Die Grundlagen der Soziallehre der Kirche
P. Thomas Williams, LC, STD, PhL
Einleitung
Viele von uns Priestern, die vor langer Zeit die Soziallehre der Kirche studiert haben, müssen diese Prinzipien oft im Rahmen ihres Amtes auf konkrete Situationen anwenden.
Die KSL dient nicht nur dem intellektuellen Zweck der Erkenntnisgewinnung, sondern hat eine vornehmlich praktische Zielsetzung. Für uns Priester umfasst die KSL zwei Dimensionen: die Beratung anderer (Ärzte, Unternehmen, Politiker, Familienmütter usw.) und unsere Verantwortung gegenüber den Bedürftigsten.
Die folgende Reflexion über die Grundprinzipien der kirchlichen Soziallehre unterteilt sich in drei Abschnitte: (1) die Natur der Soziallehre, (2) die Grundlagen der Soziallehre, (3) einige praktische Hinweise.
I. Was ist die Soziallehre der Kirche?
Einleitend werden wir erläutern, was die Soziallehre der Kirche ist. Was genau ist ihre Natur?
A. Was ist die Soziallehre nicht?
- Sie ist kein dritter Weg. Sie bietet keinerlei Lösungsvorschläge ökonomischer oder politischer Natur und sie ist kein „System". Selbst wenn sie dem Sozialismus und dem Kapitalismus kritisch gegenübersteht, schlägt sie selbst kein neues, alternatives System vor. Die KSL bietet keine technischen Lösungen politischer, ökonomischer oder sozialer Art, sondern sie ist eine Morallehre, welche aus der christlichen Auffassung des Menschen und seiner Berufung zur Liebe und zum ewigen Leben herrührt. Sie bildet eine Kategorie für sich.
- Sie ist keine Utopie im Sinne eines unerreichbaren sozialen Ideals. Sie bietet kein irdisches Paradies, in welchem sich der Mensch erfüllen kann.
- Die KSL ist weder pragmatisch noch konformistisch noch akzeptiert sie die bestehenden Umstände, sondern sie will den Menschen herausfordern und ein gesundes Spannungsverhältnis zwischen dem Ideal des Evangeliums schaffen und der Realität. Die KSL fordert zur Suche nach menschenwürdigen Lösungen auf.
- Die KSL ist keine statische Lehre, sondern sie entwickelt sich ununterbrochen. Gewiss ändern sich die Grundprinzipien nicht, denn sie sind tief in der unveränderlichen menschlichen Natur verwurzelt, aber sie kann an die sich ständig wandelnden historischen und geographischen Gegebenheiten angepasst werden.
B. Was ist die KSL? Eine Definition.
- Sie gehört zum Fachgebiet der Theologie, namentlich der Moraltheologie.
- Gemäß der Definition des Lehramts ist die KSL die genaue Formulierung der Ergebnisse einer aufmerksamen Reflexion über die komplexe Realität der menschlichen Existenz in der Gesellschaft und im internationalen Rahmen, und zwar im Lichte des Glaubens und der kirchlichen Tradition.
- Sie ist die „Summe von Leitprinzipien, von Urteilskriterien und von Richtlinien für das konkrete Handeln", deren Hauptzweck darin besteht, die Realität im Wege des Vergleichs mit den Prinzipien des Evangeliums hinsichtlich des Menschen sowie dessen irdischer und transzendentaler Berufung zu interpretieren, um daraus Leitlinien für das christliche Verhalten zu erarbeiten.
- Sie ist die Gesamtheit der Grundprinzipien der Evangelisation der Gesellschaft.
C. Der Inhalt der KSL.
Die KSL umfasst drei Dimensionen
(1) Leitprinzipien und -werte: Die KSL beruft sich auf die Theologie und die Philosophie, mit Ergänzungen durch die Human- und Sozialwissenschaften. Ihre wichtigsten Prinzipien sind die Menschenwürde, das Gemeinwohl, die Solidarität, die Mitbestimmung, das Privateigentum, die Umverteilung der Güter usw. Ihre wichtigsten Leitwerte sind Wahrheit, Freiheit, Gerechtigkeit, Nächstenliebe, Friede usw.
