Generalaudienz 2003 10
11 Lesung: Psalm 118, 1-2. 19-20. 22-23
1 Eine Dankliturgie Danket dem Herrn, denn er ist gütig, denn seine Huld währt ewig.
2 So soll Israel sagen: Denn seine Huld währt ewig.
19 Öffnet mir die Tore zur Gerechtigkeit, damit ich eintrete, um dem Herrn zu danken.
20 Das ist das Tor zum Herrn, nur Gerechte treten hier ein.
22 Der Stein, den die Bauleute verwarfen, er ist zum Eckstein geworden.
23 Das hat der Herr vollbracht, vor unseren Augen geschah dieses Wunder.
Liebe Brüder und Schwestern!
1. An allen großen und fröhlichen Festtagen des frühen Judentums, besonders am Paschafest, wurde die Sequenz der Psalmen 113 -118 gesungen. Diese Reihe von Gesängen des Lobes und Dankes an Gott wurde das »ägyptische Hallel« genannt, weil in einem von ihnen, in Psalm 113 A, der Auszug Israels aus dem Land der Unterdrückung, dem Ägypten Pharaos, und das wunderbare Geschenk des göttlichen Bundes eindrucksvoll und poetisch besungen wurde. Der letzte Psalm also, der dieses »ägyptische Hallel« abschließt, ist genau Psalm 118, der soeben erklungen ist und von uns schon früher einmal kommentiert wurde.
2. Dieses Lied zeigt ganz klar eine liturgische Verwendung im Jerusalemer Tempel. Denn in seiner Struktur scheint sich eine Prozession den Weg zu bahnen, die in den »Zelten der Gerechten« (V. 15) beginnt, das heißt in den Häusern der Gläubigen. Diese rühmen den Schutz durch Gottes Hand, die den zu behüten vermag, der gerecht und zuversichtlich ist, auch wenn ihn böse Feinde bedrängen. Der Psalmist verwendet ein anschauliches Bild: »Sie umschwirren mich wie Bienen, wie ein Strohfeuer verlöschen sie; ich wehre sie ab im Namen des Herrn« (V. 12).
Angesichts dieser überstandenen Gefahr bricht das Volk Gottes in »Frohlocken und Jubel« aus (V. 15) zu Ehren der »Rechten des Herrn, die erhoben war und mit Macht gewirkt hat« (vgl. V. 16). Hier ist also das Wissen, daß man nie allein und verlassen und dem Sturm ausgeliefert ist, den die Feinde entfesselt haben. Das letzte Wort hat wirklich Gott, der zwar eine harte Prüfung des Gläubigen zuläßt, ihn aber nicht dem Tod übergibt (vgl. V. 18).
12 3. An dieser Stelle scheint die Prozession das Ziel zu erreichen, das der Psalmist durch das Bild der »Tore zur Gerechtigkeit« (V. 19), das heißt der heiligen Pforte des Tempels von Zion, in Erinnerung ruft. Die Prozession begleitet den Helden, dem Gott den Sieg geschenkt hat. Er bittet darum, ihm die Tore zu öffnen, damit er »eintrete, um dem Herrn zu danken« (V. 19). »Nur Gerechte treten hier ein« mit ihm (V. 20). Er beschreibt die harte Prüfung, die er überwunden hat, und die darauf folgende Verherrlichung und vergleicht sich mit einem »Stein, den die Bauleute verwarfen« und der dann »zum Eckstein geworden« ist (V. 22).
Christus hat gerade dieses Bild und diesen Vers am Ende des Gleichnisses von den bösen Winzern verwandt, um sein Leiden und seine Verherrlichung anzukündigen (vgl. Mt 21,42).
4. Indem Christus den Psalm auf sich selbst bezieht, öffnet er den Weg zum christlichen Verständnis dieses Liedes der Zuversicht und des Dankes an den Herrn für sein hesed, das heißt für seine liebevolle Treue, die im ganzen Psalm widerhallt (vgl. Ps 118,1 Ps 118,2 Ps 118,3 Ps 118,4 Ps 118,29).
Die Kirchenväter verwandten zwei Symbole. Vor allem das der »Tore zur Gerechtigkeit«, das Klemens von Rom in seinem Brief an die Korinther wie folgt kommentiert hat: »Obgleich nun viele Tore offen stehen, so ist das Tor der Gerechtigkeit das Tor Christi; selig sind alle, die durch dieses eingehen und die geraden Weges wandeln ›in Heiligkeit und Gerechtigkeit‹ (Lc 1,75), indem sie unbeirrt alles vollbringen« (48, 4: Bibliothek der Kirchenväter, Band 35, Kempten & München 1918, S. 57-58).
5. Das andere Symbol, das zum vorhergehenden hinzukommt, ist das des Felsen. Lassen wir uns also bei unserer Meditation vom hl. Ambrosius in seinem Lukaskommentar führen. Während er das Messiasbekenntnis des Petrus in Cäsarea Philippi kommentiert, betont er: »Der Fels ist Christus … auch seinem Jünger enthielt er diesen Ehrennamen nicht vor, auf daß auch er ein ›Petrus‹ (Fels) wäre, indem er vom Fels (Christus) die Festigkeit der Standhaftigkeit und die Kraft des Glaubens haben sollte.«
Ambrosius beginnt dann seine Ermahnung: »Setze denn alle Kraft ein, daß auch du ein Fels seiest! Nicht außer dir, sondern in dir suche den Fels! Dein Fels ist die Tatkraft, dein Fels ist der Geist. Über diesem Felsen läßt sich dein Haus aufbauen, daß es durch keine Stürme der Geister der Bosheit erschüttert werden kann. Bist du Fels, wirst du der Kirche angehören; denn auf Felsengrund ruht die Kirche. Gehörst du der Kirche an, werden die Pforten der Unterwelt dich nicht überwältigen« (VI, 97-99: Bibliothek der Kirchenväter, Kempten & München, Bd. 21, S. 320).
