Centesimus annus


\C\BCentisimus annus

Enzyklika zum hundertsten Jahrestag

von Rerum novarum vom 1. Mai 1991

Verehrte Mitbrüder, liebe Söhne und Töchter,

Gruß und Apostolischen Segen!

Einleitung


1 Der hundertste Jahrestag der Verkündigung der Enzyklika meines ehrwürdigen Vorgängers Leo XIII., die mit den Worten Rerum novarum(1) beginnt, zeigt in der Gegenwartsgeschichte der Kirche und auch in meinem Pontifikat ein Datum an, dem beachtliche Bedeutung zukommt. War doch dieser Enzyklika das Privileg beschieden, daß ihrer die Päpste seit dem vierzigsten Jahrestag ihrer Veröffentlichung bis zum neunzigsten mit feierlichen Dokumenten gedachten. Man kann sagen, ihr Gang durch die Geschichte hat seinen Rhythmus von anderen Schreiben erhalten, die die Enzyklika in Erinnerung riefen und sie zugleich aktualisierten.(2)

Wenn ich es auf Grund von Bitten zahlreicher Bischöfe, kirchlicher Institutionen, akademischer Studienzentren, Unternehmer und Arbeiter - sowohl einzelner wie Mitglieder von Vereinigungen - zum hundertsten Jahrestag ebenso mache, möchte ich zunächst die Dankesschuld erfüllen, die die ganze Kirche dem großen Papst Leo XIII. und seinem "unsterblichen Dokument"(3) gegenüber hat. Ich möchte auch zeigen, daß der reiche Saft, der aus jener Wurzel quillt, mit den Jahren nicht versiegt, sondern sogar noch fruchtbarer geworden ist. Davon geben die Initiativen verschiedenster Art Zeugnis, die dieser Jubiläumsfeier vorausgegangen sind, sie begleiten und auf sie folgen werden, Initiativen, die von den Bischofskonferenzen, von internationalen Körperschaften, von Universitäten und akademischen Instituten, von Berufsvereinigungen und anderen Einrichtungen und Personen in vielen Teilen der We1t gefördert wurden.

(1) LEO XIII., Enzyklika Rerum novarum (15. Mai 1891): Leonis XIII. P.M. Acta, XI Romae 1892, 97-144; Deutsche ("autorisierte") Übersetzung, in: Texte zur katholischen Soziallehre. Die sozialen Rundschreiben der Päpste und andere Kirchliche Dokumente, hrsg. vom Bundesverband der Katholischen Arbeitnehmer- Bewegung Deutschlands (Einführungen von 0. v. Nell-Breuning SJ und J. Schasching SI), 7. Aufl., Kö1n 1989, S.42-80. Im vorliegenden Dokument erfolgt die Zitation aus Rerum novarum ausschließlich nach dieser Textausgabe, wobei auch die dort eingeführte Bezifferung übernommen wird.
(2) PIUS XI., Enzyklika Quadragesimo anno (15. Mai 1931): AAS 23(1931)177-228; Pius XII., Radiobotschaft vom 1. Juni 1941: AAS 33(1941)195-205; JOHANNES XXIII., Enzyklika Mater et Magistra (15. Mai 1961): AAS(1961)
MM 401-464; PAUL VI., Apostolisches Schreiben Octogesima adveniens (14. Mai 1971): AAS 63(1961)401-441.
(3) Vgl. PIUS XI., Enzyklika Quadragesimo anno, III: a.a.O., 228.


2 Die vorliegende Enzyklika reiht sich ein in diese Gedenkfeiern, um vor allem Gott, von dem "jede gute Gabe und jedes vollkommene Geschenk kommt" (Jc 1,17), dafür zu danken, daß er sich eines vor hundert Jahren vom Stuhl Petri erlassenen Dokumentes bedient und dadurch in der Kirche und in der We1t soviel Gutes bewirkt und soviel Licht verbreitet hat. Das Gedenken, das hier begangen wird, betrifft die Enzyklika Leos zusammen mit den anderen Enzykliken und Schreiben meiner Vorgänger, die mit der Grundlegung und dem Aufbau der ,,Soziallehre" bzw. des "sozialen Lehramtes" der Kirche dazu beigetragen haben, Rerum novarum in der heutigen Zeit gegenwärtig und wirksam zu machen.

Auf die Gültigkeit dieser Lehre nehmen bereits zwei Enzykliken Bezug, die ich während meines Pontifikats veröffentlicht habe: Laborem exercens über die menschliche Arbeit und Sollicitudo rei socialis über die aktuellen Probleme der Entwicklung der Menschen und Völker(4).

(4) Enzyklika Laborem exercens (14. September 1981): AAS 73(1981) 577-647; Enzyklika sollicitudo rei socialis (30. Dezember 1987): AAS 80(988) 513-586.