(2) Urteilskriterien: zur Bewertung - auch mit Hilfe empirischer Daten - der Wirtschaftssysteme, der Institutionen und der Strukturen, wie etwa Kommunismus, Liberalismus, Befreiungstheologie, Rassismus, Globalisierung, Bezahlung, usw.
(3) Richtlinien für das konkrete Handeln: zur Reaktion auf aktuelle historische Gegebenheiten. Es handelt sich hierbei nicht um eine logische Deduktion von Prinzipien, sondern um eine Beobachtung aufgrund der pastoralen Erfahrung der Kirche und der christlichen Auslegung der Realität. Schwerpunkte des Handelns der Kirche sind die Mittellosen, der Dialog, die Autonomie der Politik, der Wirtschaft und der Gesellschaft. Ein Beispiel solcher Richtlinien ist die Stellungnahme der Kirche zum Schuldenerlass für die Dritte-Welt-Länder, zur Agrarreform, zur Genossenschaftsbildung usw. (s. Gaudium et spes, 67-70).
II. Grundlagen der Soziallehre der Kirche
A. Allgemeine Grundlage
Die erste Grundlage der Soziallehre der Kirche ist das Gebot der Liebe: Man soll Gott über alles und den Nächsten wie sich selbst lieben. Dies ist zugleich die Grundlage der christlichen Moral, und die Soziallehre der Kirche ist ein Bestandteil der Moral. Jesus hat gesagt, dass dieses doppelte Gebot der Liebe nicht nur das höchste Gebot ist, sondern dass es auch das Gesetz Gottes und die Botschaft der Propheten darstellt.
Die Soziallehre der Kirche liefert eine Antwort auf die Frage: Wie soll ich Gott und den Nächsten unter den aktuellen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Umständen lieben? Die Liebe zu Gott und dem Nächsten bedeutet nicht bloß, jeden Sonntag zur Messe zu gehen und beim Offertorium ein paar Münzen in den Korb zu werfen. Das Gebot der Liebe muss das gesamte Leben eines Menschen durchdringen, sowie unsere Verhaltensweise und unsere Umgebung prägen.
Nach diesem Prinzip betrachtet der Christ die Wirtschaft und die Politik nicht als von der Moral getrennte Bereiche, sondern als Aspekte des irdischen Lebens, auf welche er seinen Glauben anzuwenden hat.
B. Die vier Grundprinzipien der Soziallehre
Das Gebot der Liebe ist deshalb der Grundpfeiler der katholischen Soziallehre. Weitere Säulen des Gebäudes der Soziallehre sind die vier Prinzipien (1) der Würde der Person, (2) des Gemeinwohls, (3) der Subsidiarität und (4) der Solidarität.
1. Die Würde der Person
Das erste klassische Grundprinzip ist die Würde der Person, aus welcher sich die Menschenrechte herleiten lassen. Das richtige Verständnis der Gesellschaft, der Politik, der Wirtschaft und der Kultur erfordert vornehmlich ein gutes Verständnis der Natur des Menschen und dessen Wohls. Jeder Mensch, welcher nach dem Abbild Gottes geschaffen wurde, besitzt diese unveräußerliche Würde und soll deshalb immer als ein Zweck und nicht wie ein Mittel betrachtet werden. Wenn Jesus im Gleichnis des guten Hirten vom verlorenen Schaf spricht, will er uns dadurch mitteilen, wie viel Wert Gott den Menschen beimisst. Gott sieht die Menschen weder als eine Masse, noch als einen Prozentsatz, sondern als einzelne Personen. Jede Person ist ihm wichtig und unersetzlich.
