Gaudium et spes DE 56

Schwierigkeiten und Aufgaben

56 In dieser Situation ist es nicht verwunderlich, daß der Mensch, der seine Verantwortung für den Fortschritt der Kultur erkennt, einerseits Größeres als je hofft, andererseits aber auch mit Angst auf die vielfältigen Antinomien blickt, die er selbst auflösen muß: Was ist zu tun, damit der zunehmende Austausch der Kulturen, der zu einem wahren und fruchtbaren Dialog unter den verschiedenen Gruppen und Nationen führen müßte, das Leben der Gemeinschaften nicht in Verwirrung bringt, die Weisheit der Vorfahren nicht verwirft, noch den je eigenen Volkscharakter gefährdet?

Wie kann man für die Dynamik und Expansion der neuen Kultur eintreten, ohne daß die lebendige Treue zum überlieferten Erbe verlorengeht? Dies ist schon deshalb ein besonders drängendes Problem, weil die Kultur, die aus dem ungeheuren Fortschritt der Naturwissenschaft und der Technik entsteht, zur Einheit gefügt werden muß mit jener Geisteskultur, die von denjenigen Studien lebt, die entsprechend den verschiedenen Überlieferungen als klassisch gelten.

Wie kann eine so schnell voranschreitende Zersplitterung der Einzeldisziplinen mit der Notwendigkeit in Einklang gebracht werden, sie in eine Synthese zu bringen und dem Menschen die Fähigkeit zu jener Kontemplation und zu jenem Staunen zu wahren, die zur Weisheit führen?

Was ist zu tun, daß alle Menschen der kulturellen Güter in der Welt teilhaftig werden, wo doch zur gleichen Zeit die Kultur der Gebildeteren immer sublimer und komplexer wird?

Wie kann man endlich die Autonomie als rechtmäßig anerkennen, die die Kultur für sich beansprucht, ohne daß man zu einem rein innerweltlichen, ja religionsfeindlichen Humanismus kommt?

Inmitten all dieser Antinomien muß die menschliche Kultur heute so entwickelt werden, daß sie die volle menschliche Persönlichkeit harmonisch ausbildet und den Menschen bei den Aufgaben behilflich ist, zu deren Erfüllung alle, vor allem aber die Christen, in einer einzigen menschlichen Familie brüderlich vereint, berufen sind.

Zweiter Abschnitt: Einige Prinzipien zur richtigen Förderung der Kultur

Glaube und Kultur

57 Die Christen müssen auf der Pilgerschaft zur himmlischen Vaterstadt suchen und sinnen, was oben ist (2); dadurch wird jedoch die Bedeutung ihrer Aufgabe, zusammen mit allen Menschen am Aufbau einer menschlicheren Welt mitzuarbeiten, nicht vermindert, sondern gemehrt. In der Tat bietet ihnen das Mysterium des christlichen Glaubens wirksame Antriebe und Hilfen, jene Aufgabe mit größerer Hingabe zu erfüllen und vor allem den vollen Sinn solchen Tuns zu entdecken, so daß die menschliche Kulturbemühung innerhalb der ganzen und einen Berufung des Menschen einen hervorragenden Platz erhält.

Wenn nämlich der Mensch mit seiner Handarbeit oder mit Hilfe der Technik die Erde bebaut, damit sie Frucht bringe und eine würdige Wohnstätte für die gesamte menschliche Familie werde, und bewußt seinen Anteil nimmt an der Gestaltung des Lebens der gesellschaftlichen Gruppen, dann führt er den schon am Anfang der Zeiten kundgemachten Auftrag Gottes aus, sich die Erde untertan zu machen (3) und die Schöpfung zu vollenden, und entfaltet er sich selbst; zugleich befolgt er das große Gebot Christi, sich in den Dienst seiner Brüder zu stellen.

Wenn überdies der Mensch sich den verschiedenen Fächern, der Philosophie und Geschichte, der Mathematik und Naturwissenschaft, widmet und sich künstlerisch betätigt, dann kann er im höchsten Grad dazu beitragen, daß die menschliche Familie zu den höheren Prinzipien des Wahren, Guten und Schönen und zu einer umfassenden Weltanschauung kommt und so heller von jener wunderbaren Weisheit erleuchtet wird, die von Ewigkeit her bei Gott war, alles mit ihm ordnete, auf dem Erdkreis spielte und ihre Wonne darin findet, bei den Menschen zu sein (4).

Ebendadurch kann sich der Geist des Menschen, von der Versklavung unter die Sachwelt befreit, ungehinderter zur Kontemplation und Anbetung des Schöpfers erheben. Ja unter dem Antrieb der Gnade wird er zur Erkenntnis des Wortes Gottes vorbereitet, das schon, bevor es Fleisch wurde, um alle zu retten und in sich als dem Haupt zusammenzufassen, "in der Welt war" als "das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet" (
Jn 1,9)5.

