Reconciliatio et paenitentia DE 9
10 Als versöhnte und versöhnende Gemeinschaft kann die Kirche nicht vergessen, daß die Quelle ihrer Gabe und Sendung der Versöhnung die Initiative voller mitfühlender Liebe und Barmherzigkeit jenes Gottes ist, der die Liebe ist(41) und aus Liebe die Menschen erschaffen hat:(42) Er hat sie erschaffen, damit sie in Freundschaft mit ihm und in Gemeinschaft miteinander leben.
Gott bleibt seinem ewigen Plan treu, auch wenn der Mensch, vom Bösen getrieben(43) und von seinem Stolz verführt, die Freiheit mißbraucht, die ihm dazu gegeben ist, das Gute hochherzig zu lieben und zu suchen, und seinem Herrn und Vater den Gehorsam verweigert; wenn er, anstatt mit Liebe auf die Liebe Gottes zu antworten, sich ihm wie einem Rivalen widersetzt, wobei er sich selbst täuscht und seine Kräfte überschätzt. Die Folge davon ist ein Bruch in den Beziehungen zu demjenigen, der ihn erschaffen hat. Trotz dieser Treulosigkeit des Menschen bleibt Gott treu in seiner Liebe. Gewiß, die Erzählung vom Garten Eden läßt uns über die traurigen Folgen der Zurückweisung des Vaters nachdenken, die zu einer inneren Unordnung im Menschen und zum Bruch in der harmonischen Einheit zwischen Mann und Frau, zwischen Bruder und Bruder führt.(44) Auch das Gleichnis des Evangeliums von den zwei Söhnen, die sich, jeder auf seine Weise, vom Vater entfernen und einen Abgrund zwischen sich aufreißen, spricht von dieser Wahrheit. Die Zurückweisung der Vaterliebe Gottes und der Geschenke seines Herzens findet sich immer an der Wurzel von Spaltungen unter den Menschen.
Aber wir wissen, daß Gott, »der voll Erbarmen ist«(45) wie der Vater im Gleichnis, sein Herz vor keinem seiner Kinder verschließt. Er wartet auf sie und sucht sie; er erreicht sie dort, wo ihre Verweigerung der Gemeinschaft sie zu Gefangenen ihrer Einsamkeit und Trennung macht; er ruft sie, sich wieder um seinen Tisch zu versammeln und sich über das Fest der Vergebung und Versöhnung zu freuen.
Diese Initiative Gottes findet ihre konkrete Gestalt und ihren Ausdruck im erlösenden Handeln Christi, das durch den Dienst der Kirche in die Welt ausstrahlt.
Das Wort Gottes hat ja nach unserem Glauben Fleisch angenommen und ist gekommen, auf der Erde unter den Menschen zu wohnen; es ist in die Geschichte der Welt eingetreten, hat ihre Bedingungen auf sich genommen und sie in seinem Leben zusammengefaßt.(46) Christus hat uns offenbart, daß Gott Liebe ist, und hat uns das »neue Gesetz« der Liebe gegeben;(47) dabei hat er uns die Gewißheit vermittelt, daß der Weg der Liebe auf alle Menschen zuführt, so daß die Bemühungen, eine weltweite Brüderlichkeit(48) zu erreichen, nicht vergeblich sind. Indem er mit seinem Tod am Kreuz das Böse und die Macht der Sünde besiegt hat, hat er durch seinen von Liebe durchdrungenen Gehorsam allen das Heil gebracht und ist für alle »Versöhnung« geworden. In ihm hat Gott den Menschen mit sich versöhnt.
Die Kirche setzt die Verkündigung dieser Versöhnung, wie Christus sie in den Dörfern Galiläas und ganz Palästinas ausgerufen hat,(49) fort und lädt die ganze Menschheit unaufhörlich dazu ein, umzukehren und an diese Frohe Botschaft zu glauben. Die Kirche spricht dabei im Namen Christi; sie übernimmt den Aufruf des Apostels Paulus, auf den wir bereits hingewiesen haben: »Wir sind also Gesandte an Christi Statt, und Gott ist es, der durch uns mahnt. Wir bitten an Christi Statt: Laßt euch mit Gott versöhnen!«.(50)
Wer diesem Aufruf folgt, tritt ein in das Werk der Versöhnung und erfährt an sich die Wahrheit, die in jenem anderen Aufruf des hl. Paulus enthalten ist, nach dem Christus »unser Friede ist. Er vereinigte die beiden Teile (Juden und Heiden) und riß durch sein Sterben die trennende Wand der Feindschaft nieder... Er stiftete Frieden und versöhnte die beiden durch das Kreuz mit Gott in einem einzigen Leib«.(51) Wenn dieser Text auch direkt die Überwindung der religiösen Trennung zwischen Israel, dem erwählten Volk des Alten Bundes, und den anderen Völkern, die alle zur Teilnahme am Neuen Bund berufen sind, betrifft, so enthält er doch auch die Zusage der neuen geistlichen Universalität, die von Gott gewollt und durch das Opfer seines Sohnes, des menschgewordenen Ewigen Wortes, ohne Grenzen oder irgendwelche Ausschlüsse für alle diejenigen bewirkt worden ist, die umkehren und an Christus glauben. Alle sind wir also dazu berufen, die Früchte dieser gottgewollten Versöhnung zu genießen: jeder Mensch und jedes Volk.
11 Die Kirche ist gesandt, diese Versöhnung zu verkünden und ihr Sakrament in der Welt zu sein.Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug der Versöhnung, ist die Kirche in verschiedenen Weisen mit unterschiedlichem Wert; alle aber wirken darauf hin zu erreichen, was die göttliche Initiative der Barmherzigkeit den Menschen schenken will.
