Prof. Silvio Cajiao – Bogotà/Kolumbien

FEHLDEUTUNGEN ÜBER DIE KIRCHE IM ANSCHLUSS AN DAS II. VATIKANISCHE KONZIL

 

EINLEITUNG

Im Anschluß an den Beitrag von Monsignor Rino Fisichella möchten wir nun auf die Fehldeutungen zur Kirche eingehen, welche sich im Anschluß an das II. Vatikanischen Konzils enwickelt haben.

Wir wissen, daß das II. Vatikanische Konzil eingehender als andere Konzile die Kirche untersucht hat. Hinsichtlich ihrer Eigenschaften der Einheit, Heiligkeit, ihres Katholizismus sowie ihres apostolischen Werks sind dabei Fragen aufgeworfen worden. Man fragte sich auch, wie das Konzil von verschiedenen Menschen aus der ganzen Welt empfunden wurde. Von manchen wurden nämlich zwar nicht einzelne Eigenschaften der Kirche in Frage gestellt, aber die konziliäre Auslegung der Kirche kritisiert, da das II. Vatikanische Konzil einen ekklesiologischen Schwerpunkt aufwies.

Die Kirche ist außerdem ein „Mysterium", eine „Institution und Gemeinschaft". Als „Mysterium" wird die Kirche mit der Heilsökonomie Gottes in Seinem Sohn Jesus Christus in Verbindung gebracht und ist somit mit diesem Mysterium unzertrennich gekoppelt. Es muß deshalb betont werden, daß das Wort „Mysterium" in diesem Zusammenhang nicht die übliche semantische Konnotation besitzt, sondern vielmehr etwas Unerklärliches und Unverständliches bedeutet. In der Heiligen Schrift ist das Wort „Mysterium" gleichbedeutend mit dem „Plan", dem „Projekt" oder dem „Vorhaben" des Guten Willens des Gottvaters, den Menschen und alle Dinge durch Seinen Sohn Jesus Christus zu schaffen, zu heilen und zu verherrlichen.

An dieser Stelle stoßen wir schon auf die erste, nicht erst seit dem Konzil geläufige Fehldeutung: die Einstellung vom „Ja zu Jesus, nein zur Kirche". Das „Mysterium Ecclesiae", welches durch die Offenbarung übertragen und durch den theologischen Glauben empfangen wird – und zwar nicht indentisch, sondern analog zum Glauben an den Herrn –, ist der Kerngedanke und der Hauptaspekt der Kirche. Dieses Mysterium ist unzertrennlich mit dem „Mysterium Christi" verbunden und hält unseren theologischen Glauben zusammen. Das „Mysterium Ecclesiae" blieb jahrhundertelang in Gott verborgen und wurde erst vor kurzer Zeit entdeckt; hypothetisch existierte und kam es vor jeder Geschichte und vor dem unergründlichen Mysterium Gottes, dem Wort, das eines Tages unter uns kam.

Die Kirche als historische Institution beruft sich auf Jesus Christus, in dem Sinne, daß er sie historisch gegründet hat. Das II. Vatikanische Konzil sagte dazu: „Deshalb ist sie in einer nicht unbedeutenden Analogie dem Mysterium des fleischgewordenen Wortes ähnlich" (Vgl. LG 8). Das bedeutet, daß das „Mysterium Christi" sich in der Zeit historisiert hat, und zwar in dem Sinne, daß das Wort in einem bestimmten historischen Rahmen „Fleisch wurde" (Jo. 1,14). Auf ähnliche Art und Weise wurde das „Mysterium Ecclesiae" eines Tages auch zu einer irdischen, historischen und konkreten Institution.

Die Anhänger der liberalen Exegese und die Vertreter der Schule der Eschatologie der Imminenz haben als erste behauptet, Jesus sei immer von der Imminenz des Reiches ausgegangen, und habe niemals eine Kirche gründen wollen, die sein Werk fortsetzen würde. Die Schule der Eschatologie der Konsequenz basiert hingegen auf der Annahme, die Kirche sei dadurch entstanden, daß die Parusie aufgeschoben wurde. Nach dieser Theorie soll die ekklesiale Gemeinschaft als permanente Struktur entstanden sein, und zwar unabhängig von den Absichten Jesu und erst mit der zweiten Christengeneration. In diesem Zusammenhang hat Loisy sehr klug kommentiert: „Jesus verkündete das Reich, und daraus ergab sich die Kirche." (1)

