach dem Guten, nach Gott zu machen und auf diesem Weg die hilfreichen Lichter wahrzunehmen, die in der Geschichte des christlichen Glaubens aufgegangen sind und dabei dann Jesus Christus wahrzunehmen als Licht, das die Geschichte erhellt und den Weg in die Zukunft zu finden hilft.

Aus dem Vatikan, am 17. Januar 2008




AN EINE ÖKUMENISCHE DELEGATION AUS FINNLAND ANLÄSSLICH DES FESTES DES HL. HENRIK

Freitag, 18. Januar 2008

7
Verehrte Freunde aus Finnland!


Ich freue mich, eure ökumenische Delegation im Rahmen eures traditionellen jährlichen Besuchs in Rom zum Fest des hl. Henrik, des Schutzpatrons von Finnland, zu begrüßen. Mein herzlicher Willkommensgruß gilt Bischof Mäkinen und Bischof Wróbel sowie allen Mitgliedern eurer Gruppe. Euer Besuch fällt mit dem Beginn der Gebetswoche für die Einheit der Christen zusammen. In diesem Jahr begehen wir den 100. Jahrestag ihrer Einführung durch P. Paul Wattson als »Gebetsoktav für die Einheit der Kirche«.

In gewissem Sinn gehen die Ursprünge der Gebetswoche auf den Vorabend des Leidens und des Todes Jesu zurück, als er für seine Jünger betete: »Alle sollen eins sein: Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaubt, daß du mich gesandt hast« (
Jn 17,21). Die Einheit der Christen ist ein Geschenk des Himmels, das der Liebesgemeinschaft mit dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist entspringt und zu ihr heranreift. Das gemeinsame Gebet von Lutheranern und Katholiken aus Finnland ist eine demütige, aber treue Teilhabe am Gebet Jesu, der verheißen hat, daß jedes Gebet, das in seinem Namen an den Vater gerichtet würde, erhört wird (vgl. Jn 15,7). In der Tat ist dies der Königsweg des Ökumenismus: Ein solches Gebet läßt uns das Reich Gottes und die Einheit der Kirche mit neuen Augen betrachten; es stärkt unsere Bande der Gemeinschaft; und es macht uns fähig, den schmerzhaften Erinnerungen, den gesellschaftlichen Bürden und den menschlichen Schwächen, die so sehr Teil unserer Spaltungen sind, mutig zu begegnen.

»Betet ohne Unterlaß!« (1Th 5,17): Dieser Aufruf, der im Mittelpunkt der Lesungen der diesjährigen Gebetswoche für die Einheit der Christen steht, erinnert uns auch daran, daß ein echtes Leben in Gemeinschaft nur dann möglich ist, wenn lehrmäßige Vereinbarungen und offizielle Erklärungen beständig vom Licht des Heiligen Geistes geleitet werden. Wir müssen dankbar sein für die Früchte des nordisch-lutherisch/ katholischen theologischen Dialogs in Finnland und Schweden über zentrale Fragen des christlichen Glaubens, einschließlich des Problems der Rechtfertigung im Leben der Kirche. Möge der ständige Dialog zu praktischen Ergebnissen führen, zu einem Handeln, das unsere Einheit in Christus zum Ausdruck bringt und aufbaut und so die Beziehungen zwischen den Christen festigt.

Im vergangenen Jahr beging Finnland den 450. Todestag des Theologen Mikael Agricola, dessen Bibelübersetzung sehr großen Einfluß auf die finnische Sprache und Literatur hatte. Dieses Ereignis hob erneut die Bedeutung der Heiligen Schrift für die Kirche, für die einzelnen Christen und für die ganze Gesellschaft hervor. Das Wort Gottes ist wirklich die Grundlage unseres Lebens. Der hl. Hieronymus sagte: »Unkenntnis der Schriften ist Unkenntnis Christi« (Comm. in Isaias, Prol.).

Die Begegnung mit dem Wort Gottes, besonders in der Kirche und in ihrer Liturgie, ist somit wichtig für unseren ökumenischen Weg. Wie das Zweite Vatikanische Konzil erklärte, gewinnt die heilige Theologie im Wort »sichere Kraft und verjüngt sich ständig, wenn sie alle im Geheimnis Christi beschlossene Wahrheit im Lichte des Glaubens durchforscht« (Dei Verbum DV 24).

Liebe Freunde, ich hoffe aufrichtig, daß euer Besuch in Rom euch viel Freude bringen wird, während ihr des Zeugnisses der ersten Christen gedenkt und insbesondere des Martyriums von Petrus und Paulus, der Gründerapostel der Kirche von Rom. Der hl. Henrik folgte ihren Spuren und brachte die Botschaft des Evangeliums und seine rettende Kraft in das Leben der nordischen Völker. In den neuen Situationen und Herausforderungen des heutigen Europa und in eurem eigenen Land gibt es viel, was Lutheraner und Katholiken gemeinsam tun können im Dienst des Evangeliums und der Ausbreitung des Reiches Gottes.