Sakrament ist sie schon allein durch ihr Dasein als versöhnte Gemeinschaft, die in der Welt das Werk Christi bezeugt und darstellt.
Sakrament ist sie ferner durch ihren Dienst als Hüterin und Interpretin der Heiligen Schrift, der Frohen Botschaft von der Versöhnung; von Generation zu Generation macht sie den Plan der Liebe Gottes bekannt und zeigt jeder die Wege zu einer umfassenden Versöhnung in Christus.
Sakrament ist sie schließlich durch die sieben Sakramente, die in je eigener Weise »die Kirche erbauen«.(52) Weil sie nämlich das österliche Geheimnis Christi in Erinnerung bringen und in der ihnen eigenen Weise erneuern, sind alle Sakramente eine Lebensquelle für die Kirche und bilden in ihren Händen Werkzeuge für die Umkehr zu Gott und für die Versöhnung unter den Menschen.
12 Die versöhnende Sendung kommt der ganzen Kirche zu, auch und vor allem jenem Teil, der schon endgültig an der göttlichen Herrlichkeit teilhaben darf, zusammen mit der Jungfrau Maria, mit den Engeln und Heiligen, die den dreimalheiligen Gott schauen und anbeten. Die Kirche im Himmel, die Kirche auf Erden, die Kirche im Fegfeuer, sie wirken in geheimnisvoller Einheit mit Christus zusammen, um die Welt mit Gott zu versöhnen.
Der erste Weg dieses Heilswirkens ist das Gebet. Ohne Zweifel unterstützen die heilige Jungfrau Maria, Mutter Christi und der Kirche,(53) und die Heiligen, die das Ende ihrer irdischen Pilgerschaft erreicht haben und nun in der Herrlichkeit Gottes leben, fürbittend ihre Brüder, die noch Pilger auf dieser Erde sind, in deren Bemühen, sich ständig zu bekehren, den Glauben zu vertiefen, nach jedem Fall sich wieder aufzurichten und so zu handeln, daß Gemeinsamkeit und Frieden in Kirche und Welt wachsen. Im Geheimnis der Gemeinschaft der Heiligen verwirklicht sich die universale Versöhnung in ihrer tiefsten und für das gemeinsame Heil fruchtbarsten Form.
Ein zweiter Weg ist die Verkündigung. Als Schülerin des einzigen Meisters Jesus Christus wird die Kirche ihrerseits als Mutter und Lehrerin nicht müde, den Menschen die Versöhnung anzubieten; unbeirrt weist sie auf die Bosheit der Sünde hin, verkündigt sie die Notwendigkeit der Bekehrung, lädt sie die Menschen ein und fordert sie auf, sich versöhnen zu lassen. Ja, das ist ihre prophetische Sendung in der Welt von heute wie von gestern: Es ist dieselbe Sendung ihres Herrn und Meisters Jesus Christus. Wie er, so wird auch die Kirche diese ihre Sendung stets mit dem Gefühl barmherziger Liebe erfüllen und allen die Worte der Vergebung und der Ermutigung zu neuer Hoffnung, die vom Kreuz kommen, überbringen.
Weiter gibt es dann den oft so schwierigen und harten Weg der Pastoral, die versucht, jeden Menschen - wer auch immer er sei oder wo auch immer er lebe - auf den zuweilen langen Weg der Rückkehr zum Vater in der Gemeinschaft mit allen Brüdern zu führen.
Schließlich gibt es den Weg des Zeugnisses, meist ohne Worte, das aus einer zweifachen Überzeugung der Kirche hervorgeht: aus der Überzeugung, von ihrem Wesen her »unzerstörbar heilig«(54) zu sein, zugleich es aber auch nötig zu haben, »sich Tag für Tag zu reinigen, bis daß Christus sie in all ihrer Schönheit, ohne Flecken und Runzeln, vor sich erscheinen läßt«; denn wegen unserer Sünden leuchtet ihr Antlitz vor den Augen derer, die sie betrachten, nicht recht auf.(55) Dieses Zeugnis muß also zwei grundlegende Formen annehmen: Zeichen sein für jene umfassende Liebe, die Jesus Christus seinen Jüngern als Erweis ihrer Zugehörigkeit zu seinem Reich als Erbe hinterlassen hat; und immer wieder neue Umkehr und Versöhnung bewirken, innerhalb wie außerhalb der Kirche, und Spannungen überwinden, sich gegenseitig vergeben sowie im Geist der Brüderlichkeit und des Friedens wachsen und diese Haltung in der ganzen Welt verbreiten. Auf diesem Wege kann die Kirche mit Erfolg dafür wirken, daß die von meinem Vorgänger Paul VI. so genannte »Zivilisation der Liebe« allmählich entsteht.