Freilich kann der heutige Fortschritt der Naturwissenschaft und der Technik, die kraft ihrer Methode nicht zu den innersten Seinsgründen vordringen können, einen gewissen Phänomenalismus und Agnostizismus begünstigen, wenn die Forschungsmethode dieser Disziplinen unberechtigt als oberste Norm der Findung der Wahrheit schlechthin angesehen wird.

Ja es besteht die Gefahr, daß der Mensch in allzu großem Vertrauen auf die heutigen Errungenschaften sich selbst zu genügen glaubt und darüber hinaus nicht mehr sucht.

Doch diese Fehlentwicklungen ergeben sich nicht zwangsläufig aus der heutigen Kultur, und sie dürfen uns nicht dazu verleiten, ihre positiven Werte zu verkennen. Unter diesen sind zu nennen: die Pflege der Naturwissenschaften, unbedingte Sachlichkeit gegenüber der Wahrheit bei der wissenschaftlichen Forschung, die heute gegebene Unerläßlichkeit der Zusammenarbeit mehrerer in dafür organisierten Teams, der Geist der internationalen Solidarität, das immer wacher werdende Bewußtsein von der Verantwortung der Fachleute für den Dienst am Menschen und dessen Schutz, der Wille zur Verbesserung der menschlichen Lebensbedingungen aller, besonders jener, die die Verantwortung für sich selbst nicht übernehmen können oder kulturell zurückgeblieben sind. Das alles kann für die Aufnahme der Botschaft des Evangeliums in gewissem Sinn eine Vorbereitung bedeuten, die durch die göttliche Liebe von dem beseelt wird, der gekommen ist, die Welt zu retten.

(2) Vgl. Col 3,1-2.
(3) Vgl. Gn 1,28.
(4) Vgl. Pr 8,30-31.
(5) Vgl. Irenäus, Adv. Haer. III., 11,8: ed. Sagnard, S. 200: vgl. ebd. 16, 6, S. 290 bis 292; 21, 10-22, S. 370-372; 22, 3, S. 378 u. ö.


Der vielfältige Zusammenhang zwischen der guten Botschaft Christi und der Kultur

58 Vielfache Beziehungen bestehen zwischen der Botschaft des Heils und der menschlichen Kultur. Denn Gott hat in der Offenbarung an sein Volk bis zu seiner vollen Selbstkundgabe im fleischgewordenen Sohn entsprechend der den verschiedenen Zeiten eigenen Kultur gesprochen. In gleicher Weise nimmt die Kirche, die im Lauf der Zeit in je verschiedener Umwelt lebt, die Errungenschaften der einzelnen Kulturen in Gebrauch, um die Botschaft Christi in ihrer Verkündigung bei allen Völkern zu verbreiten und zu erklären, um sie zu erforschen und tiefer zu verstehen, um sie in der liturgischen Feier und im Leben der vielgestaltigen Gemeinschaft der Gläubigen besser Gestalt werden zu lassen.

Zugleich ist die Kirche wohl zu allen Völkern, welcher Zeit und welchen Landes auch immer, gesandt, jedoch an keine Rasse oder Nation, an keine besondere Art der Sitte, an keinen alten oder neuen Brauch ausschließlich und unlösbar gebunden. Sie läßt zwar den Zusammenhang mit ihrer eigenen geschichtlichen Herkunft nicht abreißen, ist sich aber zugleich der Universalität ihrer Sendung bewußt und vermag so mit den verschiedenen Kulturformen eine Einheit einzugehen, zur Bereicherung sowohl der Kirche wie der verschiedenen Kulturen.

Die gute Botschaft Christi erneuert unausgesetzt Leben und Kultur des gefallenen Menschen und bekämpft und beseitigt Irrtümer und Übel, die aus der stets drohenden Verführung zur Sünde hervorgehen. Unablässig reinigt und hebt sie die Sitten der Völker. Die geistigen Vorzüge und Anlagen eines jeden Volkes oder einer jeden Zeit befruchtet sie sozusagen von innen her mit überirdischen Gaben, festigt, vollendet und erneuert sie in Christus (6). Schon durch die Erfüllung der eigenen Aufgabe (7) treibt die Kirche die menschliche und mitmenschliche Kultur voran und trägt zu ihr bei; durch ihr Wirken, auch durch ihre Liturgie, erzieht sie den Menschen zur inneren Freiheit.