Der Rechtschaffene hat es oft schwer in der Welt. Er erfährt Gegnerschaft und Mißachtung wie der „Stein, den die Bauleute verwarfen" (Ps 118,22). Und doch ist der gute und gottesfürchtige Mensch der Eckstein einer neuen Ordnung. Das Wissen um die Huld des Herrn, die ihn auch durch Zeiten der Prüfung trägt und erhält, erfüllt den Gläubigen mit Hoffnung und Zuversicht. Daher jubelt der alttestamentliche Beter in Psalm 118: „Danket dem Herrn, denn er ist gütig" (V. 1). Wir Christen, die wir im Antlitz Jesu die Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes erkennen, stimmen gerne in diesen Lobpreis ein. Im Gebet bringen wir beständig unseren Dank vor Gott.
***
Herzlich grüße ich die Pilger und Besucher aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Dankt dem Herrn jederzeit und singt sein Lob in allen Lebenslagen. Laßt euch als lebendige Steine zum Bau der einen Kirche Christi gebrauchen! Gott, der ganz Heilige, lenke euer Denken und Tun!
13 Da sangen die drei im Ofen wie aus einem Mund, sie rühmten und priesen Gott mit den Worten:
52 Gepriesen bist du, Herr, du Gott unserer Väter, gelobt und gerühmt in Ewigkeit.
Gepriesen ist dein heiliger, herrlicher Name, hoch gelobt und verherrlicht in Ewigkeit.
53 Gepriesen bist du im Tempel deiner heiligen Herrlichkeit, hoch gerühmt und verherrlicht in Ewigkeit.
54 Gepriesen bist du, der in die Tiefen schaut und auf Kerubim thront, gelobt und gerühmt in Ewigkeit.
55 Gepriesen bist du auf dem Thron deiner Herrschaft, hoch gerühmt und gefeiert in Ewigkeit.
56 Gepriesen bist du am Gewölbe des Himmels, gerühmt und verherrlicht in Ewigkeit.
Liebe Brüder und Schwestern!
1. »Da sangen die drei im Ofen wie aus einem Mund, sie rühmten und priesen Gott« (Da 3,51). Dieser Satz leitet den berühmten Lobgesang ein, von dem wir soeben einen wichtigen Auszug gehört haben. Er findet sich im Buch Daniel, in dem Teil, der uns nur in griechischer Sprache überliefert ist und von mutigen Glaubenszeugen angestimmt wird, die das Standbild des Königs nicht anbeten und lieber einen schrecklichen Tod, das Martyrium im Feuerofen, auf sich nehmen wollen.
Es sind drei junge Juden, die vom Autor in geschichtlichen Zusammenhang mit dem Reich des schrecklichen babylonischen Herrschers Nebukadnezzar gebracht werden, der die heilige Stadt Jerusalem im Jahr 586 v. Chr. zerstörte und das Volk Israel »an die Ströme von Babel« verschleppte (vgl. Ps 136). Auch in der höchsten Gefahr, als die Flammen an ihnen hochschlugen, hatten sie die Kraft, Gott zu loben, »zu rühmen und zu preisen« in der Gewißheit, daß der Herr der Welt und der Geschichte sie nicht dem Tod und dem Nichts überlassen wird.
2. Der biblische Autor, der einige Jahrhunderte später lebte, erinnert an dieses heroische Ereignis mit der Absicht, seine Zeitgenossen anzuspornen, das Banner des Glaubens während der Verfolgungen durch die syro-hellenistischen Könige des 2. Jahrhunderts v. Chr. hochzuhalten. Damals war die mutige Reaktion der Makkabäer festzustellen, die für die Freiheit des Glaubens und der jüdischen Tradition kämpften.
14 Der sogenannte »Lobgesang der drei jungen Männer« gleicht einer Fackel, die die Dunkelheit der Zeit der Unterdrückung und Verfolgung aufhellt, einer Zeit, die sich in der Geschichte Israels und selbst in der Geschichte des Christentums oft wiederholt. Und wir wissen, daß der Verfolger nicht immer das gewalttätige und furchterregende Gesicht des Unterdrückers hat, sondern oft Gefallen daran findet, den Gerechten durch Spott und Ironie zu isolieren, indem er ihn höhnisch fragt: »Wo ist nun dein Gott?« (Ps 42,4 Ps 42,11).
3. In den Lobgesang, den die drei jungen Männer aus dem glühenden Ofen ihrer Prüfung zum Herrn, dem Allmächtigen, aufsteigen lassen, sind alle Geschöpfe mit einbezogen. Sie weben eine Art vielfarbigen Teppich, auf dem die Sterne glänzen, die Jahreszeiten vorbeiziehen, die Tiere sich bewegen, die Engel in Erscheinung treten und vor allem die »Knechte des Herrn«, die »Demütigen« und die »Frommen« lobsingen (vgl. Dan Da 3,85 Dan Da 3,87).
Der zuvor gesungene Vers geht dieser herrlichen Aufzählung der Geschöpfe voraus. Er bildet den ersten Teil des Lobgesangs, der an die unsichtbare und doch so nahe glorreiche Gegenwart des Herrn erinnert. Ja, Gott ist in den Himmeln, von wo er »in die Tiefen schaut« (vgl. 3, 54), aber er ist auch »im Tempel der Herrlichkeit« auf Zion (vgl. 3, 53). Er sitzt »auf dem Thron seiner ewigen und unendlichen Herrschaft« (vgl. 3, 55), und »er thront auf Kerubim« (vgl. 3, 54), in der Bundeslade, die im Allerheiligsten des Tempels von Jerusalem steht.