3 Mit dem Vorschlag, die Enzyklika Leos XIII. "wiederzulesen", lade ich zugleich ein, "zurückzublicken" auf ihren Text selbst, um den Reichtum der grundlegenden Prinzipien wiederzuentdecken, die für die Lösung der Arbeiterfrage ausgesprochen wurden. Ferner ermuntere ich, "sich umzublicken", hinzublicken auf das "Neue", das uns umgibt und in das wir gewissermaßen eingetaucht sind. Dieses Neue, das sehr verschieden von dem "Neuen" ist, was das letzte Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts kennzeichnete. Schließlich lade ich ein, "in die Zukunft zu blicken", wo wir bereits das dritte christliche, Jahrtausend ahnend erkennen, das für uns voll von Unbekanntem, aber auch von Hoffnungen ist. Unbekanntes und Hoffnungen, die sich an unsere Vorstellungskraft und Kreativität wenden, indem sie unsere Verantwortung als Jünger des "einen Meisters", Christus (vgl. Mt 23,8), neu erwecken, im Aufzeigen des "Weges", bei der Verkündigung der ,,Wahrheit" und in der Vermittlung des "Lebens", das er selber ist (vgl. Jn 14,6).

Durch diese "neue Begegnung" soll nicht nur der bleibende Wert dieser Lehre bekräftigt werden, sondern es soll auch der wahre Sinn der Überlieferung der Kirche offenbar werden. Einer stets lebendigen und schöpferischen Kirche, die aufbaut auf dem von unseren Vätern im Glauben gelegten Grund und vor allem auf jenem Grand, den im Namen Jesu Christi "die Apostel an die Kirche weitergegeben haben" (5), dem Grund, "den niemand anderer legen kann" (vgl. 1Co 3,11).

Das Bewußtsein von seiner Sendung als Nachfolger Petri bewog Leo XIII., das Wort zu ergreifen, und dasselbe Bewußtsein beseelt heute seinen Nachfolger. Wie er und die Päpste vor und nach ihm lasse ich mich vom Bild des Evangeliums inspirieren, des "Schriftgelehrten, der ein Jünger des Himmelreichs geworden ist" und von dem der Herr sagt, er "gleiche einem Hausherrn der aus seinem reichen Vorrat Neues und Altes hervorholt" (Mt 13,52). Der Vorrat, auf den ich mich beziehe, ist der mächtige Strom der Überlieferung der Kirche, der das seit jeher empfangene und weitergegebene "Alte" enthält und erlaubt, das "Neue", unter dem sich das Leben, der Kirche und der We1t vollzieht, zu deuten.

Zu diesen Bausteinen, die durch ihre Eingliederung in die Tradition zum festen Bestand und nicht nur zur Bereicherung dieser Tradition, sondern auch zur neuen Lebenskraft des Glaubens werden, gehört die Tatkraft von Millionen von Menschen, die, angeregt und geleitet vom sozialen Lehramt der Kirche, sich dem Dienst in der We1t zur Verfügung gestellt haben. Im persönlichen Einsatz oder in Form von Gruppen, Gemeinschaften und Organisationen werden sie zu einer Großbewegung zur Verteidigung und zum Schutz der Würde des Menschen. Dadurch haben sie in den Wechselfällen der Geschichte zum Aufbau einer gerechteren Gesellschaft beigetragen und dem Unrecht eine Grenze gesetzt.

Ziel der vorliegenden Enzyklika ist es, die Ergiebigkeit der von Leo XIII. ausgesprochenen Grundsätze herauszustellen, die zum Lehrgut der Kirche gehören und darum für die Autorität des Lehramtes bindend sind. Die pastorale Sorge hat mich aber bewogen, darüber hinaus eine Analyse einiger Ereignisse der jüngsten Geschichte vorzulegen. Es muß nicht eigens betont werden, daß die aufmerksame Beobachtung des Verlaufes der Ereignisse - um die neuen Erfordernisse für die Evangelisierung zu erkennen - zur Aufgabe der Bischöfe gehört. Sie wollen mit dieser Untersuchung freilich kein endgültiges Urteil abgeben, da das auf Grund der besonderen Eigenart ihres Lehramtes gar nicht in dessen spezifischen Bereich gehört.

(5) HL. IRENÄUS Adversus haereses, I, 10, 1; III, 4, I: PG 7, 549f; 855f.; S. Ch. 264, 154f; 211, 44-46.

I. Kapitel: Wesenszüge von ,,Rerum Novarum"

4 Gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts stand die Kirche einem geschichtlichen Prozeß gegenüber, der schon seit einiger Zeit im Gange war, nun aber einen neuralgischen Punkt erreichte. Ausschlaggebender Faktor dieses Prozesses war - neben dem vielfältigen Einfluß der vorherrschenden Ideologien - ein ganzes Bündel radikaler Veränderungen auf politischem, wirtschaftlichem und sozialem Gebiet, aber auch im Bereich von Wissenschaft und Technik. Ergebnis dieser Veränderungen war auf politischem Gebiet eine neue Gesellschafts- und Staatsauffassung und folglich auch eine neue Auffassung der Autorität gewesen. Eine traditionelle Gesellschaft war ¡in Begriff, sich aufzulösen, und eine andere befand sich im Entstehen, voller Hoffnungen auf neue Freiheiten, aber auch reich an Gefahren neuer Formen von Ungerechtigkeit und Knechtschaft.

