Rom, 29. September – Bruno Forte - Deutsch

Die Christologie heute: ihre Entwicklung seit dem 2. Vatikanischen Konzil und ihre aktuellen Charakteristika

Es ist jetzt zwanzig Jahre her, daß 1981 mein mehrmals aufgelegter und in verschiedene Sprachen übersetzter Band Jesus von Nazareth, Geschichte Gottes, Gott der Geschichte. Abhandlung über die Christologie als Historie veröffentlicht wurde. Diese Arbeit befand sich an dem Höhepunkt eines sehr fruchtbaren Jahrzehnts für die katholische Christologie, als Meisterwerke wie Jesus der Christus vom jetzigen Kardinal Walter Kasper (1974 auf Deutsch und später in vielen anderen Sprachen und Auflagen veröffentlicht) oder die umfangreiche Arbeit des Jesuiten Jean Galot, Professor an der Gregorianischen Universität, produziert wurden. Die achziger Jahre brachten zu einer ebenso fruchtbaren und eingehenden Studie des Christus, welche namentlich durch die Vertiefung der Dreieinigkeitsaspekte der Christologie gekennzeichnet wurde, und zwar mit dem Band des Kardinal Kasper, Der Gott Jesu Christi (1982), mit Marcello Bordonis bedeutender Synthese, Gesù di Nazaret. Presenza, memoria, attesa, veröffentlicht im Jahr 1988 (deren ideale Folgearbeit die 1995 veröffentlichte Abhandlung La cristologia nell’orizzonte dello Spirito darstellt), sowie mit meinem Buch Trinità come storia. Saggio sul Dio cristiano (1985). In diesen Jahren liefert die Internationale Theologische Kommission eine Vielzahl von Beiträgen zu diesem Thema: Während das Dokument mit dem Titel Alcune questioni riguardanti la cristologia (1979) das „christologische Jahrzehnt" der katholischen Theologie nach dem 2. Vatikanischen Konzil abschließt, so werden in den achziger Jahren weitere Bände veröffentlicht, wie Teologia, cristologia, antropologia (1981) und La coscienza che Gesù aveva di se stesso e della sua missione (1986); in den neunziger Jahren werden dann weitere zwei bedeutende Dokumente zum Verhältnis zwischen Christologie und Universalheil veröffentlicht, und zwar zum einen Alcune questioni sulla teologia della Redenzione (1995), und zum zweiten Il Cristianesimo e le religioni (1996), welches sich mit der Frage der Einzigartigkeit Jesu Christi als Grundlage des Dialogs mit den anderen Religionen auseinandersetzt. Ein ähnliches Ziel setzte sich auch die Erklärung Dominus Jesus der Kongregation für die Glaubenslehre, die im Jubiläumsjahr zugleich mit dem Zweck veröffentlicht wurde, ein feierliches Glaubensbekenntnis zu Jesus Christus abzulegen, der die Wahrheit verkörpert und Heil und Erlösung bringt.

Die Lehre Johannes Pauls II. selbst wies schon vom Anfang eine christologisch-trinitäre Prägung auf: Grundlegend sind die drei Enzykliken Redemptor Hominis (1979), der sich mit dem Sohn auseinandersetzt, Dives in misericordia (1980), dem Vater Gott gewidment, sowie Dominum et vivificantem (1986), über die Person und das Werk des Heiligen Geistes. Die christologisch-trinitäre Struktur wird im Dokument Tertio Millennio Adveniente (1994) wiederaufgenommen, indem der Weg der Vorbereitung auf das Jubiläum vom Jahr 2000 aufgezeigt wird. Mit diesem theologischen Grundlagendokument stimmen im wesentlichen alle weiteren Lehren dieses Pontifikats überein: von den Überlegungen der drei oberen Enzyklika zur Anthropologie, über das Laborem exercens vom Jahr 1981, zum Thema der Würde der menschlichen Arbeit, bis hin zu dem apostolischen Brief über die Frau Mulieris dignitatem vom Jahr 1988 und dem Brief über die Moral, enthalten im Veritatis splendor vom Jahr 1993, die Evangelium vitae vom Jahr 1995 sowie die Enzykliken über die soziale Frage Sollicitudo rei socialis vom Jahr 1988 und Centesimus annus vom Jahr 1991, die zum Thema der Ekklesiologie, im Rahmen der Einzigartigkeit des Erlösers und der trinitären Kommunion der Redemptoris Missio vom Jahr 1991, die Slavorum Apostoli vom Jahr 1985, über den christlichen Osten, sowie die Ut unum sint vom Jahr 1995 über den Ökumenismus. Eine besondere Rolle spielen weiterhin die in Redemptoris Mater vom Jahr dargelegten 1987 Überlegungen über die Mutter des Herrn, in der die verschiedenen Facetten des christlichen Mysterium in der Ikone der Frau zusammengegefasst werden, die das Werk des Dreieinigkeitsgottes und Seine Herrlichkeit wiederspiegelt, im Dienste der Mission des ewigen Sohnes, der in Ihrem jungfräulichen Schoß Fleisch geworden ist.