(6) Vgl.
Ep 1,10.
(7) Vgl. die Worte Pius' XI. an M.-D. Roland-Gosselin: "Nie darf man aus dem Blick verlieren, daß es das Ziel der Kirche ist, zu evangelisieren, und nicht, Kultur zu treiben. Wenn sie Kultur betreibt, dann durch Evangelisation" (Semaine sociale de Versailles, 1936, 461-462).


i. Verschiedene Gesichtspunkte für die rechte Pflege der Formen menschlicher Kultur

59 Aus den genannten Gründen erinnert die Kirche alle daran, daß die Kultur auf die Gesamtentfaltung der menschlichen Person und auf das Wohl der Gemeinschaft sowie auf das der ganzen menschlichen Gesellschaft auszurichten ist. Darum muß der menschliche Geist so gebildet werden, daß die Fähigkeit des Staunens, der eigentlichen Wesenserkenntnis, der Kontemplation, der persönlichen Urteilsbildung und das religiöse, sittliche und gesellschaftliche Bewußtsein gefördert werden.

Da nämlich die Kultur unmittelbar aus der vernünftigen und gesellschaftlichen Anlage des Menschen hervorgeht, bedarf sie immer des ihr zustehenden Freiheitsraumes, um sich zu entfalten, und der legitimen Möglichkeit, den eigenen Prinzipien gemäß selbständig zu handeln. Sie hat also einen berechtigten Anspruch auf Anerkennung, und ihr eignet eine gewisse Unverletzlichkeit, freilich unter Wahrung der Rechte der Person und der Gemeinschaft, von der einzelnen bis zur universalen, und innerhalb der Grenzen des Gemeinwohls.

Die Heilige Synode macht sich daher die Lehre des Ersten Vatikanischen Konzils zu eigen, daß es "zwei verschiedene Erkenntnisordnungen" gibt, nämlich die des Glaubens und die der Vernunft, und daß die Kirche keineswegs verbietet, "daß die menschlichen Künste und Wissenschaften bei ihrer Entfaltung, jede in ihrem Bereich, jede ihre eigenen Grundsätze und ihre eigene Methode gebrauchen". Daher bejaht sie "in Anerkennung dieser berechtigten Freiheit" die rechtmäßige Eigengesetzlichkeit der Kultur und vor allem der Wissenschaften (8).

Damit ist auch gefordert, daß der Mensch unter Wahrung der sittlichen Ordnung und des Gemeinnutzes frei nach der Wahrheit forschen, seine Meinung äußern und verbreiten und die Kunst nach seiner Wahl pflegen kann; schließlich, daß er wahrheitsgemäß über öffentliche Vorgänge unterrichtet werde (9).

Aufgabe der öffentlichen Gewalt ist es nicht, die Kulturformen in ihrer besonderen Eigenart jeweils festzulegen, sondern günstige Voraussetzungen zu schaffen und entsprechende Hilfen zu gewähren, um das kulturelle Leben bei allen, auch bei nationalen Minderheiten, zu fördern (10). Darum muß man vor allem verhindern, daß die Kultur ihrem eigenen Zweck entfremdet und politischen oder wirtschaftlichen Mächten zu dienen gezwungen wird.

(8) I. Vat. Konzil, Dogm. Konst. über den kath. Glauben Dei Filius, Kap. IV: D 1795.1799 (
DS 3015 DS 3019): Vgl. Pius XI., Enz. Quadragesimo anno: AAS 23 (1931) 190.
(9) Vgl. Johannes XXIII., Enz. Pacem in terris: AAS 55 (1963) 260.
(10) Johannes XXlII., Enz. Pacem in terris: AAS 55 (1963) 283; Pius XII., Radiobotschaft, 24. Dez. 1941: AAS 34 (1942) 16-17.


Dritter Abschnitt: Einige dringliche Aufgaben der Christen im Bereich der Kultur

Die Anerkennung und Verwirklichung des Rechts aller auf die Wohltaten der Kultur

60 Da jetzt die Möglichkeit gegeben ist, die meisten Menschen aus dem Elend der Unwissenheit zu befreien, ist es heute eine höchst zeitgemäße Pflicht, vor allem für die Christen, tatkräftig darauf hinzuarbeiten, daß in der Wirtschaft wie in der Politik, auf nationaler wie auf internationaler Ebene Grundentscheidungen getroffen werden, durch die das Recht aller auf menschliche und mitmenschliche Kultur auf der ganzen Welt anerkannt wird und zur Verwirklichung kommt, ein Recht, das entsprechend der Würde der menschlichen Person allen ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Nation, der Religion oder der sozialen Stellung zukommt.