4. Er ist ein Gott hoch über uns, fähig, uns mit seiner Macht zu retten; aber er ist auch ein Gott, der seinem Volk nahe ist, unter dem er in seinem »Tempel der Herrlichkeit« wohnen wollte, um so seine Liebe zu zeigen. Eine Liebe, die er in Fülle offenbart, indem er »unter uns «seinen Sohn Jesus Christus, »voll Gnade und Wahrheit«, wohnen ließ (vgl. Jn 1,14). Er offenbarte seine Liebe in Fülle, indem er den Sohn zu uns sandte, damit dieser in allem, außer in der Sünde, unsere Befindlichkeit teile, die von Prüfungen, Unterdrückungen, Einsamkeit und Tod gezeichnet ist.
Das Loblied der drei jungen Männer an Gott, den Retter, wird in der Kirche auf verschiedene Weise fortgesetzt. Der hl. Klemens von Rom fügt beispielsweise am Ende seines Briefes an die Korinther ein langes Gebet des Lobes und der Zuversicht hinzu, das ganz durchzogen ist von biblischen Erinnerungen und vielleicht die alte römische Liturgie widergibt. Es ist ein Dankgebet an den Herrn, der die Geschichte trotz des scheinbaren Triumphs des Bösen zu einem guten Ende führt.
5. Hier ein Auszug daraus:
»Du hast die Augen unseres Herzens erleuchtet (vgl. Ep 1,18),
damit wir dich, den einzigen (vgl. Jn 17,3)
höchsten Gott in den Himmelshöhen erkennen,
den Heiligen, der unter den Heiligen ruht,
der die Gewalt der Stolzen bricht (vgl. Is 13,11),
15 der die Pläne der Völker zunichte macht (vgl. Ps 32,10),
der die Niedrigen erhöht und die Mächtigen erniedrigt (vgl. Ijob Jb 5,11).
Du, der uns reich und arm macht,
der tötet und lebendig macht (vgl. Dt 32,39),
einziger Wohltäter der Geister und Gott allen Fleisches,
der in die Tiefen schaut (vgl. Dan Da 3,55),
der auf die Werke der Menschen achtet,
der denen hilft, die in Gefahr sind, und die Hoffnungslosen rettet (vgl. Jdt Jdt 9,11);
Schöpfer und Hüter allen Geistes,
der du die Völker auf Erden vermehrst und die erwählt hast, die dich lieben,
durch Jesus Christus, deinen geliebten Sohn,
16 durch den du uns gebildet, geheiligt und geehrt hast«
(Klemens von Rom, Lettera ai Corinzi, 59, 3: I Padri Apostolici, Roma 1976, S. 88-89).
Das Buch Daniel berichtet von drei jungen Hebräern, die für ihren Glauben durch das Feuer gehen. Wie eine Fackel erleuchtet ihr Zeugnis die Nacht der Bedrängnis des Volkes Israel. Beständig loben, rühmen und preisen die drei Jünglinge in Feuerofen Gottes Herrlichkeit: „Gepriesen bist du, Herr, du Gott unserer Väter!" (Da 3,52).
Die Bedrängten wissen: Der Herr der Geschichte verläßt seine treuen Diener nicht. Was auch immer geschehen mag, der Allmächtige bleibt ihnen nahe. Durch die Menschwerdung Christi ist die Nähe Gottes zur Gewißheit geworden. Umso inniger dürfen wir Christen in den Lobgesang des Buches Daniel einstimmen: „Preist den Herrn, all seine Werke, lobt und rühmt ihn in Ewigkeit!" (Da 3,57 Da 3,58).
***
Sehr herzlich heiße ich die Wallfahrer und Besucher aus den Ländern deutscher Sprache willkommen. Besonders begrüße ich die Tertiarschwestern des heiligen Franziskus, die aus Anlaß des 350. Geburtstags ihrer Gründerin nach Rom gepilgert sind. Bittet den Herrn um Treue in seiner Nachfolge! Der Heilige Geist gieße dazu die göttliche Liebe in eure Herzen ein! Der Segen Gottes sei mit euch allezeit!
1 Das große Halleluja Halleluja! Lobet Gott in seinem Heiligtum, lobt ihn in seiner mächtigen Feste!
2 Lobt ihn für seine großen Taten, lobt ihn in seiner gewaltigen Größe!
3 Lobt ihn mit dem Schall der Hörner, lobt ihn mit Harfe und Zither!
17 4 Lobt ihn mit Pauken und Tanz, lobt ihn mit Flöten und Saitenspiel!
5 Lobt ihn mit hellen Zimbeln, lobt ihn mit klingenden Zimbeln!
6 Alles, was atmet, lobe den Herrn! Halleluja!
Liebe Brüder und Schwestern!
1. Zum zweiten Mal erklingt in der Liturgie der Laudes der Psalm 151, den wir soeben gesungen haben. Er ist ein feierlicher Hymnus, ein Halleluja im Takt der Musik. Er ist das ideale Siegel des ganzen Psalters, des Gebet- und Gesangbuches der Liturgie Israels.
Der Text ist von einer wunderbaren Schlichtheit und Transparenz. Wir brauchen uns nur von dem eindringlichen Ruf, den Herrn zu loben, in Bann ziehen lassen: »Lobt Gott … Lobet ihn … Lobt ihn!« Gott wird zunächst unter zwei Grundaspekten seines Geheimnisses vorgestellt. Er ist sicher transzendent, geheimnisvoll und übersteigt unseren Horizont. Seine königliche Wohnstatt ist das himmlische »Heiligtum«, »seine mächtige Feste«, einer dem Menschen unzugänglichen Festung ähnlich. Und doch ist er uns nahe. Er ist im »Heiligtum« von Zion gegenwärtig und handelt in der Geschichte durch seine »Wundertaten«, die »seine gewaltige Größe« offenbaren und erfahrbar machen (vgl. V. 1-2).