Aus dieser Fülle von christologischen Arbeiten der kirchlichen Theologie und Lehre nach dem 2. Vatikanischen Konzil, kristallisieren sich heute einige Leitlinien heraus, die aufzeigen, wie die Abhandlung De Verbo Incarnato vollkommen überwunden worden ist zu Gunsten der biblischen Grundlage der Intelligenz des Glaubens, der sotheriologischen Relevanz der Botschaft Christi und ihrer zentralen Bedeutung für die genaue Durchdringung aller anderen Aspekte der christlichen Theologie und Praxis. In den letzten Jahrzehnten haben sich hauptsächlich drei Merkmale der Christologie hervorgetan: Die neue Christologie ist a) im eigentlichen Sinne trinitär, b) historischer und c) stärker auf das Ostermysterium und auf das Bekenntnis zum zur Rettung der Menschheit wiederauferstandenen Gekreuzigten ausgerichtet.

a) Eine trinitäre Christologie: Die Offenbarung Gottes in Jesus Christus

In der irdischen Geschichte Jesu von Nazareth vermag man die Offenbarung der Geschichte des Gottes unter uns erkannt werden. Zeitgleich offenbart Ihn uns die Wiederauferstehung als Gott der Geschichte, als Erlöser des Menschen in jedem Menschen. Jeder Akt Seiner irdischen Existenz, als Geschichte des Sohnes, der sich unter uns niedergelassen hat, beeinflußt die ganze trinitäre Existenz bzw. impliziert einen Bezug zum Vater im Heiligen Geist. Die Wiederauferstehung beweist, daß die zwei Subjekte der göttlichen „Historie", die sich nicht verkörpert haben, der Vater und der Paraclyt, nicht tatenlos den Werken und Tagen des fleischgewordenen Wortes zugesehen haben: Sie haben sie mit Ihm miterlebt, Jeder nach der Relation, die Ihn als eine bestimmte Person und nicht eine andere charakterisiert. Aus diesen Grund, ab dem Osterfest ist es nicht verfehlt zu behaupten, daß alle Geschichte Jesu eine Offenbarung der trinitären Geschichte Gottes ist bzw. irdische Durchschaubarkeit des sich Relationierens der Dreier zu einander und zur Welt. In Jesus offenbart sich zugleich das trinitäre Antlitz Gottes und die Beziehung zwischen Welt und Vater, währen der Geist der trinitären Kommunion und der Versöhnung zwischen Gott und Menschen offenbart und geschenkt wird. Es wird also verständlich, wie eine Theologie, welche die permanente Verbindung zwischen christologischen Aussagen und trinitärem Mysterium ignoriert – eine abweichende Sichtweise, die leider oft in den vor dem Konzil veröffentlichten Lehrbüchern anzutreffen ist –, auf der einen Seite zu einer abstrakten, trockenen und intellektualisierten Christologie, auf der anderen Seite zu einer spekulativen Dreieinigkeitslehre führt, die nur einen geringen Bezug auf die konkrete Offenbarung des Dreieinigkeitsgottes im Rahmen der Heilsökonomie aufweist. Die Berücksichtigung der trinitären Dimension in der Geschichte Jesu ist der Weg, welcher der Glauben der Kenntnis aufzeigt, damit sie sich der Tiefe Gottes öffnet, und sich ein Bild Seiner machen kann, das wahrhaftig christlich und nicht bloß intellektuell bzw. entfernt von der Auseinandersetzung mit dem Skandal der Kreuzigung und dem Licht des Ostermysteriums ist.