Daher ist dafür Sorge zu tragen, daß die Kulturgüter in ausreichendem Maße allen zugänglich sind, vor allem jene, die die sogenannte Grundkultur ausmachen, damit nicht weiterhin ein großer Teil der Menschheit durch Analphabetismus und Mangel an verantwortlicher Eigeninitiative von einer wahrhaft menschlichen Mitarbeit am Gemeinwohl ausgeschlossen wird. Ziel muß also sein, daß alle, die entsprechend begabt sind, zu höheren Studien aufsteigen können, und zwar so, daß sie, soweit es möglich ist, in der Gesellschaft jene Aufgaben, Ämter und Dienste erreichen, die ihrer Begabung und ihren Fachkenntnissen entsprechen (11). So werden jeder Einzelne und alle gesellschaftlichen Gruppen eines jeden Volkes zur vollen Entfaltung ihres kulturellen Lebens gelangen können, wie sie ihren Anlagen und Überlieferungen gemäß ist.

Darüber hinaus sind ernste Anstrengungen zu machen, daß sich alle des Rechtes auf Kultur bewußt werden und der Pflicht, sich selbst zu bilden und andere bei ihrer Bildung zu unterstützen; gibt es doch mitunter Lebens- und Arbeitsbedingungen, die die kulturellen Bemühungen der Menschen behindern und das Streben nach Kultur in ihnen ersticken. Das gilt in besonderer Weise für Landbevölkerung und Arbeiter; diesen müssen Arbeitsbedingungen geboten werden, die ihre menschliche Kultur nicht beeinträchtigen, sondern fördern. Die Frauen sind zwar schon in fast allen Lebensbereichen tätig, infolgedessen sollen sie aber auch in der Lage sein, die ihrer Eigenart angemessene Rolle voll zu übernehmen. Sache aller ist es, die je eigene und notwendige Teilnahme der Frau am kulturellen Leben anzuerkennen und zu fördern.

(11) Vgl. Johannes XXIII., Enz. Pacem in terris: AAS 55 (1963) 260.


Die Erziehung zur menschlichen Gesamtkultur

61 Die verschiedenen Wissenschaften und Künste in eine Synthese zu bringen ist heute schwieriger als früher. Denn einerseits nimmt die Menge und Vielfalt der Elemente zu, die die Kultur ausmachen, andererseits verringert sich die Fähigkeit der Einzelnen, diese zu erfassen und organisch zu ordnen, so daß das Idealbild eines universal gebildeten Menschen immer mehr schwindet. Dennoch bleibt es Verpflichtung eines jeden, die Totalität der menschlichen Person zu wahren, die vor allem durch die Werte der Vernunft, des Willens, des Gewissens und der Brüderlichkeit bestimmt ist, Werte, die alle in Gott dem Schöpfer ihren Grund haben und in Christus wunderbar geheilt und erhoben sind.

Insbesondere in der Familie, sozusagen der Mutter und Hüterin dieser Erziehung, lernen die Kinder, von Liebe umhegt, leichter die wahre Ordnung der Wirklichkeit; die erprobten Formen der menschlichen Kultur prägen sich gleichsam von selbst dem Geist der heranwachsenden Jugend ein.

Für eben diese Erziehung gibt es in der heutigen Gesellschaft günstige Möglichkeiten, besonders durch weitere Verbreitung von Büchern und die neuen kulturellen und sozialen Kommunikationsmittel, die einer Universalkultur förderlich sein können. Da nämlich die Arbeitszeit allenthalben verkürzt wird, nimmt die frei verfügbare Zeit für sehr viele ständig zu. Die Freizeit soll nun sinnvoll zur Entspannung und zur Kräftigung der geistigen und körperlichen Gesundheit verwendet werden: durch Beschäftigung nach eigener Wahl und Studien; durch Reisen in andere Länder (Tourismus), durch die der menschliche Geist weitergebildet wird, die Menschen aber auch durch gegenseitige Bekanntschaft bereichert werden; durch den Sport mit seinen Veranstaltungen, der zum psychischen Gleichgewicht des Einzelnen und der Gesellschaft sowie zur Anknüpfung brüderlicher Beziehungen zwischen Menschen aller Lebensverhältnisse, Nationen oder Rassen beiträgt. Die Christen sollen sich also an den kollektiven Veranstaltungen und Aktionen im kulturellen Bereich beteiligen, die unserer Zeit eigentümlich sind, damit sie mit humanem und christlichem Geist durchdrungen werden.

Alle diese offenen Möglichkeiten aber vermögen eine volle kulturelle Erziehung des Menschen nicht zu verwirklichen, wenn man sich nicht gleichzeitig gründlich mit der Bedeutung von Kultur und Wissenschaft für die menschliche Person befaßt.