Heute wird weitgehend davon ausgegangen, daß die Evangelien ein Zeugnis der Kirche über Jesus und nicht ein Zeugnis Jesu über die Kirche sind. Wenn die Kirche historisch fundiert werden soll, dann soll Mt. 16,18 als selbständiger Text angesehen werden. Im Rahmen des Ostermysteriums legt die Kirche allerdings diesen Text als einen Beleg der Absicht Jesu aus, sein Heilswerk fortsetzen zu lassen. Die Kirche entsteht nicht aus einem tatsächlichen und punktuellen Gründungsakt des historischen Jesus, sondern vielmehr aus seinem ganzen Werk und aus seinen Worten. Das bedeutet, daß die Kirche das evangelische Zeugnis erlebt und auf sich selbst überträgt.

Man könnte allerdings die Natur des Gründungsaktes der Kirche seitens Jesu nicht vollständig erfassen, wenn dieser lediglich als eine historischer Gründungsakt angesehen würde, wie etwa: „Bolivar hat fünf südamerikanische Republiken gegründet." Denn die Kirche existiert nicht ausschließlich aufgrund eines Aktes Christi, sondern sie „lebt" von Christus, da Christus selbst in ihr weiter lebt und immer präsent und unersetzlich ist. Durch sie gibt Er Zugang zum Vater und erneuter unsere jahrhundertelange historische Brüderschaft.

Auf diesem Grund kann es nur eine und eine einzige Kirche Jesu Christi geben, wie Ihre Heiligkeit Johannes Paul II. in seinem jüngsten Dokument „Dominus Iesus" betonte. Zur Einzigartigkeit und Heilsuniversalität Jesu Christi und der Kirche schreibt er unter Nr. 16: „Der Herr Jesus, der einzige Erlöser, hat nicht eine bloße Gemeinschaft von Gläubigen gestiftet. Er hat die Kirche als Heilsmysterium gegründet: Er selbst ist in der Kirche und die Kirche ist in ihm (vgl. Joh 15,1ff.; Gal 3,28; Eph 4,15-16; Apg 9,5); deswegen gehört die Fülle des Heilsmysteriums Christi auch zur Kirche, die untrennbar mit ihrem Herrn verbunden ist. Denn Jesus Christus setzt seine Gegenwart und sein Heilswerk in der Kirche und durch die Kirche fort (vgl. Kol 1,24-27), die sein Leib ist (vgl. 1 Kor 12,12-13.27; Kol 1,18). Wie das Haupt und die Glieder eines lebendigen Leibes zwar nicht identisch sind, aber auch nicht getrennt werden können, dürfen Christus und die Kirche nicht miteinander verwechselt, aber auch nicht voneinander getrennt werden. Sie bilden zusammen den einzigen ,ganzen Christus’."

„Deshalb muss in Verbindung mit der Einzigkeit und der Universalität der Heilsmittlerschaft Jesu Christi die Einzigkeit der von ihm gestifteten Kirche als Wahrheit des katholischen Glaubens fest geglaubt werden. Wie es nur einen einzigen Christus gibt, so gibt es nur einen einzigen Leib Christi, eine einzige Braut Christi: ‚die eine alleinige katholische und apostolische Kirche’."

Als Gemeinschaft setzt sich die Kirche aus Menschen zusammen, die der sequela Jesu folgen. Als aus Menschen bestehendem Offenbarungsinstrument ist die Kirche eine „Gemeinschaft von Brüdern" (adelfoi: Mt. 23,8; adelfótes, Brüderschaft: 1Pe. 5,9). Als Gemeinschaft von Gläubigen auf dem Weg Jesu ist die Kirche eine „Versammlung der Gläubigen" (pistoi: Eph. 1,1). Als theologale Gemeinschaft der Berufenen, der Erlösten und der Heiligen ist die Kirche die „Kommunion von Heiligen" (koinonia ton agion: Rom. 12,13; 1Kor. 14,33). Im Rahmen der Kommunion ist die Kirche eine „ikona" (heiliges Bild) der Gemeinschaft des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, d.h. eine Lebensgemeinschaft durch die eine Kommunion der Liebe.