Die trinitäre Vertiefung der Menschwerdung des Wortes zeigt, wie uns das fleischgewordene Wort auf die Urstille zurückbesinnt, auf die Tiefe, aus der es ewig entspringt und bei der es ewig bleibt: auf Gott, der sich dem unsichtbaren Gott sichtbar gemacht hat, der Sohn dem Vater. Wie Ignatius von Antiochien beschreibt, der Vater „hat sich durch seinen Sohn Jesus Christus offenbart, der Sein Wort ist, welches aus der Stille entstand" (Ad Magn. 8,2). Das Offenbarungswort, welches der Christus ist, muß also „transzendiert" werden, und zwar nicht im Sinne von eliminieren oder ausklammern, denn dies würde jedweden Zugang zur göttlichen Tiefe einfach versperren, sondern in dem Sinne, daß es Wahrheit und Leben ist, eben weil es der Weg ist (vgl. Jo 14,6). Es ist die Schwelle zum ewigen Mysterium, die Tür zum Schafstall (vgl. Jo 10,7), das Licht, das aus der Finsternis kommt, um Licht zu sein, in dem wir das Licht sehen werden (vgl. Jo 1,9 und Sal 36,10). Dank der trinitären Dialektik von Wort und Stille, Öffnung und Schließung, wird die göttliche Transzendenz in der Offenbarung nicht der Immanenz der Welt übergeben, und die historische Form der Selbst-Kommunikation Gottes führt uns zurück zum unerschöpflichen Überfluß des heiligen Mysteriums.

Diese dialektische Struktur der Offenbarung erschließt sich im lateinischen Wort revelatio in seiner ethymologischen Bedeutung (ähnliches gilt für das griechische Wort apokalypsis): das Präfix re- bedeutet Wiederholung des Ähnlichen (wie in re- sumo), sowie Übergang zum entgegengesetzten Zustand (wie in re- probo). Re- velare bedeutet also Übergang vom Verschleiertem zum Offenen, die Entschleierung des Verschleierten, schließt allerdings nicht vollkommen aus, daß der Schleier nicht vollständig entfernt wird und sich nicht sogar verdichtet. Dieses dialektische Spiel geht im deutschen Wort Offenbarung, offenbaren verloren: Hier wird lediglich die Öffnung vermittelt, bzw. ein Zustand des Offenseins. In diesem Sinne, ist die Hegel’sche Auslegung der Offenbarung als Ausdruck des sich offenbarenden Gottes im Einklang mit der Ethymologie des deutschen Wortes. Allein eine auf der revelatio Dei basierte – dialektische – Christologie behält die ursprüngliche trinitäre Eigenschaft der Offenbarung bei. Es ist deshalb notwendig, sich entschieden zu einer Christologie zu wenden, die dergestalt immer „theologischer" bzw. „trinitärer" wird, daß sie uns zeigt, wie im Wort die Ihm entstehende und sich eröffnende Stille, d.h. im fleischgewordenen Wort die Offenbarung des Vaters und des Heiligen Geistes, zu erhören sei.

St. Johannes vom Kreuz konstatiert: „Der Vater sprach ein Wort, das sein Sohn wurde, und immer wiederholt er es in einer ewigen Stille; in Stille soll die Seele also darauf lauschen." (Sentenzen. Liebesgedanken, Nr. 21). Das Wort in sich aufzunehmen, indem man auf die göttliche Stille in Ihm lauscht, bedeutet, im Heiligtum der Anbetung zu bleiben, sich vom stillen Gott lieben zu lassen und sich zu Ihm über die unersetzliche und erforderliche Vermittlung des Wortes führen zu lassen: „Niemand kommt zum Vater außer über mich" (Jo 14,6). Und hier wird verständlich, wie eine gläubige Christologie tief in der Glaubenserfahrung des Gottes der biblischen Offenbarung verwurzelt ist, d.h. in der vom Gebet lebendig gehaltenen Spiritualität des Lauschens. Christologie und Spiritualität voneinander zu trennen bedeutet in diesem Lichte, die erforderliche Einstellung zu verlieren, dem offenbarten Wort wahrhaftig zu gehorchen, indem in Ihm die Urstille erhört wird, aus der das Wort entsteht und dem sich das Wort erschließt. Die Einheit von christologischem Gedanken und Glaubenserfahrung wiederzufinden, die Sandbänke der modernen Rationalismustheologie zu überqueren, bedeutet, an den hermeneutischen Urzustand des Glaubensgedankens zurückzugelangen.