Das rechte Verhältnis der menschlichen und mitmenschlichen Kultur zur christlichen Bildung

62 Wiewohl die Kirche zum kulturellen Fortschritt viel beigetragen hat, so steht doch durch Erfahrung fest, daß ein friedliches Verhältnis von Kultur und Christentum, wenn auch aus historisch bedingten Ursachen, sich nicht immer ohne Schwierigkeiten einstellt.

Diese Schwierigkeiten brauchen das Glaubensleben nicht notwendig zu schädigen, können vielmehr den Geist zu einem genaueren und tieferen Glaubensverständnis anregen. Denn die neuen Forschungen und Ergebnisse der Naturwissenschaften, aber auch der Geschichtswissenschaft und Philosophie stellen neue Fragen, die sogar für das Leben Konsequenzen haben und auch von den Theologen neue Untersuchungen verlangen. Außerdem sehen sich die Theologen veranlaßt, immer unter Wahrung der der Theologie eigenen Methoden und Erfordernisse nach einer geeigneteren Weise zu suchen, die Lehre des Glaubens den Menschen ihrer Zeit zu vermitteln. Denn die Glaubenshinterlage selbst, das heißt die Glaubenswahrheiten, darf nicht verwechselt werden mit ihrer Aussageweise, auch wenn diese immer den selben Sinn und Inhalt meint (12). In der Seelsorge sollen nicht nur die theologischen Prinzipien, sondern auch die Ergebnisse der profanen Wissenschaften, vor allem der Psychologie und der Soziologie, wirklich beachtet und angewendet werden, so daß auch die Laien zu einem reineren und reiferen Glaubensleben kommen.

Auf ihre Weise sind auch Literatur und Kunst für das Leben der Kirche von großer Bedeutung. Denn sie bemühen sich um das Verständnis des eigentümlichen Wesens des Menschen, seiner Probleme und seiner Erfahrungen bei dem Versuch, sich selbst und die Welt zu erkennen und zu vollenden; sie gehen darauf aus, die Situation des Menschen in Geschichte und Universum zu erhellen, sein Elend und seine Freude, seine Not und seine Kraft zu schildern und ein besseres Los des Menschen vorausahnen zu lassen. So dienen sie der Erhebung des Menschen in seinem Leben in vielfältigen Formen je nach Zeit und Land, das sie darstellen.

Durch angestrengtes Bemühen soll erreicht werden, daß die Künstler das Bewußtsein haben können, in ihrem Schaffen von der Kirche anerkannt zu sein, und daß sie im Besitz der ihnen zustehenden Freiheit leichter zum Kontakt mit der christlichen Gemeinde kommen. Auch die neuen Formen der Kunst, die gemäß der Eigenart der verschiedenen Völker und Länder den Menschen unserer Zeit entsprechen, sollen von der Kirche anerkannt werden. In das Heiligtum aber sollen sie aufgenommen werden, wenn sie in einer dafür angepaßten Aussageweise den Erfordernissen der Liturgie entsprechen und den Geist zu Gott erheben (13).

So wird das Wissen um Gott besser verdeutlicht, die evangelische Botschaft wird dem Geist der Menschen zugänglicher und zeigt sich als etwas, was gewissermaßen ihrem Dasein schon immer eingestiftet war.

Die Gläubigen sollen also in engster Verbindung mit den anderen Menschen ihrer Zeit leben und sich bemühen, ihre Denk- und Urteilsweisen, die in der Geisteskultur zur Erscheinung kommen, vollkommen zu verstehen. Das Wissen um die neuen Wissenschaften, Anschauungen und Erfindungen sollen sie verbinden mit christlicher Sittlichkeit und mit ihrer Bildung in der christlichen Lehre, damit religiöses Leben und Rechtschaffenheit mit der wissenschaftlichen Erkenntnis und dem täglich wachsenden technischen Fortschritt bei ihnen Schritt halten und sie so alles aus einer umfassenden christlichen Haltung zu beurteilen und zu deuten vermögen.

Die Vertreter der theologischen Disziplinen an den Seminarien und Universitäten sollen mit hervorragenden Vertretern anderer Wissenschaften in gemeinsamer Bemühung und Planung zusammenzuarbeiten suchen. Die theologische Forschung soll sich zugleich um eine tiefe Erkenntnis der geoffenbarten Wahrheit bemühen und die Verbindung mit der eigenen Zeit nicht vernachlässigen, um den in so verschiedenen Wissenszweigen gebildeten Menschen zu einem umfassenderen Glaubensverständnis verhelfen zu können. Dieses gemeinsame Bemühen wird auch für die Ausbildung der Seelsorger von größtem Nutzen sein, damit diese imstande sind, die Lehre der Kirche über Gott, den Menschen und die Welt den Menschen unserer Zeit in geeigneter Weise darzulegen, und so das Wort der Kirche von diesen auch bereitwilliger angenommen wird (14). Es ist sogar wünschenswert, daß einer großen Zahl von Laien eine hinreichende Bildung in der Theologie vermittelt werde und recht viele von ihnen die Theologie auch zum Hauptstudium machen und selber weiter fördern. Zur Ausführung dieser Aufgabe muß aber den Gläubigen, Klerikern wie Laien, die entsprechende Freiheit des Forschens, des Denkens sowie demütiger und entschiedener Meinungsäußerung zuerkannt werden in allen Bereichen ihrer Zuständigkeit (15).