Auf wirtschaftlichem Gebiet, wo die Entdeckungen und Anwendungen der Wissenschaften zusammenflossen, war man Schritt für Schritt zu neuen Strukturen in der Güterproduktion gelangt. Es entstand eine neue Form des Eigentums, das Kapital, und eine neue Art der Arbeit, die Lohnarbeit, gekennzeichnet von der Fließbandproduktion, ohne jede Berücksichtigung von Geschlecht, Alter oder Familiensituation des Arbeiters, einzig und allein bestimmt von der Leistung im Blick auf die Steigerung des Profits.

Die Arbeit wurde so zu einer Ware, die frei auf dem Markt gekauft und verkauft werden konnte und deren Preis vom Gesetz von Angebot und Nachfrage bestimmt wurde, ohne Rücksicht auf das für den Unterhalt des Arbeiters und seiner Familie notwendige Lebensminimum. Noch dazu hatte der Arbeiter nicht einmal die Sicherheit, "seine Ware" auf diese Weise verkaufen zu können. Er war ständig von der Arbeitslosigkeit bedroht, die angesichts des Fehlens jeder sozialen Fürsorge das Schreckgespenst des Hungertodes bedeutete.

Die soziale Folge dieser Umwandlung war "die Spaltung der Gesellschaft in zwei Klassen, die eine ungeheure Kluft voneinander trennt" (6). Diese Situation verband sich mit einer tiefgreifenden Veränderung der politischen Ordnung. So versuchte die damals vorherrschende politische Theorie, durch entsprechende Gesetze oder, umgekehrt, durch bewußte Unterlassung jeglicher Einmischung, die totale Wirtschaftsfreiheit zu fördern. Gleichzeitig entstand in organisierter und nicht selten gewaltsamer Form eine andere Auffassung von Eigentum und Wirtschaft, die eine neue politische und gesellschaftliche Ordnung in sich schloß.

Als am Höhepunkt dieser Auseinandersetzung das ungeheure und weitverbreitete soziale Unrecht voll zutage trat und die Gefahr einer von den damaligen "sozialistischen" Strömungen geförderten Revolution drohte, griff Leo XIII. mit einem Dokument ein, das sich in organischer Weise mit dem Thema der "Arbeiterfrage" auseinandersetzte. Dieser Enzyklika waren andere vorausgegangen, die sich mehr mit politischen Aussagen beschäftigten, später folgten noch weitere nach (7). In diesem Zusammenhang sei vor allem an die Enzyklika Libertas praestantissimum erinnert, in der auf die grundlegende Verbindung zwischen menschlicher Freiheit und Wahrheit hingewiesen wurde. Das besagt, daß eine Freiheit, die es ablehnt, sich an die Wahrheit zu binden, in Willkür verfallen und am Ende sich den niedrigsten Leidenschaften überlassen und damit sich selber zerstören würde. Denn woher sonst stammen all die Übel, auf die Rerum novarum antworten will, wenn nicht aus einer Freiheit, die sich im wirtschaftlichen und sozialen Bereich von der Wahrheit über den Menschen völlig loslöst?

Der Papst ließ sich außerdem von der Lehre seiner Vorgänger inspirieren und ebenso von einer Reihe bischöflicher Dokumente. Er wurde angeregt von wissenschaftlichen Studien der Laien, von der Tätigkeit katholischer Bewegungen und Vereinigungen und von den konkreten sozialen Werken, die das Leben der Kirche in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kennzeichneten.

(6) LEO XIII., Enzyklika Rerum novarum, Nr. 35: a.a.O., 132.
(7) Vgl. z.B. LEO XIII., Enzyklika Arcanum divinae sapientiae (10. Februar 1880): Leonis XIII. P.M. Acta, II, Romae 1882, 10-40; Enzyklika Diuturnum illud (29. Juni 1881): Leonis XIII. P.M. Acta, II, Romae 1882, 269-287; Enzyklika Libertas praestantissimum (20. Juni 1888): Leonis XIII. P.M. Acta, VIII, Romae 1889, 212-246; Enzyklika Graves de communi (18. Januar 1901): Leonis XIII. P.M. Acta, XXI, Romae 1902, 3-20.


5 Das "Neue", auf das der Papst Bezug nahm, war alles andere als positiv. Der erste Abschnitt der Enzyklika beschreibt das "Neue", das ihr den Namen gab, mit harten Worten: "Der Geist der Neuerung, welcher seit langem durch die Völker geht, mußte, nachdem er auf dem politischen Gebiete seine verderblichen Wirkungen entfaltet hatte, folgerichtig auch das volkswirtschaftliche Gebiet ergreifen. Viele Umstände begünstigten diese Entwick1ung; die Industrie hat durch die Vervollkommnung der technischen Hilfsmittel und eine neue Produktionsweise mächtigen Aufschwung genommen; das gegenseitige Verhältnis der besitzenden Klasse und der Arbeiter hat sich wesentlich umgestaltet; das Kapital ist in den Händen einer geringen Zahl angehäuft, während die große Menge verarmt; es wächst in den Arbeitern das Selbstbewußtsein, ihre Organisation erstarkt; dazu gesel1t sich der Niedergang der Sitten. Dieses alles hat den sozialen Konflikt wachgerufen, vor welchem wir stehen" (8).