Es ist hierbei dringend notwendig, daß die Christologie in die lebende Vermittlung des Wortes durch die Kirche eingebunden wird, deren Zeugnis und Gehorsamkeit das Wasser des Lebens an uns führt. Eine von der lebenden Glaubenstradition der Kirche getrennte Christologie – und besonders von der Tradition, die an der vom Dogma dargestellten „Schwelle" aufbewahrt wird – ließe uns in ein zweifelhaftes Abenteuer verirren. Dies hat nichts mit einer im Dogma verschlossenen Theologie (eine „Denzinger-Theologie") zu tun, sondern es ist eine Voraussetzung für einen lebendigen Glauben, welcher die auf die Glaubenswahrheit basierte Hoffnung erklären soll: Die Tradition ist beileibe keine automatische Wiederholung eines verstorbenen Rituals, sondern sie ist lebenvermittelndes Leben. Die Offenbarung Gottes durch Christus ermutigt das Pilgervolk des Glaubens, welches die Erinnerung des Ewigen vermitteln soll. Diese Erinnerung ist an die Heilige Schrift, aber auch an die Offenbarung und die Glaubensausübung gebunden, in welcher der Geist die Kirche zur vollen göttlichen Wahrheit führen kann. Eine im Glauben eingebettete Christologie ist deshalb nicht nur biblisch fundiert und durch die seelische Erfahrung lebendig gehalten, sondern auch ekklesial verantwortlich und bereit, das Abentuer der Subjektivität und Objektivität der vermittelten und empfangenen fides Ecclesiae zu meistern.

b) Eine historische Christologie: die Zirkularität zwischen dem Jesus der Geschichte und dem Christus des Glaubens

Ein zweites Charakteristikum der Entwicklung der Christologie seit dem 2. Vatikanischen Konzil ist die Tatsache, daß sie eine historische Christologie ist: Die vom Konzil aufgezeigte Rückbesinnung auf die Quellen hat die christologische Erkundung wieder auf die konkrete in den Evangelien enthaltene Geschichte Jesu von Nazareth gelenkt, d.h. auf die sogenannten „Mysterien" Seines Lebens, die seitdem in einem fundierten historisch-kritischen Rahmen betrachtet werden. In Seiner wahren und vollen Menschheit ist Jesus Christus Gottes Offenbarung: Es ist daher erforderlich, über die historischen Züge Jesu in die Tiefe seines Mysteriums zu gelangen. Es handelt sich hierbei weder darum, die Geschichte Jesu neu aufzulegen und auf die offenen Fragen der Gegenwart zuzuschneiden, noch die Persönlichkeit Jesu psychologisch zu analysieren – was mangels Material zu einem vollkommen willkürlichen Ergebnis führen würde. Es handelt sich hierbei darum, in den mysteria vitae Jesu die in ihnen zutage tretende menschliche Dimension zu erforschen, über welche sich der lebendige Gott offenbart, indem in der Geschichte das „kerygma" und in dem „kerygma" die Geschichte gelesen wird, indem die im Neuen Testament belegte fruchtbare Zirkularität und das Ostermysterium durchdrungen wird. Es handelt sich darum, die Geschichte des Bewußtseins und der Freiheit des Menschen Jesu zu rekonstruieren, genauso wie die Erfahrung Seiner Sterblichkeit durch die persönliche Erfahrung des Schmerzes und des Todes, in der auf dem Ostermysterium basierenden Überzeugung, daß alles, was der wahren und vollen Menschheit des Erlösers gegeben wird, der Offenbarung Seiner göttlichen Natur genommen wird.