2. Zwischen Erde und Himmel besteht also gleichsam ein Kommunikationsfluß, in dem das Wirken des Herrn und der Lobgesang der Gläubigen zusammentreffen. Die Liturgie vereint die beiden Heiligtümer, den irdischen Tempel und den unendlichen Himmel, Gott und den Menschen, die Zeit und die Ewigkeit.
Beim Gebet unternehmen wir eine Art Aufstieg in das göttliche Licht und erfahren zugleich, daß Gott herabsteigt und sich unserer Begrenztheit anpaßt, um uns zu hören und zu uns zu sprechen, um uns zu begegnen und uns zu heilen. Der Psalmist rät uns, bei diesem Gebetstreffen ein Hilfsmittel zu verwenden: die Zuhilfenahme der Musikinstrumente des Orchesters des Jerusalemer Tempels, wie Hörner, Harfe, Zither, Pauken, Flöten, Zimbeln. Auch das Sich-Bewegen im Reigen gehörte zum Jerusalemer Ritual (vgl. Ps 117,27). In Psalm 47, 8 erklingt derselbe Aufruf: »Spielt ihm ein Psalmenlied!«
3. Es ist also notwendig, die Schönheit des Gebets und der Liturgie ständig neu zu entdecken und zu leben. Man soll nicht nur mit theologisch korrekten Formeln, sondern auch in schöner und würdevoller Weise zu Gott beten.
In dieser Hinsicht muß die christliche Gemeinschaft eine Gewissenserforschung vornehmen, damit in die Liturgie noch mehr die Schönheit der Musik und des Gesangs zurückkehren. Es ist notwendig, den Gottesdienst von Mißständen des Stils, von nachlässigen Ausdrucksformen, von banalen Musikstücken und Texten zu reinigen, die der Größe des Aktes, der gefeiert wird, wenig entsprechen.
Bedeutsam ist in dieser Hinsicht die Aufforderung des Briefes an die Epheser, Maßlosigkeit und Ausschweifung zu meiden und dafür der Reinheit des liturgischen Gesangs mehr Raum zu geben: »Berauscht euch nicht mit Wein - das macht zügellos -, sondern laßt euch vom Geist erfüllen! Laßt in eurer Mitte Psalmen, Hymnen und Lieder erklingen, wie der Geist sie eingibt. Singt und jubelt aus vollem Herzen zum Lob des Herrn! Sagt Gott, dem Vater, jederzeit Dank für alles im Namen Jesu Christi, unseres Herrn!« (5, 18-20).
18 4. Der Psalmist schließt mit der Einladung: »Alles was atmet, lobe den Herrn« (Ps 150,5), wörtlich »jeder Hauch«, »jeder Atem«, womit im Hebräischen »jedes Lebewesen, das Atem hat«, besonders »jeder lebendige Mensch« gemeint ist (vgl. Dt 20,16 Jos 10,40 Jos 11,11 Jos 11,14). In das Gotteslob ist also vor allem der Mensch mit seiner Stimme und seinem Herzen einbezogen. Mit ihm werden ideell alle Lebewesen, alle Geschöpfe, in denen Lebensgeist ist (vgl. Gn 7,22), zusammengerufen, damit sie ihr Danklied an den Schöpfer für das Geschenk des Lebens erheben.
Dieser universalen Einladung folgt auch der hl. Franziskus mit seinem eindrucksvollen »Sonnengesang«, in dem er dazu aufruft, den Herrn zu loben und ihm zu danken für alle Geschöpfe, die der Widerschein seiner Schönheit und seiner Güte sind (vgl. Fonti Francescane, 263).
5. An diesem Gesang sollen besonders die Gläubigen teilhaben, wie der Brief an die Kolosser empfiehlt: »Das Wort Christi wohne mit seinem ganzen Reichtum bei euch. Belehrt und ermahnt einander in aller Weisheit! Singt Gott in eurem Herzen Psalmen, Hymnen und Lieder, wie sie der Geist eingibt« (3, 16).
In seinem Psalmenkommentar schreibt Augustinus, daß er die Musikinstrumente an dieser Stelle als Symbole für die Heiligen ansieht, die Gott loben: »Ihr Heiligen seid die Hörner, das Saitenspiel, die Zither, die Pauken, der Chor, die Saiten und die Orgel und die jubelnden Zimbeln, die wunderbare Töne hervorbringen, das heißt, sie klingen harmonisch. Ihr seid all dies. Wenn man den Psalm hört, soll man nicht an Minderwertiges, an Vergängliches oder an theatralische Instrumente denken.« In Wirklichkeit ist »jeder Geist, der den Herrn lobt«, eine Stimme, die Gott lobpreist (Esposizioni sui Salmi, IV, Rm 1977, SS. 934-935).
Die höchste Musik also ist die, die aus unseren Herzen aufsteigt. Und Gott will gerade diese Harmonie in unseren Liturgien hören.
Die Liturgie ist der unaufhörliche und vollkommene Akt des Betens, in dem die Kirche Gottes Heilshandeln gläubig und klangvoll feiert. Sie verbindet Erde und Himmel, Zeit und Ewigkeit. Im Aufsteigen unseres Gebetes zum Licht Gottes und im wunderbaren Herabsteigen des Herrn auf den Altar vollzieht sich die schönste Begegnung, die Menschen erfahren dürfen. Weil wir in der Liturgie schon jetzt ein Stück Himmel verkosten, muß sie von allem Banalen frei bleiben. Nichts darf den Blick auf die Schönheit Gottes verstellen! Mit Psalm 150 will der Lobpreis des Allerhöchsten klar und rein erklingen: „Lobt Gott in seinem Heiligtum, lobt ihn in seiner gewaltigen Größe!" (vgl. Ps 150,1 - 2).