(12) Vgl. Johannes XXIII., Rede zur Konzilseröffnung, 11. Okt. 1962: AAS 54 (1962) 792.
(13) Vgl. II. Vat. Konzil, Konstitution über die heilige Liturgie Sacrosanctum Concilium, Nr.
SC 123: AAS 56 (1964) 131; Paul VI., Ansprache an die römischen Künstler ("Messa degli Artisti"), 7. Mai 1964: AAS 56 (1964) 439-442.
(14) Vgl. II. Vat. Konzil, Dekret über die Ausbildung der Priester Optatam totius und Erklärung über die christliche Erziehung Gravissimum educationis.
(15) Vgl. II. Vat. Konzil, Dogm. Konst. über die Kirche Lumen Gentium, Kap. IV, Nr. LG 37: AAS 57 (1965) 42-43.


KAPITEL III


DAS WIRTSCHAFTSLEBEN


Zum Erscheinungsbild des Wirtschaftslebens

63 Auch im Wirtschaftsleben sind die Würde der menschlichen Person und ihre ungeschmälerte Berufung wie auch das Wohl der gesamten Gesellschaft zu achten und zu fördern, ist doch der Mensch Urheber, Mittelpunkt und Ziel aller Wirtschaft.

Wie die andern Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, so ist auch die heutige Wirtschaft geprägt durch die wachsende Herrschaft des Menschen über die Natur, durch die steigende Dichte und Gewichtigkeit der Beziehungen und wechselseitigen Abhängigkeit der Einzelnen, der Gruppen und der Völker sowie durch das immer häufigere Eingreifen der öffentlichen Gewalt. Zugleich haben die Fortschritte in der Produktionstechnik wie auch im Austausch von Gütern und Dienstleistungen die Wirtschaft in den Stand gesetzt, die gestiegenen Bedürfnisse der Menschheitsfamilie besser zu befriedigen.

Es fehlt aber auch nicht an Gründen zur Beunruhigung. Nicht wenige Menschen, namentlich in den wirtschaftlich fortgeschrittenen Ländern, sind von der Wirtschaft geradezu versklavt, so daß fast ihr ganzes persönliches und gesellschaftliches Leben von ausschließlich wirtschaftlichem Denken bestimmt ist, und dies ebenso in Ländern, die einer kollektivistischen Wirtschaftsweise zugetan sind, wie in anderen. Gerade zu der Zeit, da das Wachstum der Wirtschaft, vernünftig und human gelenkt und koordiniert, die sozialen Ungleichheiten mildern könnte, führt es allzu oft zu deren Verschärfung, hie und da sogar zur Verschlechterung der Lage der sozial Schwachen und zur Verachtung der Notleidenden. Während einer ungeheueren Masse immer noch das absolut Notwendige fehlt, leben einige auch in zurückgebliebenen Ländern - in Üppigkeit und treiben Verschwendung. Nebeneinander bestehen Luxus und Elend. Einige wenige erfreuen sich weitestgehender Entscheidungsfreiheit, während viele fast jeder Möglichkeit ermangeln, initiativ und eigenverantwortlich zu handeln, und sich oft in Lebens- und Arbeitsbedingungen befinden, die des Menschen unwürdig sind.

Ähnliche Störungen des ökonomischen und sozialen Gleichgewichts bestehen zwischen Landwirtschaft, Industrie und Dienstleistungsgewerben wie auch zwischen verschiedenen Gebieten einer und derselben Nation. Zwischen den wirtschaftlich fortgeschrittenen Völkern und anderen bildet sich ein ständig sich verschärfender Gegensatz heraus, der sogar den Weltfrieden gefährden kann.