13 Der Apostel Johannes schreibt: »Wenn wir sagen, daß wir keine Sünde haben, führen wir uns selbst in die Irre, und die Wahrheit ist nicht in uns. Wenn wir unsere Sünden bekennen, ist er treu und gerecht; er vergibt uns die Sünden«.(56) Diese inspirierten Worte, an den Anfängen der Kirche geschrieben, leiten besser als jeder andere menschliche Ausdruck die Betrachtung über die Sünde ein, die eng mit jener über die Versöhnung verbunden ist. Sie berühren das Problem der Sünde in seinem anthropologischen Horizont, als einen festen Bestandteil der Wahrheit über den Menschen; aber sie stellen es zugleich in den göttlichen Horizont, in welchem die Sünde der Wahrheit der göttlichen Liebe begegnet, die gerecht ist, großherzig und treu und sich besonders im Vergeben und Erlösen offenbart. Deshalb kann derselbe Apostel Johannes kurz nach jenen Worten schreiben: »Wenn das Herz uns auch verurteilt - Gott ist größer als unser Herz«.(57)
Die eigene Sünde anerkennen, ja - wenn man bei der Betrachtung der eigenen Person noch tiefer vordringt - sich selbst als Sünder bekennen, zur Sünde fähig und zur Sünde neigend, das ist der unerläßliche Anfang einer Rückkehr zu Gott. Das ist auch die beispielhafte Erfahrung des David, der, nachdem »er vor den Augen des Herrn Böses getan hatte«, vom Propheten Nathan getadelt,(58) ausruft: »Ich bekenne meine bösen Taten, meine Sünde steht mir immer vor Augen. Gegen dich allein habe ich gesündigt; ich habe getan, was dir mißfällt«.(59) Ebenso läßt Jesus Mund und Herz des verlorenen Sohnes diese deutlichen Worte sprechen: »Vater, ich habe mich gegen den Himmel und gegen dich versündigt«.(60)
Versöhnung mit Gott setzt in der Tat voraus und schließt ein, sich klar und eindeutig von der Sünde zu trennen, die man begangen hat. Sie setzt also voraus und umfaßt das Bußetun im vollen Sinn des Wortes: bereuen, die Reue sichtbar machen, das konkrete Verhalten eines Büßers annehmen, der sich auf den Rückweg zum Vater begibt. Das ist ein allgemeines Gesetz, dem jeder in seiner besonderen Situation folgen muß. Das Reden über Sünde und Umkehr darf nicht bei abstrakten Begriffen stehenbleiben.
In der konkreten Verfaßtheit des Sünders, in der es keine Umkehr ohne die Erkenntnis der eigenen Sünde geben kann, stellt der kirchliche Dienst der Versöhnung immer wieder eine Hilfe zur Verfügung, die deutlich auf Buße ausgerichtet ist, das heißt den Menschen zur »Selbsterkenntnis«(61) bringen will, zur Trennung vom Bösen, zur Erneuerung der Freundschaft mit Gott, zur Wiederherstellung der inneren Ordnung, zu einer neuen Hinwendung zur Kirche. Über den Bereich der Kirche und der Gläubigen hinaus wenden sich die Botschaft zur Umkehr und der Dienst an der Buße an alle Menschen, weil alle der Bekehrung und Versöhnung bedürfen.(62)
Um diesen Dienst an der Buße in angemessener Weise zu erfüllen, ist es auch notwendig, mit den »erleuchteten Augen«(63) des Glaubens die Folgen der Sünde zu erwägen, die ja Anlaß sind für Trennung und Zerrissenheit nicht nur im Innern jedes Menschen, sondern auch in seinen verschiedenen Lebensräumen, in Familie und Umwelt, Beruf und Gesellschaft, wie man oft aus Erfahrung feststellen kann, in Bestätigung der biblischen Erzählung von Babel und seinem Turm.(64) Indem sie erbauen wollten, was zugleich Symbol und Ausgangspunkt der Einheit sein sollte, fanden sich diese Menschen am Ende zerstreuter vor als am Anfang, verwirrt in der Sprache, untereinander gespalten, unfähig zu Übereinstimmung und Gemeinsamkeit.
Warum ist dieser ehrgeizige Plan gescheitert? Warum mühten sich die Erbauer vergebens?(65) Weil die Menschen zum Zeichen und zur Garantie der ersehnten Einheit nur ein Werk ihrer eigenen Hände gemacht und das Wirken Gottes vergessen hatten. Sie hatten allein auf die horizontale Dimension der Arbeit und des gesellschaftlichen Lebens gesetzt, ohne jene vertikale Dimension zu beachten, durch die sie in Gott, ihrem Schöpfer und Herrn, ihre Verwurzelung gefunden und sich auf ihn als das letzte Ziel ihres Weges ausgerichtet hätten.
Man kann sagen, daß das Drama des Menschen von heute, in gewissem Maße das Drama des Menschen zu allen Zeiten, geradezu in seiner Ähnlichkeit mit Babel besteht.
14 Wenn wir die biblische Erzählung von der Stadt Babel und ihrem Turm im Licht der neuen Wahrheit des Evangeliums lesen und sie mit jener anderen Geschichte des Falles der Ureltern vergleichen, können wir daraus kostbare Elemente für ein Verständnis des Geheimnisses der Sünde gewinnen. Dieser Ausdruck, in dem anklingt, was der hl. Paulus über das Geheimnis der Bosheit(66) schreibt, will uns auf das Dunkle und Unbegreifbare aufmerksam machen, das sich in der Sünde verbirgt. Diese ist zweifellos eine Tat des freien Menschen; aber innerhalb dieser menschlichen Realität wirken Faktoren mit, durch welche die Sünde über den Menschen hinausragt in den Grenzbereich, wo Bewußtsein, Wille und Empfinden in Kontakt mit den dunklen Kräften stehen, die nach dem hl. Paulus in der Welt fast bis zu deren Beherrschung wirken.(67)
Aus der biblischen Erzählung vom Turmbau zu Babel ergibt sich ein erstes Element, das uns hilft, die Sünde zu verstehen: Die Menschen haben danach verlangt, eine Stadt zu erbauen, sich in einer Gesellschaft zusammenzuschließen, stark und mächtig zu sein ohne Gott, wenn nicht sogar gegen Gott.(68) In dieser Hinsicht stimmen die Erzählung von der ersten Sünde im Garten Eden und die Geschichte von Babel trotz ihrer beachtlichen Unterschiede in Inhalt und Form miteinander überein; in beiden sehen wir, wie Gott ausgeschlossen wird: durch eine direkte Opposition gegen eines seiner Gebote, durch eine Geste der Rivalität ihm gegenüber, durch die verlockende Absicht, sein zu wollen »wie er«.(69) In der Geschichte von Babel erscheint der Ausschluß Gottes nicht so sehr als bewußter Gegensatz zu ihm, sondern als Vergessenheit und Gleichgültigkeit ihm gegenüber, als ob man sich bei dem geplanten gemeinschaftlichen Handeln des Menschen um Gott nicht zu kümmern brauche. Aber in beiden Fällen wird die Beziehung zu Gott gewaltsam abgebrochen.In der Geschichte vom Garten Eden wird der innerste und dunkelste Kern der Sünde in seiner ganzen Ernsthaftigkeit und Dramatik sichtbar: der Ungehorsam gegen Gott, gegen sein Gesetz, gegen die moralische Norm, die er dem Menschen ins Herz geschrieben und mit seiner Offenbarung bestätigt und vervollkommnet hat.