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Mit einem sehr herzlichen Gruß heiße ich die Pilger und Besucher aus den deutschsprachigen Ländern willkommen. Die Bestimmung des Menschen liegt in der Verherrlichung Gottes. Erneuert daher die Liebe zur Liturgie der Kirche, in der wir dem Herrn über Zeit und Ewigkeit begegnen! Heilig ist sein Name! Sein Lob erfülle eure Tage!
Aschermittwoch, 5. März 2003
Liebe Brüder und Schwestern!
19 1. Die Liturgie lädt am heutigen Aschermittwoch alle Gläubigen mit den Worten des Apostels Paulus nachdrücklich zur Umkehr ein: »Wir bitten an Christi Statt: Laßt euch mit Gott versöhnen!« (2Co 5,20). Die Fastenzeit ist in geistlicher Hinsicht der günstigste Moment, diese Mahnung anzunehmen, weil sie eine Zeit des verstärkten Betens, der Buße und der erhöhten Aufmerksamkeit für die Bedürfnisse der Brüder und Schwestern ist.
Durch den heutigen Ritus der Aschenauflegung bekennen wir uns als Sünder, bitten Gott um Vergebung und bekunden den aufrichtigen Wunsch nach Umkehr. So beginnen wir einen strengen asketischen Weg, der uns zum Ostertriduum führen wird, dem Mittelpunkt des liturgischen Jahres.
2. Nach altem kirchlichen Brauch sind die Gläubigen heute verpflichtet, auf Fleischspeisen zu verzichten und zu fasten mit Ausnahme derer, die aus gesundheitlichen Gründen oder wegen ihres Alters dieser Pflicht zu Recht enthoben sind. Fasten ist von großem Wert für das Leben der Christen, es ist ein geistliches Bedürfnis, um sich besser auf Gott einzustimmen. Aber die äußerlichen Aspekte des Fastens, obwohl sie wichtig sind, schöpfen diese Praxis nicht aus. Hinzu muß der aufrichtige Wunsch nach innerer Läuterung, nach der Bereitschaft, dem göttlichen Willen zu gehorchen, und der fürsorglichen Solidarität gegenüber den Brüdern und Schwestern, insbesondere den Ärmsten, kommen.
Es besteht auch eine enge Verbindung zwischen Fasten und Gebet. Beten heißt auf Gott hören, und das Fasten fördert diese Öffnung des Herzens.
3. Während wir in die Fastenzeit eintreten, können wir nicht umhin, den internationalen Kontext zu berücksichtigen, der durch gefährliche Kriegsspannungen geprägt ist. Es ist von seiten aller eine bewußte Übernahme der Verantwortung und eine gemeinsame Anstrengung notwendig, um die Menschheit vor einem weiteren dramatischen Konflikt zu bewahren. Deshalb wollte ich, daß der heutige Aschermittwoch ein Tag des Gebets und des Fastens sei, um den Frieden in der Welt zu erflehen.Wir müssen Gott vor allem um die Umkehr des Herzens bitten, in dem jede Form des Bösen und jeder Antrieb zur Sünde wurzelt; wir müssen beten und fasten für das friedliche Zusammenleben unter den Völkern und Nationen.
Zu Beginn unserer Begegnung haben wir die ermutigenden Worte des Propheten gehört: »Man zieht nicht mehr das Schwert, Volk gegen Volk, und übt nicht mehr für den Krieg« (Is 2,4). Und weiter: »Dann schmieden sie Pflugscharen aus ihren Schwertern und Winzermesser aus ihren Lanzen« (ebd.). Über dem geschichtlichen Wandel liegt die souveräne Gegenwart Gottes, der die Entscheidungen der Menschen beurteilt. Ihm, der »Recht spricht im Streit der Völker« und »viele Nationen zurechtweist« (vgl. ebd.), wenden wir unser Herz zu, um für alle eine Zukunft in Gerechtigkeit und Frieden zu erbitten. Dieser Gedanke muß jeden von uns anspornen, damit wir weiterhin unablässig beten und uns tatkräftig für den Aufbau einer Welt einsetzen, in der der Egoismus Platz macht für die Solidarität und Liebe.
4. Ich wollte diese dringende Einladung zur Umkehr, zur Buße und zur Solidarität auch in der Botschaft für die Fastenzeit erneut aussprechen, die vor einigen Tagen veröffentlicht wurde und den schönen Satz aus der Apostelgeschichte zum Thema hat: »Geben ist seliger als nehmen« (vgl. Ac 20,35).
Recht besehen, kann man nur durch die Bekehrung zu dieser Logik eine Gesellschaftsordnung aufbauen, die nicht von einem unsicheren Gleichgewicht gegensätzlicher Interessen geprägt ist, sondern von einem ausgewogenen und solidarischen Streben nach dem Gemeinwohl. Die Christen sind aufgerufen, in jedem Lebensbereich gleichsam als »Sauerteig« einen Stil der Uneigennützigkeit zu entwickeln und zu verbreiten, so daß sie auf diese Weise den wahren moralischen und bürgerlichen Fortschritt der Gesellschaft fördern. Diesbezüglich schrieb ich: »Nicht nur auf das Überflüssige, sondern auf etwas mehr zu verzichten, um es an die Bedürftigen weiterzugeben, trägt zu jener Selbstverleugnung bei, ohne die es keine echte christliche Lebenspraxis gibt« (O.R. dt., Nr. 4, 21.2.2003, S. 7).