„Doch gilt es schon jetzt festzuhalten, dass dasjenige, was… die ganze Soziallehre der Kirche zuinnerst bestimmt, die richtige Auffassung von der menschlichen Person und ihrem einzigartigen Wert ist, insofern ‚der Mensch... auf Erden das einzige von Gott um seiner selbst willen gewollte Geschöpf ist’. In ihn hat er sein Bild und Gleichnis eingemeißelt (vgl. Gen 1, 26) und ihm damit eine unvergleichliche Würde verliehen" (CA 11).
Aus diesem Grund denkt die Kirche nicht zuerst an den Staat, an die Partei, an den Stamm oder an das Volk, sondern sie setzt beim Individuum an. Genau wie Christus verteidigt die Kirche die Würde des Menschen. Sie versteht den Staat und die Gesellschaft im Dienste der Einzelnen und der Familien, nicht umgekehrt. Der Staat hat vor allem die Pflicht, die Rechte der Menschen zu hüten, denn diese Rechte wurden Menschen nicht vom Staat, sondern vom Schöpfer verliehen.
2. Das Gemeinwohl
Das zweite Hauptprinzip der Soziallehre der Kirche ist das Gemeinwohl. Das II. Vatikanische Konzil definiert dieses als „die Gesamtheit jener Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens, die sowohl den Gruppen als auch deren einzelnen Gliedern ermöglichen, die eigene Vollendung voller und leichter zu erreichen" (GS 26 § 1; vgl. GS 74 § 1; KKK 1906).
Der Mensch ist Abbild des trinitarischen Gottes und ist nur in der Gemeinschaft mit seinen Mitmenschen vollkommen. Der Egoismus bewegt uns, unser Wohl zu Lasten der Nächsten durchzusetzen, aber er kann durch die Suche nach dem Gemeinwohl überwunden werden.
Das Gemeinwohl ist das Wohl der Gesellschaft als solcher, es ist weder mein noch dein ausschließliches, noch das Wohl einer abstrakten Gemeinschaft. Die Suche nach dem Gemeinwohl erlaubt uns, uns als Gemeinschaft auszudrücken und nach einem gemeinsamen Ziel zu streben.
Der Mensch ist essentiell (und nicht nur zirkumstanziell) ein soziales, relationales und interpersonales Wesen. Das Gemeinwohl ist ein wesentlicher Bestandteil der Selbstverwirklichung bzw. des Wohls des Einzelnen. Der Mensch wird nur in der Gesellschaft und durch die Gesellschaft vollkommen. Deshalb ist das Gemeinwohl anders als das Wohl des Einzelnen aber diesem nicht entgegengesetzt. Manchmal finden sich mein Wohl und dein Wohl in unserem Wohl zusammen.
Dem Gemeinwohl steht der Utilitarismus gegenüber, bzw. der Suche nach dem höchsten Glück für die höchste Zahl von Menschen. Diese Denkweise führt zwangsweise zur Unterdrückung der Minderheit durch die Mehrheit. Da jeder Mensch einzigartig und unverletzlich ist, darf das Wohl des einen nicht dem Wohl anderer untergeordnet und als Instrument der Erfüllung des Glücks anderer eingesetzt werden.
3. Subsidiarität
Das dritte Hauptprinzip der Soziallehre ist die Subsidiarität. Dieses Prinzip wurde zum ersten Mal von Papst Pius XI. in seiner Enzyklika Quadragesimo Anno beschrieben und lehrt, dass die Entscheidungen in der Gesellschaft auf der untersten Ebene getroffen werden sollten, d.h. auf der Ebene derjenigen, die von der Entscheidung direkt betroffen werden. Dieses Prinzip war eine Antwort auf die Bedrohung durch totalitäre Regimes, welche den Einzelnen dem Staat unterwarfen. Nach diesem Prinzip sollen die Privaten selbst Lösungen für die Probleme der Gesellschaft finden, bevor sie sich an den Staat wenden.