Die Heilige Dreifaltigkeit ist ein Vorbild, und zwar nicht weil das Dreifaltigkeitsmysterium die Realität der Kirche symbolisiert, sondern weil es sie gestaltet hat. Die Kirche darf nicht ihr gemeinschaftliches Wesen oder ihre Aspekte der Kommunion, des Verhältnisses zu Gott und der Teilnahme an Gott verleugnen. Sie muß vielmehr auch die Fehler akzeptieren, mit denen die gemeinschaftliche Dimension, die Kommunion und die Teilnahme an der Kirche behaftet sind. Die Kirche kann nicht als Ebenbild und Sakrament der Dreifaltigkeit glaubwürdig sein, wenn sie die Lehre der trinitären Gemeinschaft ortodox und die kirchliche Gemeinschaft heterodox auffaßt. Das Ketzerische in der trinitären Gemeinschaft (Monarchismus, Modalismus, Adoptionismus, Subordinationismus, Tritheismus) ist auch in der ekklesialen Gemeinschaft eine Ketzerei. Unsere Liebesbeziehung zu anderen Menschen, unbeachtet ihrer Anderartigkeit, muß die Grundlage unserer Liebesbeziehung zur verehrten Dreifaltigkeit bilden.

Damit meinen wir nicht, daß die charismatischen Funktionen der Kirche zugleich die trinitären Funktionen widerspiegeln sollten, denn die Menschen sind zwar gleichwertig, aber sie haben verschiedene Herkünfte und Missionen. Unsere Teilnahme am göttlichen Leben vollzieht sich außerdem durch den Entsandten, das Wort und den Sohn: Uns steht nicht die Vaterschaft oder die pneumatologische Betrachtung dieser Teilnahme zu, sondern wir sind deren Empfänger.

Damit wollten wir die Tatsache ansprechen, daß die trinitäre Einstellung der Kirche dem Begriff einer monochristlichen – nicht-trinitären und nicht pneumatologischen – Kirche und Ekklesiologie widerspricht. Letztere stehen nicht im Einklang mit der Tradition. Außerdem verfügen sie nicht über die pastoralen Mittel, dem gemeinschafts- und kirchenfeindlichen Individualismus, sowie dem Personalismus bzw. Solipsismus bzw. Neoliberalismus sowie der narzißtischen Religiosität die Stirn zu bieten, die behaupten, das Heil sei ohne Gemeinschaft, ohne Kommunionsbindung und ohne theologale Koinonie d.h. ohne Kirche erreichbar.

Im Rahmen dieser umfangreichen Abhandlung über die möglichen und tatsächlichen Fehldeutungen der Kirche möchte ich sie nun an einige schmerzhafte Vorkommnisse erinnern, die sich vor über 35 Jahren unmittelbar nach Abschluß des II. Vatikanischen Konzils ereignet haben.

Man kann zwar eine Institution verlassen, weil man sich nicht mehr zu ihrer Identität bekennt, oder weil man Änderungen ablehnt, die nicht ihrem Wesen entsprechen. Man kann allerdings eine Institution verlassen, auch weil sie sich umstrukturiert, weil sie merkt, daß ein funktioneller Wandel erforderlich ist, ohne ihre Mission zu verraten und ihr Wesen zu ändern. Die Kirche muß die Frohe Botschaft des Gottesheils durch Jesus Christus an die Menschen einer bestimmten Epoche und Zeit verkünden: Darauf zu verzichten wäre ein Verrat an der eigenen Identität, da die Existenzberechtigung der Kirche in ihrer apostolischen Mission unter verschiedenen Kulturen besteht, welche nicht passiv akzeptiert werden dürfen, sondern durch das Heil Jesu Christi neugeprägt werden müssen.

Dabei gilt es allerdings anzuerkennen, daß alle Kulturen die Vorankündingungen der Frohen Botschaft in sich bergen, welche St. Iräneus als „die Samen des Wortes" bezeichnet hat, die Paul VI. in seiner „Evangelii Nuntiandi" erwähnt hat, und welche die IV. Allgemeine Konferenz des Lateinamerikanischen Episkopats in Santo Domingo bekräftigt hat. Evangelisiert werden soll nicht von außen nach innen, sondern von innen nach außen, d.h. angefangen vom Herzen der verschiedenen Kulturen und der Menschen, von ihren Werten, ihren Wünschen und Sehnsüchten, je nachdem, auf welchem Erdteil sich diese Menschen befinden.