Ausschluß Gottes, Bruch mit Gott, Ungehorsam gegen Gott: das war und ist die Sünde in der ganzen Menschheitsgeschichte, in ihren verschiedenen Formen bis hin zur Verneinung Gottes und seiner Existenz. Das ist die Wirklichkeit, die Atheismus genannt wird.
Ungehorsam des Menschen, der mit einem freien Willensakt die Herrschaft Gottes über sein Leben nicht anerkennt, zumindest in jenem Augenblick, wo er das Gesetz Gottes verletzt.
15 In den oben erwähnten biblischen Erzählungen mündet der Bruch mit Gott dramatisch ein in eine Trennung zwischen den Brüdern.
In der Beschreibung der »ersten Sünde« löst der Bruch mit Jahwe zugleich die Freundschaft auf, die die Menschheitsfamilie verband, so daß uns die folgenden Seiten der Genesis den Mann und die Frau zeigen, wie sie gleichsam gegeneinander den Anklagefinger erheben,(70) und dann den Sohn, der in seiner Feindschaft zum Bruder so weit kommt, daß er ihm das Leben nimmt.(71)
Nach der Erzählung des Geschehens von Babel ist die Folge der Sünde die Zersplitterung der Menschheitsfamilie, die schon mit der ersten Sünde begonnen hatte und nun im gesellschaftlichen Bereich ihren Höhepunkt erreicht.
Wer das Geheimnis der Sünde erforschen will, muß diese Verkettung von Ursache und Wirkung beachten. Als Bruch mit Gott ist die Sünde der Akt des Ungehorsams eines Geschöpfes, das wenigstens einschlußweise den zurückweist, dem es seinen Ursprung verdankt und der es am Leben hält; Sünde ist daher ein selbstmörderischer Akt. Weil der Mensch in der Sünde sich weigert, sich Gott zu unterstellen, zerbricht auch sein inneres Gleichgewicht, und in seinem Herzen brechen Widerspruch und Streit auf. Innerlich zerrissen, erzeugt der Mensch fast unvermeidlich einen Riß auch im Geflecht seiner Beziehungen mit den anderen Menschen und mit der geschaffenen Welt. Das ist ein Gesetz und ein objektiver Tatbestand, die sich in vielen Momenten der menschlichen Psychologie und des geistigen Lebens bestätigen wie auch in der Wirklichkeit des gesellschaftlichen Lebens, wo man die Auswirkungen und Zeichen innerer Unordnung leicht beobachten kann.
Das Geheimnis der Sünde besteht in dieser doppelten Verwundung, die der Sünder sich selbst und seiner Beziehung zum Nächsten zufügt. Deshalb kann man von personaler und von sozialerSünde sprechen: Jede Sünde ist in einer Hinsicht personal; in anderer Hinsicht aber ist sie sozial, insofern sie auch soziale Folgen hat.
16 Die Sünde im wahren und eigentlichen Sinne ist immer ein Akt der Person, weil sie ein Akt der Freiheit des einzelnen Menschen ist, nicht eigentlich einer Gruppe oder einer Gemeinschaft. Dieser Mensch kann von mancherlei schwerwiegenden äußeren Faktoren abhängen, von ihnen bedrängt und getrieben sein, wie er auch Neigungen, Belastungen und Gewohnheiten unterworfen sein kann, die mit seiner persönlichen Verfassung gegeben sind. In zahlreichen Fällen können solche äußeren und inneren Faktoren seine Freiheit und damit seine Verantwortung und Schuld mehr oder weniger vermindern. Aber es ist eine Glaubenswahrheit, von Erfahrung und Verstand bestätigt, daß die menschliche Person frei ist. Man darf diese Wahrheit nicht übersehen und die Sünde der einzelnen auf äußere Wirklichkeiten - auf Strukturen und Systeme oder auf die anderen Menschen - abwälzen. Das würde vor allem bedeuten, die Würde und die Freiheit der Person zu zerstören, die sich - wenn auch nur negativ und in entstellter Weise - auch in der Verantwortung für die begangene Sünde zeigen. Darum gibt es im Menschen nichts, was so persönlich und unübertragbar ist, wie das Verdienst aus der Tugend oder die Verantwortung für die Schuld.
Als Akt der Person hat die Sünde ihre ersten und wichtigsten Auswirkungen im Sünder selbst: in seiner Beziehung zu Gott, der tiefsten Grundlage menschlichen Lebens; dann auch in seinem geistigen Leben, wo durch die Sünde der Wille geschwächt und der Verstand verdunkelt werden.
An diesem Punkt müssen wir uns fragen, auf welche Wirklichkeit sich diejenigen bezogen haben, die bei der Vorbereitung der Synode und im Verlauf der synodalen Arbeiten oft die soziale Sündeerwähnten.