In Jesus von Nazareth bietet sie das menschliche Antlitz Gottes: Jede Geste, jeder Aspekt Seiner menschlichen Natur und jede Sekunde Seines irdischen Lebens läßt Gott durchscheinen und muß vom christlichen Glauben und von der christlichen Erkundung entsprechend gewertet werden. Die Liebe vieler Heiliger gegenüber der Menschheit des Erlösers, die Studie des Dominus humanissimus, die von der Theologie der vergangenen Jahrhunderte oft ignoriert (erst ab Suarez wird die Auseinandersetzung mit der mysteria vitae Jesu in der Auslegung des „De Verbo incarnato" aufgegeben) und nur von den christlichen Frommen gepflegt wurde, fördert ein Hauptelement des christlichen Paradoxons zutage. Gott ist kein Gegenspieler des Menschen Jesus: In Gegenteil wird der Mensch in die Geschichte des Menschensohnes voll aufgenommen und aufgewertet, denn er ist ein wirksames Mittel, ein „Sakrament" des ewigen Sohnes auf dieser Welt. Es wird deshalb verständlich, wie wenig christlich diejenige Theologie und Frömmigkeit sind, welche die konkrete und reale Geschichte des Erlösers sowie den Skandal des Kreuzes ignorieren. In diesem Sinne ist die traditionelle Lehre der instrumentellen Kausalität der Menschheit Christi um so kostbarer. Im Rahmen dieser Lehre hat Thomas die konkrete Geschichte Jesu besonders eingehend untersucht: „Alle Dinge, die sich im Fleisch Christi vollendet haben, haben uns ob der an ihnen gebundene Göttlichkeit geheilt" (Compendium Theologiae 239). Das Wirken Jesu ist ein lebendiges Gleichnis des Wirkens Gottes!

Eine größere Aufmerksamkeit auf die Menschlichkeit des Erlösers bedeutet auch, daß die Theologie sich intensiver mit der sequela auseinandersetzt: das Leben des historischen Jesus kritisch zu erzählen bedeutet, Ihn und Seine Wahl des Reiches Gottes nachzuahmen, sowie Seine Entscheidung zugunsten der Letzten, Seine Liebe für den Vater bis zur Vernachlässigung Seiner Selbst. Die sequela ist keine bloße Nachahmung eines Vorbildes: Wenn es so wäre, dann bliebe sie uns unzugänglich. Die sequela kann sich vollenden und vollendet sich nur im Heiligen Geist: der Geist ist für das Wort wie die Stille, die das Wort aufnimmt und vergegenwärtigt. Aus dieser Stille entspringt die oft schweigende Aussagekraft des Zeugnisses (vgl. Jo 15,26f): „Wer das Wort Jesu wahrhaftig in sich aufgenommen hat – so Ignatius von Antiochien –, kann auch Seine Stille wahrnehmen, damit er perfekt sei, damit sich sein Werk durch die Dinge entfaltet, von denen er spricht, und damit er durch die Dinge erkannt wird, über die er schweigt" (Ad Eph. 15,1-2). Das Wirken des Geistes in der Geschichte, die durch den Glauben anerkannt und übernommen wird, drückt sich vornehmlich in der Barmherzigkeit aus, und zwar in dieser Kraft der Gottesliebe, in deren Namen die christliche Gemeinschaft die Herausforderungen der Zeiten annimmt, mit dem historischen Mitmenschen solidarisch wird und ihm dient. Damit vermittelt sie die Gottesliebe und befreit sich von allem, was die Würde der Kinder Gottes verletzt. Auf diesem Weg erschließt sich dem Glauben die geheimnisvolle Anwesenheit des Herrn in einer Vielfalt menschlicher Gegebenheiten: Christus verbirgt sich in den Armen, in den Hungernden, in den Verdurstenden, in den Ausgegrenzten und Leidenden, in den ausgenutzten Kindern, in den unterdrückten Frauen, in den Letzten (vgl. Mt 25,31ff). Wer den Hunger und den Durst mit freier und befreiender Liebe stillt, der wird zum lebenden Evangelium, zum Wort, welches der Geist nicht mehr in den Stein, sondern in das Fleisch unserer Herzen einmeißelt (vgl. 2 Kor 3,3).

Die Anwesenheit Christi in dem gegewärtigen Leiden läßt sich somit von den jenigen erkennen, die in Seinem Namen lieben: „Dabei wird jedermann erkennen, daß ihr meine Jünger seid, so ihr Liebe untereinander habt" (Jo 13,35). In der Liebe für den Nächsten offenbart sich die Liebe Gottes: „Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er gesehen hat, kann nicht Gott lieben, den er nicht gesehen hat." (1 Jo 4,20). In dieser Liebe wird Christus in Seinem Geist gegenwärtig und spricht Seine Worte des ewigen Lebens. Der Andere ist im Heiligen Geist ein Sakrament der Begegnung mit dem Herrn Jesus: Ort der Ankunft, Begegnung des Heils (vgl. Mt 25,31ff). Eine Christologie, welche sich nicht an den Geboten der Barmherzigkeit und der Gerechtigkeit mißt, und welche die Gründe für die Selbstaufgabe des fleischgewordenen Sohnes in der sequela nicht erforscht, entartet in eine Vernunftsübung, die allen Gefahren der ideologischen Verirrung ausgesetzt ist. Die „Christologie der Praxis" (Heilschristologie, politische Christologie, Hoffnungschristologie und Christologie des éschaton) zeigen sich hier sowohl gefährlich, als auch potentiell gut, und dieses Potential wird um so mehr verstanden und entwickelt, je mehr es im Lichte des Werks des Geistes in der Komunion mit der Kirche ausgelegt und erlebt wird. Eine „aktivere" Christologie, die barmherziger und stärker in der Durchsetzung der Gerechtigkeit für alle sowie des Respekt vor der gottgewollten Schöpfung ist, ist deshalb notwendig, um die Erforschung der sequela Jesus in die Mission des Geistes einzubinden.