Der Papst, die Kirche und ebenso die bürgerliche Gesellschaft standen vor einer durch Konflikt gespaltenen Gesellschaft. Dieser Konflikt war um so härter und unmenschlicher, als er weder Regel noch Gesetz kannte. Es war der Konflikt zwischen Kapital und Arbeit oder - wie es die Enzyklika nannte - die Arbeiterfrage. Eben zu diesem Konflikt wollte der Papst in den schärfsten Worten, die damals zur Verfügung standen, seine Meinung kundtun.

Hier bietet sich eine erste Überlegung an, die die Enzyklika für die heutige Zeit nahelegt. Angesichts eines Konfliktes, der die einen in der Not des Überlebens den anderen im Besitz des Überflusses wie "Wölfe" gegenüberstellte, zweifelte der Papst nicht daran, kraft seines "apostolischen Amtes"(9) eingreifen zu müssen, das heißt auf Grund des von Jesus Christus empfangenen Sendungsauftrags, "die Lämmer und Schafe zu weiden" (vgl.
Jn 21,15-17) sowie auf Erden "für das Reich Gottes zu binden und zu lösen"(vgl. Mt 16,19). Seine Absicht war es, den Frieden wiederherzustellen. Dem heutigen Leser kann die strenge Verurteilung des Klassenkampfes, die die Enzyklika klar und deutlich aussprach, nicht verborgen bleiben(10). Aber Leo war sich sehr wohl dessen bewußt, daß sich der Friede nur auf dem Fundament der Gerechtigkeit aufbauen Iäßt. Darum bildeten die Aussagen über die Grundlagen der Gerechtigkeit in der damaligen Wirtschaft und Gesellschaft den Hauptinhalt der Enzyklika (11).

Auf diese Weise setzte Leo XIII., dem Vorbild seiner Vorgänger folgend, ein bleibendes Beispiel für die Kirche. Sie muß in bestimmten. menschlichen Situationen, sei es auf individueller und sozialer, nationaler und internationaler Ebene, das Wort ergreifen. Dafür hat sie eine eigene Lehre, ein Lehrgebäude aufgestellt, das es ihr ermöglicht, die soziale Wirklichkeit zu analysieren, sie zu beurteilen und Richtlinien für eine gerechte Lösung der daraus entstehenden Probleme anzugeben.

Zur Zeit Leos XIII. war eine derartige Überzeugung vom Recht und der Pflicht der Kirche noch weit davon entfernt, allgemein anerkannt zu werden. Es herrschte vielmehr eine zweifache Tendenz: die eine, ausgerichtet: auf diese Welt und dieses Leben, das mit dem Glauben nichts zu tun hatte; die andere, einseitig dem jenseitigen Heil zugewandt, das jedoch für das Erdenleben bedeutungslos blieb. Mit der Veröffentlichung von Rerum novarum verlieh der Papst der Kirche gleichsam das ,,Statut des Bürgerrechtes" in der wechselvollen Wirklichkeit des öffentlichen Lebens der Menschen und der Staaten. Dies wurde in den späteren Jahren noch stärker bestätigt. In der Tat, die Verkündigung und Verbreitung der Soziallehre gehört wesentlich zum Sendungsauftrag der Glaubensverkündigung der Kirche; sie gehört zur christlichen Botschaft, weil sie deren konkrete Auswirkungen für das Leben in der Gesellschaft vor Augen stel1t und damit die tägliche Arbeit und den mit ihr verbundenen Kampf für die Gerechtigkeit in das Zeugnis für Christus den Erlöser miteinbezieht. Sie bildet darüber hinaus eine Quelle der Einheit und des Friedens angesichts der Konflikte, die im wirtschaftlich-sozialen Bereich unvermeidlich auftreten. Auf diese Weise wird es möglich, die neuen Situationen zu bestehen, ohne die transzendente Würde der menschlichen Person weder bei sich selbst noch bei seinen Gegnern zu verletzen, und sie zu einer richtigen Lösung zu führen. Die Gültigkeit dieser Orientierung bietet mir jetzt, im Abstand von hundert Jahren, die Gelegenheit, auch einen Beitrag zum Aufbau der "christlichen Soziallehre" zu leisten. Die "Neuevangelisierung", die die moderne We1t dringend nötig hat und auf der ich wiederholt insistiert habe, muß zu ihren wesentlichen Bestandteilen die Verkündigung der Soziallehre der Kirche zählen. Diese Lehre, ist so wie zur Zeit Leos XIII. geeignet, den Weg zu weisen, um auf die großen Herausforderungen der Gegenwart nach der Krise der Ideologien Antwort zu geben. Man muß, wie damals, wiederholen, daß es keine echte Lösung der ,,sozialen Frage" außerhalb des Evangeliums gibt und daß das "Neue" in diesem Evangelium seinen Raum der Wahrheit und der sittlichen Grundlegung findet.

(8) Enzyklika Rerum novarum, Nr. 1: a.a.O., 97.
(9) Ebd., Nr. 1: a.a.O., 98.
(10) Vgl. ebd., Nr. 15: a.a.O., 109f.
(11) Vgl. ebd., Nr. 16: Beschreibung der Arbeitsbedingungen; 40: Antichristliche Arbeitervereine: a.a.O., 110f.; 136f.