Mit diesen Empfindungen und mit Zuneigung im Herrn rufe ich auf euch und eure Angehörigen Gottes Segen der Freude und des Friedens herab.


AN DIE LATEINISCHEN BISCHÖFE DES ARABISCHEN RAUMES ANLÄSSLICH IHRES "AD-LIMINA"-BESUCHES

Freitag, 18. Januar 2008


8 Liebe Brüder im Bischofs- und im Priesteramt!

Ich freue mich, euch zu empfangen, während ihr euren »Ad-limina«-Besuch abstattet und auf diese Weise eure Gemeinschaft mit dem Nachfolger Petri stärkt ebenso wie die Gemeinschaft der Ortskirchen, deren Hirten ihr seid. Herzlich danke ich Seiner Seligkeit Michel Sabbah, dem lateinischen Patriarchen von Jerusalem und Präsidenten eurer Bischofskonferenz, für seine in groben Zügen umrissene Darlegung des Lebens der Kirche in euren Ländern. Möge eure Pilgerfahrt zu den Apostelgräbern Gelegenheit zu einer auf der Person Christi gründenden geistlichen Erneuerung eurer Gemeinden sein. Die Konferenz der Bischöfe des lateinischen Ritus in den arabischen Ländern umfaßt eine große Vielfalt von Situationen. Die in zahlreichen Ländern beheimateten Gläubigen sind zumeist in kleinen Gemeinden innerhalb von Gesellschaften zusammengeschlossen, die mehrheitlich aus Angehörigen anderer Religionen bestehen. Sagt ihnen, daß der Papst ihnen geistlich nahe ist und ihre Sorgen und ihre Hoffnungen teilt. An alle richte ich meine herzlichen Wünsche, daß sie in Ruhe und Frieden leben können.

Ich möchte euch zunächst noch einmal sagen, welche Bedeutung ich dem Zeugnis eurer Ortskirchen beimesse und euch an die Botschaft erinnern, die ich am 21. Dezember 2006 an die Katholiken des Nahen Ostens gerichtet habe, um ihnen die Solidarität der Universalkirche zu bekunden. In eurer Region machen der nicht enden wollende Ausbruch von Gewalt, die Unsicherheit und der Haß das Zusammenleben aller sehr schwer und lassen uns manchmal um die Existenz eurer Gemeinden fürchten. Das ist eine ernste Herausforderung an euren Hirtendienst, der euch dazu drängt, den Glauben der Gläubigen und ihren brüderlichen Sinn zu stärken. Dabei sollen alle in einer Hoffnung leben können, die auf der Gewißheit gründet, daß der Herr diejenigen, die sich ihm zuwenden, niemals verläßt, denn er allein ist unsere wahre Hoffnung, von der her wir unsere Gegenwart bewältigen können (vgl. Spe salvi ). Ich fordere euch lebhaft auf, bei den Menschen, die eurem Dienst anvertraut sind, zu bleiben, ihnen in ihren Prüfungen beizustehen und ihnen bei der Erfüllung ihrer Pflichten als Jünger Christi immer den Weg einer echten Treue zum Evangelium zu zeigen. Mögen alle in den schwierigen Situationen, die ihnen widerfahren, die Kraft und den Mut haben, als eifrige Zeugen der Liebe Christi zu leben.

Es ist verständlich, daß die Umstände die Christen mitunter zum Verlassen ihres Landes drängen, um ein Gastland zu finden, das es ihnen ermöglicht, ein angemessenes Leben führen zu können. Doch muß man alle, die sich dazu entscheiden, ihrem Land treu zu bleiben, entschlossen ermutigen und unterstützen, damit die Region nicht zu einer archäologischen Stätte ohne jedes kirchliche Leben wird. Wenn sie ein solides brüderliches Leben entfalten, werden sie in ihren Prüfungen Halt finden. Ich unterstütze daher voll und ganz die von euch unternommenen Initiativen, um zur Schaffung sozio-ökonomischer Bedingungen beizutragen, die den weiter in ihrem Land bleibenden Christen helfen, und appelliere an die Gesamtkirche, diese Bemühungen tatkräftig zu unterstützen.