1. Der Fundamentalismus von Marcel Lefèbvre

Der historische Weg jedes Menschen bestimmt ohne Zweifel sein Verhalten, wenn es darum geht, wichtige Entscheidungen zu treffen. Das trifft – glaube ich – auch auf Monsignor Marcel Lefèbvre, Erzbischof von Dakar, zu. In Dakar hat er so lange sein Amt ausgeübt, bis ihn seine Gemeinde zum Generalsuperioren ernannte. Diese Funktion verließ er aufgrund seiner integralistischen Einstellungen, die ihn später dazu bewogen, auch seine Kongregation vollkommen zu verlassen, um sich den ersten Seminaristen in Freiburg anzuschließen.

Einerseits wollte Monsignor Lefèbvre dem „ewigen Rom, der Meisterin von Weißheit und Wahrheit" Gehorsam leisten. Er widersetzte sich drastisch dem „tendentiell neumodernistischen und neuprotestanischen Rom, welches aus dem II. Vatikanischen Konzil deutlich hervorging". (2)

Lefèbvres Stellungnahme verfestigte sich in der Zeitspanne zwischen dem Abschluß des II. Vatikanischen Konzils und den frühen 70er Jahren. In seinem ersten Angriff versuchte Lefèbvre, die Ziele des II. Vatikanischen Konzils zu relativieren, indem er behauptete, daß die innere und persönliche Erneuerung die Hauptsache sei und daß dieses Konzil sich weder dem Konzil von Trient noch dem I. Vatikanischen Konzil widersetze, sondern sie nur bekräftigte. Später wird er sogar behaupten – zuerst in privaten Rahmen, später in der Öffentlichkeit –, das II. Vatikanischen Konzil sei „die größte Katastrophe dieses Jahrhunderts und der vorangegangenen Jahrhunderte, seit der Gründung der Kirche", und es ermutige zum Sozialismus, zum Liberalismus, zum Modernismus und zum Zionismus. „Es ist das 1789 (die Französische Revolution) der Kirche". „Die ‚Freiheit’ wird als religiöse Freiheit oder Religionsfreiheit aufgefaßt; die ‚Gleichheit’ wird als als Kollegialität aufgefaßt, welche die Kirche in die Grundlagen des demokratischen Egalitarismus einführt, und schließlich, die ‚Fraternität’ als Ökumenismus, der alle Ketzereien und Fehler auf sich nimmt und den Kirchenfeinden die Hand reicht". (3)

Demzufolge soll das II. Vatikanische Konzil gegen die Tradition sein und es stelle eine Spaltung im Herzen der Kirche dar, welches seit dem Tod Pius XII. keine Bleibe mehr finde. Die reformierte und liberale Kirche ist fern von der Wahrheit. „Wir befinden uns in einem Schisma – so Lefèbvre im Jahr 1976 –, wir sind die Fortsetzer der katholischen Kirche; die Erneuerer sind diejenigen, die das Schisma verursachen; wir setzen die Tradition fort." (4)

Bemerkenswert ist, daß Lefèbvre und manche Integralisten die konziliären Reformen der Liturgie ablehnten, insbesondere die Reform der Eucharistie sowie des priesterlichen Status und Amtes. Er vergaß dabei, daß die ‚Tradition’, auf die er sich ständig berief, etwas ist, was zwar übertragen, aber auch übernommen, vorangetrieben, vererbt und geschaffen wird.

Ende 1970 gründete Monsignor Lefèbvre in Ecône (Schweiz) die Internationale Priesterliche Brüderschaft „St. Pius X.", und er veröffentlichte 1974 ein Glaubensbekenntnis, in dem er die „Kirche des II. Vatikanischen Konzils" sowie die „Kirche von immer" ablehnte. 1976 weihte er dreizehn Priester und am 23. Juli desselben Jahres wurde er „a divinis" von Papst Paul VI. suspendiert. Später versuchten sowohl Paul VI. als auch Johannes Paul II., den Dialog mit Lefèbvre wiederaufzunehmen, bis am 5. Mai 1988 zwischen Lefèbvre und Kardinal Ratzinger ein Protokoll unterzeichnet wurde, das einige Zugeständnisse enthielt, um das Schisma zu vermeiden. Schließlich, am 2. Juni 1988, schrieb der alte Erzbischof an den Papst und prangerte das Protokoll an, indem er das II. Vatikanische Konzil wieder ablehnte. Am 30. Juni 1988 weihte er vier Bischöfe ohne päpstliche Genehmigung, um das von ihm gegründete Werk zu fördern. Darauf wurde er umgehend von der katholischen Kirche exkommuniziert, und zwar durch eine Entscheidung, die von Johannes Paul II. am 2. Juli mit dem Dokument „Motu Propriu" „Ecclesia Dei adflicta" öffentlich bekanntgegeben wurde. Dieses Dokument räumt den reumütigen Mitgliedern der schismatischen Brüderschaft „St. Pius X." die Möglichkeit ein, wieder in die Kirche aufgenommen zu werden, ohne ihre „spirituellen und liturgischen Traditionen" aufgeben zu müssen – wie schon in Kardinal Ratzingers Protokoll vorgesehen.