6 Mit der Absicht, durch seine Enzyklika den Konflikt zwischen Kapital und Arbeit zu klären, verkündete Leo XIII. die Grundrechte der Arbeiter. Deshalb stellt die Würde des Arbeiters und damit die Würde der Arbeit überhaupt den Schlüssel für die Lektüre der Enzyklika dar. "Arbeiten heißt, seine Kräfte anstrengen zur Beschaffung der irdischen Bedürfnisse, besonders des notwendigen Lebensunterhaltes"(12). Der Papst bezeichnet die Arbeit als "persönlich, insofern die betätigte Kraft und Anstrengung persönliches Gut des Arbeitenden ist" (13). Die Arbeit gehört somit zur Berufung jedes Menschen; der Mensch entfaltet und verwirklicht sich in seiner Arbeit. Die Arbeit hat gleichzeitig eine soziale Dimension wegen ihrer engen Beziehung sowohl zur Familie als auch zum Gemeinwohl, denn "es ist eine unumstößliche Wahrheit, nicht anderswoher als aus der Arbeit der Werktätigen entstehe Wohlhabenheit im Staate" (14). Dies habe ich in der Enzyklika Laborem exercens (l5) aufgegriffen und neu dargelegt.

Ein anderer wichtiger Grundsatz ist zweifellos das Recht auf "Privateigentum" (16). Aus dem Umfang, den die Enzyklika diesem Grundsatz widmet, kann man erkennen, welche Bedeutung der Papst ihr beimißt. Er ist sich natürlich bewußt, daß das Privateigentum keinen absoluten Wert darstellt, und er versäumt es nicht, die Grundsätze der notwendigen Ergänzung anzuführen, vor allem den der universalen Bestimmung der Güter der Erde (17).

Es trifft zweifellos zu, daß der Rahmen des Privateigentums, an den Leo XIII. hauptsächlich denkt, der des Landbesitzes ist (18). Das ist jedoch kein Hindernis dafür, daß die Gründe, die dort für die Geltung des Privateigentums angeführt werden, auch heute ihren Wert bewahren. Es ist dies vor allem die Geltung des Rechtes auf den Besitz der Dinge, die für die persönliche Entfaltung und die der eigenen Familie notwendig sind - ganz abgesehen davon, welche konkrete Form dieses Recht auch immer annehmen mag. Das muß heute von neuem deutlich gemacht werden angesichts der Veränderungen, deren Zeugen wir jetzt sind und die in Systemen stattgefunden haben, wo bisher das Kollektiveigentum an den Produktionsmitteln herrschte; und es muß auch im Hinblick auf die wachsenden Erscheinungsformen der Armut betont werden. Es geht um die Vorenthaltung des Privateigentums in vielen Teilen der Welt, auch unter jenen Systemen, die das Recht auf Privateigentum zu einem ihrer Schwerpunkte machen. Infolge dieser Veränderungen und des Weiterbestehens der Armut erweist sich eine gründlichere Analyse des Problems als notwendig. Ich werde darauf in einem späteren Teil dieses Dokumentes ausführlicher eingehen.

(12) Ebd., Nr. 34; vgl. auch Nr. 20: a. a. O., 130; 114f.
(13) Ebd., Nr. 34: a.a.O., 130.
(14) Ebd., Nr. 27: a.a.O., 123.
(15) Vgl. Enzyklika Laborem exercens, Nr.
LE 1 LE 2 LE 6: a.a.O., 578-583; 589-592.
(16) Vgl. Enzyklika Rerum novarum, Nr. 4-12: a.a.O., 99-107.
(17) Vgl. ebd., Nr. 7: a.a.O., 102f.
(18) Vgl. ebd., Nr. 6-8: a.a.O., 101-104.


7 In enger Beziehung zum Thema des Rechtes auf Eigentum macht die Enzyklika Leos XIII. andere Rechte als eigene und unveräußerliche Rechte der menschlichen Person geltend. Darunter kommt auf Grund des Umfanges, den der Papst ihm widmet, und der Bedeutung, die er ihm beimißt, dem "natürlichen Recht des Menschen", private Vereinigungen zu bilden, ein besonderer Vorrang zu. Das besagt zunächst das Recht, Berufsvereinigungen von Unternehmern und Arbeitern oder von Arbeitern allein zu gründen (19). Hierin wird der Grund dafür gesehen, daß die Kirche die Gründung von Vereinigungen, die sich heute Gewerkschaften nennen, verteidigt und billigt. Das geschieht gewiß nicht aus ideologischen Vorurteilen oder um sich einem Klassendenken zu beugen, sondern weil es sich um ein natürliches Recht des Menschen handelt, das seiner Eingliederung in eine politische Gemeinschaft vorausgeht. "Der Staat besitzt nicht schlechthin die Vollmacht, ihr Dasein zu verbieten ... Das Naturrecht kann der Staat nicht vernichten, sein Beruf ist es vielmehr, dasselbe zu schützen. Verbietet ein Staat dennoch die Bildung solcher Genossenschaften, so handelt er gegen sein eigenes Prinzip" (20).