Diese Gleichgewichtsstörungen werden von unseren Zeitgenossen mit um so wacherem Bewußtsein erlebt, als sie fest überzeugt sind, die gewaltigen technischen und ökonomischen Mittel, über die wir heute verfügen, machten es nicht nur möglich, sondern zur Pflicht, diesen unseligen Zustand zu überwinden. Daher werden vielfältige institutionelle Reformen in der Wirtschaft wie auch eine allgemeine Umstellung der Gesinnung und Verhaltensweise gefordert. Hierzu hat die Kirche Grundsätze der Gerechtigkeit und Billigkeit sowohl für das persönliche und das gesellschaftliche als auch für das internationale Leben, wie die rechte Vernunft sie fordert, im Lauf der Jahrhunderte unter dem Licht des Evangeliums erarbeitet und namentlich in jüngster Zeit vorgelegt. Das Heilige Konzil möchte diese Grundsätze der heutigen Lage entsprechend unterstreichen und vorzugsweise im Hinblick auf die Bedürfnisse einer im Fortschritt befindlichen Wirtschaft einige Orientierungen geben (1).

(1) Vgl. Pius XII., Botschaft, 23. März 1952: AAS 44 (1952) 273; Johannes XXIII., Ansprache an die ACLI., 1. Mai 1959: AAS 51 (1959) 358.


Erster Abschnitt: Der wirtschaftliche Fortschritt

Wirtschaftlicher Fortschritt zum Dienst am Menschen

64 Das Bemühen um vermehrte Erzeugung landwirtschaftlicher und industrieller Güter und um gesteigerte Darbietung von Dienstleistungen mit dem Ziel, den Bedürfnissen der wachsenden Menschenzahl gerecht zu werden und den immer höheren Ansprüchen der Menschen Genüge zu tun, erscheint heute mehr als je gerechtfertigt. Darum verdienen technischer Fortschritt, Aufgeschlossenheit für das Neue, die Bereitschaft, neue Unternehmen ins Leben zu rufen und bestehende zu erweitern, die Entwicklung geeigneter Produktionsverfahren, das ernsthafte Bemühen aller irgendwie am Produktionsprozeß Beteiligten, überhaupt alles, was zu diesem Fortschritt beiträgt, durchaus gefördert zu werden. Die fundamentale Zweckbestimmung dieses Produktionsprozesses besteht aber weder in der vermehrten Produktion als solcher noch in Erzielung von Gewinn oder Ausübung von Macht, sondern im Dienst am Menschen, und zwar am ganzen Menschen im Hinblick auf seine materiellen Bedürfnisse, aber ebenso auch auf das, was er für sein geistiges, sittliches, spirituelles und religiöses Leben benötigt. Das gilt ausdrücklich für alle Menschen und für jeden einzelnen, für jede Gruppe, für Menschen jeder Rasse und jeden Erdteils. Daraus folgt: Alle wirtschaftliche Tätigkeit ist - nach den ihr arteigenen Verfahrensweisen und Gesetzmäßigkeiten - immer im Rahmen der sittlichen Ordnung (2) so auszuüben, daß das verwirklicht wird, was Gott mit dem Menschen vorhat (3).

(2) Vgl. Pius XI., Enz. Quadragesimo anno: AAS 23 (1931) 190ff.; Pius XII., Botschaft, 23. März 1952: AAS 44 (1952) 276ff.; Johannes XXIII., Enz. Mater et Magistra: AAS 53 (1961) 450; II. Vat. Konzil, Dekret über die sozialen Kommunikationsmittel Inter mirifica, Kap. I, Nr.
IM 6: AAS 56 (1964) 147.
(3) Vgl. Mt 16,26 Lc 16,1-31 Col 3,17.


Der Mensch Herr des wirtschaftlichen Fortschritts

65 Niemals darf der wirtschaftliche Fortschritt der Herrschaft des Menschen entgleiten; ebensowenig darf er der ausschließlichen Bestimmung durch wenige mit übergroßer wirtschaftlicher Macht ausgestattete Einzelmenschen oder Gruppen noch auch durch den Staat, noch durch einige übermächtige Nationen ausgeliefert sein. Im Gegenteil ist geboten, daß auf jeder Stufe möglichst viele Menschen und, soweit es sich um den zwischenstaatlichen Bereich handelt, alle Nationen an der Lenkung des wirtschaftlichen Fortschritts aktiv beteiligt seien. Gleicherweise bedarf es der rechten Zusammenordnung und des sachgerechten inneren Verbundes des der eigenen Initiative entspringenden Wirkens der Einzelnen und der freien Gruppen einerseits und der Maßnahmen öffentlicher Gewalten andererseits.

Das Wachstum ist weder ausschließlich dem Automatismus des Tuns und Lassens der einzelnen Wirtschaftssubjekte noch ausschließlich dem Machtgebot der öffentlichen Gewalt zu überantworten. Sowohl die Lehren, die unter Berufung auf eine mißverstandene Freiheit notwendigen Reformen den Weg verlegen, als auch solche, die um einer kollektivistischen Organisation des Produktionsprozesses willen grundlegende Rechte der Einzelpersonen und der Gruppen hintansetzen, sind daher gleicherweise als irrig abzulehnen (4).