Dieser Ausdruck und der zugrundeliegende Begriff haben ja verschiedene Bedeutungen.
Von sozialer Sünde sprechen heißt vor allem anerkennen, daß die Sünde eines jeden einzelnen kraft einer menschlichen Solidarität, die so geheimnisvoll und verborgen und doch real und konkret ist, sich in irgendeiner Weise auf die anderen auswirkt. Das ist die Kehrseite jener Solidarität, die sich auf religiöser Ebene im tiefen und wunderbaren Geheimnis der Gemeinschaft der Heiligen darstellt, derentwegen jemand hat sagen können, daß »jede Seele, die sich selbst emporhebt, die Welt emporhebt«.(72) Diesem Gesetz des Aufstiegs entspricht leider das Gesetz des Abstiegs, so daß man auch von einer Gemeinschaft der Sünde sprechen kann, durch die eine Seele, die sich durch die Sünde erniedrigt, mit sich auch die Kirche erniedrigt und in gewisser Weise die ganze Welt. Mit anderen Worten, es gibt keine Sünde, und sei sie auch noch so intim und geheim und streng persönlich, die ausschließlich den betrifft, der sie begeht. Jede Sünde wirkt sich mehr oder weniger heftig und zum größeren oder kleineren Schaden aus auf die gesamte kirchliche Gemeinschaft und auf die ganze menschliche Familie. Nach dieser ersten Bedeutung kann man jeder Sünde unbestreitbar den Charakter einer sozialen Sünde zuerkennen.
Einige Sünden aber stellen schon durch ihren Inhalt selbst einen direkten Angriff auf den Nächsten dar oder, besser gesagt in der Sprache des Evangeliums, auf den Bruder. Sie sind eine Beleidigung Gottes, weil sie den Nächsten beleidigen. Solchen Sünden pflegt man die Bezeichnung sozial zu geben; und so liegt hierin die zweite Bedeutung des Begriffs der sozialen Sünde. Sozial in diesem Sinne ist die Sünde gegen die Nächstenliebe, die im Gesetz Christi noch schwerer wiegt, weil es hierbei ja um das zweite Gebot geht, das dem »ersten gleich ist«.(73) Sozial ist ebenso jede Sünde gegen die Gerechtigkeit in den Beziehungen von Person zu Person, von Person zu Gemeinschaft oder auch von Gemeinschaft zu Person. Sozial ist jede Sünde gegen die Rechte der menschlichen Person, angefangen vom Recht auf Leben, dabei nicht ausgenommen das Recht des Kindes im Mutterschoß, oder gegen die leibliche Unversehrtheit der einzelnen; jede Sünde gegen die Freiheit anderer, insbesondere gegen jene höchste Freiheit, an Gott zu glauben und ihn zu verehren; jede Sünde gegen die Würde und Ehre des Nächsten. Sozial ist jede Sünde gegen das Gemeinwohl und seine Forderungen im weiten Bereich der Rechte und Pflichten der Bürger. Sozial kann die Sünde einer Tat oder Unterlassung auf seiten der Verantwortlichen in Politik, Wirtschaft und Verwaltung sein, die sich, obwohl sie es könnten, nicht mit Klugheit um die Verbesserung oder Reform der Gesellschaft entsprechend den Erfordernissen und Möglichkeiten der jeweiligen Zeit bemühen; wie auch auf seiten der Arbeitnehmer, die nicht ihren Pflichten der Präsenz am Arbeitsplatz und der Zusammenarbeit nachkommen, auf daß die Unternehmen weiter zum Wohl der Arbeitnehmer selbst, ihrer Familien und der ganzen Gesellschaft wirken können.
Die dritte Bedeutung von sozialer Sünde meint die Beziehungen zwischen den verschiedenen Gemeinschaften der Menschen. Diese Beziehungen sind nicht immer in Übereinstimmung mit dem Plan Gottes, der in der Welt Gerechtigkeit, Freiheit und Frieden zwischen den Individuen, den Gruppen und den Völkern will. So ist der Klassenkampf ein soziales Übel, wer immer auch dafür verantwortlich ist oder seine Gesetze diktiert. So ist die Bildung fester Fronten zwischen Blöcken von Nationen und von einer Nation gegen die andere und zwischen Gruppen innerhalb desselben Volkes ebenfalls ein soziales Übel. In beiden Fällen kann man sich fragen, ob jemandem die moralische Verantwortung für solche Übel und somit die entsprechende Sünde zugeschrieben werden kann. Nun ist zuzugeben, daß Wirklichkeiten und Situationen, wie die angegebenen als soziale Tatbestände durch ihre weite Verbreitung und ihr Anwachsen bis zu gigantischen Ausmaßen fast immer anonym bleiben, weil ja ihre Ursachen vielschichtig und nicht immer nachweisbar sind. Wenn hierbei von sozialer Sünde gesprochen wird, hat dieser Ausdruck also offensichtlich eine analoge Bedeutung.
Auf jeden Fall darf das Sprechen von sozialen Sünden, und sei es nur im analogen Sinne, niemanden dazu verführen, die Verantwortung der einzelnen zu unterschätzen; es will vielmehr die Gewissen aller dazu aufrufen, daß jeder seine eigene Verantwortung übernehme, um ernsthaft und mutig jene unheilvollen Verhältnisse und unerträglichen Situationen zu ändern.