2. Leonardo Boffs sozio-politische Auslegung

Laut seinen Anhängern enthält Leonardo Boffs umfangreiches theologisches Werk über die Methoden der Befreiungstheologie keine neuen Elemente, sondern vielmehr einen unterschiedlichen Ansatz zur Theologie hinsichtlich der Armen und der sozio-analytischen Vermittlung Marx’scher Art. Boffs christologisches Werk und seine Ekklesiologie wurden zuerst von der Kommission für die Doktrin des brasilianischen Episkopats und später von der Kongregation für die Glaubenslehre angefochten.

Mit der Genehmigung des Summus Pontifex Johannes Paul II. teilte die Kongregation für die Glaubenslehre am 11. März 1985 Leonardo Boff die Notifikation über das Buch „Kirche: Charisma und Macht" mit (4). Der Theologe war schon vom Kardinalpräfekt der Kongregation am 7. September 1984 zu einenm Gespräch über dieses Werk empfangen worden. Die Kongregation selbst hatte ihm dazu am 15. Mai desselben Jahres einen Brief geschrieben. Im Laufe des Gesprächs konnte Leonardo Boff somit den Brief vom 15. Mai kommentieren. Selbst nach den Gesprächen und dem von Vater Boff verfaßten Antwortschreiben, und selbst nachdem Boff selbst seine Treue an die Kirche und das Priesteramt wiederholt bekräftigt hatte, kam die Kongregation zum Schluß, daß ihre Vorbehalte gegenüber seinem Werk veröffentlicht werden mußten.

In diesem Dokument der Kongregation für die Glaubenslehre beruft man sich auf die „dokrinären Prämissen". Obwohl die Kirche durch viele Teilkirchen wirkt, bedeutet dies nicht, daß die Kirche nicht einzigartig, katholisch und universell sei, selbst in verschiedenen Zeiten und Räumen. „In dem die Teilkirchen wachsen und fortschreiten, wächst und schreitet auch die universelle Kirche fort; ließe diese Einheit nach, so würde auch die Teilkirche herunterkommen. Deshalb kann sich der theologische Diskurs nicht darauf beschränken, die Realität einer Teilkirche zu betrachten, sondern vielmehr sollte er versuchen, die Inhalte des Wortes Gottes zu durchdringen, welches der Kirche anvertraut wurde und vom Priesteramt authentisch ausgelegt wird. Die Praxis und die Erfahrungen, welche sich immer wieder aus einem bestimmten und beschränkten historischen Rahmen ergeben, helfen dem Theologen und zwingen ihn dazu, das Evangelium in seiner Zeit zugänglich zu machen. Die Praxis ist allerdings kein Ersatz für die Wahrheit, sondern arbeitet im Dienste der Wahrheit, die uns der Herr übertragen hat. Deshalb ist der Theologe dazu aufgerufen, die Sprache der jeweiligen Rahmenbedingungen zu entziffern – die Zeichen der Zeiten – und diese Sprache dem Glaubensverstand zugänglich zu machen" (vgl. Redemptor hominis, Nr. 19).

Das ist der Ausgangspunkt von Boffs Analyse der Kirchenstruktur. Man sieht, daß diese Auslegung dem Text der „Lumen Gentium" (Nr. 8) widerspricht, in dem steht: „Haec Ecclesia (sc. Unica Christi Ecclesia)… subsistit in Ecclesia Chatolica". Boff behauptet: „Tatsächlich kann sie (d.h. die einzige Kirche Christi) nur in anderen christlichen Kirchen bestehen" (S. 131) (6), während das Konzil mit dem Wort „subsistit" meinte, daß nur eine einzige Kirche besteht, während außerhalb von ihr nur „elementa Ecclesiae" bestehen. Als Elemente können sie sich nur auf die Kirche richten und zu ihr führen (7). Aus diesem Mißverständnis leitet Boff eine Ähnlichkeit zwischen Katholizismus und Protestantismus ab, und schreibt: „Das römische Christentum (Katholizismus) zeichnet sich durch die mutige Behauptung der sakramentalen Identität aus, während sich das protestantische Christentum durch eine entschiedene Behauptung der Nichtidentität auszeichnet" (S. 130; vgl. S. 132 ff., 149).