Die Bürger sollen sich ihrer auch von der Staatsgewalt anzuerkennenden Berechtigung und Verpflichtung bewußt sein, nach Maßgabe ihrer Möglichkeiten zum wahren Fortschritt ihres Gemeinwesens beizutragen. Namentlich in den wirtschaftlich weniger entwickelten Ländern, wo alle verfügbaren Mittel dringend benötigt werden, heißt es das Gemeinwohl ernstlich gefährden, wenn man seine Mittel dem produktiven Einsatz vorenthält oder - unbeschadet des persönlichen Rechtes auszuwandern - seinem Gemeinwesen materielle und ideelle Hilfen, auf die es angewiesen ist, entzieht.

(4) Vgl. Leo XIII., Enz. Libertas praestantissimum, 20. Juni 1888: ASS 20 (1887-88) 597ff.; Pius XI., Enz. Quadragesimo anno: AAS 23 (1931) 191ff.; ders., Divini Redemptoris: AAS 29 (1937) 65ff.; Pius XII., Weihnachtsbotschaft 1941: AAS 34 (1942) 10ff.; Johannes XXIII., Enz. Mater et Magistra: AAS 53 (1961) 401-464.


Abbau übergroßer sozialökonomischer Unterschiede

66 Um den Erfordernissen von Gerechtigkeit und Billigkeit Genüge zu tun, müssen ernsthafte Anstrengungen unternommen werden, um - unbeschadet der Rechte der menschlichen Person und der besonderen Veranlagung jedes einzelnen Volkes - die übergroßen und noch weiter zunehmenden Ungleichheiten der wirtschaftlichen Lage und die damit Hand in Hand gehende persönliche und soziale Diskriminierung möglichst rasch abzubauen. Desgleichen bedarf es in manchen Gegenden an gesichts der besonderen Schwierigkeiten, denen die Landwirtschaft in bezug auf Gewinnung und Absatz ihrer Erzeugnisse unterliegt, besonderer Maßnahmen zugunsten der Bauern mit dem Ziel, ihre Produktion zu erhöhen oder günstiger abzusetzen oder erforderliche Entwicklungen und Neugestaltungen in die Wege zu leiten oder ihr Einkommen auf eine angemessene Höhe zu bringen und so zu verhüten, daß sie, wie es öfters vorkommt, auf die Dauer über die Lage von Staatsbürgern zweiter Klasse nicht hinauskommen. Sache der Bauern selbst, vor allem der jungen Generation, ist es, sich angelegentlich darum zu bemühen, ihr berufliches Können zu steigern, ohne das es keinen Fortschritt in der Landwirtschaft geben kann (5).

Gerechtigkeit und Billigkeit gebieten ferner, die für wirtschaftlichen Fortschritt unerläßliche Mobilität so zu regeln, daß das Leben der Einzelnen und der Familien nicht ungesichert oder gefährdet wird. Die aus anderen Völkern und Ländern herangezogenen Arbeiter, die durch ihre Arbeit zum wirtschaftlichen Aufstieg des Volkes oder Landes beitragen, dürfen, was Entlohnung und Arbeitsbedingungen angeht, in keiner Weise diskriminiert werden. Alle im Aufnahmeland, namentlich aber die öffentlichen Stellen, dürfen sie nicht als bloße Produktionsmittel behandeln, sondern haben ihnen als menschlichen Personen zu begegnen und sollen ihnen helfen, ihre Familien nachzuziehen und sich angemessene Wohngelegenheit zu verschaffen, sollen auch ihre Eingliederung in das gesellschaftliche Leben des Aufnahmelandes und seiner Bevölkerung begünstigen. Soweit wie möglich sollte man jedoch in ihren Heimatländern selbst Arbeitsgelegenheit schaffen.

Angesichts der heute sich vollziehenden Umwälzungen im Wirtschaftsleben und des Gestaltwandels zur industriellen Gesellschaft, wo beispielsweise die Automation im Vormarsch ist, muß Sorge dafür getragen werden, daß ausreichende und für den Einzelnen passende Arbeitsgelegenheit, verbunden mit der Möglichkeit ausreichender technischer und fachlicher Ausbildung, bereitsteht und zugleich der Lebensunterhalt und die Menschenwürde namentlich derer gesichert sind, die wegen ihres gesundheitlichen Zustandes oder ihres Alters sich in besonders schwieriger Lage befinden.

(5) Zum Problem der Landwirtschaft vgl. vor allem Johannes XXIII., Enz. Mater et Magistra: AAS 53 (1961) 431ff.


Zweiter Abschnitt: Einige für das ganze sozialökonomische Leben verbindliche Grundsätze

Arbeit, Arbeitsbedingungen, Freizeit


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