Dies klar und unmißverständlich vorausgeschickt, muß sogleich hinzufügt werden, daß jene Auffassung von sozialer Sünde nicht berechtigt und annehmbar ist - auch wenn sie heute in bestimmten Bereichen oft vorkommt(74) -, welche in unklarer Weise die soziale Sünde derpersonalen Sünde entgegenstellt und dadurch mehr oder weniger unbewußt dazu führt, diepersonale Sünde abzuschwächen und fast zu beseitigen, um nur noch soziale Schuld und Verantwortung zuzulassen. Nach dieser Auffassung, die ihre Herkunft von nichtchristlichen Systemen und Ideologien leicht erkennen läßt - welche vielleicht heute selbst von denen aufgegeben sind, die einst ihre offiziellen Verfechter waren -, wäre praktisch jede Sünde sozial in dem Sinne, daß sie nicht so sehr dem moralischen Gewissen einer Person angelastet werden könnte, sondern nur einer vagen Wirklichkeit und einem namenlosen Kollektiv, welche die konkrete Situation, das System, die Gesellschaft, die Strukturen, die Institution sein können.
Wenn die Kirche von Situationen der Sünde spricht oder bestimmte Verhältnisse und gewisse kollektive Verhaltensweisen von mehr oder weniger breiten sozialen Gruppen oder sogar von ganzen Nationen und Blöcken von Staaten als soziale Sünden anklagt, dann weiß sie und betont es auch, daß solche Fälle von sozialer Sünde die Frucht, die Anhäufung und die Zusammenballung vieler personaler Sünden sind. Es handelt sich dabei um sehr persönliche Sünden dessen, der Unrecht erzeugt, begünstigt oder ausnutzt; der, obgleich er etwas tun könnte, um gewisse soziale Übel zu vermeiden, zu beseitigen oder wenigstens zu begrenzen, es aus Trägheit oder Angst, aus komplizenhaftem Schweigen oder geheimer Beteiligung oder aus Gleichgültigkeit doch unterläßt; der Zuflucht sucht in der behaupteten Unmöglichkeit, die Welt zu verändern, und der sich den Mühen und Opfern entziehen will, indem er vorgebliche Gründe höherer Ordnung anführt. Die wirkliche Verantwortung liegt also bei den Personen.
Eine Situation - ebenso wie eine Institution, eine Struktur, eine Gesellschaft - ist an sich kein Subjekt moralischer Akte; deshalb kann sie in sich selbst nicht moralisch gut oder schlecht sein. Hinter jeder Situation von Sünde stehen immer sündige Menschen. Dies ist so sehr wahr, daß selbst dann, wenn eine solche Situation in ihren strukturellen und institutionellen Elementen kraft des Gesetzes oder - wie es leider häufiger vorkommt - durch das Gesetz der Gewalt verändert werden kann, diese Änderung sich in Wirklichkeit als unvollständig und von kurzer Dauer und schließlich als nichtig und unwirksam - wenn nicht sogar als kontraproduktiv - erweist, wenn sich nicht die Personen, die für eine solche Situation direkt oder indirekt verantwortlich sind, selbst bekehren.
17 Im Geheimnis der Sünde gibt es eine weitere Dimension, über die der menschliche Geist immer wieder nachgedacht hat: Gemeint ist die Schwere der Sünde. Es handelt sich um eine Frage, die sich notwendig stellt und auf die das christliche Gewissen stets eine Antwort gegeben hat: Weshalb und in welchem Maße ist Sünde als Beleidigung Gottes und in ihrer Rückwirkung auf den Menschen schwerwiegend? Die Kirche hat hierzu eine eigene Lehre, die sie in ihren wesentlichen Elementen bestätigt, wobei sie jedoch weiß, daß es in konkreten Situationen nicht immer leicht ist, klare Abgrenzungen vorzunehmen.
Schon das Alte Testament erklärte bei nicht wenigen Sünden - bei jenen, die mit Überlegung begangen wurden,(75) bei den verschiedenen Formen von Unzucht,(76) von falschem Gottesdienst(77) und der Anbetung falscher Götter(78) -, daß der Schuldige »aus seinem Volk« entfernt werden müsse, was auch die Verurteilung zum Tode bedeuten konnte.(79) Diesen Sünden wurden andere gegenübergestellt, vor allem jene, die aus Unwissenheit begangen worden waren: Sie wurden durch ein Opfer nachgelassen.(80)
Schon im Blick auf diese Texte spricht die Kirche seit Jahrhunderten von Todsünde und vonläßlicher Sünde. Diese Unterscheidung und die dabei verwandten Begriffe erhalten jedoch im Neuen Testament ein besonderes Licht; denn hier finden sich viele Texte, die mit kräftigen Ausdrücken die Sünden aufzählen und mißbilligen, die in besonderer Weise verurteilenswert sind,(81) und zwar über den von Jesus selbst bestätigten Dekalog hinaus.(82) Ich will mich hier insbesondere auf zwei wichtige und eindrucksvolle Abschnitte beziehen.
In einem Text seines ersten Briefes spricht Johannes von einer Sünde, die zum Tod führt (pròs thánaton), im Unterschied zu einer Sünde, die nicht zum Tod führt (mä pròs thánaton).(83) Offensichtlich ist der Tod hier geistlich gemeint: Es handelt sich um den Verlust des wahren Lebens oder des »ewigen Lebens«, das für Johannes die Erkenntnis des Vaters und des Sohnes ist,(84) die Gemeinschaft und innige Einheit mit ihnen. Die Sünde, die zum Tode führt, scheint in diesem Abschnitt die Verleugnung des Sohnes(85) oder die Anbetung falscher Gottheiten(86) zu sein. Jedenfalls will Johannes mit dieser begrifflichen Unterscheidung anscheinend die unendliche Schwere der Sünde, der Zurückweisung Gottes, hervorheben, die sich vor allem im Abfall von Gott und im Götzendienst zeigt, das heißt in der Zurückweisung des Glaubens an die geoffenbarte Wahrheit und in der Gleichsetzung Gottes mit gewissen geschaffenen Wirklichkeiten, die man dabei zu Idolen oder falschen Göttern macht.(87) Der Apostel möchte an jener Stelle aber auch die Zuversicht hervorheben, die der Christ durch seine »Wiedergeburt aus Gott« und durch »das Kommen des Sohnes« gewinnt: In ihm ist eine Kraft, die ihn vor dem Fall in die Sünde bewahrt; Gott schützt ihn, »der Böse berührt ihn nicht«. Wenn er aus Schwäche oder Unwissenheit sündigt, trägt er doch in sich die Hoffnung auf Vergebung, auch wegen der Hilfe, die ihm durch das gemeinsame Gebet der Brüder zuteil wird.