Zusammen mit diesem Recht - und das muß hervorgehoben werden - anerkennt der Papst für die Arbeiter oder, in seiner Sprache, für die "Proletarier" mit gleicher Klarheit das Recht auf die "Begrenzung der Arbeitszeit auf die entsprechende Freizeit und auf den Schutz der Kinder und der Frauen, vor allem was ihre Arbeitsweise und Arbeitsdauer betrifft (21).

Wenn man bedenkt, was uns die Geschichte über die zulässigen oder zumindest gesetz1ich nicht ausgeschlossenen Methoden bei der Anstellung berichtet, kann man die harte Aussage des Papstes wohl verstehen. Es gab keine Garantie, weder was die Arbeitsstunden noch was die hygienischen Verhältnisse betraf, auch auf das Alter und das Geschlecht der Arbeitsuchenden wurde keine Rücksicht genommen. ,,Die Gerechtigkeit und die Menschlichkeit erheben Einspruch" - schreibt Leo - ,,gegen Arbeitsforderungen von solcher Höhe, daß der Körper unterliegt und der Geist sich abstumpft". Und unter Bezugnahme auf den Vertrag, der derartige

"Arbeitsverhältnisse" bestimmen, sollte, präzisiert er: "Bei jeder Verbindlichkeit, die zwischen Arbeitgebern und Arbeitern eingegangen wird, ist ausdrücklich oder stillschweigend die Bedingung vorhanden", daß den Arbeitern soviel Ruhe zu sichern ist, "als zur Herstellung ihrer bei der Arbeit aufgewendeten Kräfte nötig ist". Und er schließt mit dem Satz: "Eine Vereinbarung ohne diese Bedingung wäre sittlich nicht zulässig" (22).

(19) Vgl. ebd., Nr. 37-39; 42: a.a.O., 134f.; 137f.
(20) Ebd., Nr. 38: a.a.O., 135.
(21) Vgl. ebd., Nr. 34-35: a.a.O., 128-129.
(22) Ebd., Nr. 33: a.a.O., 129.


8 Kurz darauf kommt der Papst auf ein weiteres Recht des Arbeiters als Person zu sprechen. Es handelt sich um das Recht auf "gerechten Lohn", das nicht dem freien Einvernehmen der Parteien überlassen bleiben kann. Denn "da der Lohnsatz vom Arbeiter angenommen wird, so könnte es scheinen, als sei der Arbeitgeber nach erfolgter Auszahlung des Lohnes aller weiteren Verbindlichkeiten enthoben"(23). Zudem hat der Staat - wie es damals hieß - keine Machtbefugnis, in die Festlegung dieser Verträge einzugreifen, außer die Erfüllung dessen sicherzustellen, was ausdrücklich vereinbart worden war. Eine solche rein pragmatische und von einem unerbittlichen Individualismus getragene Auffassung von dem Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern wird in der Enzyklika hart gegeißelt, weil sie der zweifachen Natur der Arbeit in ihrer persönlichen und notwendigen Eigenart widerspricht. Auch wenn die Arbeit als persönliches Faktum zur Verfügbarkeit jedes einzelnen über seine Fähigkeiten und Kräfte gehört, so wird sie als notwendiges Faktum von der schweren Verpflichtung bestimmt, daß sich jeder "am Leben erhalten muß". "Hat demnach jeder ein natürliches Recht", - so schließt der Papst – "den Lebensunterhalt zu finden, so ist hinwieder der Dürftige hierzu allein auf die Händearbeit notwendig angewiesen" (24).

Der Lohn muß ausreichend sein, um den Arbeiter und seine Familie zu erhalten. Wenn der Arbeiter "sich aus reiner Not oder um einem schlimmeren Zustande zu entgehen, den allzu harten Bedingungen beugt, die ihm nun einmal vom Arbeitsherrn oder Unternehmer auferlegt werden, so heißt das Gewalt leiden, und die Gerechtigkeit erhebt gegen einen solchen Zwang Einspruch" (25).

Gebe Gott, daß diese Worte, die in der Entwicklung des sogenannten "ungezähmten Kapitalismus" geschrieben worden sind, nicht heute mit derselben Härte wiederholt werden müssen. Leider stößt man auch heute auf Fälle von Verträgen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, in denen die elementarste Gerechtigkeit in Frage der Arbeit von Minderjährigen oder Frauen, der geregelten Arbeitszeit, des hygienischen Zustands der Arbeitsplätze und der entsprechenden Entlohnung ignoriert wird. Und das trotz der internationalen Erklärungen und Konventionen(26) und der entsprechenden Gesetzgebung der einzelnen Staaten. Der Papst schrieb der "staatlichen Autorität" die "strenge Pflicht" zu, sich in gebührender Weise um das Wohl der Arbeiter zu kümmern, weil er mit der Unterlassung dieser Pflicht die Gerechtigkeit verletzte, ja, er scheute sich nicht, von "ausgleichender Gerechtigkeit" zu sprechen (27).

(23) Ebd., Nr. 34: a.a.O., 129.
(24) Ebd., Nr. 34: a.a.O., 130f.
(25) Ebd., Nr. 34: a.a.O., 131.
(26) Vgl. Allgemeine Erklärung der Menschenrechte.
(27) Vgl. Enzyklika Rerum novarum, Nr. 27: a.a.O., 121-123.