Er behauptet auch, die Kirche sei als Institution nicht vom historischen Jesus erdacht worden, sondern eher im Rahmen eines Prozesses des Ent-Eschatologisierung entstanden. Demnach sei die Hierarchie das Ergebnis eines „strengen Bedarf nach Institutionalisierung" sowie einer Säkularisierung" nach „römischer und feudaler Art" (S. 70). Daraus ergäbe sich auch die Notwendigkeit eines „langfristigen Wandels für die Kirche" (S. 112): Heute müsse eine „neue Kirche" entstehen (S. 110 ff.), welche „eine neue Inkarnation der Institution in der Gesellschaft sein, deren Macht in ihrer dienenden Funktion besteht" (S. 111).

Obwohl Boff zwischen Dogmatismus und Dogma unterscheidet, indem er ersteres ablehnt und das zweite befürwortet, kritisiert er doch sehr streng die doktrinäre Auffassung der Offenbarung, und behauptet, ein Dogma gelte nur „für eine bestimmte Zeit und für einen bestimmten Anlaß" (S. 134): „in einer zweiten Phase desselben dialektischen Prozesses sollte der Text überwunden werden können, damit mehr Spielraum für den Text des heutigen Glaubens geschaffen wird" (S. 135). Es wird daher klar, daß die relativistischen Stellungnahmen Boffs sehr explizit und nicht akzeptabel sind. Laut Boff unterläge das Verständnis des Dogma innerhalb der Kirche sogar dem Urteil des ‚Dogmatismus’: „Solange diese dogmatische und doktrinäre Auffassung der Offenbarung und des Heils Jesu Christi vorherrschen wird, wird man innerhalb der Kirche immer wieder und unvermeidlich mit der Unterdrückung jedes abweichenden Gedankens rechnen müssen". (S. 74).

Boff zufolge stellt die Macht der römischen Kirche eine gravierende Pathologie dar, derer man sich entledigen sollte. Er vergleicht die Kirche mit einer sozialen Organisation, die durch die Art und Weise gekennzeichnet sei, wie sie ihre eigene Organisationsidentität produziert. Laut Boff habe es einen historischen Prozeß der Enteignung der religiösen Produktionmittel seitens des Klerus und zu Lasten des christlichen Volkes gegeben, welchem das eigene Entscheidungs- und Lehrvermögen genommen wurde. (vgl. S. 75, 222 ff., 259-260). Außerdem sei die sakrale Macht schwerwiegend entartet und zeige die selben Mängel der profanen Macht, z.B. Vorherrschaft, Zentralismus und Triumphalismus (vgl. S. 100, 85, 92 ff.). Deshalb müsse die Macht der neun Kirche keine theologischen Privilegien umfassen und sich nur als ein reiner Dienst für die Bedürfnisse der Gemeinschaft verstehen (vgl. S. 224, 111).

Boffs Ansatz bedeutet, sowohl das Wort Gottes als auch die Sakramente im Rahmen eines „Produktions- und Konsumschemas" zu sehen, und dabei die Glaubenskommunion zu einem schlichten soziologischen Phänomen zu machen. Die Sakramente sind kein symbolisches Produktionsmaterial, präzisiert die Kongregation für die Glaubenslehre, und sie weist darauf hin, daß die Erteilung der Sakramente nicht als reine Produktion und ihre Aufnahme nicht als Konsum anzusehen sind. Die Sakramente sind Geschenke Gottes, und niemand „produziert" sie, da wir durch sie die Gnade und die Liebe Gottes erhalten. Der Mensch muß diese unschätzbaren Geschenke Gottes erwidern, indem er den Willen dessen getreu akzeptiert, welcher uns alle beurteilen wird, denn wir alle – Priester und Laien – sind „unnütze Knechte" (Lk 17,10). Boffs Annahmen und Vorschläge sind deshalb unannehmbar.