c) Eine Christologie des Ostermysteriums: die Einzigartigkeit Jesu Christi und das Heil der Welt

Ein drittes Charakteristikum der Christologie nach dem Konzil besteht im Dialog und in der Auseinandersetzung mit den anderen Religionen: Es handelt sich hierbei um eine „Christologie des Ostermysteriums", welche die Einzigartigkeit Jesu Christi gegenüber allen anderen Wegen zum Mysterium Gottes und zum Heil der Menschen verkündet. Der neotestamentarische Glauben bezeichnet das „Ereignis Christus" als den Ort, in dem die Begegnung mit der göttlichen Selbst-Kommunikation möglich wird: Jesu spricht die Worte Gottes, aber ist zugleich Wort Gottes, das ewige fleischgewordenen Wort, welches sich selbst kommuniziert und die erquickende Erfahrung der göttlichen Tiefe im Heiligen Geist erschließt. Auf dieser Überzeugung basiert das Bewußtsein des Christentums, eine universelle Botschaft zu übermitteln, welche an den Menschen in jedem Mensch gerichtet ist. In ihrem Licht haben die Jünger Christi die Kriterien aufgezeigt, die es ermöglichen, die Prinzipien der göttlichen Selbst-Kommunikation in anderen Religionen auszumachen und den Dialog mit ihnen aufzubauen.

So die Enzyklika Redemptoris Missio (1990): „In Christus ruft Gott alle Völker zu sich und will ihnen die Fülle seiner Offenbarung und Liebe mitteilen. Er macht sich auf vielfältige Weise gegenwärtig, nicht nur dem einzelnen, sondern auch den Völkern im Reichtum ihrer Spiritualität, die in den Religionen ihren vorzüglichen und wesentlichen Ausdruck findet, auch wenn sie Lücken, Unzulänglichkeiten und Irrtümer enthalten" (55). Die Religionen bieten sich also nicht nur als Ausdrücke der Selbst-Transzendenz des Menschen gen das Heilige Mysterium, sondern auch als Orte der göttlichen Selbst-Kommunikation: In derselben Enzyklika wird betont, daß den Menschen, „die keine Möglichkeit haben, die Offenbarung des Evangeliums kennenzulernen und sich der Kirche anzuschließen", weil sie „unter sozio-kulturellen Bedingungen, die solches nicht zulassen" leben, und oft „in anderen religiösen Traditionen aufgewachsen" sind, das Heil in Christus zugänglich ist, kraft der Gnade, die sie zwar nicht förmlich in die Kirche eingliedert - obschon sie geheimnisvoll mit ihr verbunden sind -, aber ihnen in angemessener Weise innerlich und äußerlich Licht bringt. Diese Gnade kommt von Christus, sie ist Frucht seines Opfers und wird vom Heiligen Geist geschenkt: sie macht es jedem Menschen möglich, bei eigener Mitwirkung in Freiheit das Heil zu erlangen." (10). Die Enzyklika hebt hervor, daß „die Gegenwart und das Handeln des Geistes" nicht nur einzelne Menschen berühren, sondern auch die Gesellschaft und die Geschichte, die Völker, die Kulturen, die Religionen ... Es ist der Geist, der ‘die Samen des Wortes’ aussät, die in den Riten und Kulturen da sind und der sie für ihr Heranreifen in Christus bereit macht" (28).