9 Zu diesen Rechten fügt Leo XIII. im Zusammenhang mit der Situation der Arbeiter ein weiteres hinzu, woran ich erinnern möchte, auch wegen der Bedeutung, die es hat und die es in jüngster Zeit hinzugewonnen hat. Es ist das Recht auf freie Erfüllung der religiösen Pflichten. Der Papst verkündet es ausdrücklich im Zusammenhang mit den anderen Rechten und Pflichten der Arbeiter. Er tut das trotz der auch zu seiner Zeit weitverbreiteten Meinung, daß bestimmte Fragen ausschließlich in den Privatbereich des einzelnen fielen. Er macht die pflichtmäßige Sonntagsruhe geltend, um dem Menschen den Gedanken an die Güter des Jenseits und die Pflichten der Gottesverehrung zu ermöglichen (28). Dieses Recht, das in einem Gebot wurzelt, kann dem Menschen niemand vorenthalten. "Keine Gewalt darf sich ungestraft an der Würde des Menschen vergreifen, die doch Gott selbst mit großer Achtung über ihn verfügt". Der Staat muß den Arbeitern die Ausübung dieses Rechts zusichern (29).

Man wird kaum fehlgehen, wenn man in diesen eindeutigen Aussagen den Keim des Grundrechtes auf Religionsfreiheit sieht, das zum Thema vieler feierlicher internationaler Erklärungen und Konventionen (30) sowie der bekannten Konzilserklärung und wiederholter Aussagen meines eigenen Lehramtes (31) geworden ist. In diesem Zusammenhang muß man sich fragen, ob die geltenden Gesetzesvorschriften und die Praxis der Industriegesellschaften die Ausübung dieses elementaren Rechtes auf die Sonntagsruhe heute effektiv gewährleisten.

(28) Vgl. ebd., Nr. 32: a. a.O., 127.
(29) Ebd., Nr. 32: a.a.O., 126f.
(30) Vgl. Allgemeine Erklärung der Menschenrechte; Erklärung über die Beseitigung jeder Form von Intoleranz und Diskriminierung aus Gründen der Religion oder Überzeugung.
(31) II. VATIKANISCHES KONZIL, Erklärung über die Religionsfreiheit Dignitatis humanae; JOHANNES PAUL II., Schreiben an die Staatsmänner der Welt (1. September 1980): AAS 72(1980)1252-1260; Botschaft zum Weltfriedenstag 1988: AAS 80(1988)278-286.


10 Ein anderes wichtiges Merkmal, das reich ist an Aussagen für unsere Zeit, ist das Verständnis der Beziehung zwischen Staat und Bürgern. Rerum novarum kritisiert die zwei Gesellschafts- und Wirtschaftssysteme: den Sozialismus und den Liberalismus. Dem Sozialismus ist der erste Teil gewidmet, in dem das Recht auf Privateigentum bestätigt wird. Dem zweiten System ist kein eigener Abschnitt gewidmet, sondern - und das muß angemerkt werden - der Papst behält sich seine Kritik am damaligen Liberalismus vor, bis er im zweiten Teil das Thema der Pflichten des Staates aufgreift (32). Der Staat kann sich nicht darauf beschränken, "nur für einen Teil der Staatsangehörigen" - nämlich die wohlhabenden und vom Schicksal begünstigten – "zu sorgen, den andern aber", der zweifellos die große Mehrheit der Gesellschaft darstellt, zu vernachlässigen". Wenn dies geschieht, so verletzt er die Gerechtigkeit, welche jedem das Seine zu geben bereit ist. "Doch muß der Staat beim Rechtsschutz zugunsten der Privaten eine ganz besondere Fürsorge für die niedere, besitzlose Masse sich angelegen sein lassen. Die Wohlhabenden sind nämlich nicht in dem Maße auf den öffentlichen Schutz angewiesen, sie haben selbst die Hilfe eher zur Hand; dagegen hängen die Besitzlosen, ohne eigenen Boden unter den Füßen, fast ganz von der Fürsorge des Staates ab. Die Lohnarbeiter also, die ja zumeist die Besitzlosen bilden, müssen vom Staat in besondere Obhut genommen werden" (33).

Diese Stellen der Enzyklika sind heute vor allem von Bedeutung angesichts neuer Formen der Armut, die es in der We1t gibt. Denn es sind Aussagen, die weder von einer bestimmten Staatsauffassung noch von einer besonderen politischen Theorie abhängen. Der Papst bekräftigt ein Grundprinzip jeder gesunden politischen Ordnung: Je schutzloser Menschen in einer Gesellschaft sind, um so mehr hängen sie von der Anteilnahme und Sorge der anderen und insbesondere vom Eingreifen der staatlichen Autorität ab. So erweist sich das Prinzip, das wir heute Solidaritätsprinzip nennen und an dessen Gültigkeit sowohl in der Ordnung innerhalb der einzelnen Nation als auch in der internationalen Ordnung ich in Sollicitudo rei socialis erinnert habe (34), als eines der grundlegenden Prinzipien der christlichen Auffassung der gesellschaftlichen und politischen Ordnung. Es wird von Leo XIII. mehrmals unter dem Namen "Freundschaft" angeführt, ein Ausdruck, den wir schon in der griechischen Philosophie finden. Von Pius XI. wird es mit dem nicht weniger bedeutungsvollen Namen "soziale Liebe" bezeichnet. Paul VI. hat den Begriff mit den heutigen vielfältigen Dimensionen der sozialen Frage erweitert und von "Zivilisation der Liebe" gesprochen (35).