Boff behauptet, die Hierarchie und die Kircheninstitutionen hätten sich der Geschenke und Charismen bemächtigt, und dabei insbesondere den Prophetismus beansprucht (vgl. S. 258-261, 268). Die Hierarchie habe lediglich die Aufgabe, die Einheit und Harmonie der Dienste zu koordinieren und fördern, „die Zirkularität aufzubewahren, und zu jede Abweichung und Überlagerung zu vermeiden". Aus dieser Funktion wird „die unmittelbare Unterwerfung aller Vertreter der Hierarchie" (vgl. S. 270) ausgeschlossen.

Ohne Zweifel genießt das ganze Volk Gottes die Teilnahme am prophetischen Amt Christi (vgl. LG 12, 32). Es ist aber ebenso klar, daß die prophetische Mission der Kirche nur dadurch legitimiert wird, daß sie ihrer Errichtung dient. Nicht nur muß diese Mission mit dieser Hierarchie und der Institution Hand in Hand gehen, sondern sie muß auch mit ihnen dazu beitragen, die innere Kommunion zu stärken. Die Hierarchie muß den eigenen wahrhaftigen Dienst erkennen (vgl. LG 12).

Ich wollte vor diesem Publikum diese Aspekte vorstellen, weil viele sie nicht kennen. Dabei habe ich mich an den Wortlaut der Erklärung der Kongregation für die Glaubenslehre gehalten, und auf ihre wertvolle Objektivität sowie auf die Autorität der Kongregation gestützt.

In der Zeitschrift „Tierra Nueva" Nr. 56 von 1986 sind auf Seite 85-94 einige theologische Punkte erläutert, im Hinblick auf welche Leonardo Boff einige seiner Fehlschlüsse zurücknimmt. Am Schluß ist zu lesen: „Ich denke, daß diese Klarstellungen meine Ansichten erläutern werden, so wie sie in den Büchern „Passion Christi – Passion der Welt" und „Ekklesiogenese" enthalten sind". Er erwähnt allerdings das eben besprochene Buch nicht, obwohl er noch eine „Schlußbemerkung" hinzufügt (S. 93).

Besonders bedeutend sind seine Ausführungen unter Nr. 5: Die Theologie sei demnach ‚fides quaerens intellectum’ d.h. der Glaube, der zu verstehen versucht. Daher ist der Theologe zugleich ein Mann des Glaubens sowie jemand, der die offenbarten Wahrheiten der Lehre der Kirche akzeptiert. Die Theologen müssen den Sinn dieser Wahrheiten nicht dadurch zu durchschauen versuchen, daß sie von der Lehre abkommen, sondern indem sie mit ihr zusammenarbeiten (wobei ihr Wort niemals endgültig ist, sondern nur als Orientierungshilfe zu verstehen ist).

Unter Nr. 6 erkennt er, daß „sich die Theologen nicht auf dem Gipfel der Lehre befinden", sondern sie ihr „unterliegen", „unter der Voraussetzung, daß dieser Aspekt das Charisma der Wahrheit besitzt", wie das II. Vatikanische Konzil und Boff selbst betonen: „Diese apostolische Überlieferung kennt in der Kirche unter dem Beistand des Heiligen Geistes einen Fortschritt (…) durch die Verkündigung derer, die mit der Nachfolge im Bischofsamt das sichere Charisma der Wahrheit empfangen haben" (DV 8).

Boff kommt zu folgendem Schluß: „Diese Wahrheiten erklären das Interesse des Heiligen Stuhls für die Werke Vaters Leonardo Boff, welche, wie der Autor selbst erkannt hat, einige fehlerhafte theologische Annahme enthalten".

TEXTVERWEISUNGEN

1) LOISY, A. L'Evangile et l'Eglise, Paris 1902, 153.

2) LEFÈBVRE, M. Un Evêque parle. Ecrits et allocutions (1963-1975), Ed. Dominique Martin Morin 1976, 270.

3) Brief von M. LEFÈBVRE an Paul VI. vom 17. Juli 1976.

4) Vgl. CHALET, J.A. Mons. Lefèbvre, Paris, 1976, 133-148.

4) Vgl. Acta Apostolicae Sedis, Band 77/2 (1985) 756-762.

5) Ibidem 757.

6) Die Seitenangaben der Zitate aus Boffs Werk beziehen sich auf seine italienische Übersetzung, welche auch im Dokument der Kongregation für die Glaubenslehre verwendet werden.

7) Vgl. UR 3-4 und Mysterium Ecclesiae, Nr. 1, AAS LXV (1973) 396-398.