5. Der heutige Tag des Gebets und des Fastens für den Frieden, mit dem wir die Fastenzeit beginnen, möge sich in konkrete Gesten der Versöhnung umsetzen. Im familiären und im internationalen Bereich soll sich jeder mitverantwortlich für den Aufbau des Friedens fühlen und tätig werden. Und der Gott des Friedens, der die Absichten der Herzen kennt und seine Söhne als Friedensstifter bezeichnet (vgl. Mt 5,9), wird es ihnen vergelten (vgl. Mt 6,4 Mt 6,6 Mt 6,18).
Wir vertrauen diese unsere Hoffnungen der Jungfrau Maria an, der Königin des heiligen Rosenkranzes und Mutter des Friedens. Möge sie uns an der Hand nehmen und uns in den kommenden vierzig Tagen bis zu Ostern begleiten, damit wir dann den auferstandenen Herrn sehen.
Ich wünsche allen eine gesegnete und fruchtbringende Fastenzeit!
20 „Geben ist seliger als nehmen" (Ac 20,35). Unter dieses Motto habe ich meine Botschaft zur Fastenzeit gestellt, die heute beginnt. Die Bereitschaft zum selbstlosen Teilen der irdischen Güter ist eine herrliche Frucht der Liebe, die der Heilige Geist in unsere Herzen eingießen will. Dazu müssen wir zunächst den dringenden Ruf des hl. Apostels Paulus zur Umkehr annehmen: „Wir bitten an Christi Statt: Laßt euch mit Gott versöhnen!" (2Co 5,20). Der ernste Wunsch nach innerer Reinigung und ein tiefes Verlangen, nach dem Willen Gottes zu leben, sind der Ansatz zur Bekehrung, ohne die wir nicht wirklich Christen sind. Fasten und Beten führen uns zu einer erneuerten Gemeinschaft mit Gott und untereinander!
***
Freundlich begrüße ich die Pilger und Besucher aus den Ländern deutscher Sprache, insbesondere die Vertreter der Katholischen Studentenverbände und eine Gruppe von Missio Aachen. Alle Christen rufe ich auf, den Aschermittwoch als Tag des Gebetes und des Fastens um den Frieden in der Welt zu begehen. Setzen wir ein klares Zeichen der Liebe und der Achtung für alle Menschen und Völker! Der Herr segne euch!
Liebe Brüder und Schwestern!
1. Wir feiern heute das Hochfest des hl. Josef, des Bräutigams von Maria (Mt 1,24 Lc 1,27). Die Liturgie stellt ihn uns als »Vater« Jesu vor (Lc 2,27 Lc 2,33 Lc 2,41 Lc 2,43 Lc 2,48), der bereit ist, die göttlichen Pläne zu verwirklichen, auch wenn sie das menschliche Verständnis übersteigen. Mit ihm, dem »Sohn Davids« (Mt 1,20 Lc 1,27), haben sich die Schriften erfüllt, und das Ewige Wort ist Mensch geworden durch den Heiligen Geist im Schoß der Jungfrau Maria. Der hl. Josef wird im Evangelium »gerecht« genannt (Mt 1,19), und er ist für alle Gläubigen ein Vorbild des im Glauben verankerten Lebens.
2. Das Wort »gerecht« bezeichnet die moralische Rechtschaffenheit, die aufrichtige Anhänglichkeit an die Praxis des Gesetzes und die Haltung vollkommener Offenheit gegenüber dem Willen des himmlischen Vaters. Auch in den schwierigen und manchmal dramatischen Momenten maßt sich der einfache Handwerker von Nazaret nie das Recht an, den Plan Gottes in Frage zu stellen. Er wartet auf den Ruf aus der Höhe, und er respektiert schweigend das Geheimnis, indem er sich vom Herrn leiten läßt. Nachdem er den Auftrag erhalten hat, führt er ihn mit Folgsamkeit und Verantwortungssinn aus: Er hört aufmerksam auf den Engel, als es darum geht, die Jungfrau von Nazaret zur Frau zu nehmen (vgl. Mt 1,18-25), nach Ägypten zu fliehen (vgl. Mt 2,13-15) und nach Israel zurückzukehren (vgl. ebd. 2, 19-23). Die Evangelisten beschreiben ihn in wenigen, aber bedeutsamen Zügen als fürsorgenden Beschützer Jesu und als aufmerksamen und treuen Gatten, der die familiäre Autorität in einer beständigen Haltung des Dienstes ausübt. Die Heiligen Schriften erzählen uns sonst nichts über ihn, aber in diesem Stillschweigen ist der Stil seiner Sendung enthalten: ein Dasein, das im grauen Alltag gelebt wird, zugleich aber geprägt ist von einem festen Glauben an die göttliche Vorsehung.
3. Der hl. Josef mußte tagtäglich durch harte handwerkliche Arbeit für den Unterhalt der Familie sorgen. Deshalb stellt die Kirche ihn als Patron der Arbeiter vor.
Das heutige Hochfest ist darum eine gute Gelegenheit, um auch über die Bedeutung der Arbeit im Leben des Menschen, in der Familie und in der Gemeinschaft nachzudenken.
Der Mensch ist Subjekt und Protagonist der Arbeit, und man kann im Hinblick auf diese Wahrheit gut den grundlegenden Zusammenhang zwischen Person, Arbeit und Gesellschaft erfassen. Die menschliche Arbeit - so lehrt das II. Vatikanische Konzil - geht aus dem Menschen hervor und ist auf den Menschen hingeordnet. Sie muß gemäß dem Plan und Willen Gottes mit dem wahren Wohl der Menschheit übereinstimmen und »dem Menschen als Einzelwesen und als Glied der Gesellschaft gestatten, seiner ganzen Berufung nachzukommen und sie zu erfüllen« (vgl. Gaudium et spes GS 35).
Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, ist eine »erprobte Spiritualität der menschlichen Arbeit« zu pflegen, die fest im »Evangelium der Arbeit« verwurzelt ist, und die Gläubigen sind berufen, den christlichen Sinn der Arbeit in ihren verschiedenen beruflichen Tätigkeiten zu verkünden und zu bezeugen (vgl. Laborem exercens LE 26).
21 4. Der hl. Josef, ein so großer und so einfacher Heiliger, soll das Vorbild sein, an dem sich die christlichen Arbeiter orientieren, indem sie ihn in jeder Situation um Fürbitte anrufen. Dem fürsorglichen Beschützer der Heiligen Familie von Nazaret möchte ich heute die jungen Menschen anvertrauen, die sich auf ihren Beruf vorbereiten, die Arbeitslosen und diejenigen, die unter dem Mißstand des Beschäftigungsmangels leiden, die Familien und die ganze Welt der Arbeit mit den Erwartungen und Herausforderungen, den Problemen und Aussichten, die sie kennzeichnen.
Der hl. Josef, der universale Schutzpatron der Kirche, wache über die ganze kirchliche Gemeinschaft und erlange als Mann des Friedens, der er war, für die ganze Menschheit, besonders für die in diesen Stunden vom Krieg bedrohten Völker, das wertvolle Geschenk der Eintracht und des Friedens.
Arbeit dient dem Menschen. In unseren Werken drückt sich unsere Persönlichkeit aus. Gemeinschaft unter Menschen wächst im Austausch ihrer Schaffenskraft. Indem wir die Welt gestalten, werden wir zu Mitarbeitern des Schöpfers.
Der heilige Josef, dessen Fest wir heute feiern, ist allen Arbeitenden ein vollkommenes Vorbild. Josef, der Gerechte (vgl. Mt 1,19), ist groß in der Demut. Still und bescheiden hat er nach Gottes Willen seine tägliche Arbeit verrichtet. Josef war ein Mann des Friedens. Er stellte sich in den Dienst der anderen. Der Blick auf den Nährvater Jesu macht deutlich: Auch unsere eigene Arbeit ist ein Weg, um mit Hilfe der Gnade an Gottes Heilswerk mitzuwirken.
Sehr herzlich heiße ich die Pilger und Besucher aus den deutschsprachigen Ländern willkommen. Besonders begrüße ich eine Gruppe von Priestern aus dem Bistum Hildesheim und Seminaristen aus dem Priesterseminar Eichstätt mit ihrem Bischof. Alle Christen mögen die Arbeit als einen Weg zur Heiligkeit begreifen! Gottes Wille sei die Richtschnur eures Handelns! Dazu erbitte ich euch allen den reichen Segen des Himmels.
1 Das vierte Buch
Der ewige Gott - der vergängliche Mensch [Ein Gebet des Mose, des Mannes Gottes.]
Herr, du warst unsere Zuflucht von Geschlecht zu Geschlecht.
2 Ehe die Berge geboren wurden, / die Erde entstand und das Weltall, bist du, o Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit.
22 3 Du läßt die Menschen zurückkehren zum Staub und sprichst: »Kommt wieder, ihr Menschen!«
4 Denn tausend Jahre sind für dich / wie der Tag, der gestern vergangen ist, wie eine Wache in der Nacht.
12 Unsre Tage zu zählen, lehre uns! Dann gewinnen wir ein weises Herz.
14 Sättige uns am Morgen mit deiner Huld! Dann wollen wir jubeln und uns freuen all unsre Tage.
Liebe Brüder und Schwestern!
1. Die soeben mit unseren Ohren und unseren Herzen vernommenen Psalmverse sind eine Weisheitsbetrachtung, die aber auch wie ein Gebet klingt. Denn der Beter des Psalms 90 stellt ein Thema in den Mittelpunkt seines Gebets, das von der Philosophie am meisten erforscht, von der Dichtung am meisten besungen, von der Erfahrung der Menschen aller Zeiten und Länder der Erde am tiefsten empfunden worden ist:die menschliche Hinfälligkeit und der Fluß der Zeit.
Wir denken an manche unvergeßliche Seite des Buches Ijob, in denen unsere Zerbrechlichkeit aufgezeigt wird. In der Tat, wir sind wie »jene, die im Lehmhaus wohnen, die auf den Staub gegründet sind; schneller als eine Motte werden sie zerdrückt. Vom Morgen bis zum Abend werden sie zerschlagen, für immer gehen sie zugrunde, unbeachtet« (Jb 4,19-20). Unser Leben auf Erden ist »wie Schatten« (vgl. Ijob Jb 8,9). Es ist wiederum Ijob, der bekennt: »Schneller als ein Läufer eilen meine Tage, sie fliehen dahin und schauen kein Glück. Sie gleiten vorbei wie Kähne aus Schilf, dem Adler gleich, der auf Beute stößt« (Jb 9,25-26).
2. Am Anfang seines Liedes, das einer Elegie gleicht (vgl. Ps 90,2-6), stellt der Psalmist die Ewigkeit Gottes und die geringe Zeit des Menschen mit Nachdruck einander gegenüber. Hier seine deutliche Erklärung: »Tausend Jahre sind für dich wie der Tag, der gestern vergangen ist, wie eine Wache in der Nacht« (V. 4).