Der Berufung der Christen in euren Ländern kommt entscheidende Bedeutung zu. Als Baumeister von Frieden und Gerechtigkeit sind sie eine lebendige Gegenwart Christi, der gekommen ist, die Welt mit dem Vater zu versöhnen und alle seine versprengten Kinder wieder zu sammeln. Daher müssen die echte Gemeinschaft und die friedliche, respektvolle Zusammenarbeit zwischen den Katholiken der verschiedenen Riten zunehmend gestärkt und entwickelt werden. Das sind in der Tat beredte Zeugnisse für die anderen Christen und für die ganze Gesellschaft. Zudem ist das Gebet Christi im Abendmahlssaal, »alle sollen eins sein«, eine eindringliche Aufforderung, unablässig die Einheit unter den Jüngern Christi zu suchen. Deshalb freue ich mich darüber, daß ihr der Vertiefung der brüderlichen Beziehungen zu den anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften einen wichtigen Platz einräumt. Sie sind ein wesentliches Element auf dem Weg zur Einheit und ein Zeugnis für Christus, »damit die Welt glaubt« (
Jn 17,21). Die Hindernisse auf den Wegen zur Einheit dürfen niemals den Enthusiasmus zum Erlöschen bringen, um die Voraussetzungen für einen täglichen Dialog zu schaffen, der ein Auftakt zur Einheit ist.

Die Begegnung mit Mitgliedern anderer Religionen, vor allem Juden und Moslems, ist für euch eine tägliche Realität. In euren Ländern kommt der Qualität der Beziehungen zwischen den Gläubigen eine ganz besondere Bedeutung zu, da sie Zeugnis für den einen Gott sind und zugleich ein Beitrag zur Knüpfung brüderlicherer Beziehungen zwischen den Menschen und zwischen den verschiedenen Kräften eurer Gesellschaften. Eine bessere gegenseitige Kenntnis ist auch notwendig, um ein größere Achtung vor der Würde des Menschen, die Gleichheit der Rechte und Pflichten der einzelnen und eine erneuerte Aufmerksamkeit für die Bedürfnisse eines jeden, besonders der Ärmsten, zu begünstigen. Außerdem wünsche ich zutiefst, daß überall eine echte Religionsfreiheit verwirklicht und das Recht jedes Menschen, seine Religion frei auszuüben oder sie zu wechseln, nicht mehr behindert werde. Es handelt sich um ein Grundrecht jedes Menschen.

Liebe Brüder, die Unterstützung der christlichen Familien, die mit unzähligen Herausforderungen - wie religiösem Relativismus, Materialismus und all den Bedrohungen der moralischen Werte der Familie und Gesellschaft - konfrontiert sind, muß eines eurer vorrangigen Anliegen bleiben. Ich fordere euch besonders zur Fortsetzung eurer Anstrengungen auf, den Jugendlichen und den Erwachsenen eine solide Bildung anzubieten, um ihnen zu helfen, ihre christliche Identität zu stärken und sich mutig und gelassen den Situationen, vor denen sie stehen, zu stellen und dabei die Menschen, deren Überzeugungen sie nicht teilen, zu respektieren.

Ich weiß um den engagierten Einsatz eurer Gemeinden in den Bereichen der Erziehung, des Gesundheits- und Sozialdienstes, ein Einsatz, der von den Behörden und von der Bevölkerung eurer Länder geschätzt und anerkannt wird. Indem ihr unter euren Bedingungen die Werte der Solidarität, Brüderlichkeit und gegenseitigen Liebe entfaltet, verkündet ihr in euren Gesellschaften die allumfassende Liebe Gottes, besonders für die Ärmsten und Benachteiligsten. Tatsächlich ist »die Liebe in ihrer Reinheit und Absichtslosigkeit das beste Zeugnis für den Gott, dem wir glauben und der uns zur Liebe treibt« (Deus caritas est ). Ich begrüße auch das mutige Engagement der Priester, der Ordensmänner und Ordensfrauen, um eure Gemeinden in ihrem täglichen Leben und in ihrem Zeugnis zu begleiten. Ihre menschliche und geistliche Unterstützung muß eine wesentliche Sorge von euch Bischöfen sein.

Schließlich möchte ich noch einmal meine Nähe zu allen Menschen ausdrücken, die in eurer Region unter den vielfältigen Formen von Gewalt leiden. Ihr könnt auf die Solidarität der Universalkirche zählen.

Ich appelliere auch an die Weisheit aller Menschen guten Willens, besonders derjenigen, die im Leben der ganzen Gesellschaft Verantwortung tragen, damit durch die Förderung des Dialogs zwischen allen Seiten die Gewalt aufhöre, überall ein echter und dauerhafter Friede entstehe und sich Beziehungen der Solidarität und Zusammenarbeit herausbilden. Während ich jedes eurer Länder und jede eurer Gemeinden der mütterlichen Fürsprache Mariens anvertraue, flehe ich zu Gott, daß er allen das Geschenk des Friedens gewähren möge. Aus ganzem Herzen und voller Zuneigung erteile ich euch meinen Apostolischen Segen, in den ich die Priester, Ordensmänner, Ordensfrauen und alle Gläubigen eurer Regionen einschließe.




ANSPRACHE 2008 Januar 2008 4