Demnach ist es nicht verfehlt zu glauben, daß die nicht-christlichen Religionen echte Elemente der göttlichen Selbst-Kommunikation enthalten, welche die Jünger Christi im Lichte der sich in Ihm vollendeten Offenbarung unterscheiden können: Aus diesem Grund dürfen wir uns der negativen Bewertung (etwa die Karl Barths Stellungnahme) der nicht-christlichen Religionen und ihrer Heiligen Schriften nicht anschließen, die sich auf eine vermutliche „Exklusivität" und auf die absolute Identifikation von Kirche und Reich beruft. Andererseits dürfen wir auch nicht den unterschiedslosen Pluralismus einiger Religionen akzeptieren, welche die allgemeingültige Botschaft des Christentums ableugnen und die Lücken und Verirrungen anderer Religiönsrichtungen ignorieren, mit dem Zweck, sich vom Prinzip der endgültigen Überlegenheit Christi zu distanzieren und andere Wege als selbständig gültig anzuerkennen (etwa im Falle von Theologen wie John Hick und Paul F. Knitter). Zwischen diesen zwei entgegengesetzten Ausrichtungen ist Unterscheidungsvermögen vonnöten. Ohne darauf zu verzichten, die Einzigartigkeit der Gnade und des Skandals der Ankunft Christi zu verkünden, sollte man das Wirken des Geistes im Lichte des Wortes erkennen, wo auch immer es sich offenbart: „Was immer der Geist im Herzen der Menschen und in der Geschichte der Völker, in den Kulturen und Religionen bewirkt, hat die Vorbereitung der Verkündigung zum Ziel und geschieht in bezug auf Christus, das durch das Wirken des Geistes fleischgewordene Wort" (Redemptoris Missio, 29).

Diese Anerkennung schließt die missionäre Pflicht des Jüngers Christi nicht aus, sondern motiviert ihn um so mehr, denn ohne das Kriterium der Einzigartigkeit des Herrn Jesu und Seines Evangeliums vermöge es der Christ nicht einmal, die in anderen Religionen und in ihren heiligen Schriften enthaltenen Werte sowie den Wert der von ihnen angebotenen religiösen Erfahrung zu unterscheiden. „Wenn auch die Kirche gerne alles anerkennt, was in den religiösen Traditionen des Buddhismus, des Hinduismus und des Islam wahr und heilig ist - Wiederspiegelungen jener Wahrheit, die alle Menschen erleuchtet - so mindert dies doch nicht ihre Pflicht und Entschlossenheit, ohne Zögern Jesus Christus zu verkünden, der ‘der Weg, die Wahrheit und das Leben’ ist" (Redemptoris missio, 55). Deshalb muß der interreligiöse Dialog „geführt und realisiert werden in der Überzeugung, daß die Kirche der eigentliche Weg des Heiles ist und daß sie allein im Besitz der Fülle der Heilsmittel ist" (ib.). Dieser Dialog geht mit der Pflicht der Verkündung der evangelischen Wahrheit einher, und muß aus diesem Grund als ein Mittel dieser Verkündung gesehen werden, denn er verbindet den unverzichtbaren Glauben an die Identität der Jünger Christi mit der von ihm ermöglichten Anerkennung der auf der ganzen Welt verstreuten semina Verbi.

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Eine theologischere Christologie, eine historischere Theologie; eine Theologie, die besser fähig ist, diese zwei Dimensionen im Glauben an die Einzigartigkeit Jesu Christi zu vereinheitlichen, und die zugleich die Notwendigkeit Verkündung der Frohen Botschaft sowie des Dialogs mit dem anderen fundiert, wer auch immer er sei oder woher auch immer er komme. Dieses dreifache Bedürfnis geht aus der Christologie nach dem Konzil hervor. Dem entspricht das Bedürfnis des Christusgläubigen, in Christus die Union zwischen Menschlichem und Göttlichem zu verkünden, ohne sie zu vermengen oder zu trennen (vgl. Konzil von Kalchedonien vom Jahr 451). Es handelt sich hierbei darum, den Glauben an die Erde mit dem Glauben an den Himmel zu vereinbaren, sowie den Glauben an die Gegewart und an die Zukunft, wie sich schon in Dem ergab, der die personifizierte Allianz darstellte. An Ihn wendet sich also das Gebet des Theologen – zusammen mit dem Gebet aller Kirche –, damit sich der logos der denkenden Glaubens and dem hymnos des anbetenden Glaubens vereint, welcher das hört, feiert, verkündet und erlebt, was das Ihm offenbarte Mysterium, das Wort unter uns ist, auf dessen sequela wir unser ganzes Leben gesetzt haben.