Papst Leo XIII. „
betont immer wieder die notwendigen Grenzen im Eingreifen des Staates. Der Staat hat instrumentalen Charakter, da der einzelne, die Familie und die Gesellschaft vor ihm bestehen und der Staat dazu da ist, die Rechte des einen und der anderen zu schützen, nicht aber zu unterdrücken" (CA 11).4. Solidarität
Das vierte Grundprinzip der Soziallehre der Kirche wurde erst später von Papst Johannes Paul II. in der Enzyklika Sollicitudo rei socialis (1987) erarbeitet. Es handelt sich um das Prinzip der Solidarität. Im Hinblick auf die Globalisierung bzw. auf die wachsende gegenseitige Abhängigkeit von Menschen und Völkern ist es wichtig zu verstehen, dass alle Menschen zur selben Familie gehören. Solidarität bedeutet, mit unseren Mitmenschen zu fühlen, besonders mit den Not leidenden.
Der Heilige Vater fügt hinzu, die Solidarität sei nicht nur ein Gefühl, sondern eine wahrhaftige „Tugend", welche uns dazu bewegt, uns für unsere Mitmenschen verantwortlich zu fühlen. Der Heilige Vater schreibt, die Solidarität sei „nicht ein Gefühl vagen Mitleids oder oberflächlicher Rührung wegen der Leiden so vieler Menschen nah oder fern. Im Gegenteil, sie ist die feste und beständige Entschlossenheit, sich für das ‚Gemeinwohl’ einzusetzen, das heißt, für das Wohl aller und eines jeden, weil wir alle für alle verantwortlich sind." (SRS, 38)
III. Praktische Hinweise
Die KSL enthält fünf praktische Hinweise für uns Priester:
1. Das soziale Lehramt der Kirche gut lesen und kennen, damit wir es in der Gewissheit weitervermitteln können, dass es sich hierbei um die offizielle Lehre der Kirche und nicht um unsere persönliche Meinung handelt.
2. Demütig bleiben und nicht überstürzt aus den allgemeinen Prinzipien kategorische und absolute Urteile über die konkreten Umstände schlussfolgern. Wir dürfen niemals über die Grenzen unserer Kenntnis und unserer Kompetenz hinausgehen.
3. Immer einen großen Sinn für den Menschen, die Gnade, die Sünde und die Gerechtigkeit behalten. Dies bedeutet, mit den Not leidenden solidarisch zu sein, realistisch zu bleiben und zu wissen, dass die höchste Berufung des Menschen darin besteht, heilig zu werden und sich für immer mit Gott zu vereinen.
4. Der Versuchung – für uns und für die anderen – widerstehen, die Soziallehre der Kirche als eine „Waffe" gegen andere (die Wirtschaft, die Politik, die Multinationalen usw.) einzusetzen, sondern zuerst auf unser eigenes Leben schauen und unsere eigene persönliche, soziale, ökonomische und politische Verantwortung wahrnehmen.
5. Mit den Laien zusammenarbeiten, denn sie sind die wahren „Experten" auf ihrem Gebiet und sie tragen die endgültige Verantwortung für die Umsetzung der katholischen Soziallehre.
LG 31. „Sache der Laien ist es, kraft der ihnen eigenen Berufung in der Verwaltung und gottgemäßen Regelung der zeitlichen Dinge das Reich Gottes zu suchen. Ihre Aufgabe ist es also in besonderer Weise, alle zeitlichen Dinge, mit denen sie eng verbunden sind, so zu durchleuchten und zu ordnen."
CCC 899. „Die Initiative der christlichen Laien ist besonders notwendig, wenn es darum geht, Mittel und Wege zu finden, um die gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten mit den Forderungen des christlichen Glaubens und Lebens zu durchdringen. Dieser Einsatz gehört selbstverständlich zum Leben der Kirche."