An einer anderen Stelle des Neuen Testamentes, im Matthäusevangelium,(88) spricht Jesus selbst von einer »Lästerung gegen den Heiligen Geist«, die »nicht vergeben wird«, weil sie in ihren verschiedenen Formen eine hartnäckige Weigerung darstellt, sich zur Liebe des barmherzigen Vaters zu bekehren.
Das sind gewiß extreme und radikale Formen: die Zurückweisung Gottes, die Verweigerung seiner Gnade und somit der Widerstand gegenüber der Quelle unseres Heiles selbst,(89) wodurch sich der Mensch den Weg zur Vergebung willentlich zu versperren scheint. Es ist zu hoffen, daß nur ganz wenige Menschen bis zu ihrem Ende in dieser Haltung der Rebellion oder geradezu der Herausforderung gegen Gott verharren wollen, der seinerseits - wie uns Johannes ebenfalls lehrt (90) - in seiner barmherzigen Liebe größer ist als unser Herz und alle unsere psychologischen und geistigen Widerstände überwinden kann, so daß man - wie Thomas von Aquin schreibt - »am Heil keines Menschen in diesem Leben zu verzweifeln braucht, wenn man die Allmacht und die Barmherzigkeit Gottes betrachtet«.(91)
Aber angesichts der Frage des Zusammenstoßes eines rebellischen Willens mit dem unendlich gerechten Gott kann man nur heilsame Gefühle von »Furcht und Schrecken« empfinden, wie der hl. Paulus empfiehlt,(92) während die Mahnung Jesu über die Sünde, die nicht vergeben werden kann, die Existenz von Schuld bestätigt, die für den Sünder den »ewigen Tod« als Strafe nach sich ziehen kann.
Im Licht dieser und weiterer Texte der Heiligen Schrift haben die Kirchenlehrer und Theologen, die geistlichen Meister und Hirten die Sünden in Todsünden und läßliche Sünden unterschieden. Mit anderen spricht der hl. Augustinus von tödlichen oder todbringenden Vergehen, die er denläßlichen, leichten oder täglichen gegenüberstellt.(93) Die Bedeutung, die er diesen Worten gibt, wird später in die offizielle Lehre der Kirche einfließen. Nach Augustinus wird es Thomas von Aquin sein, der in möglichst klaren Begriffen die Lehre formuliert hat, die sich dann in der Kirche beständig erhalten hat.
Bei der Bestimmung und Unterscheidung von Todsünde und läßlicher Sünde mußten der hl. Thomas und die Theologie der Sünde, die sich auf ihn beruft, den biblischen Bezug und somit auch den Gedanken eines geistlichen Todes einbeziehen. Nach dem Doctor Angelicus muß der Mensch, um geistlich zu leben, in Gemeinschaft mit dem höchsten Lebensprinzip bleiben, das Gott ist, insofern dieser das letzte Ziel all seines Seins und Handelns ist. Die Sünde nun ist ein Vergehen, das der Mensch gegen dieses Lebensprinzip begeht. Wenn »die Seele durch die Sünde eine Unordnung schafft, die bis zum Bruch mit dem letzten Ziel - Gott - geht, an das er durch die Liebe gebunden ist, dann ist dies eine Todsünde; wann immer jedoch die Unordnung unterhalb der Trennung von Gott bleibt, ist es eine läßliche Sünde«.(94) Daher entzieht die läßliche Sünde nicht die heiligmachende Gnade, die Freundschaft mit Gott, die Liebe und so auch nicht die ewige Seligkeit, während ein solcher Entzug gerade die Folge der Todsünde ist.
Wenn man die Sünde unter dem Aspekt der Strafe sieht, die sie mit sich bringt, so nennt der hl. Thomas zusammen mit anderen Glaubenslehrern diejenige Sünde tödlich, die eine ewige Strafe nach sich zieht, wenn sie nicht zuvor vergeben wird; läßlich nennt er die Sünde, die eine einfache zeitliche Strafe verdient, das heißt eine begrenzte Strafe, die auf Erden oder im Fegfeuer abgebüßtwerden kann.
Wenn man den Gegenstand der Sünde betrachtet, so verbindet sich der Gedanke des Todes, des radikalen Bruches mit Gott, dem höchsten Gut, der Abkehr vom Weg, der zu Gott führt, oder der Unterbrechung des Weges zu ihm (lauter Weisen, um die Todsünde zu bestimmen) mit dem Gedanken der Schwere des objektiven Inhaltes: Deshalb wird in Lehre und Pastoral der Kirche dieschwere Sünde praktisch mit der Todsünde gleichgesetzt.