Infolge der Ursünde zerfällt der Mensch einer göttlichen Weisung nach in Staub, aus dem er genommen worden war, wie es schon im Bericht der Genesis zu lesen ist: »Staub bist du, zum Staub muß du zurück« (3, 19; vgl. 2, 7). Der Schöpfer, der den Menschen in seiner ganzen Schönheit und Vielschichtigkeit formt, ist auch derjenige, der »den Menschen zum Staub zurückkehren läßt« (vgl. Ps 90,3). Und »Staub« ist in der biblischen Sprache auch symbolischer Ausdruck für den Tod, die Hölle, die Grabesstille.
3. In dieser Bitte kommt das Gefühl der menschlichen Begrenztheit sehr stark zum Ausdruck. Unser Dasein ist flüchtig wie das am Morgen sprießende Gras; es hört sogleich das Geräusch der Sichel, die es zu einem Haufen Heu werden läßt. Bald tritt die Dürre des Todes an die Stelle des frischen Lebens (vgl. V. 5-6; vgl. Is 40,6-7 Jb 14,1-2 Ps 102,14-16).
Wie es oft im Alten Testament geschieht, bringt der Psalmist diese radikale Schwäche mit der Sünde in Verbindung:In uns ist Endlichkeit, aber auch Schuld. Unserem Dasein scheinen deshalb auch der Zorn und das Gericht des Herrn zu drohen: »Denn wir vergehen durch deinen Zorn, werden vernichtet durch deinen Grimm. Du hast unsere Sünden vor dich hingestellt … Denn all unsere Tage gehn hin unter deinem Zorn« (Ps 90,7-9).
23 4. Bei Anbruch des neuen Tages entreißt uns die Liturgie der Laudes mit diesem Psalm unserer Illusion und unserem Stolz. Das Menschenleben ist begrenzt. »Unser Leben währt siebzig Jahre, und wenn es hoch kommt, sind es achtzig«, spricht der Beter. Auch der Ablauf der Stunden, Tage und Monate ist von »Mühsal und Beschwer« gezeichnet (vgl. V. 10), und die Jahre selbst erweisen sich als »ein Seufzer« (vgl. V. 9).
Hier also die bedeutsame Lehre: Der Herr lehrt uns, »unsere Tage zu zählen«, damit wir sie mit gesundem Realismus annehmen und so »ein weises Herz gewinnen« (V. 12). Aber der Beter erbittet noch etwas von Gott: Seine Gnade stütze und erfreue unsere Tage, die so flüchtig und von Prüfungen gezeichnet sind. Er möge uns die Hoffnung verspüren lassen, auch wenn die Wogen der Zeit uns mitzureißen scheinen. Allein die Gnade des Herrn kann unserem täglichen Tun Festigkeit und Ewigkeit schenken: »Es komme über uns die Güte des Herrn, unsres Gottes. Laß das Werk unserer Hände gedeihen, ja, laß gedeihen das Werk unsrer Hände!« (V. 17).
Durch das Gebet bitten wir Gott, daß ein Abglanz der Ewigkeit in unser kurzes Leben und Handeln eindringe. Durch die in uns gegenwärtige göttliche Gnade fällt ein Lichtstrahl auf den Ablauf der Tage, das Unglück wird zum Ruhm, und das, was sinnlos erscheint, wird Bedeutung erhalten.
5. Wir beenden unsere Betrachtung über den Psalm 90, indem wir die altchristliche Tradition sprechen lassen, die den Psalm, ausgehend von der Gestalt des verherrlichten Christus, kommentiert. Der christliche Schriftsteller Origines schreibt in seinem Traktat über die Psalmen, der in lateinischer Übersetzung durch den hl. Hieronymus zu uns gelangt ist, daß es die Auferstehung Christi ist, die uns die vom Psalmisten erahnte Möglichkeit gibt, »zu jubeln und uns zu freuen all unsre Tage« (vgl. V. 14). Und das, weil das Ostern Christi die Quelle unseres Lebens nach dem Tod ist: »nachdem wir uns über die Auferstehung unseres Herrn gefreut haben, durch die wir - so glauben wir - erlöst worden sind und eines Tages auch auferstehen werden, sind wir jetzt durch diese Zuversicht ermutigt und verbringen die uns noch verbleibenden Tage unseres Lebens in Freude; wir loben Gott mit geistlichen Liedern und Gesängen durch unsern Herrn Jesus Christus« (Origines/Hieronymus, 74 omelie sul libro dei Salmi, Milano 1993, S. 652).
Die Vergänglichkeit des Menschen und das nicht aufhaltbare Zerrinnen der Zeit stehen im Mittelpunkt von Psalm 90. Mit Nachdruck stellt der Psalmist die Ewigkeit Gottes der Flüchtigkeit der menschlichen Existenz gegenüber. Unsere Zerbrechlichkeit findet im biblischen Bild vom Staub ihren Ausdruck: „Staub bist du und zum Staub mußt du zurück" (Gn 3,19 vgl. Ps 90,3).
Im Beten dieses Psalms sprechen wir die tief in uns sitzende Schwäche an, die uns allzu oft in die Sünde führt. Vor Gott dürfen und müssen wir unsere Begrenztheit und unsere Schuld bekennen. Wenn wir Menschen schließlich mit gesundem Realismus lernen, „unsere Tage zu zählen, dann gewinnen wir ein weises Herz" (Ps 90,12).
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Vielmals grüße ich die Pilger und Besucher aus den deutschsprachigen Ländern, heute besonders eine Gruppe der Hessischen Polizei. Vor dem unendlichen Gott sind wir Menschen klein und begrenzt. Nur die Kraft der Gnade kann unserem Tun Beständigkeit verleihen. Bitten wir den Herrn, daß der Glanz seiner Ewigkeit unser kurzes Leben durchdringe! Gottes Güte komme über euch alle!
April 2003
Generalaudienz 2003 10