(32) Vgl. Enzyklika Rerum novarum, Nr. 3-9; 25-36: a.a.O., 99-105; 130f; 135.
(33) Ebd., Nr. 27, 29: a.a.O., 125.
(34) Vgl. Enzyklika Sollicitudo rei socialis, Nr.
SRS 38-40: a.a.O., 564-569; vgl. auch JOHANNES XXIII., Enzyklika Mater et Magistra: a.a.O., MM 407.
(35) Vgl. LEO XIII., Enzyklika Rerum novarum, Nr. 20-21: a.a.O., 114 116; PIUS XI., Enzyklika Quadragesimo anno, III: a.a.O., 208; PAUL VI., Homilie zum Abschluß des Heiligen Jahres (25. Dezember 1975): AAS 68(1976)145; Botschaft zum Weltfriedenstag 1977: AAS 68 (1976) 709.


11 Das Wiederlesen der Enzyklika in der Wirklichkeit unserer Zeit erlaubt uns, die stete Sorge und das ständige Bemühen der Kirche jenen Menschen gegenüber richtig einzuschätzen, denen die besondere Vorliebe Jesu galt. Der Inhalt der Enzyklika ist ein sprechendes Zeugnis für die Kontinuität dessen in der Kirche, was man heute "die vorrangige Option für die Armen" nennt; eine Option, die ich als einen "besonderen Vorrang in der Weise, wie die christliche Liebe ausgeübt wird", definiert habe (36). Die Enzyklika über die "Arbeiterfrage" ist also eine Enzyklika über die Armen und über das schreckliche Los, in das der neue und nicht selten gewaltsame Prozeß der Industrialisierung riesige Menschenmassen gestoßen hatte. Auch heute noch rufen in weiten Teilen der We1t ähnliche wirtschaftliche, soziale und politische Umwälzungen dieselben Übel hervor.

Wenn Leo XIII. an den Staat appelliert, die Lage der Armen in Gerechtigkeit zu lindern, so tut er das, weil er richtigerweise erkennt, daß dem Staat die Aufgabe obliegt, über das Gemeinwohl zu wachen. Daß er dafür zu sorgen hat, daß jeder Bereich des gesellschaftlichen Lebens, der wirtschaftliche miteingeschlossen, unter Beachtung der berechtigten jeweiligen Autonomie zur Förderung des Gemeinwohles beiträgt. Das darf jedoch nicht zur Annahme führen, daß nach Papst Leo jede Lösung sozialer Fragen einzig vom Staat kommen soll. Im Gegenteil, der Papst betont immer wieder die notwendigen Grenzen im Eingreifen des Staates. Der Staat hat instrumentalen Charakter, da der einzelne, die Familie und die Gesellschaft vor ihm bestehen und der Staat dazu da ist, die Rechte des einen und der anderen zu schützen, nicht aber zu unterdrücken (37).

Die Aktualität dieser Überlegungen kann niemandem entgehen; ich werde weiter unten auf dieses wichtige Thema der mit der Natur des Staates zusammenhängenden Grenzen nochmals zurückkommen. Die hervorgehobenen Punkte sind sicher nicht die einzigen, die der Enzyklika eine in der Kontinuität des sozialen Lehramtes der Kirche erstaunliche Aktualität verleihen; das auch im Licht einer gesunden Auffassung vom Privateigentum, von der Arbeit, vom Wirtschaftsprozeß, von der Wirklichkeit: des Staates und vor allem vom Menschen selber. Weitere Themen werden später bei der Behandlung einiger Aspekte der heutigen Welt erwähnt werden. Doch gilt es schon jetzt festzuhalten, daß das, was das Herzstück der Enzyklika ausmacht und was sowohl sie als die ganze Soziallehre der Kirche zuinnerst bestimmt, die richtige Auffassung von der menschlichen Person und ihrem einzigartigen Wert ist, insofern "der Mensch ... auf Erden das einzige von Gott um seiner selbst willen gewollte Geschöpf ist" (38). In ihn hat er sein Bild und Gleichnis eingemeißelt (vgl.
Gn 1,26) und ihm damit eine unvergleichliche Würde verliehen, auf der die Enzyklika wiederholt so eindringlich besteht. Jenseits aller Rechte, die der Mensch durch sein Tun und Handeln erwirbt, besitzt er Rechte, die nicht im Entgelt für seine Leistung bestehen, sondern seiner wesenhaften Würde als Person entspringen.

(36) Enzyklika Sollicitudo rei socialis, Nr. SRS 42: a.a.O., 572.
(37) Vgl. Enzyklika Rerum novarum, Nr. 6; 9; 37; 42; 43: a.a.O., 101f.; 104f; 130f.; 136.
(38) II. VATIKANISCHES KONZIL, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, Nr. GS 24.


Centesimus annus