Hier berühren wir den Kern der traditionellen Lehre der Kirche, wie er oft im Verlauf der letzten Synode deutlich betont worden ist. Diese hat nämlich nicht nur die vom Tridentinischen Konzil über Existenz und Natur von Todsünde und läßlicher Sünde verkündete Lehre(95) bekräftigt, sondern hat auch daran erinnern wollen, daß jene Sünde eine Todsünde ist, die eine schwerwiegende Materie zum Gegenstand hat und die dazu mit vollem Bewußtsein und bedachter Zustimmung begangen wird. Man muß hinzufügen - wie es auch auf der Synode geschehen ist -, daß einige Sünden, was ihre Materie betrifft, von innen her schwer und todbringend sind. Das heißt, es gibt Handlungen, die durch sich selbst und in sich, unabhängig von den Umständen, immer schwerwiegend unerlaubt sind wegen ihres objektiven Inhaltes. Wenn solche Handlungen mit hinreichender Bewußtheit und Freiheit begangen werden, stellen sie immer eine schwere Schuld dar.(96)
Diese Lehre, die auf dem Dekalog und der Predigt des Alten Testamentes gründet, von der Verkündigung der Apostel aufgenommen wurde und zur ältesten Lehre der Kirche gehört, die sie bis heute wiederholt, entspricht genau der menschlichen Erfahrung aller Zeiten. Aus Erfahrung weiß der Mensch gut, daß er auf dem Weg des Glaubens und der Gerechtigkeit, der ihn zur Erkenntnis und zur Liebe Gottes in diesem Leben und zur vollkommenen Gemeinschaft mit ihm in der Ewigkeit führt, stehenbleiben oder sich ablenken kann, ohne freilich den Weg zu Gott zu verlassen: In diesem Falle handelt es sich um läßliche Sünde, die jedoch nicht abgeschwächt werden darf, als ob sie ohne weiteres etwas Unwesentliches, eine Sünde von geringem Gewicht sei.
Der Mensch weiß allerdings auch durch schmerzliche Erfahrung, daß er mit einem bewußten und freien Akt seines Willens auf dem Weg umkehren und in entgegengesetzter Richtung zum Willen Gottes gehen kann und sich so von ihm entfernt (aversio a Deo - Abkehr von Gott), wobei er die Gemeinschaft mit ihm verweigert, sich von seinem Lebensprinzip, das Gott ist, trennt und so denTod wählt.
Mit der ganzen Tradition der Kirche nennen wir denjenigen Akt eine Todsünde, durch den ein Mensch bewußt und frei Gott und sein Gesetz sowie den Bund der Liebe, den dieser ihm anbietet, zurückweist, indem er es vorzieht, sich selbst zuzuwenden oder irgendeiner geschaffenen und endlichen Wirklichkeit, irgendeiner Sache, die im Widerspruch zum göttlichen Willen steht (conversio ad creaturam - Hinwendung zum Geschaffenen). Dies kann auf direkte und formale Weise geschehen, wie bei den Sünden der Götzenverehrung, des Abfalles von Gott und der Gottlosigkeit, oder auf gleichwertige Weise, wie in jedem Ungehorsam gegenüber den Geboten Gottes bei schwerwiegender Materie. Der Mensch spürt, daß dieser Ungehorsam Gott gegenüber die Verbindung mit seinem Lebensprinzip abschneidet: Es ist eine Todsünde, das heißt ein Akt, der Gott schwer beleidigt und sich schließlich gegen den Menschen selbst richtet mit einer dunklen und mächtigen Gewalt der Zerstörung.
Während der Synodenversammlung wurde von einigen Vätern eine dreifache Unterscheidung der Sünden vorgeschlagen, die in läßliche, schwere und todbringende Sünden einzuteilen wären. Eine solche Dreiteilung könnte deutlich machen, daß es bei den schweren Sünden Unterschiede gibt. Dabei bleibt es jedoch wahr, daß der wesentliche und entscheidende Unterschied zwischen jener Sünde besteht, die die Liebe zerstört, und der Sünde, die das übernatürliche Leben nicht tötet: Zwischen Leben und Tod gibt es keinen mittleren Weg.
Gleichfalls muß man vermeiden, die Todsünde zu beschränken auf den Akt einer Grundentscheidung gegen Gott (»optio fundamentalis«), wie man heute zu sagen pflegt, unter der man dann eine ausdrückliche und formale Beleidigung Gottes oder des Nächsten versteht. Es handelt sich nämlich auch um Todsünde, wenn sich der Mensch bewußt und frei aus irgendeinem Grunde für etwas entscheidet, was in schwerwiegender Weise der Ordnung widerspricht. Tatsächlich ist ja in einer solchen Entscheidung bereits eine Mißachtung des göttlichen Gebotes enthalten, eine Zurückweisung der Liebe Gottes zur Menschheit und zur ganzen Schöpfung: Der Mensch entfernt sich so von Gott und verliert die Liebe. Die Grundentscheidung kann also durch einzelne Akte völlig umgeworfen werden. Zweifellos kann es unter psychologischem Aspekt viele komplexe und dunkle Situationen geben, die für die subjektive Schuld des Sünders Bedeutung haben. Aus der Betrachtung des psychologischen Bereichs kann man jedoch nicht zur Aufstellung einer theologischen Kategorie übergehen, wie es gerade die »optio fundamentalis« ist, wenn sie so verstanden wird, daß sie auf der objektiven Ebene die traditionelle Auffassung von Todsünde ändert oder in Zweifel zieht.
Wenn auch jeder ehrliche und kluge Versuch, das psychologische und theologische Geheimnis der Sünde zu klären, anerkannt werden muß, so hat die Kirche doch die Pflicht, alle Erforscher dieser Materie einerseits an die Notwendigkeit zu erinnern, dem Wort Gottes treu zu bleiben, das uns auch über die Sünde belehrt, und andererseits auf die Gefahr hinzuweisen, daß man dazu beiträgt, in der heutigen Welt den Sinn für die Sünde noch mehr abzuschwächen.
Reconciliatio et paenitentia DE 9